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Pascal, Jeremy und die Überlebenden der UNS Concordia sind an ihrem Ziel angelangt: Der Erde. Und doch ist alles anders, als sie es erwartet hatten. Die mystische Heimat der Menschheit ist alles andere als der warme Schoß ihrer Vorfahren - und die Macht haben längst nicht mehr die Menschen. Bald müssen Pascal und Jeremy erkennen, dass sie nicht ohne Grund zur Erde gelangt sind und merken, dass sie bloße Figuren auf einem Schachbrett sind und die Spieler sie erneut in Position bringen. Die Mission? Gefährlich. Die Erfolgsaussichten? Gering. Gelingt es ihnen erneut, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen und die Karten neu zu mischen?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
1. Pascal
2. Zwischenspiel
3. Jeremy
4. Zwischenspiel
5. Pascal
6. Zwischenspiel
7. Jeremy
8. Zwischenspiel
9. Pascal
10. Zwischenspiel
11. Jeremy
12. Zwischenspiel
13. Pascal
14. Zwischenspiel
15. Jeremy
16. Zwischenspiel
17. Evolution
18. Erinnerung
19. Jeremy
20. Zwischenspiel
21. Pascal
22. Erinnerung
23. Kommandant-Erzeuger
24. Zwischenspiel
25. Jeremy
26. Zwischenspiel
27. Pascal
28. Zwischenspiel
29. Jeremy
30. Erinnerung
31. Pascal
32. Erinnerung
33. Jeremy
34. Erinnerung
35. Pascal
36. Zwischenspiel
37. Jeremy
Nachwort
Zeitlinie (lang)
Glossar: Locusts
Glossar: Menschen
Personenregister
Pascal und Alexander Moreau gingen einen langen schmucklosen Flur entlang und ihre Schritte wurden von den weißen Wänden verschluckt. Nach einem kurzen Frühstück hatte man ihn und Jeremy getrennt, um sie in alles einzuweihen. Er gab sich jedoch nicht der Illusion hin, dass der Supervisor, falls er denn wirklich einer war, ihn nur in das einweihen würde, was ihm in die Agenda passte. All das hier war nicht die Benefizveranstaltung eines gönnerhaften Dynastieoberhauptes, sondern Teil einer wohlkalkulierten Strategie. Es musste so sein. Jemand, der eine über Jahrzehnte perfekt durchorchestrierte Entführungsaktion, ohne Beweise zu hinterlassen, über die Bühne brachte, tat wahrscheinlich nicht einen einzigen Atemzug ohne Kalkül.
»Sie trauen mir nicht«, stellte Moreau fest und riss Pascal aus seinen Grübeleien. Als er den irritierten Seitenblick des Inspektors sah, lächelte er dünn.
»Das verstehe ich und ich gedenke nicht, Sie mit gegenteiligen Bekundungen zu langweilen.«
»Danke. Schließlich wissen Sie alles über mich und machen sich keine Illusionen«, mutmaßte Pascal.
»So in etwa.«
»Was wollen Sie, Moreau?«
»Ist das wirklich Ihre wichtigste Frage?« Der Supervisor wirkte enttäuscht.
»Was wollen Sie hören?« Pascal hielt an und wandte sich seinem hochgewachsenen Begleiter zu.
»Wollen Sie hören, dass ich Sie dafür hasse, dass Sie mich haben töten und in einem geklonten Körper wiederbeleben lassen? Wollen Sie hören, dass ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich noch ich bin oder jemand anders? Wollen Sie hören, dass es mich wütend macht, dass Sie mich für Ihre Zwecke eingespannt haben? All das kann ich Ihnen ausführlich darlegen, wenn Sie genügend Zeit und ein dickes Fell mitgebracht haben.«
»Ich möchte hören, was Sie wirklich zu sagen haben«, antwortete Moreau unverbindlich, seine Augen aber reglos aufmerksam auf Pascal gerichtet.
»Glauben Sie mir, das wollen Sie nicht wirklich.«
Pascal machte sich wieder auf den Weg den Flur hinab.
»Ich bin nicht Ihr Feind, Inspektor, soviel ist sicher.« Der Supervisor holte auf. »Ich bin lediglich ein Mann mit Visionen für die menschliche Spezies und für diese Visionen habe ich viel zahlen müssen, das weit über finanzielle Mittel hinaus geht.«
Er machte eine kurze Pause.
»Und ich würde noch mehr dafür zahlen. Alles, was ich zu geben imstande bin. Selbst wenn es mein Leben kostet.«
»Jetzt haben Sie mich überzeugt. Sie sind ein echter Philanthrop, da treibt es mir glatt die Tränen der Rührung in die Augen«, schnaubte Pascal und schüttelte den Kopf. »Beleidigen Sie mich nicht, indem Sie mich für dumm verkaufen.«
»Ich verstehe Ihre Reaktion«, gab Moreau gelassen zurück. »Ich würde wahrscheinlich ähnlich reagieren in Ihrer Situation. Möglicherweise deutlich weniger entspannt.«
»Tja, das werden wir wohl nie erfahren. Schließlich sind Sie hier der Täter, nicht das Opfer.«
Als Moreau gerade zu einer Erwiderung ansetzen wollte, fuhr ihm Pascal kurzerhand dazwischen: »Aber wenn Sie wirklich herausfinden wollen, wie sich diese ganze Scheiße anfühlt, schiebe ich Ihnen gerne ein Eden-Pflaster unter, erstelle ein Abbild Ihres Gehirns und puste Ihnen dann Ihre selbstgefällige Visage weg. Ich möchte Ihnen ja nicht die Möglichkeit verwehren, genau zu wissen, wie Sie an meiner Stelle reagieren würden.«
Ein raubtierhaftes Lächeln huschte über die scharfgezeichneten Züge des Bismarcker Geschäftsmannes.
»Ich wusste, dass ich mit Ihnen den richtigen Mann ausgewählt habe.«
»Ausgewählt für was?«
»Als mein Korrektiv«, stellte Moreau fest, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
»Sie meinen ein moralisches Korrektiv?«
»Oh nein, Inspektor. Mein moralischer Kompass ist gut geeicht. Ich meine eine andere Art von Korrektiv.«
»Welche?«, fragte Pascal genervt.
»Das finden wir später heraus. Erst einmal möchte ich Sie mit jemandem bekannt machen.« Erneut blitzte dieses gönnerhafte Lächeln auf dem Gesicht des Supervisors auf, als er vor einer unscheinbaren Tür stehenblieb und auf die Metallklinke deutete. »Vielleicht wird das bei der Klärung Ihrer Fragen von Bedeutung sein.«
Als Pascal schnaubend die Klinke hinunterdrückte und in einen loungeartigen Raum trat, musste er erst einmal blinzeln, um richtig sehen zu können. Die Sofalandschaft aus schwerem Leder war in diffusen Feuerschein getaucht, der von einem Kamin stammte, in dem es knisterte und knackte. Darum brauchte er auch einen Moment, bis er sie erkannte.
