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Das große Finale! Das Archimedes System steht in Flammen. Zwischen den Flotten der Union, des Erdprotektorats und der Locusts gibt es nichts als Tod und Zerstörung. Während Pascal auf dem Orbitalring von DeGaulle ums Überleben kämpft, erreicht seine SenseNet-Botschaft die Kolonien. Alpha bleibt seine List nicht verborgen und schon bald beschließt sie, dass es an der Zeit ist, die Karten neu zu mischen. Jeremy, Macella, Felicity und Walter versuchen derweil an Bord des Schlachtschiffes UNS WizKid, ihre Passagiere des Diplomatischen Konklave in Schach zu halten, die eine ganz eigene Agenda zu haben scheinen. Ihr Ziel ist der Neuromorph und nur sein Tod scheint eine Allianz aus Menschen und Aliens möglich zu machen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
1. Pascal
2. Jeremy
3. Pascal
4. Jeremy
5. Pascal
6. Jeremy
7. Pascal
8. Jeremy
9. Pascal
10. Jeremy
11. Jeremy
12. Pascal
13. Veronica
14. Jeremy
15. Pascal
16. Jeremy
17. Veronica
18. Pascal
19. Jeremy
20. Veronica
21. Pascal
22. Jeremy
23. Veronica
24. Pascal
25. Jeremy
26. Veronica
27. Pascal
28. Die Tränen der Sonne
Epilog
Nachwort
Zeitlinie (lang)
Glossar: Locusts
Glossar: Menschen
Personenregister
Spark führte die kleine Schar Zivilisten an, die für Pascals Empfinden noch immer viel zu viele waren. Nicht, dass er sich gewünscht hätte, dass es weniger von ihnen gab, denn das hätte bedeutet, dass noch mehr gestorben wären. Nein, es war einfach eine ebenso anstrengende wie furchteinflößende Aufgabe, knapp vierzig Seelen zu retten. Ein Teil von ihm sehnte sich nach jenen Zeiten zurück, in denen er allein in seinem Büro saß und Zeugenberichte, Überwachungsdaten und psychologische Profile Tatverdächtiger auf der Suche nach Mustern durchging. Seine einzige Verantwortung hatte damals noch darin bestanden, den Kaffeebecher auf der Schreibtischkante nicht umzustoßen, während er im Kopf die Daten scannte. Gut, letztlich hatte es auch in seiner Verantwortung gelegen, die Schuldigen dingfest zu machen und den Opfern so eine Form der Wiedergutmachung bieten zu können. Doch das waren abstrakte Gedanken und Aufgabenstellungen gewesen.
Jetzt lief er der verängstigten Schar Zurückgelassener hinterher, die freiwillig ihre Plätze in den Evak-Kapseln aufgegeben hatten, um Frauen und Kindern den Vortritt zu lassen. Ihre Sorgen und Nöte sah er buchstäblich vor sich, ebenso wie seine Verantwortung. Es ging um ihr direktes Überleben, darum, dass sie ihn mit diesen ebenso hoffnungsvollen wie bittenden Blicken bedachten. Sie erwarteten nicht weniger von ihm, als ihr Überleben und die Wiedervereinigung mit ihren Familien, die da draußen bereits durch das Vakuum und auf DeGaulle zuschossen.
Bloß keinen Druck aufbauen, dachte er lakonisch und warf nun schon zum hundertsten Mal einen angespannten Blick über die Schulter.
»Deck du unseren Rücken«, hatte Spark ihm aufgetragen. Wie das funktionieren sollte, außer ab und zu nach hinten zu schauen, wusste Pascal nicht. Also beschränkte er sich darauf, seine HV-Pistole fest umschlossen zu halten und ständig zu erwarten, dass Alphas schießwütige Marionetten um die Ecke bogen. Sein Rücken wäre dann sicherlich so löchrig wie dieser Orbitalring bald sein würde, da er nicht ständig rückwärtsgehen und alles im Auge behalten könnte. Da es aber keine andere Aufgabe für ihn gab, tat er einfach sein Bestes, um nicht zu nervös zu werden.
Sie bewegten sich wie eine stille Prozession durch die Gänge des Rings, der in mittlerweile immer kürzeren Abständen erzitterte. Ab und zu ging auch der ein oder andere heftige Ruck durch Boden und Wände. Einige Erschütterungen waren so heftig, dass es sie von den Beinen riss.
»Laut dem Techniker müssten wir bald da sein«, funkte Spark von vorne. Pascal konnte ihn nicht ausmachen, da sich die vordere Hälfte der Schlange hinter der Ecke einer weiteren Sicherheitsschleuse befand und dahinter verschwand. Einerseits tat es gut, die Stimme des Oberfeldwebels zu hören, denn sie bewies, dass er noch am Leben und alles relativ in Ordnung war. Andererseits machte es Pascal nervös, da er in der Stille zumindest das Gefühl hatte, mögliche Verfolger sofort zu hören. Mit Sparks Stimme in seinem Ohr überkam ihn instinktiv die Sorge, etwas Gefährliches zu überhören. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich seinen NeuroSmart und seine Filter- und Verstärkerroutinen zurück.
Ich werde noch zur Memme, wenn ich mich nicht bald einkriege, dachte er bitter und funkte an Spark zurück: »Was heißt bald? Der Laden hier macht es nicht mehr lange, glaube ich.«
Wie um diese Aussage zu unterstreichen, wurden sie von einem weiteren Tremor durchgeschüttelt. Strukturelles Ächzen und Rattern drang an Pascals Ohren und verdeutlichte ihm einmal mehr, dass diese Raumstation dem Tod geweiht war. Überraschenderweise verhielten sich ihre mitgenommenen und verwahrlost aussehenden Schützlinge noch immer vollkommen ruhig. Hier und da wurden einige von den Beinen gerissen, doch sie rappelten sich still wieder auf, halfen sich gegenseitig und fügten sich dann wieder in ordentlichen Zweierreihen zusammen. Ganz so, wie Spark es ihnen aufgetragen hatte.
Das Ausbleiben von grundlegenden Emotionen und Körperreaktionen schockierte Pascal mehr, als wenn sie geschrien und gezetert hätten. Es mutete beinahe an, als würden sie nur noch von einer Art Notprogramm und nicht dem Glauben ans Überleben angetrieben. Hoffnung war ein Luxusgut, das ihnen irgendwo zwischen dem Massaker, der Geiselnahme und dem Abflug ihrer Familien abhandengekommen sein musste.
»Wie bald sind wir denn da?«, funkte er zurück, nachdem er sich wieder aufgerappelt und routinemäßig seine Pistole überprüft hatte.
»Wir müssen noch zweimal abbiegen und dann geht es durch einen Wartungsknoten in eine Luftschleuse. Dahinter befindet sich die nächste Rettungsbucht.«
»Hat er irgendwelche Daten darüber, ob die Kapseln noch funktionieren? Oder Zugriff auf die Kameras?«, fragte Pascal hoffnungsvoll.
»Nein. Sämtliche Systemressourcen, die über die Kontrollmechanismen der Evak-Kapseln hinausgehen, werden von den gegeneinander kämpfenden Codes von Alpha und dem Neuromorph in Anspruch genommen«, verneinte der Soldat und sein Funkspruch wurde beinahe von einem erneuten Beben der Wände verschluckt, das sich als Krachen und Knarzen im akustischen Spektrum fortsetzte.
»Na toll«, murrte Pascal, während er einem gestürzten älteren Mann in Arbeitskleidung auf die Beine half. »Das heißt, wir gehen komplett blind rein. Es könnte auch sein, dass es in der Bucht gar keine Atmosphäre mehr gibt.«
»Das würden wir aber spätestens in der Luftschleuse bemerken. Dafür gibt es entsprechende Warnlampen.«
»Ach so«, gab Pascal ein wenig kleinlaut zurück und ärgerte sich über sich selbst. Er wusste einfach viel zu wenig über Weltraum, Raumschiffe und Orbitalringe, um eine wirkliche Hilfe zu sein. Sein Leben lang hatte er peinlichst darauf geachtet, dass ihn seine Aufträge nicht in die Fänge des kalten Vakuums führten. Wenn eine Ermittlung es doch einmal erforderlich gemacht hatte, hatte er entweder Untergebene geschickt oder seinen Aufenthalt so kurz wie möglich gehalten. Schlimmer wog in diesem Moment allerdings der Eindruck, dass er sich selbst als immer besorgter und fragiler wahrnahm. Seitdem WizKid sich für die Gruppe, und damit auch ihn, geopfert hatte, feuerten einige Synapsen in seinen grauen Hirnwindungen offenbar nicht mehr so wie in der Vergangenheit. Er wusste noch immer nicht, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
Ein schlechtes Zeichen war allerdings mit Sicherheit, dass er immer mehr einen Hang zum Grübeln zu entwickeln schien. Während seiner Präsenzzeiten an der Akademie, an der jeder hochrangige Ermittler von Zeit zu Zeit an den Ringvorlesungen teilnehmen musste, hatte er seinen Studenten immer eingehämmert, dass grübeln die ineffizienteste Form von denken war, die das menschliche Gehirn hervorgebracht hatte. Grübeln bedeutete, sich geistig immer wieder um ein Problem zu drehen und darin hineingesogen zu werden wie in einen Mahlstrom. Daran war nichts konstruktiv oder gar hilfreich. Gedanken hatten sich so lange um eine Problemstellung zu drehen, bis sie Lösungen und neue Ansätze hervorbrachten, während Grübeleien die immer gleichen Ergebnisse ausspuckten und sämtliche Gedankengänge verhärteten. Genau wie seine inneren Opfermonologe.
Ich bin nicht nützlich genug ohne meine Implantate, äffte er sich selbst in Gedanken nach. Früher war ich viel härter und effizienter.
Es war zum kotzen und damit war jetzt Schluss. Er straffte die Schultern, warf einen Blick über die linke Schulter, um sicherzustellen, dass sie nicht verfolgt wurden, und half dann seinen Vordermännern dabei, über die Schwelle des Druckschotts zu steigen.
Als sie den Wartungsknoten erreichten, einen großen Raum mit einem zentralen Arbeitsbereich für ein halbes Dutzend Techniker, klemmten sich Sparks riesenhafte Gestalt und der deutlich kleinere Techniker an die Steuereinheit der Sicherheitsschleuse am anderen Ende.
»Dauert einen Moment, keh?«, meldete der Soldat und drehte sich kurz zu Pascal um. Mit einer Geste bedeutete er, dass sie sich setzen und ausruhen sollten.
»Also gut«, wandte sich Pascal an die Zivilisten, während er das Schott manuell verriegelte. »Wir machen eine kurze Pause, bis die Sicherheitsschleuse offen ist.«
Ohne zu murren geriet die Menge wieder in Bewegung. Es dauerte einen Moment bis sie kreuz und quer auf dem Boden saßen, dicht gedrängt und still. Er zählte die zerzausten Köpfe durch und nickte zufrieden, als er auf 39 kam.
Während sein Blick über die Menge schweifte, kam ihm irgendetwas sonderbar vor. Erst wusste er nicht genau, was es war, doch dann fiel es ihm ins Auge: Die kleine Menschenmenge bildete beinahe exakt einen Kreis um einen Punkt, an dem eine alte Frau mit weißen Haaren saß. Er hätte das für einen Zufall gehalten, wenn sich nicht gerade in dem Moment ihre Blicke getroffen hätten. Ihre Augen waren tiefblau und durchdringend, doch das war es nicht, was ihn berührte. Vielmehr war es die Art ihrer Augen. Sie leuchteten, als habe jemand eine Lampe in den Augäpfeln angeschaltet. Ihr Blick war von einer klaren Wachheit erfüllt, die gleichermaßen aufmerksam und zutiefst gelassen wirkte.
Wie von einem Magneten angezogen, ging er zu ihr.
»Hallo«, sagte er etwas lahm, da ihm nichts Besseres einfiel, um ein Gespräch zu starten.
»Hallo, Inspektor.« Ihre Stimme war fest und klar, was ihn bei ihrem Alter von sicherlich weit über 90 Jahren überraschte.
»Sie wissen, wer ich bin?«
»Natürlich«, erwiderte sie und lächelte offenherzig. »Sie haben sich doch vorgestellt, bevor Sie uns zu der letzten Rettungsbucht geführt haben.«
»Ach ja«, erwiderte er und hätte sich am liebsten gegen die Stirn geschlagen wegen seiner eigenen Blödheit.
»Wer sind Sie?«
»Wer ich bin, oder wie ich heiße?«, fragte sie zurück und ihr Lächeln bekam einen verschmitzten, beinahe kindlichen Ausdruck.
»Wie schön, dass Sie sich scheinbar Ihre gute Laune behalten haben. Bei Gelegenheit müssen Sie mir verraten, wie Sie das anstellen«, bat Pascal mit ehrlicher Bewunderung. Irgendetwas an der Ausstrahlung dieser Frau beruhigte ihn und das war genau das, was er in diesem Moment brauchen konnte. Den anderen Zivilisten schien es ähnlich zu ergehen, saßen sie doch erstaunlich dicht in ihrer Nähe. »Aber fangen wir doch erst einmal mit Ihrem Namen an.«
»Ich heiße Kathleen Mitchell.«
»Pascal Takahashi.« Während er ihr die Hand hinhielt, dachte er schon, dass sie sagen würde: »Natürlich, Sie haben sich doch bereits vorgestellt«, doch sie schüttelte einfach seine Hand und lächelte, während sie auf den Boden vor sich deutete.
»Danke«, sagte Pascal und setzte sich, als habe sie ihn gerade in ihr Wohnzimmer eingeladen. Trotzdem fühlte es sich nicht befremdlich an und er konnte gar nicht anders, als ihrer Einladung zu folgen. Während er sie musterte und sie seine Blicke entspannt erwiderte, fiel ihm auf, dass sie sehr gerade saß.
»Sind Sie eine Nonne?«, fragte er.
»Oh nein.« Sie gluckste fröhlich – ein Laut, der ganz und gar nicht zu ihrer Umgebung und der allgemeinen Atmosphäre passen wollte und trotzdem nicht fehl am Platz wirkte.
»Was sind Sie denn?«
»Sie möchten mit dieser Frage bestimmt wissen, was ich hier tue, ist das richtig?«
»Ja, so in etwa«, gab er zu.
»Ich habe hier drei Tage einen Workshop geleitet.«
»Einen Workshop?«
»Ja. Meditation.«
»Ah«, machte er, als die Antworten langsam ins Rollen gerieten. »Verstehe.«
»Was verstehen Sie?«, fragte sie zurück und der vergnügte Ausdruck in ihren Augen machte deutlich, dass hinter der Frage deutlich mehr stand, als die bloßen Worte erahnen ließen.
»Warum Sie so ruhig sind.«
»Sie denken, das liege an Meditation?«
»Ja.«
»Wieso? Haben Sie Erfahrung mit Meditation?«
»Ja«, bestätigte er und nickte schwach. »Nach der Trennung von meiner Expartnerin habe ich eine Zeit lang auf Anraten meines Nanonikers meditiert, um meinen Blutdruck ohne medikamentöse Hilfe meines NeuroSmarts wieder in normale Bahnen zu lenken.«
Er wusste gar nicht, wann er das letzte Mal so offen mit jemandem darüber gesprochen hatte. Wahrscheinlich noch nie.
»Und? Hat es Ihnen geholfen?«, fragte sie und musterte ihn interessiert.