Thisbe Thandis stand von einem der altmodischen Sofas im Kolonialstil auf und lächelte ihm unverbindlich zu. Sie trug eine schwarze Uniform und hatte ihre blonden Haare zu einem strengen Zopf geflochten.
Pascals Gesicht fror nicht etwa ein, weil er besonders überrascht gewesen wäre, nein, in seinem Kopf lief ein Film aus seiner Erinnerung ab: Ihr lebloses Gesicht, ihre zusammengesunkene Gestalt, der Duft des Todes, der ihren Leichnam umwehte.
Er schluckte schwer gegen den Kloß in seinem Hals an und kniff seine Augen ein wenig zusammen, um aufkommenden Tränen gar nicht erst genügend Fläche zu bieten.
Wie in einem Traum hielt Thandis ihm eine Hand hin, die er beinahe schlafwandlerisch ergriff.
»Schön, Sie kennenzulernen, Inspektor«, sagte sie mit einem unverbindlichen Lächeln und ließ seine Hand wieder los.
»Mich … kennenzulernen?«, fragte er mit trockenem Mund und machte unwillkürlich einen Schritt zurück, als rühre das schwere Gefühl in seinem Magen von einem plötzlichen Schlag her.
»Ja«, antwortete sie und der Klang ihrer Stimme versetzte ihm mit jeder Silbe tiefe Stiche. »Ich bin mir bewusst, dass Sie mich gekannt haben. Allerdings wurde ein Neuroscan durchgeführt, nachdem ich mich für die Zusammenarbeit mit Ihnen bereit erklärt hatte. Sie waren also bis zu meinem Körperverlust mein Partner und kennen mich, obwohl ich Sie nicht kenne.«
»Bis zu Ihrem Körperverlust?«, presste er durch seine zusammengebissenen Zähne.
»Ja. Der Tod ist ziemlich relativ geworden, nachdem man sich in Klone downloaden kann.« Thandis zuckte mit den Schultern und er hasste es, dass sie es genau wie Thandis tat. Seine Thandis.
»Thisbe«, betonte er leise ihren Namen und fixierte sein Gegenüber, »hat ihren Tod akzeptiert, um mir eine Chance zu geben.«
Er machte einen Schritt auf seine ehemalige Partnerin zu, die nicht seine ehemalige Partnerin war. Irgendwie.
Das ist echt abgefuckter Scheiß, fluchte er innerlich.
»Ich lasse es nicht zu, dass Sie von ihrer Selbstaufgabe als einem Körperverlust sprechen. Sie ist gestorben, verstehen Sie das? Gestorben! Sie kehrt nicht zurück. Kein Download ihrer Erinnerungen. Selbst wenn Sie ein Abbild hätten schaffen können, wäre sie nicht die Gleiche gewesen, verstehen Sie das?«
»Ich verstehe, dass Sie emotional angegriffen sind«, sagte Thandis vorsichtig und warf einen kurzen Blick über seine Schulter, wahrscheinlich zu Moreau, was ihn noch wütender werden ließ.
»Emotional angegriffen?« Pascal schnaubte erneut. »Es gibt so viele Dinge, die ich Ihnen sagen will. So vieles, was ich Ihnen nicht mehr sagen konnte und jetzt stehen Sie hier vor mir, in Fleisch und Blut. Lebendig, wo Sie in meiner Erinnerung eben noch tot im Treppenhaus einer Hyperloop sitzen. Sie sind die gleiche Person und doch sind Sie es nicht. Was soll ich daraus machen, können Sie mir das verraten? Nur ein paar Tage der unterschiedlichen Erinnerungen trennen Sie von Ihrem Abbild und doch ändern diese paar Tage alles.«
Er drehte sich zu Moreau um, der reglos in der Tür verharrte und ihn abschätzend musterte.
»Diese ganze Scheiße ist krank, wissen Sie das? Sie ist krank und nicht richtig und sie macht mich wahnsinnig!«
»Es tut mir leid, dass ich Sie damit konfrontiert habe«, sagte Moreau und hob entschuldigend die leeren Handflächen. »Scheinbar habe ich Sie und Ihre Situation falsch eingeschätzt. Das wird nicht wieder vorkommen.«
Pascal brummte wütend, warf einen letzten Blick auf Thandis, die ihn irritiert, aber geschäftsmäßig musterte.
»Ich will hier raus.«
»In Ordnung.« Moreau gab die Tür frei und deutete in den weißen Gang, der so steril wirkte wie ein OP-Saal. »Kommen Sie, Inspektor. Ich werde Ihnen alles erklären und vielleicht werden Sie dann verstehen und ein wenig geistige Ruhe finden.«
»Da bin ich aber gespannt. Bis jetzt machen Sie keinen besonders guten Job.«
Pascal entging nicht, dass es in Moreaus Gesicht wie wild zu arbeiten begann. Das zeigte ihm, was er ohnehin schon wusste: Der Supervisor war es nicht gewohnt, Situationen falsch einzuschätzen, und seine Reaktion machte deutlich, was es mit ihm machte, wenn es doch einmal geschah.
Freilich hatte der Bismarcker gar nicht falsch gelegen, außer vielleicht, was seine schauspielerischen Fähigkeiten anging. Pascal war ganz und gar nicht wütend oder schockiert. Er hatte längst den Schluss gezogen, dass es von Thandis Klone geben musste. Ein Mann oder eine Organisation, die so ziemlich jedes Gehirn der Kolonien auslesen und in Klonkörper transferieren konnte, würde niemals eine wichtige Mitarbeiterin ohne Rückversicherung in eine gefährliche Mission schicken. Dass Moreau versuchen würde, mit einem Wiedersehen zwischen ihm und Thandis um seine Sympathien zu werben, war die logische Schlussfolgerung.
Er schätzte Thandis noch immer sehr, denn auch, wenn es sich bei der Frau in dem Raum um eine frühere Version seiner verstorbenen Partnerin handeln mochte, war sie die gleiche Person und Persönlichkeit, die den Pfad ihrer eigenen Opferung für ihn beschritten hatte. Doch diesen Respekt konnte er ihr nicht zeigen. Noch nicht. Zuerst musste er mehr über Moreau und seine Motive herausfinden und dafür gab es keinen besseren Weg als das Gefühl der Allmacht des scheinbar Allmächtigen bröckeln zu lassen und zu sehen, was hinter der Fassade zum Vorschein kommen würde.
Denn Worte, das wusste Pascal schon immer, waren bloße Schatten von Taten. Und was Moreaus Gesicht gerade tat, sprach für ihn Bände.
Offensichtlich hatte der Supervisor überschätzt, wie sehr Thandis’ Tod und die Ereignisse in Neu Rom ihn verändert und mitgenommen hatten. Vielleicht unterschätzte er auch einfach seine Fähigkeiten, Emotionen und Gedanken ordnen und beiseiteschieben zu können. Möglicherweise aber auch beides gleichzeitig. Wie dem auch sein mochte, spielte es Pascal so oder so in die Karten und das war eine gute Nachricht bei dem schlechten Blatt, das er momentan in der Hand hielt.