»Ja. Zumindest ist der Bluthochdruck nach einiger Zeit verschwunden.«
»Haben Sie sich auch besser gefühlt?«
»Ja, ich war vielleicht 10 Prozent glücklicher.«
»10 Prozent, das ist gut«, gluckste sie und wirkte dabei trotz ihres relativ hohen Alters jugendlich, geradezu kindlich. Die Falten auf ihren Wangen gerieten in Bewegung, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt.
»Das fand ich auch. Sie haben also so eine Art Seminar gemacht?«
»Ja, genau.«
»Haben Sie das für eine Non Profit Organisation gemacht?«, hakte Pascal nach, ohne genau zu wissen, worauf er hinaus wollte. Er wollte einfach mit ihr reden, weil es sich gut anfühlte.
»Oh nein!«, sie schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe mir das sehr gut bezahlen lassen.«
Als sie seine gerunzelte Stirn sah, lachte sie glockenhell.
»Was haben Sie jetzt für Gedanken über mich?«, fragte sie interessiert, ihr Lächeln noch immer ein Abbild wacher Aufmerksamkeit und Klarheit.
»Ich hatte kurz das Bild einer esoterischen Abzockveranstaltung vor Augen«, gab er ehrlich zu.
»Ich liebe die Gedanken der Menschen«, erklärte sie und machte eine fröhliche Geste um sich herum. »Sie sind so spannend, finden Sie nicht?«
»Oh doch, das finde ich auch. Deshalb bin ich Polizist geworden.«
»Sehen Sie. Sie denken: Mit Spiritualität und Meditation sollte man kein Geld verdienen, das ist Abzocke und ich finde das toll. Ich lebe gerne auf dem Land, weil ich die Natur und die Stille so mag und das ist etwas teurer. Außerdem nutze ich gerne einen Teil des Erlöses, um mittellosen Interessenten den Zugang zu meinen Seminaren zu ermöglichen, und meine Bücher kostenlos anbieten zu können.«
»Oh, das wusste ich nicht«, erwiderte er etwas zerknirscht.
»Natürlich wussten Sie das nicht«, lachte sie. »Sagen Sie, Inspektor, warum schauen Sie so besorgt drein?«
Zuerst wollte Pascal etwas Wütendes wie »Sehen Sie denn nicht, dass diese scheiß Station jeden Moment auseinanderbrechen kann? Sehen Sie nicht, dass diese Menschen gerade in Not sind? Doch irgendetwas hielt ihn zurück. Er hatte keine Lust auf einen Streit und fühlte sich auch nicht danach.
»Ich mache mir Sorgen um Sie und die anderen und um meine Freunde«, gab er schließlich zu.
»Was sind Sorgen?«, fragte die alte Dame unbeschwert.
»Ängste.« Er kannte diese Art der Befragung aus der Akademie. Die meisten Sorgen, ja sogar die meisten negativen Emotionen ließen sich letztendlich auf Angst zurückführen. Man musste nur lange genug nachforschen.
»Ja, natürlich«, sagte sie, sehr zu seiner Überraschung.
»Alle Gefühle sind die Reaktion des Körpers auf Gedanken und ich liebe Gedanken.«
»So?«, fragte er überrascht. »Normalerweise würden Menschen ihre Gedanken am liebsten abstellen.«
»Ja, weil sie Angst vor ihren Gedanken haben«, erklärte sie und aus ihrem Mund klang es wie die Feststellung einer überaus amüsanten Sache.
»Wie meinen Sie das?«
»Sagen wir, sie haben Angst davor, dass die Station auseinanderbricht, ja?«
»Ja!«
»Gut, Sie sind jetzt wie lange auf dieser Station? Einige Stunden?«
»In etwa.«
»Wie lange haben Sie schon sorgenvolle Gedanken über das mögliche Auseinanderbrechen dieser Raumstation?«
»Mindestens die Hälfte dieser Zeit«, erwiderte er.
»Gut. Wie lange würde es dauern, bis Sie tot sind, wenn jetzt eine dieser Wände«, sie machte eine Geste nach links, »aufbrechen und wir ins Vakuum geschleudert würden?«
»Ich glaube ein paar Minuten.«
»Das ist interessant. Sie werden von sorgenvollen Gedanken über den möglichen Tod im Vakuum geplagt, ohne zu wissen, ob der überhaupt eintreten wird und selbst wenn er eintreten würde, würden Sie sich höchstens einige Minuten elend fühlen, bis es vorbei ist. Die Gedanken an eine mögliche Zukunft, vor der Sie sich fürchten, scheinen mir viel schwerwiegender und unangenehmer als das befürchtete Endergebnis.«
»Hm, jetzt wo Sie es sagen ... Aber es hat schon Vorteile, sich vor dem Tod zu fürchten«, beharrte er. »Immerhin hätte ich Sie und die anderen sonst nicht herausbringen können.«
»Das liegt daran, dass Sie sich nicht bloß um Ihren eigenen, sondern auch um den Tod all dieser freundlichen Menschen gesorgt haben«, fuhr Kathleen Mitchell fort. »Aber warum fürchten Sie sich davor?«
Pascal überlegte einen Moment und sein Blick huschte kurz zu Spark und dem Techniker, die er über die Köpfe der Sitzenden hinweg gut erkennen konnte. Sie schienen noch immer in die Übernahme der Türsteuerung vertieft zu sein.
»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Davor hat doch jeder Angst, ob er es zugibt oder nicht.«
»Ich finde das ganz erstaunlich.«
»Wieso?«
»Schlafen Sie gerne?«, stellte sie ihm eine überraschende Gegenfrage.
»Natürlich. Eine Mütze Schlaf wäre jetzt nicht schlecht.«
»Jeder Mensch freut sich auf den Schlaf. Aber wo sind Sie, wenn Sie schlafen?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte er irritiert.
»Wo sind Sie, Pascal Takahashi, Inspektor der Abducted Citizens Directive, wenn Sie schlafen?«, wiederholte sie lächelnd.
»Keine Ahnung, ich schlafe eben.«
»Sie sind nicht da. Während Sie schlafen, sind Sie nicht da. Erst wenn Sie am Morgen wieder die Augen öffnen und Ihre Gedanken zurückkehren, sind Sie wieder da, existieren Sie wieder.«
»Hm«, machte er nachdenklich. »So habe ich das noch gar nicht betrachtet.«
»Die Menschen lieben den Schlaf, weil er sie im besten Fall erholt und Sie den Gedanken glauben, dass Sie morgens wieder aufwachen werden. Aber das ist nur ein Gedanke. Mit dem Tod ist es doch ganz ähnlich. Wenn Sie sterben, sind Sie, nach allem, was Sie wissen, nicht mehr da, genau wie im Schlaf. Was Ihnen daran Angst macht, ist nur der Gedanke: Ich werde nicht mehr aufwachen, das war’s.«
»Hm«, machte er erneut.
»Ob Schlaf oder Tod, der Unterschied ist nur ein Gedanke, der Ihnen vorschwebt. Niemand weiß wirklich etwas über den Schlaf oder den Tod, nur, dass beide uns in jedem Fall betreffen«, fuhr sie fort und kicherte wieder ihr aufrichtiges Glucksen. »Schauen Sie nicht so betroffen, Inspektor. Wir haben zwar keine Kontrolle darüber, was wir denken, aber sehr wohl darüber, ob wir den in unserem Kopf auftauchenden Gedanken Glauben schenken, oder nicht. Ich finde, das ist eine sehr gute Nachricht.«
»Das klingt einleuchtend, aber nicht besonders einfach. Wir sind ja schließlich nicht alle Meditationslehrer«, sagte Pascal.
»Ich bin nur eine Frau von Trafalgar, die Ihren Gedanken nicht glaubt. Ich bin eine Lehrerin, wenn anderer der Gedanke vorschwebt, dass ich eine bin.«
»Ich verstehe.« Er nickte und konnte nicht umhin, ihr Lächeln zu erwidern. Er beneidete sie um die Unbeschwertheit, die von ihr ausging.
»Wissen Sie, Inspektor ...«
»Nennen Sie mich doch Pascal, bitte.«
»In Ordnung, Pascal. Was fehlt Ihnen in diesem Moment?«
»Ähm, so ziemlich alles.«
»So?«, hakte sie nach.
»Ich wäre zum Beispiel gerne in Sicherheit und hätte mit Vorliebe mehr Unterstützung hier vor Ort.« Er dachte an Leutnant Goretzka und die Soldaten von Bismarck, die sich jetzt irgendwo nördlich von ihrer Position verschanzt hatten, um ihnen genügend Zeit für die Rettung der Zivilisten zu verschaffen und dabei zu sterben.
»Sie haben doch so viel Unterstützung«, meinte die Dame und deutete zuerst noch oben, dann zu Boden.
»Der Boden unterstützt Sie mit seiner Festigkeit, die Luft unterstützt Sie mit Sauerstoff, die Wärme Ihrer Mitmenschen sorgt dafür, dass Sie nicht frieren und Ihr Kamerad und der Techniker kümmern sich um die Tür. Das ist doch wunderbar.«
»Aber dieser Bereich könnte jederzeit auseinanderbrechen, sogar jetzt, in diesem Moment«, gab er zurück und als wolle der Orbitalring seine Befürchtungen unterstreichen, ging ein erneuter Ruck durch Boden und Wände und schüttelte sie ordentlich durch.
Als sie sich wieder aufgerichtet hatten, wirkte Kathleen Mitchell noch immer absolut entspannt.
»Das ist ein Gedanke an die Zukunft. Wir wissen nicht, wie die Zukunft aussehen wird, also glaube ich solchen Gedanken nicht. Sie haben keine Relevanz für mich. Was ich weiß, ist, dass ich im Moment alles habe, was ich zum Leben brauche, in diesem Moment.«
»Natürlich. Sie meinen, dass ich gegenwärtiger sein soll. Leben im Jetzt und so.« Er hatte in seinem Leben einige Ratgeber mit ähnlicher Botschaft gelesen und obwohl er sie interessant und die Argumente durchaus schlüssig gefunden hatte, fand er es doch nicht einfach, das umzusetzen. Wie sollte das überhaupt gehen.
»Das ist nicht so einfach, hm?«
»Nein.«
»Das ist auch nur ein Gedanke. Wirklich spannend.«
Als er einen Moment nichts sagte, wurde ihr Lächeln noch ein wenig breiter. »Wissen Sie, als der indische Weise Jiddu Krishnamurti sagte: Wenn Sie einem Kind den Namen des Vogels beibringen, wird es nie wieder den Vogel sehen.«
»Der Gedanke Vogel ist nicht der Vogel.«
»Genau. Nur weil wir einem Ding ein Etikett geben, verstehen wir es noch lange nicht. Doch durch dieses Etikett verliert es seine Begeisterungsfähigkeit. Was für ein unglaubliches Geschöpf, das sich mit zarten Schwingen über die niederziehende Schwerkraft erhebt, denken Sie nicht?«
»Ja«, gab er nachdenklich zu, während in seinem Kopf einiges in Bewegung geriet.
»Cop?« Sparks Funkspruch ließ Pascal zusammenzucken, als habe ihn ein Blitz getroffen.
»Ja?«, fragte er mit dröhnendem Puls.
»Wir sind so weit. Kann gleich losgehen.«
»Hab verstanden, danke.«
An die ältere Frau gerichtet fuhr er fort: »Wir können gleich weiter. Danke.«
»Wofür?«
»Für das Gespräch.«
»Oh«, lachte sie. »Sie haben nur mit sich selbst gesprochen.«
Er wollte sie fragen, wie sie das meinte, doch ein gewaltiges Beben riss ihn von den Beinen und dieses Mal war etwas zu Bruch gegangen. Der kalte Kompositboden barst quer durch den Raum und es knirschte und knarzte so laut, dass es in den Ohren klingelte.
»Heilige Scheiße«, fluchte er. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Falls sie überhaupt noch Zeit hatten.
Die Schlacht war noch lange nicht gewonnen, sie verlagerte sich bloß. Mit dem Auftauchen der Festungshabitate im Orbit über DeGaulle wurden die Karten allerdings neu gemischt. Die taktische Übersichtskarte zeigte Jeremy deutlich, dass die gigantischen Laser der Locusts tiefe Löcher in die Reihen von Alphas Erdprotektorat rissen. Wo ihre Energie aus tanzenden Photonen nicht durch genügend absorbierende Masse aufgehalten wurde, schoss sie in den kalten toten Raum davon und würde irgendwann, irgendwo etwas verdampfen.
Oder irgendwann kraftlos vergehen, dachte Jeremy und versuchte, die einsetzende Müdigkeit in seinen Gliedern zu ignorieren.
Auf dem Holoschirm verfolgte er, wie sich zwei kleinere Raumschiffe der Locusts aus dem Hangar der WizKid lösten und blitzschnell durch Hyperraumfenster schlüpften. Knurrend warf er einen Blick über die Schulter und bedachte die Mitglieder des Konklaves mit missbilligend zusammengezogenen Brauen. Er hasste es, dass sie sämtliche Systeme kontrollieren und ihn überstimmen konnten. Auf seinem eigenen Schiff!
Wir haben zwei Kuriere ausgesandt, die den nachrückenden Flotten unsere neue Position mitteilen, sendete eine der Locusts und warf ihm einen durchdringenden Blick zu. Er sollte seine Gedanken besser abschirmen.
»Macella«, wandte sich Jeremy an seinen ersten Offizier. »Gib mir deine Einschätzung.«
»Die Feindschiffe gruppieren sich neu zu einer offenen Formation. Die Durchschlagskraft der Laser wird bald deutlich nachlassen, wenn sie nur noch einzelne Schiffe und keine Verbände mehr treffen können«, meinte sie und tippte etwas auf ihr Armdisplay, bevor sie aufstand und mit dem Finger einige Flugbahnen auf dem Holoschirm nachzeichnete. »Ich würde empfehlen, dass wir uns in einem niedrigen Orbit positionieren und den Planet so gut wie möglich abschirmen. Sie könnten versuchen, auf DeGaulle zu zielen und so unsere Streitkräfte aufteilen.«
»So machen wir es«, stimmte Jeremy ihr zu und nickte zufrieden.
Er gestattete sich, sie einen Moment zu mustern. Mit den Augen fuhr er ihre elfenhaften Gesichtszüge nach, die so gar nicht zu ihrer militärischen Direktheit zu passen schienen und versank in ihren tiefblauen Augen. Als sie sich nach dem Kampf auf Exo näher gekommen waren, hatte er noch darüber nachgedacht, ob es sich lediglich um Hormonwallungen nach dem Abklingen des Adrenalins gehalten hatte, doch mittlerweile war er sicher: Er liebte sie, und zwar mit jeder Faser seines Seins.
»DIESE VERKACKTEN SCHWEINE!«, brüllte Walter plötzlich und Jeremy schreckte aus seiner kurzen Liebestrance auf wie aus einem Eisbecken.
»Was ist los?«, fragte er alarmiert und krallte sich mit den Fingern in die Armlehnen seines Kommandosessels.
»Das ist los!«, grollte der Ingenieur und deutete auf den Holoschirm. Seine Stimme hatte sich so verändert, dass Jeremy sich Sorgen machte. Walter klang nicht mehr wütend, sondern ... entrückt.