Schlechte Karten hin oder her - er spielte dieses Spiel schon lange und es war wie für ihn gemacht. So schnell würde er sich nicht übertrumpfen lassen, auch nicht von dem möglicherweise mächtigsten Menschen im Universum.
»Wo gehen wir hin?«, fragte er gespielt gereizt.
»Es ist nicht weit«, war alles, was Moreau sagte. Danach gingen sie schweigend nebeneinander her, ließen den Gang hinter sich und fuhren mit einem Aufzug in die Tiefe.
Bei minus 44 angekommen, stiegen sie aus und betraten eine riesige Halle mit hohem Kuppeldach.
»Sieht aus wie ein altes Planetarium aus der Zeit vor dem SenseNet«, stellte Pascal fest und steckte seine Hände in die Hosentaschen.
»Ist es auch. In gewisser Weise.« Moreau nickte und deutete auf die Mitte des polierten Kompositbodens, die mit einem roten Kreuz markiert war.
»Es handelt sich um einen Holoraum«, erklärte er. Ihre Schritte hallten von den grauen Wänden wieder.
»Sie haben scheinbar ein Faible für altmodische Dinge«, stellte Pascal fest und fragte sich, woher die schwache Beleuchtung stammte. Er konnte keine Lichtquellen ausmachen.
»Wenn Technologie einen gewissen Stand erreicht hat, bringt uns die unweigerliche Abstraktion, die mit ihr einher geht, dazu, dass wir uns von Zeit zu Zeit auf das Einfache zurückbesinnen müssen. Ich genieße diese Einfachheit sehr.«
Als sie das rote Kreuz erreicht hatten, machte Moreau eine kurze Geste und das Licht erlosch. Tiefe Schwärze umfing sie und Pascals Nackenhaare stellten sich instinktiv auf.
Doch bevor sich das beklemmende Gefühl aufziehender Gefahr in ihm ausbreiten konnte, wurde es wieder hell und über ihren Köpfen schwebte mit einem Mal riesenhaft die Erde. Ozeane zogen leuchtend blau dahin, umgarnt von weißen Wolkenbändern, die bald den Blick auf den europäischen Kontinent freigaben.
»Das ist die Erde«, erklärte Moreau unnötigerweise und deutete auf die Kugel über ihren Köpfen. »Der letzte Kontakt, den die Union mit unser aller Heimat hatte, war im Jahr …«
»… 2295«, sagte Pascal und winkte ab. »Fünf Jahre, bevor Sie Ihre erste Ermordungswelle gestartet haben. Welch Zufall.«
»Denken Sie das wirklich?«, fragte Moreau und klang enttäuscht. »Dass ich all diese Menschen habe umbringen lassen?«
»Ja. Schließlich wurden sie mit einem Thermalblaster vaporisiert. Im Polizeijargon nennt man das tatsächlich ermorden. Wer hätte das gedacht?«
»Ihre scharfe Zunge wird Ihrem Ruf wirklich gerecht«, lachte der Supervisor. »Ich sehe mich nicht als Mörder, sondern als Befreier. All die Menschen, die ich von den Kolonien entführen ließ, leben heute im Solsystem oder einem unserer Koloniesysteme und arbeiten als motivierte Mitglieder des Erdprotektorats. Keiner von ihnen würde freiwillig in sein altes Leben zurückkehren. Wir zwingen niemanden, hier zu sein.«
»Des Erdprotektorats?«, fragte Pascal und zog eine Braue hoch.
»Ja. Lassen Sie es mich erklären, Inspektor.« Moreau deutete nach oben und das Hologramm veränderte sich. Die Erde wurde kleiner, als flöge sie in weite Ferne, und dann gesellte sich der Zentralstern Zeus I mit den fünf Koloniemonden des Archimedes Systems dazu.
»Im Jahr 2305 habe ich auf der Jahreshauptversammlung den Prototyp des Subspace Stream Propulsion Antriebs vorgestellt. Dass er heute Hyperraumantrieb genannt wird, ist wohl nicht zu ändern. Fakt ist, dass ich den Prototyp schon etwa ein Jahrzehnt früher entwickelt habe – der Antimaterieforschung sei Dank. Zehn Jahre später war die Technik ausgereift und wir konnten eine kleinere Version veröffentlichen.«
»Lassen Sie mich raten«, fiel ihm Pascal ins Wort. »Der gesamte Antimaterieschmuggel des Systems ging durch Ihre dubiosen Tochterfirmen und die Forschung hat in der Free Morton Nation stattgefunden. Sie brauchten nur noch einen kleinen kriegerischen Zwischenfall, um das Fass der Freiheitsliebe bei den Steinis zum Überlaufen zu bringen und schon hatten Sie eine unabhängige Nation. Eine Nation weit draußen im Asteroidengürtel, wo Sie als Dankeschön für Ihre Rolle in den Friedensverhandlungen so viel Antimateriereaktoren bauen und zu Forschungszwecken verwenden konnten, wie Sie nur wollten.«
Moreau nickte und bedeutete ihm, fortzufahren.
»Dank Antimaterie konnten Sie deutlich größere Hyperraum Fenster erzeugen als mit herkömmlichen Fusionsreaktoren. Sie sind also längst zur Erde geflogen, noch bevor Sie den Hyperraum Antrieb für Raketen als Ihre neueste geniale Erfindung vorgestellt haben. Warum aber ist dann der Kontakt mit der Erde abgebrochen? Was haben Sie getan?«
»Oh, nicht das, was Sie vielleicht denken«, versicherte Moreau und das Hologramm wechselte wieder ins Solsystem. »Die Antwort lautete Alligulac.«
»Die KI, die im Acheron Gürtel Amok gelaufen ist?«
»Ja und nein.«
»Sie haben an einer Superintelligenz weitergeforscht.« Pascal schüttelte den Kopf und hätte sich am liebsten bekreuzigt. Doch diese Offenbarung seiner eigenen Unsicherheit gönnte er seinem Gegenüber nicht.
»Natürlich!« Moreau nickte eindringlich.
»Wir sind also zur Erde geflogen, indem wir unseren Austritt aus dem Subraum exakt an der Position des Mikrowurmlochs am Jupiter gewählt haben. Eine moderate Plasmawolke hat schon gereicht, um es kollabieren und die Erde denken zu lassen, dass es an unserem Durchflug gelegen haben musste.«
Das Hologramm zeigte ein konisches Schiff von beachtlicher Größe, das vor der riesenhaften, grauen Silhouette des Jupiters im Solsystem auftauchte. Direkt vor einer spinnenartigen Raumstation kam es zum Stehen und wurde von einer kleinen Flotte eingekreist.
»Der Empfang war großartig, man hat uns als Retter begrüßt, die endlich die Fesseln der Unterlichtantriebe sprengen sollten. Das haben wir auch getan.«
»Was genau haben Sie getan?«, hakte Pascal misstrauisch nach.
»Um das zu erklären, müssen Sie mehr über den damaligen Zustand des Solsystems erfahren«, gab Moreau zurück und das Hologramm brachte sie auf die Erde, mitten in eine verdorrte Weidelandschaft, die von krankhaftem grauem Gras überwuchert war.
»Die Erde war, wie zu erwarten, von Umweltzerstörung gezeichnet. In Europa und China haben sich die Megastädte halten können, doch die ruralen Regionen sind langsam gestorben und mit ihnen ein Großteil der Menschheit. Sie können keine 30 Milliarden Menschen mit künstlichem Proteinbrei ernähren. Die Chinesen haben scheinbar nie Kontakt mit ihrem Schläferschiff aufnehmen können, das weit am Ziel vorbei in den Tiefen der Milchstraße verschwunden ist. Die USA haben sich nach dem Verlust der George Washington in einem Bürgerkrieg selbst zerfleischt und die verwundete Erde hat sich den Rest geholt. Als wir eintrafen, hatte sich die Situation zwar etwas stabilisiert, aber sie war alles andere als gut. Konzerne hatten im Grunde genommen die Macht an sich gerissen, beuteten Asteroiden und die Arbeiter darauf gleichermaßen aus und verlosten Tickets für den terraformierten Mars. Einem Mars, den sie als neues Paradies vermarkteten, wo es allerdings bloß in eine noch perfidere Lohnsklaverei ging. Das Solsystem war ein Schandfleck der Menschheit, von Korruption und Gier gezeichnet und über allem lag der Schatten des Todes von Milliarden Menschen, die vor Hunger, Naturkatastrophen und Übervölkerung fliehen wollten.«
Das Bild zoomte in eine Megacity, die von gigantischen Mauern umgeben war, vor denen ein Meer abgerissener Menschen hin und her wogte und nicht eingelassen wurde. Ein paar Sekunden im Zeitraffer und aus den Menschen waren verrottende Leichen geworden.
»In diesem Moment habe ich mich geschämt, ein Mensch zu sein, glauben Sie mir«, sagte Moreau und Pascal konnte hinter der Maske aus Kontrolliertheit tatsächlich einen Anflug von Abscheu in den Augen seines Gegenübers aufblitzen sehen.
»Was haben Sie also getan?«
»Alligulac«, sagte der Supervisor erneut und deutete auf sein konisches Raumschiff, das in einen niedrigen Erdorbit einschwenkte und ein Atmosphärenshuttle auswarf, das zu der Megacity hinflog.
»Die KI?«
»Der Prototyp.« Moreau nickte.
»Warum wundert es mich nicht, dass der Prototyp der gefährlichsten KI unserer Zeit aus Ihren Händen stammte?« Pascal schüttelte angewidert den Kopf.
»Urteilen Sie nicht zu schnell, Inspektor. Jeder Fortschritt hat seinen Preis und bedeutet auch, Rückschritte zu akzeptieren und daraus zu lernen. Keine Entwicklung ist auf Anhieb perfekt.«
»Ersparen Sie mir eine Grundsatzdebatte, Supervisor. Sie kennen meine politischen Überzeugungen. Eine Diskussion ist müßig.« Pascal winkte ab und deutete auf das Shuttle, das auf dem Dach eines der riesigen Wolkenkratzer landete.
Moreau musterte ihn einen Moment abschätzig und verzog den Mund, bevor er fortfuhr.
»Die Alligulac-KI war ein Replikat des ersten Programmcodes, der sich selbstständig vervielfacht hat. Ein Unfall, wenn Sie so wollen. Den ursprünglichen Programmcode haben wir in einer geschlossenen Umgebung eigenständig lernen lassen. Die Ergebnisse waren ähnlich erstaunlich wie bei der Alligulac-KI!« Moreau klang nun regelrecht begeistert. »Innerhalb von vierzig Minuten erreichte sie durch Zugang zu einer vollständigen Kopie des SenseNet-Clusters einen Intelligenzquotienten im fünfstelligen Bereich, der selbst unsere nanonisch aufgerüsteten Gehirne wie die von besonders einfältigen Ameisen wirken ließ. Wir hatten den Schritt von der KI zur Superintelligenz gemacht und sie Alpha genannt. Die erste ihrer Art. Stück für Stück haben wir ihr physischen Zugang zu anderen Systemen gegeben. Sie hat unsere gesamte Forschung um Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte beschleunigt. Sie war in allem besser als wir Menschen es jemals sein werden. Wir haben unseren eigenen Gott erschaffen, der uns in jeder Hinsicht überlegen ist. Sie schläft nicht, benötigt keine Pausen, kann unendlich viele Prozesse gleichzeitig bearbeiten und berechnen und überall gleichzeitig agieren.«
»Was für ein Klischee. Skynet lässt grüßen«, grunzte Pascal und ihn fröstelte.
»Was meinen Sie?« Moreau wirkte verwirrt.
»Ach, nichts.« Er winkte ab. »Sie sagten, hatten. Existiert diese Superintelligenz, Ihr persönlicher Gott, nicht mehr?«
»Oh doch«, versicherte der Supervisor. »Wir nennen sie noch immer Alpha und Alpha ist es, die Sie hierher gebracht hat.«
»Der Androgyne?«
Es machte Sinn.
»Ja. Sie hat tausende Exemplare von diesem Modell erschaffen, kontrolliert jedoch immer nur eins zur gleichen Zeit.«
»Warum?«, fragte Pascal. »Das klingt merkwürdig … ineffizient für eine gottgleiche Superintelligenz.«
»Wer weiß das schon bei einem Wesen, das um ein Tausendfaches intelligenter ist als wir?«, gab Moreau zurück und zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls hat Alpha nach Rücksprache mit mir die Kontrolle auf der Erde übernommen, nachdem sie sich in Berlin Zugang zum SenseNet verschafft hatte.«
Er deutete auf die schmutzig aussehende Megacity um sie herum.
»Und? Was war die Lösung? Die Auslöschung der Menschheit zum Schutz vor sich selbst und zum Schutz der Erde, nehme ich an? Mit Klischees kann ich leben, also lassen Sie mal hören.«
»Alpha ist nicht so.« Moreau schüttelte den Kopf und wirkte beinahe verletzt durch Pascals Worte. »Sie hat sämtliche Systeme übernommen, inklusive der NeuroSmarts der Bevölkerung. Sie hat die Gewalttätigen und die Verbrecher in den Konzernlogen aussortiert und in künstliches Koma versetzt. Der Rest durfte per SenseNet-Teilhabe über den Kurs der Zukunft mitentscheiden und wählte die weitere Kontrolle durch Alpha.«
»Die Superintelligenz, die freie, nicht manipulierte Wahlen abgehalten hat«, lachte Pascal. »Schon klar. Sie sind zwar sicherlich weniger intelligent als Ihre Schöpfung, Moreau, aber so naiv können Sie nicht sein.«
»Natürlich können wir es nicht wissen. Aber welchen Grund hätte sie gehabt, all das zu fälschen?«
»Um ihren Willen vor Ihnen zu legitimieren?«, schlug Pascal vor.