Das Bild auf dem Schirm flackerte kurz aufgrund einer Interferenz und dann wechselte die taktische Analysedarstellung mit ihren vielen bunten Kurven, Diagrammen und Zahlenkolonnen auf die noch nicht verschmorten Teleskope der WizKid: Sie zeigten einen glühenden Planetoiden mit schwarzen Stellen, die wie Pestbeulen aussahen. An den Rändern zogen sich rote Äderchen aus Lava entlang und breiteten sich in sämtliche Richtungen aus. In der Atmosphäre tobten Superstürme aus heißem Plasma, die auf dem Kamerafeed klein aussahen, auf der Oberfläche jedoch ganze Kontinente zerstörten.
»Was ist das?«, fragte Jeremy irritiert und ein düsteres Gefühl in seinen Eingeweiden verdeutlichte ihm, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde.
»Das ist Bismarck.« Walter flüsterte und doch traf jedes einzelne Wort Jeremy wie ein Messerstich. Irgendetwas in ihm wollte zerbrechen und sich schreiend einen Weg nach außen bahnen, doch es geschah nicht. Es geschah nicht, weil eine Erinnerung in ihm aufstieg, die er lange Zeit verdrängt hatte. Zu der Zeit, als er noch am meisten unter seinen Eltern gelitten hatte, also bevor er ins Teenageralter gekommen war und anfing sich zu wehren, hatte er alles gehasst, was um ihn herum geschehen war. Die empathielosen Versuche seines Vaters, ihn zu einem gehorsamen Jungen zu erziehen. Die traumatischen Erlebnisse beim Schlachten von Wild und Geflügel in ihrem Landhaus in der Heusingerebene. Noch schlimmer hatte er allerdings seine Mutter in Erinnerung, die ihm dafür den Hintern versohlt hatte, dass er bei ihr Schutz gesucht und geweint hatte. »Ein Soldat weint nicht«, war das Einzige, was sie dazu zu sagen gehabt hatte.
Zu jener Zeit war es häufig vorgekommen, dass Jeremy über das Ende seiner Welt phantasiert hatte. Er hatte sich vorgestellt, dass ein Himmelskörper mit Bismarck kollidierte und alles vernichtete, was er so sehr hasste. Feuerstürme, die alles verbrannten waren in seinem Kopf entstanden, genau wie riesige Wellen und kleine grüne Männchen, die alles und jeden töteten, angefangen bei seinen Eltern.
Jene Bilder, die jetzt über den Holoschirm zogen, ähnelten diesen Fantasien des kleinen Jungen, der er gewesen war so sehr, dass es ihm die Sprache verschlug. Ein Teil von ihm fühlte sich schuldig, als hätten allein seine Gedanken aus der Vergangenheit den Tod seiner Heimat heraufbeschworen. Ein anderer Teil war schockiert über das Ende all dessen, mit dem er aufgewachsen war. Dann brachen die Gedanken über die Auswirkungen dieser Zerstörung über ihn herein: All die Menschen, die sie hatten zurücklassen müssen: Alte, Kinder, Kranke, die sich nicht an den Kampfhandlungen im Weltraum beteiligen konnten – tot. Ausgelöscht von Alphas Rache nach ihrem Ausbruch, von ihrem Plan. Von Jeremys Plan.
Bismarck war nach Europa der zweite Mond gewesen, der um den Gasriesen Zeus I kreiste und von den europäischen Kolonisten erkundet und besiedelt worden war. Hier hatten sie zum ersten Mal erfahren, dass die bisherigen Beobachtungen des Archimedes Systems tatsächlich stimmten: Es gab fünf Monde mit einer Atmosphäre, die sich in der habitablen Zone des Sonnensystems befanden. Keine Messfehler, keine bösen Überraschungen vor Ort nach einer einhundert Jahre langen Reise ohne Rückreiseticket. Damals hatte noch niemand ahnen können, dass die böse Überraschung erst viele Jahrzehnte später kommen würde, und zwar in Form einer KI. Einer KI, die Moreau erschaffen hatte.
Am liebsten hätte ich dich zweimal getötet, du verdammter Hund, fluchte er innerlich und gestattete seiner Wut, an die Oberfläche zu gelangen. Sie war eindeutig besser als das toxische Gemisch aus Schuldgefühlen und Trauer, das in ihm aufzusteigen drohte.
Eine Hand auf seinem linken Arm ließ ihn hochfahren wie aus einem Alptraum. Es war Macella, die sich zu ihm herübergebeugt hatte und ihn mit geröteten Augen ansah. Betroffenheit und Mitgefühl lagen in dem tiefen Blau. Als Jeremy seine zu Fäusten verkrampften Hände löste, sah er auf seine brennenden Handflächen hinab und entdeckte frisches Blut in ihnen, wo seine Nägel sich ins Fleisch gebohrt hatten. Er betrachtete sie einen Moment als gehörten sie nicht wirklich zu ihm – immerhin spürte er nichts. Keinen Schmerz, nicht einmal ein Brennen.
»Jeremy«, sagte Macella mit sanfter Stimme. Ein Blick in ihr Gesicht genügte, um zu sehen, dass sie noch etwas hinzufügen wollte, aber offenbar nicht wusste was.
»Kurs halten«, befahl er heiser und spürte eine Welle der Unruhe über sich hereinbrechen, die sich fremdartig anfühlte. Sie gehörte nicht zu ihm. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu verstehen, dass die Locusts des Diplomatischen Konklaves auf seine zweifellos starken emotionalen Ausdünstungen reagierten, die ins Gaiafeld übergegangen waren. Dies bestätigte sich auch durch die anschließende Welle aus Mitgefühl und Wärme, die sich aus ihren Geistern über ihn ergoss wie ein heilsamer Trunk aus dem Jungbrunnen. Obwohl auch ihr Mitgefühl sich irgendwie entrückt anfühlte, wie ein Ton, der zwar beinahe, aber doch nicht ganz getroffen wurde, tat es unheimlich gut. Es war der gleiche Effekt, den er bereits auf Bismarck erlebt hatte, als sich Menschen und Locusts zum ersten Mal im kolonieumspannenden Gaiafeld trafen. Nein, nicht trafen, sondern berührten. Die Gefühle der Aliens waren anders. Fremdartig und immer ein wenig außerhalb der Reichweite des eigenen Erlebens. Trotzdem war die Intention dahinter klar zu erkennen und so war es auch jetzt.
Jeremy bildete sich nicht ein, die Außerirdischen zu verstehen, und doch glaubte er, zumindest einige wenige Dinge mittlerweile einschätzen zu können. So war er beispielsweise davon überzeugt, dass sie deutlich empathischer und direkter auf die Emotionen anderer reagierten. Das Mitgefühl, das die sechs Locusts des Konklaves ihm gerade hilfreich zur Seite stellten, war ebenso aufrichtig wie natürlich. Wo sie Leid spürten, nahmen sie automatisch daran Anteil, egal ob es ihr eigenes war oder nicht. Das Gaiafeld unterschied nicht zwischen zwei Teilnehmern. Gefühle wurden einfach geteilt gefühlt und verloren damit ein wenig an Schwere und Schärfe. Sie verschwanden dadurch nicht, doch ihre Last reduzierte sich spürbar durch die soziale Wärme, die sich im Feld ausbreitete. So sehr Jeremy das SenseNet auch genossen hatte – er würde das Gaianest in seinem Kopf nie wieder hergeben. Zumindest nicht freiwillig. Alles an der auf gelenkter Evolution basierenden Technologie der fremdartigen Alien wirkte organisch und echt. Irgendwie direkter und näher, als füge sie sich in den natürlichen Lauf der Dinge ein, während sich die unbestrittenen Wunder menschlichen Erfindungsgeistes eher wie unnatürliche Eingriffe in den Plan des Universums anfühlten. Kurz: Menschliche Technik war kalt und die der Locusts warm. Zumindest war das der treffendste Vergleich, der ihm einfiel.
»Danke«, sagte er schließlich an niemand Besonderen gerichtet, denn seine Dankbarkeit schloss sowohl Macella als auch die Locusts ein.