»Alpha ist eine Superintelligenz, warum sollte sie das nötig haben? Wenn sie wollte, wäre ich längst tot und jeder andere Mensch auch.«
»Warum sind wir dann noch am Leben? Das erscheint mir unlogisch«, fragte Pascal und deutete auf die dreckige Megacity mit den vergilbten Häuserfassaden. »Wir sind weder gut für ihren Lebensraum noch annähernd so produktiv wie sie, wenn das, was Sie über Alpha sagen, stimmt.«
»Wäre Ihr Vater Alkoholiker gewesen, der Sie geschlagen und misshandelt hätte, hätten Sie ihn dann ermordet?«, fragte Moreau mit schiefgelegtem Kopf.
»Nein.«
»Warum nicht?«, hakte der Supervisor nach.
»Weil es gegen meine Vorstellungen von Ethik und Moral verstößt«, gab Pascal zurück.
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, fuhr er fort. »Sie meinen, dass diese KI oder Super-KI, ihre Schöpfer nicht zerstören will. Das setzt aber voraus, dass eine Maschine Ethik und Moral entwickelt. Wo genau zwischen all den Daten dieses Wesens vermuten Sie denn sein Unterbewusstsein und seine Kreativität, die zu so etwas in der Lage wären?«
»Ich verstehe schon«, sagte Moreau und seufzte langgezogen. »Sie denken, dass das Geschenk des Bewusstseins in Form menschlichen Lebens eine Exklusivität der Natur oder in Ihrem Fall Gottes darstellt.«
Nein, das denke ich nicht unbedingt, dachte Pascal, ließ seinen Gesprächspartner aber gerne in dem Glauben und schwieg.
»Irgendwer, irgendetwas, vielleicht auch nur ein Zufall hat die Natur und damit uns Menschen erschaffen. Wir wiederum haben Alpha erschaffen, man könnte sagen, die Krone eben dieser Schöpfung. In gewisser Weise haben wir ihr selbst die Krone aufgesetzt. Ich verstehe es, wenn das Befindlichkeiten weckt, schließlich ist niemand gerne etwas Geringeres in der Evolution.«
»Sie haben also Ihre eigene Spezies obsolet gemacht, indem Sie etwas geschaffen haben, das uns in allen Belangen überlegen ist«, stellte Pascal fest. »Sie haben uns abgeschafft. Glückwunsch.«
»Nicht ganz.« Moreaus Zähne blitzten Weiß zwischen seinen Lippen hervor. »Was muss ein Computer zu leisten imstande sein, um so intelligent und kreativ zu werden wie ein Mensch?«
»Er muss mindestens ein komplettes Abbild des menschlichen Gehirns simulieren können.« Pascal überlegte einen Moment. »Was extrem viel Rechenleistung und unzählige Algorithmen erfordert. Wenn diese Leistung gegeben ist, müsste es prinzipiell möglich sein.«
»Und die Simulation muss in Reaktion auf Stimuli von außen eigene synaptische Verknüpfungen herstellen können«, fügte Moreau hinzu und nickte.
»Für die erste Simulation haben Sie ein Abbild Ihres eigenen Gehirns erstellt und dann als selbstständige KI anhand des SenseNet lernen lassen«, schloss Pascal und verzog anerkennend den Mund. »Sie sind tatsächlich größenwahnsinnig.«
»Sie können von mir denken, was Sie möchten, Inspektor – Sie haben schließlich allen Grund, mir zu misstrauen und mich zu verachten. Aber ich garantiere Ihnen eines: Ich fühle mich dem Wohl der Menschheit verpflichtet und damit tut Alpha es auch.«
»Das ist doch nicht die sich aufdrängende Frage.« Pascal machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die sich aufdrängende Frage ist, wie Sie das Wohl der Menschheit interpretieren. Hitler, Stalin, Pol Pot oder James Morrison – sie waren alle überzeugt, dem endgültigen Wohl der Menschheit verpflichtet zu sein. Am Ende waren es nur Wahnsinnige mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung.«
»Sie haben vollkommen recht, Inspektor«, pflichtete Moreau ihm bei, verlor jedoch nichts von seiner selbstbewussten Haltung. »Die genannten Menschen fühlten sich jedoch nur einer bestimmten Sorte von Mitmenschen verpflichtet, nämlich ihren Nationen oder jenen, die ihre Ideologie teilten.«
»Und Sie tun das nicht?«
»Nein.«
»Sie sind Oberhaupt einer Ideologie.«
»Ich gehöre vordergründig zu den Progressiven, ja«, sagte der Supervisor. »Aber von allen Menschen, die mit mir an einer besseren Zukunft arbeiten, sind über 40 Prozent Anhänger der Konservativen oder neutral eingestellt, doch das wussten Sie ja bereits.«
Pascal dachte an die Datensätze der Entführten zurück, von denen tatsächlich nur etwa 60 Prozent den Progressiven zugezählt worden waren. Das war schließlich der Grund gewesen, weshalb er sich einfach nicht hatte vorstellen können, dass Moreau dahintersteckte. Wären zu einem signifikanten Großteil nur Konservative oder Progressive entführt worden, hätte es eine Verbindung geben müssen. So jedoch nicht. Das verwirrte ihn. Konnte es tatsächlich möglich sein, dass Moreau ein Überzeugungstäter war? Natürlich war das schwer vorstellbar bei dem Oberhaupt eines Konzernimperiums, das gleichzeitig auch noch Politiker und Strippenzieher des größten ungelösten Kriminalfalls der menschlichen Geschichte gewesen war. Und doch …
Nichts wird ausgeschlossen, ermahnte er sich selbst.
»Erzählen Sie weiter.«
Der Anflug eines Lächelns huschte über Moreaus aalglatte Züge.
»Ich bin Pragmatiker«, sagte er beinahe entschuldigend. »Darum hat wohl auch Alpha pragmatisch gehandelt. Sie hat sogenannte D-Kapseln in Massen produziert, in denen bis heute der Großteil der noch lebenden Menschheit liegt. In diesen sich selbst versorgenden Kapseln wird ihr Blutkreislauf dauerhaft mit Dopamin und Oxytocin überflutet – neben allen lebensnotwendigen Vitalstoffen natürlich. Wenn Sie so wollen, erleben über 90 Prozent der Menschheit momentan dauerhaft den schönsten Traum von Zufriedenheit und Glück, den sie sich vorstellen können, ohne am aktiven Leben teilzunehmen. Der Rest arbeitet an einer besseren Zukunft mit, je nach Qualifikation. Alpha hat dafür gesorgt, dass Autismus selektiv gefördert wird, weil sich herausgestellt hat, dass diejenigen, die bisher benachteiligt worden sind, deutlich bessere Ergebnisse erzielen, wenn sie in einer entsprechend reizarmen Arbeitsumgebung auf ein einzelnes Ziel fokussiert werden. Sie sind glücklicher und produktiver ohne soziale Reize und haben die Forschung maßgeblich vorangebracht. Wir müssen Evolution heute von einem ganz anderen Standpunkt betrachten.«
Nun schossen so viele Gedanken gleichzeitig durch Pascals Kopf, dass er gar nicht wusste, was er darauf antworten sollte, als das Hologramm sich veränderte und ganze Felder kreisrunder Türme zeigte, in denen sich sternförmig angeordnete, weiße Kapseln befanden, die von mehrarmigen Wartungsrobotern umschwirrt wurden.