Niemand sagte etwas. Macella drückte noch einmal seinen Arm und schien einen Impuls zu haben, da ihre Augenlider kurz zuckten. Doch sie sagte nichts. Stattdessen seufzte sie leise und setzte sich zurück auf ihren Sessel. Walter schwieg, obwohl Jeremy seine Betroffenheit im Gaiafeld überdeutlich spüren konnte, während Felicity verunsichert auf ihre Konsole starrte.
»Kurs auf DeGaulle halten«, befahl Jeremy schließlich heiser und schaltete zurück auf die taktische Übersicht. Die unaufgeregten Symbole aus Dreiecken, Punkten, Quadraten, Pfeilen und Linien hatten etwas Beruhigendes an sich. Was mit Bismarck geschehen war, war geschehen und nichts, was sie jetzt noch taten, würde etwas an dieser Tatsache ändern können.
Mit DeGaulle verhielt es sich allerdings anders. Hier konnten sie einen Unterschied machen und dafür sorgen, dass Alpha ihren Massenmord nicht wiederholen würde. Fantasien darüber, wie er die KI für ihre Verbrechen bestrafte, stiegen in ihm auf, obwohl er wusste, wie dämlich das war. Ein Algorithmus tat nichts aus niederen Beweggründen, nicht um ihn leiden zu lassen oder die Menschheit zu bestrafen. Wenn sie etwas tat, dann aus reiner Berechnung.
»Sie will uns eine emotionale Reaktion entlocken«, sagte Jeremy laut.
»Was?«, fragte Felicity von vorne und drehte sich mit gerunzelter Stirn zu ihm um.
»Sie will uns eine emotionale Reaktion entlocken«, wiederholte er nach einem Räuspern. »Alpha hält Emotionen mit Sicherheit für eine Schwäche von uns Menschen, weil sie aus dem logischen Muster des Ursache-Wirkung-Prinzips herausfallen. Als künstliche Intelligenz versucht sie sämtliche Vorgänge im Universum durch Datensätze und Berechnungen zu analysieren und vorherzusagen. Emotionen aber sind die Reaktion des Körpers auf Gedanken, wie du mir einmal erzählt hast.«
Er schaute zu Felicity, die langsam nickte.
»Das scheint mir logisch, ja«, stimmte sie zu.
»Alpha konnte nichts Unmittelbares daraus gewinnen, Bismarck zu Schlacke zu verbrennen. So gut wie alle Ressourcen waren bereits verbraucht, sämtliches dienstfähige Personal war abgezogen und militärisches Gerät gab es dort auch nicht mehr. Sie wollte also eine emotionale Reaktion aus uns hervorlocken, damit wir vielleicht unsere Formation aufbrechen und sie die Festungshabitate aus dem Spiel nehmen kann. Vielleicht auch, um weit vorher Pascals Flottille von ihrem Ziel abzubringen, das sie nicht kannte.«
Jeremy verschwieg natürlich, dass er tatsächlich kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Bismarck zu fliegen. Zum ersten Mal freute er sich beinahe, dass die Locusts letztendlich die Kontrolle über sein Schiff hatten.
Über den Holoschirm sah er, wie Macella an sämtliche noch intakte Einheiten im System weitergab, nicht Bismarck anzusteuern und die noch verbliebenen Kolonien zu schützen. Es waren so wenige, dass Jeremy feuchte Augen bekam.
»Wie lange, bis wir im Orbit eintreffen?«, fragte er.
»Fünfzehn Minuten«, gab Macella zurück.
»In Ordnung.« Er wandte sich an Walter: »Gib mir sämtliche Bewegungen des Erdprotektorats auf den Schirm.«
Der Ingenieur antwortete nicht, doch die grünen Punkte für Freundschiffe und ihre Flugbahnen verschwanden zugunsten einer schematischen 3D-Ansicht des inneren Systems. Rote Dreiecke ploppten auf, erst nur einige wenige, dann mehr, die immer schneller nacheinander auftauchten. Das Bordbewusstsein berechnete die als rote Bögen erscheinenden Flugbahnen, die sich den Bewegungen der Himmelskörper anpassten. Alpha teilte ihre Flotte auf die verbliebenen Koloniemonde DeGaulle, Verdi und Trafalgar auf. Das war zu erwarten gewesen.
Als er die verbündeten Einheiten von Menschen und Locusts hinzufügte, brauchte er nicht lange, um zu verstehen, dass sie es nicht schaffen konnten. Zumindest nicht, wenn nicht bald mehr Freunde der Aliens auftauchen würden. Was sie jetzt brauchten, war der Neuromorph.
Wo steckst du nur? Jeremy knetete seine Hände, während er das Bordbewusstsein anwies, weiterhin nach Behemoth zu suchen. In Gedanken spielte er durch, wie die Umrisse des Weltraumungetüms auf dem Schirm auftauchten, doch sie waren ein winziges bisschen anders, als er sie in Erinnerung hatte. Weil er es so wollte. Er dachte fest an diese Umrisse, um sie dem Bordbewusstsein als Vorlage für seine Scans zur Verfügung zu stellen.
»Wo steckt eigentlich Kommandant-Erzeuger?«, fragte er Macella, als ihm eine Idee kam, die er sorgsam zwischen seinem emotionalen Schmerz über das Ende von Bismarck und seinen Gedanken an die Umrisse Behemoths versteckte.
»Im Maschinenraum«, antwortete Walter an ihrer Stelle. »Er arbeitet mit einigen Locust-Technikern an der weiteren Integration ihrer Systeme.«
»Wie sieht es mit den Schäden aus den beiden Volltreffern aus, die wir bei unserer Ankunft davongetragen haben?«
»Wir haben noch immer keine Atmosphäre in etwa sechzehn Prozent des Schiffes. Mehrere Hüllendurchbrüche steuerbords und zerstörte Supraleiter. Ich könnte diese Liste ewig fortführen«, brummte Walter.
»Verstehe«, erwiderte Jeremy und stand aus seinem Sessel auf, um neben seinen Ingenieur zu treten, der ihm von seiner Arbeitsstation aus einen verwirrten Blick zuwarf.
»Lässt sich irgendetwas davon im Maschinenraum beheben?«, fragte er und kniff leicht die Augen zusammen, als Walter zu einem Kopfschütteln ansetzen wollte. Sie flogen glücklicherweise schon lange genug zusammen und der Bismarcker verstand.
»Ja, natürlich«, brummte Walter schließlich und klang tatsächlich überzeugend. Seinen Gedanken im Gaiafeld ließ sich allerdings nichts Konkretes entnehmen, da sie von seinen aufgewühlten Gefühlen überlagert wurden. Darin einen klaren Gedanken erkennen zu wollen, war als hielte man einen Grashalm vor die Sonne und versuche seine Konturen auszumachen, während man sich die Augen verbrannte. »Die Magnetspulen müssten neu angeordnet werden und die Wärmetauscher ausgetauscht.«
»Ich kümmere mich darum. Du überwachst derweil die laufenden Reparaturen«, sagte Jeremy knapp und kehrte zu seinem Sessel zurück. »Macella, du hast die Brücke!«
Macella wollte protestieren und ihre Verwirrung war deutlich im Gaiafeld zu spüren, doch nachdem er kurz mit dem Kopf schüttelte, klappte sie ihren Mund wieder zu und nickte. »Aye, Captain.«
Er warf den sechs Locusts des Konklaves einen kurzen Seitenblick zu, in Erwartung eines Einspruchs, doch offenbar hatten sie keine Einwände. Die Tarnungsversuche durch das Verstärken seiner emotionalen Betroffenheit hatten offenbar funktioniert. Wahrscheinlich half ihm die Tatsache, dass nicht nur ihre Gedanken fremdartig und nicht immer durchsichtig für ihn waren, sondern es sich umgekehrt ähnlich verhielt. Oder er würde in Kürze erledigt sein.