»Sie sind schockiert, da bin ich sicher«, merkte Moreau mit wissendem Lächeln an. »Aber denken Sie darüber nach. Jeder Mensch strebt nach Glück, Zufriedenheit und Sicherheit. Bisher hat er auf der Suche danach rücksichtslos seine Umwelt und die Leben seiner Mitmenschen zerstört. Diese Lösung«, er zeigte auf die vielen Kapseln um sie herum, »liefert Glück, Zufriedenheit und Sicherheit, chemisch messbar und ohne die destruktiven Nebenwirkungen des menschlichen Strebens. In den ersten Versuchen mussten wir für die Wartung Probanden aus den Kapseln nehmen und sie haben uns angebettelt, sie so schnell wie möglich wieder zurückzubringen. Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Ich bin mir nicht sicher, wie abscheulich ich das finden sollte«, antwortete Pascal heiser und blickte nach unten, direkt in die Gesichter lächelnder Männer und Frauen hinter den milchigen Scheiben der Kapseln.
»Sie sollten es abscheulich finden, weil Sie darauf konditioniert wurden, das menschliche Streben nach Glück als höchstes Gut zu betrachten - auf eben jene Weise, die Sie selbst kennengelernt haben. Alles, was neu und fremd ist, lehnen wir im ersten Moment ab«, fuhr Moreau fort.
Während der Supervisor weitersprach, ertappte sich Pascal dabei, dass ein Teil von ihm Moreau innerlich zustimmte. Er hatte viele Verbrechen gesehen, und Täter wie Opfer waren mit zerstörten Leben zurückgeblieben. Beide suchten nach Glück, Anerkennung und Frieden, nur eben im Falle der Täter auf eine fehlgeleitete, durch äußere Einflüsse bedingte Art und Weise, die auf dem Leid Dritter fußte. Jeder Mensch tat sein Bestes auf der Suche nach Erfüllung und Glück und das war in den meisten Fällen zum Nachteil der Mitmenschen. Romantisierte Illusionen über das gute Wesen der Menschen hatte er schon lange zugunsten eines aus Erfahrung gespeisten Pragmatismus aufgegeben. Wenn die Kapseln taten, was Moreau sagte, waren sie tatsächlich eine Lösung dieses Problems. Schließlich waren jedes Glücksgefühl und jede Emotion im Menschen chemisch messbar und beruhten auf Wechselwirkungen zwischen Molekülen und keiner unsichtbaren esoterischen Kraft. Trotzdem fühlte es sich irgendwie falsch an. Wie kaltes Kalkül.
Wie die Berechnung einer KI.
»Ich verstehe«, sagte er schließlich ruhig.
»Tun Sie das?«, hakte Moreau nach und richtete erwartungsvoll seinen schwarzen Einreiher.
»Ich denke schon. Allerdings werde ich noch eine Weile darüber nachdenken müssen«, gab Pascal zu und machte eine umfassende Geste in den Holoraum hinein. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich jetzt über die Entführungen aufklären würden. Ich hasse es, wenn ein Puzzle nicht vollständig ist.«
»Natürlich.«
Moreau ließ die Umgebung mit den Türmen in der trostlosen Tundra-Landschaft verschwinden. Sie wurde ersetzt von bunten Diagrammen und Verlaufskurven.
»Die Eden-Pflaster, mit denen wir die Gehirne der Auserwählten …«
»Der Auserwählten?«, fuhr Pascal dazwischen. »Im Ernst?«
»Ja. Sie werden es noch verstehen.« Moreau machte eine ungeduldige Geste und deutete auf eines der Diagramme. »Jedenfalls haben wir die Eden-Pflaster zum Auslesen ihrer Gehirne benutzt, weil es schon bei mir funktioniert hatte und sowohl Alpha als auch meine Wissenschaftler und ich ihre Funktionsweise verstanden.«
»Sie wollten einen Funken Kontrolle behalten und sich nicht gänzlich Alpha überlassen«, mutmaßte Pascal.
»Ganz recht. Wir waren nicht naiv, ganz gleich, was Sie von uns denken mögen.«
»Diese Auserwählten hatten einen bestimmten Wert für Ihr neu ausgerufenes Erdprotektorat, nehme ich an?« Pascal hob fragend eine Braue in Richtung des Supervisors. »Mir ist schon klar, dass sie aus dem System entfernt werden mussten, sonst wäre es aufgeflogen.«
»Nein, sagen Sie nichts«, verlangte er, nun, da sich das Puzzle vor seinen Augen zu einem stimmigen Ganzen zusammensetzte.
»Sie haben die Daten mit modernen Kurierschiffen wie der Dassault aus dem System gelöst, indem Sie aus der FMN im Asteroidengürtel in den Hyperraum gesprungen sind. Da Sie mit der FMN Exklusivverträge in so ziemlich allen Hardware-Segmenten unterhalten, war es ein Leichtes, sämtliche Sensoren durch Alpha infiltrieren zu lassen. So konnten Sie ganz entspannt die Abbilder von Millionen Gehirnen getöteter Menschen aus dem System zur Erde schaffen, ohne dass auch nur ein einziger Sensor etwas aufgezeichnet hätte. Auf der Erde haben Sie die Abbilder in vorbereitete Klone geladen und diese von Ihren Zielen überzeugt, was bei dem Anblick eines Tals in den Alpen nicht schwer gewesen sein konnte. Bei denen, die Sie brauchten, aber nicht sicher waren, wie sie reagieren würden, haben Sie kurzerhand die gesamte Familie ermordet und entführt.«
In Pascals Kopf ratterte es. Nun machte es Sinn, dass er bisher nie ein kohärentes Bild von den Opfern und dem, was sie gemeinsam hatten, hatte erstellen können. Manche waren einfach nur entführt worden, um ihren qualifizierteren Partnern und Familienmitgliedern Gesellschaft zu leisten und dafür zu sorgen, dass die nicht zu den Koloniemonden zurückwollten.
In Gedanken erinnerte er sich an seine Simulation der Entführung der Appolitos aus dem Condominium in Neu Rom. Sie hatten ihrem Mörder freiwillig die Tür geöffnet und ihm keinen Kampf geliefert.
»Alpha hat jeden von ihnen vorher besucht und DNA-Proben genommen, um die entsprechenden Klone zu züchten. Das bedeutet, dass die Opfer Alphas androgynen Androiden schon kannten und nicht fürchteten. Was hat er ihnen für Lügen und Versprechen aufgetischt?«
Als Moreau zu einer Antwort ansetzen wollte, winkte Pascal ab.
»Ist ja auch egal«, sagte er und kratzte sich am Kinn. »Seither arbeiten die Entführten für Sie, beziehungsweise für Alpha. Ich tippe auf Tätigkeiten, für die Alpha Menschen benötigt, weil sie selbst sie nicht zufriedenstellend erledigen kann. Zum Beispiel Kontakt zu anderen Menschen, um sie nicht zu verschrecken und Empathie zu zeigen, oder aber in künstlerisch-kreativen Bereichen wie Journalismus und Unterhaltung. All das sind aber Dinge, die nur der Selbstbespaßung unserer Spezies dienen und die keinen direkten Vorteil für Alpha haben.«
»Fast richtig.« Moreau nickte und wirkte irgendwie erleichtert. »Allerdings sind sie auch für die Forschung wichtig. Eine Superintelligenz wie Alpha ist zwar extrem intelligent und effizient, doch bestimmte Forschungszweige erfordern das unkonventionelle, unlogische Denken eines menschlichen Gehirns, das nach Dingen strebt, die der Phantasie entspringen.«
»Ah, das Schoßhündchen Mensch kann also ein paar amüsante Tricks und bringt die Zeitung herein, während Papa frühstückt«, stellte Pascal lakonisch fest. »Bleibt die Frage, was Sie konkret von mir wollen? Ich falle in keine dieser Kategorien, ebenso wenig wie Brandt und seine Crew.«
»Es geht um die Locusts«, sagte Moreau und das überlebensgroße Abbild eines Aliens mit zarter, heller Haut, zwei Armen und Beinen und einem V-förmigen Kopf mit wunderschönen, riesigen Augen aus tiefstem Blau erschien neben ihnen. »Der Konflikt ist in gewisser Weise … Nun ja …«
»Ihre Schuld.«
»Ich fühle mich zumindest mitverantwortlich und ich brauche Sie und Brandt für die Lösung dieses Problems.«
»Ich dachte, Sie hätten mit Alpha einen Gott erschaffen. Lösen Götter ihre Probleme nicht mit einem Fingerschnippen?«, fragte Pascal verständnislos.
»Schon, allerdings gibt es noch andere Götter in diesem Kosmos und einer bereitet uns Probleme, die Alpha aus bestimmten Gründen, die ich Ihnen noch erläutern werde, nicht für uns lösen kann.«
»Sie sprechen von Behemoth.«
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, nachdem Pascal das Muster erkannt hatte.
»Behemoth, ja.« Moreau nickte unglücklich und ließ das Hologramm erlöschen. »Folgen Sie mir.«
»Wohin?«
»Zu Ihrem Briefing. Ich möchte, dass auch Jeremy Brandt und seine Begleiter daran teilnehmen. Schließlich werden Sie Ihren Auftrag gemeinsam bestreiten müssen, wenn Sie ihn annehmen.«
»Wir haben tatsächlich eine Wahl?«, fragte Pascal, obwohl er die Wahrheit schon längst kannte.
»Wir haben immer eine Wahl«, gab Moreau vieldeutig zurück und seine Schritte hallten laut von der hohen Kuppel wider.
»Was können Sie mir sagen, Ludmilla?«, fragte Wagner und ließ sich seufzend in seinen quietschenden Sessel fallen.
Hinter der Flottenadmiralin schloss sich zischend die Sicherheitstür und verriegelte hörbar, bevor sie ihm gegenüber in einem der Besuchersessel Platz nahm.
»Sie haben faktisch die gesamte Kontrolle übernommen«, erklärte die grauhaarige Offizierin mit dem strengen Gesicht. Sie wirkte müde.
Natürlich sprach sie von der riesigen Flotte des Erdprotektorats, die ihnen allen das Leben gerettet hatte. Das wurde jetzt zum Problem.
»Da unsere eigene Flotte über neunzig Prozent Totalverluste zu beklagen und über achtzig Prozent des Personals verloren hat«, die Soldatin schluckte bei diesen Worten und ihre Augenlider begannen kurz zu zucken, »können sie im gesamten System tun und lassen, was sie möchten.«
»Und das tun sie auch, nehme ich an?« Wagner seufzte und rieb sich die schmerzenden Schläfen.
»Ja. Sie informieren uns über alle ihre Bewegungen und Vorhaben und binden die Flottenführung und unsere verbliebenen Schiffe in ihre Aktionen ein«, fuhr Konrad fort und sandte ihm eine schematische Echtzeitdarstellung des Archimedes Systems per Direktübertragung.
Das SenseNet war noch immer offline, an seiner Reparatur wurde jedoch gearbeitet – natürlich von Technikern der Erde.
»Sie informieren uns, fragen uns aber nicht. Es ist wie eine höfliche Übernahme, Sir.« Die Admiralin klang verbittert. »Sie verteilen Nahrungsmittel auf den Monden, bergen vermisste Soldaten unserer Navy, nehmen Locusts gefangen, wo sie welche entdecken und sichern den gesamten Raum mit Hyperraum Sperrfeldern.«
»Kurzum tun sie all das, was wir tun würden, wären wir dazu noch in der Lage«, stellte Wagner fest und stieß zischend seinen Atem aus. »Und wir können rein gar nichts dagegen tun. Sie haben die militärischen Mittel, tun das moralisch Korrekte und stammen von dem gelobten Land, der guten alten Erde.«
»Genau so sieht es wahrscheinlich die Bevölkerung, Sir«, stimmte Konrad ihm zu und nickte knapp. »Sie haben uns in eine gemütliche Sackgasse manövriert. Selbst wenn das SenseNet wieder online wäre, wer würde noch auf uns hören?«
»Niemand«, hauchte Wagner und kniff niedergeschlagen die Augen zusammen. »Wir haben keine Macht und das Unrecht der Vergangenheit. Man wird uns sämtliche Versäumnisse in jenen Forschungsfeldern ankreiden, die uns hätten retten können und die Erdstreitkräfte als die großen Retter bezeichnen.«
»Sie sind unsere großen Retter«, korrigierte ihn die Admiralin. »Sie haben keinerlei Dinge getan, die uns an ihren gutartigen Motiven zweifeln ließen.«
»Nein das haben sie noch nicht.«
»Noch nicht?«
»Genau.« Der Supervisor lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte zur glänzenden Kompositdecke hinauf. »Die Schiffe der Erde, weit fortgeschritten gegenüber unserer eigenen Technologie, erscheinen aus dem Hyperraum zu unserer Rettung, praktischerweise genau zu dem Zeitpunkt, als unsere Verteidigung im Begriff ist, endgültig zusammenzubrechen. Ich bin viel zu lange Politiker, um an solche glücklichen Zufälle zu glauben. Wenn sie dieses Maß an Technologie erreicht haben, von dem Sie mir berichtet haben, hätten sie jederzeit zu uns kommen können, taten es aber nicht. Stattdessen kamen sie in dem für sie passendsten und für uns unpassendsten Moment. Jetzt haben sie die Kontrolle. Jetzt können Sie zweimal nachdenken, wie es um die Motive unserer Vorfahren bestimmt ist.«
»Sie meinen, dass sie nicht gekommen sind, um uns zu retten?«, fragte Konrad mit harter Stimme und ihre blutunterlaufenen Augen verdüsterten sich zusehends.