Um nicht weiter über diese Möglichkeit nachdenken zu müssen, loggte er sich aus der virtuellen Brückenumgebung aus.
Als er die Augen öffnete – seine echten Augen -, war der Deckel seines Beschleunigungstanks bereits geöffnet und sein Kopf befand sich bereits oberhalb des Gels. Das Bordbewusstsein hatte die Kontrolle übernommen, bis sich der zähflüssige grüne Schleim aus seinen Lungenflügeln und seinem Magen entleert hatte, um ihm kein Trauma zu verpassen, das ihn die nächsten Male womöglich davon abhalten würde, noch einmal in den Tank zu steigen. Vorsichtig kletterte er über den Rand und die Leiter hinab, duschte sich in einer der winzigen Hygienekammern und schlüpfte dann in seinen ExoSuit. Ein Blick auf das Chronometer in seinem Helm verriet ihm, dass er für alles etwa acht Minuten benötigt hatte. Das bedeutete, dass er noch einige Minuten Zeit hatte, bis sie den Orbit erreichten.
Die WizKid beschleunigte nicht mehr, da sie aufgrund der kurzen Distanz zu DeGaulle sonst zu stark hätten wenden und bremsen müssen – ein Vorteil, da er in der Schwerelosigkeit deutlich besser vorankommen würde, als unter einigen g Beschleunigung. Wenn die Zeitangabe bis zu ihrem Eintreffen über DeGaulle korrekt gewesen war, blieben ihm noch etwa fünf Minuten, bis das Wende- und Bremsmanöver einsetzen und er an die nächste Wand geklatscht werden würde. Wenn er also nicht wie ein Insekt auf der Scheibe einer MagKapsel enden wollte, musste er sich beeilen, um einen der Notfall-Beschleunigungssitze im Maschinenraum zu erreichen.
Mit geübten Bewegungen hangelte er sich an den Haltegriffen der Gänge und Schächte entlang zum nächsten Aufzug und sagte: »Maschinenraum«.
Geräuschlos glitt er durch die Zentralachse des Schlachtschiffes. Es dauerte nur wenige Sekunden, in denen der Fahrstuhl auf ein rundes g beschleunigte und ihm für einen Moment das Gefühl vermittelte, in einem ganz normalen Aufzug zu stehen. Als das Gefährt wendete, wurde ihm wie immer einen Wimpernschlag lang übel, als die Schwerkraft ihre Richtung änderte und der Bremsrichtung folgte.
Ein Fiepen ging den sich öffnenden Türen voraus und er stieß sich in den kurzen Korridor hinaus, der zum Maschinenraum führte. Er glitt durch die Schwerelosigkeit wie ein erstarrter Fisch und fing sich kurz vor dem Schott mit der Aufschrift »Maschinendeck C1« ab, um der Türsteuerung Zeit zu geben, seinem Befehl zu folgen und sich zu öffnen.
Im Inneren saßen Kommandant-Erzeuger, den er an seinem ramponierten Biopanzer erkannte, den er noch immer nicht ausgewechselt hatte, und zwei weitere Locusts auf Beschleunigungssitzen, die aus der Wand gefahren waren. Falls sie seine Ankunft bemerkt hatten, ließen sie es sich nicht anmerken. Stattdessen tippten sie auf Touchpads und fremdartigen Geräten herum, die ein wenig an die Utensilien in dem Aufwachraum des Habitats erinnerten.
Ohne zu zögern, schwebte Jeremy zu einem Wandpanel und schlug auf den roten Notfallknopf. Das Panel glitt lautlos zurück und ein Beschleunigungssitz kam zum Vorschein, der sich in einer kardanischen Aufhängung nach vorne aufklappte. Er setzte sich hinein und die nanonischen Membrangurte flossen um seinen Oberkörper wie schwarzes Quecksilber, bevor sie sich sanft festzogen.
Jeremy, sendete Kommandant-Erzeuger. Ich verspüre Überraschung darüber, dich hier zu sehen. Solltest du nicht das Schiff fliegen?
Das Schiff schafft das schon, antwortete Jeremy vieldeutig.
Ich meinte damit eine unausgesprochene Frage: Was tust du hier?
Darüber können wir sprechen, wenn wir gebremst ... Er kam nicht mehr dazu, seinen Gedanken zu Ende zu denken, denn für einen Augenblick verlor er die Orientierung, als sich das massive Schlachtschiff umdrehte. In seinem Geist sah er die WizKid vor sich, wie ihre riesige Antriebsfackel, die schwach glühte, da die meisten Gondeln noch immer zerstört waren, erlosch. Der massive Rumpf drehte sich in diesem Moment einmal um die eigene Achse und dann zündete die Gondel wieder, diesmal etwas stärker in Richtung des Planetoiden DeGaulle.
Das Abbremsen war brutal. Mit mindestens vier oder fünf g wurde er in seinen Beschleunigungssitz gepresst und fühlte sich wie eine Tomate, die jemand mit voller Kraft gegen eine Scheibe schlug. Sämtliche Knorpel und Gelenke in seinem Körper schrien auf und brannten wie Feuer. Die medizinischen Überwachungssysteme des Sitzes reagierten mit dicken Nadeln, die ihm seitlich in den Hals gerammt wurden. Der Medikamentencocktail aus Amphetaminen, Analgetika und Blutverdünnern, die seine Adern offen und sein Blut flüssig hielten, wurde injiziert. Trotzdem biss er knurrend die Zähne aufeinander und betete, dass die Tortur bald vorüber war.
Am Ende dauerte es geschlagene drei Minuten, in denen die entgegengesetzte Beschleunigung immer weiter abnahm, bis sie schließlich abgeebbt war und einer angenehmen Mikrogravitation von 0,3 g wich.
Ächzend entfernte er die Gurte und prüfte Muskeln und Gelenke. Sie fühlten sich an wie Wackelpudding, knackten aber wie trockenes Holz.
Das war höchst unangenehm, dachte er.
Ja, stimmte Kommandant-Erzeuger ihm zu und befreite sich ebenfalls aus seinem Sitz. Die anderen Locusts blickten nicht einmal auf, sondern setzten ihre Arbeit an den insektenartigen Aliengeräten fort.
Können wir reden?
Du meinst sprechen?, fragte Kommandant-Erzeuger zurück.
Ja.
Warte bitte einen Moment. Der Locust ging zu einer kleinen Klappe an der Wand und zog eine Werkzeugbox hervor. Nachdem er darin herumgewühlt hatte, zog er sein mittlerweile arg mitgenommen aussehendes Armdisplay hervor und schnallte es sich um. Die beiden Aliens sahen kurz auf und legten den Kopf schief – zweifellos eine Geste der Missbilligung.
»Ich bin bereit«, sagte das Übersetzungsprogramm. »Aber immer noch verwirrt.«
»Ich muss vertraulich mit dir sprechen«, erklärte Jeremy.
»Das habe ich mir gedacht. Mich verwirrt eher der Grund dafür.«
»Können sie uns verstehen?«, fragte er und deutete ein Nicken in Richtung der beiden Locust-Techniker an, die wieder über ihren Gerätschaften brüteten.
»Nein. Sie können ohne Hilfsmittel keine Gerätschaften nutzen, um akustische Signale in Gaia umzuwandeln und selbst wenn sie es könnten, bräuchten sie Übung und die würden sie nicht bekommen, weil sie den Kalten Tod fürchten.
»Und deine Gedanken beim Sprechen? Vor der Übersetzung denkst du doch über das Gaiafeld«, hakte Jeremy nach.
»Ich kann meine Gedanken abschirmen. Ich bin Teil des Geheimdienstes meiner Fraktion, wie du weißt. Wie geheim wären wir, wenn wir uns nicht schützen können?«
»Guter Punkt.«
»Also, mein Freund, worum geht’s?«, fragte Kommandant-Erzeuger und deutete auf den Werkzeugkoffer.