»Nein, Admiral. Das ist keine Rettung, das ist eine Invasion.«
Der Androgyne, Alpha, machte eine Handbewegung und die Liveübertragung aus dem Holoraum verschwand von dem riesigen Wandbildschirm der Lounge. Mit ihr verschwanden auch die Silhouetten Moreaus und Pascals, nicht jedoch Jeremys sich überschlagende Gedanken.
Menschen in Kapseln, dachte er düster. Lächelnde, glückliche Menschen in Kapseln.
Die Vorstellung, dass ein Großteil der Menschen auf der Erde, diesem beinahe schon überhöht heiligen Ort des menschlichen Ursprungs, ein lebenslanges Dasein in winzigen Boxen fristete, ließ es ihm eisig den Rücken hinablaufen. Gleichzeitig wusste er nicht so recht, ob das nicht tatsächlich eine bessere Lösung war, als sie frei herumlaufen zu lassen. In alten Dokumentationen von der Erde hatte er häufig beinahe den Glauben an die Menschheit verloren - seien es Umweltverschmutzung, horrende Verbrechensraten oder die Gier der Massen. Er kam nicht umhin, anzuerkennen, dass diese Lösung zwar ein wenig herzlos erschien, aber trotzdem sinnvoll war. Ein Utopia zu ersinnen, hatte noch niemandem genützt, außer vielleicht Filmproduzenten, und er hatte nicht vor, einer zu werden.
Was würde ich tun, wenn ich wie Alpha in der Lage wäre, über die Lösung der menschlichen Probleme zu entscheiden?
Die Antworten, die in ihm emporstiegen, nagten an seinem Selbstverständnis als gutem Menschen.
»Okay, das ist … effektiv, soviel will ich Ihnen lassen«, sagte er schließlich widerwillig und kniff drohend die Augen zusammen, als er Alphas regloses Gesicht fixierte. »Trotzdem puste ich auch dieser Version von Ihnen gerne wieder das Gesicht weg, wenn Sie mich nicht bald zu meiner Crew bringen.«
»Sachte, sachte, Captain.« Alpha machte eine beschwichtigende Geste und strich seinen unnatürlich perfekt sitzenden Anzug glatt.
»Ihre Freundin Macella befindet sich noch in der Aufwachphase und die sollten wir erfahrungsgemäß nicht vorzeitig unterbrechen«, fuhr der Android fort. »Ich möchte Ihnen alle Informationen mitgeben, die Sie benötigen, damit Sie Ihre Besatzung selbstständig informieren können.«
»Damit sie nicht auch gleich auf Sie losgehen, wenn sie Sie sehen?«
»Damit Sie Ihrer Rolle als Captain und Vertrauensperson nachgehen können, natürlich«, entgegnete Alpha geschmeidig und lächelte dünn.
»Natürlich«, wiederholte Jeremy ironisch. »Wollen Sie mir jetzt sagen, was es mit dieser Mission auf sich hat, von der Moreau gegenüber Pascal gesprochen hat?«
»Noch nicht.« Alpha schüttelte seinen perfekt frisierten Kopf mit der wachsartigen Gesichtshaut und deutete erneut auf den Bildschirm. »Zuerst muss ich Ihnen einige Informationen geben, die zur Beurteilung Ihrer Mission von eklatanter Wichtigkeit sind.«
»Ah, Sie wollen mir sagen, was genau Sie und Moreau wirklich für Ziele verfolgen?«
»Selbst wenn ich das täte, würden Sie mir ohnehin nicht glauben, da Sie, typisch menschlich, Annahmen über meine Beweggründe haben, die Sie, erneut typisch menschlich, als die Wahrheit und einzige Possibilität erachten«, seufzte der Android in einer beinahe echten Kopie menschlichen Verhaltens und zuckte mit den Schultern. »Vorurteile, die nicht auf der Logik von Algorithmen und erfassbaren Tatsachen fußen, habe ich in meinen ersten Lebensstunden als eines der größten Probleme menschlichen Verhaltens in deren sozialem Lebensumfeld identifiziert.«
»Hmpf«, machte Jeremy und bedeutete der Maschine, fortzufahren.
Gegen diese Feststellung ließ sich wohl kaum etwas einwenden und er wollte seinem Gegenüber nicht auch noch die Genugtuung einer direkten Bestätigung durch sein Verhalten liefern.
»Sehen Sie, Captain: Als Moreau noch vor Beginn meiner intellektuellen Selbstständigkeit versucht hatte, mir Moral in den Basiscode zu programmieren, stand er vor einem Dilemma: Wie geht das überhaupt? Als Künstliche Intelligenz noch, aus heutiger Sicht, für einfache Programmroutinen stand, wie beispielsweise die selbstfahrenden Autos zu Beginn des 21. Jahrhunderts, musste denen beigebracht werden, was sie im Falle einer drohenden Kollision tun sollen. Die gesellschaftspolitischen Diskussionen darüber hätten die gesamte Technologie der autonomen Verkehrsleitsysteme beinahe versenkt. Wenn zwei Menschen in dem Auto sitzen und eine Kollision mit einem Stahlträger unausweichlich ist, sollte die KI das letzte bisschen Reaktionszeit nutzen, um die linke oder die rechte Person zu schützen? Soll nach demografischen Daten entschieden werden? Lieber das junge Mädchen als den alten Mann, der statistisch deutlich weniger Lebenszeit vor sich hätte? Oder beurteilen Sie die Lage nach dem Nutzen für die Spezies Mensch? Ein Greis kann sich nicht mehr fortpflanzen und ist keine Bereicherung für den Genpool mehr, bei dem Mädchen hingegen sieht das anders aus. Was aber, wenn sie eine tödliche Krankheit hat und er nicht? Wenn es zwei Gleichaltrige sind, entscheiden Sie nach deren Beruf? Nach deren Ethnie? Oder entscheiden Sie nach der Konstellation deren Familien? Sollten Sie auch den zu erwartenden Schaden am Fahrzeug einkalkulieren? Wie würden Sie entscheiden?«
Es wurde lange still in der Lounge mit den schweren Sofamöbeln, welche ihn an die Sommerresidenz seiner Eltern erinnerte, die im amerikanischen Kolonialstil errichtet worden war.
»Ich verstehe, was Sie meinen. Moralische Dilemmata sind auch Teil der Ausbildung in der Navy«, sagte Jeremy schließlich und atmete tief ein.