»Bin ich das wirklich? Dein Freund?«
»Das hoffe ich sehr. Falls du auf meinen angedeuteten Verrat beim Anflug der Festungswelt anspielst, glaubst du mir hoffentlich, dass ich uns allen damit das Leben gerettet habe.«
»Ja«, gab Jeremy zähneknirschend zu. »Trotzdem hat es sich echt mies angefühlt.«
Statt zu antworten, legte der Außerirdische seinen großen V-förmigen Kopf schief.
»In Ordnung. Also wir sollen ja den Neuromorph vernichten, weil deine Spezies das als Bedingung für eine Allianz und damit unser Überleben diktiert hat«, erklärte Jeremy. »Aber du weißt genauso gut wie ich, dass der Neuromorph nicht das Problem ist, sondern eine Chance, uns alle zu retten.«
»Er ist nicht bösartig und war gut zu uns«, stimmte Kommandant-Erzeuger ihm zu. »Allerdings hat das Konklave Angst vor ihm und aus ihrer Sicht kann ich das auch verstehen. Die Reinheit von Gedanken und Emotionen lassen sich durch Erinnerungen zwar verstehen, aber nicht direkt nachvollziehen.«
»Ja. Sie glauben uns also, dass wir glauben, dass der Neuromorph gut ist. Mehr nicht.«
»Ja.« Kommandant-Erzeuger nickte, beinahe wie ein Mensch.
»Wir müssen ihn retten«, drängte Jeremy den Außerirdischen.
»Das wäre Verrat. Wir haben etwas anderes geschworen.«
»Ich glaube, dass ich eine Möglichkeit wüsste, wie wir unser Versprechen einhalten und den Neuromorph trotzdem am Leben erhalten können.«
»Du hast meine Aufmerksamkeit«, dröhnte der satte Bariton aus dem Übersetzungscomputer.
»Wir brauchen dafür die Hilfe von Pascal – ich hoffe, dass er noch lebt. Außerdem müssen wir Behemoth finden, und zwar schnell.«
In Pascal erwachte jener Überlebensinstinkt, der ihn schon während der Schlacht um Neu Rom durch die Feuer der Hölle geführt hatte. Eine riesige Furche von einem halben Meter Breite zog sich durch den Boden wie eine aufgerissene Narbe. Darunter kam das nächste Deck zum Vorschein, auf das Trümmerstücke, Staub und zwei glücklose Zivilisten hinabstürzten. Sie schrien und ruderten wild mit den Armen, dann gab es zwei kurz aufeinanderfolgende, hässliche Geräusche und sie verstummten. Von irgendwoher strömte Rauch in den plötzlich viel zu klein gewordenen Raum und legte sich unter die Decke wie schwarzes Gift.
Hustend zog Pascal den Kopf ein, setzte über den aufgerissenen Abgrund hinweg und folgte Sparks wilden Gesten. Einmal stieß er mit jemandem zusammen und wurde zur Seite geschleudert. Seine Rüstung fing den Sturz größtenteils ab, doch in seiner Schulter erwachte ein stechender Schmerz.
Als Pascal sich wieder aufgerappelt hatte, fiel ihm ein, dass er seinen Helm versiegeln musste, den er im Gespräch mit Kathleen Mitchell geöffnet hatte. Er tat es und die interne Sauerstoffversorgung sprang an. Noch drei Schritte bis zu Spark und der gerade geöffneten Luftschleuse. Sie erschienen ihm unendlich weit.
Ein Knall brachte seine Helmsysteme zum Aktivieren der Audiofilter, als vor ihm zwei ältere Männer die Hände an ihre Ohren pressten und schreiend zu Boden gingen. Noch immer wackelte der Boden wie bei einem Erdbeben. Ein kurzer Blick nach links und er sah durch den dichter werdenden Qualm, wie die Wand Blasen schlug.
»Cop, beeil dich! Hier fliegt uns gleich alles um die Ohren, keh?«, funkte Spark und klang zum ersten Mal wirklich nervös.
»Ich gebe mir Mühe«, ächzte Pascal und blieb wie angewurzelt stehen. Er fuhr herum und suchte, doch er fand sie nicht. Kathleen Mitchell. Diese weise Frau, die wie ein Ruhepol inmitten des Chaos gelächelt hatte. »Wo ist sie?«
»Was?«, funkte Spark zurück.
»Sie ist nicht da! Ich sehe sie nicht«, fluchte Pascal und wollte gerade zurück in die Rauchwolke springen, als er von hinten gepackt und zurückgezogen wurde.
»Schlechter Zeitpunkt, um den Verstand zu verlieren!« Es war Spark, der ihn jetzt grob durch die gerade geöffnete Luftschleuse zerrte. Hinter ihnen fuhr das Schott herunter wie eine Guillotine. Pascal sprang auf und presste sein Visier an das kleine Bullauge.
Dann sah er sie: ihre grauen Haare waren größtenteils verbrannt, doch ihr freundliches Gesicht hatte das Lächeln nicht verloren. Kathleen Mitchell stand einfach vor dem Schott, das Spark direkt vor ihrer Nase geschlossen haben musste.
»Aufmachen!«, schrie Pascal und hämmerte auf den Türknopf, doch nichts geschah.
»Es ist zu spät«, funkte Pascal von hinten. »Die Notverriegelung hat sich aktiviert, als die ersten Rauchschwaden eingedrungen sind.«
Pascal presste eine Hand an die Scheibe, da ihm nichts einfiel, das seine Hilflosigkeit besser ausdrücken könnte. Die alte Frau lächelte und ihre Augen waren frei von Kummer oder Schmerz, als erneut der Boden erzitterte und er erneut von den Beinen gerissen wurde. Er stieß mit dem Helm gegen das Schott und ging zu Boden.
»Meine Güte«, hörte er von irgendwo. Möglicherweise war es Spark, doch über das Klingeln in Pascals Ohren hinweg war das schwer zu sagen.
Als er sich wieder aufgerichtet hatte und durch das Bullauge spähte, war Kathleen Mitchell verschwunden und mit ihr die gesamte andere Seite. Wo sich eben noch ein halb zerstörter, von giftigem Rauch vernebelter Raum befunden hatte, gähnte jetzt die Schwärze des Weltraums. Am linken Rand seines Sichtfelds glänzte die schwarze Silhouette der Nachtseite von DeGaulle mit ihren hell erleuchteten Städten und geradeaus entfernte sich in diesem Moment die andere Seite des Orbitalrings. Die gigantische Struktur war aufgerissen, als hätte ein Riese von einem Donut abgebissen. Feuer flammten auf hunderten Decks auf und vergingen im Vakuum ebenso schnell, wie die vielen Fontänen entweichender Atmosphäre. Weiter entfernt, kurz vor der Terminatorlinie des Planetoiden wurde der Ring an einer anderen Stelle zerrissen und das abgetrennte Stück deutete eine Drehbewegung an. Es würde schon bald auf DeGaulle stürzen und er betete zu Gott, dass es vorher durch die einwirkenden Kräfte zerrissen wurde, um in der Atmosphäre zu verglühen. Ein seltsamer Gedanke, sich so etwas zu wünschen und allein der Gedanke an die vielen Seelen, die möglicherweise auf dem abstürzenden Stück in den Tod gingen, drehte ihm beinahe den Magen um.
So viel Tod, dachte er und sah WizKid vor seinen Augen. Dann folgten Leutnant Goretzka und die Gesichter der namenlosen Bismarcker Soldaten, die dort gerade starben oder schon gestorben waren, um ihnen das Überleben zu ermöglichen.
»Hey, Cop! Das ist Scheiße, klar. Aber wir haben hier ein paar Leute, die noch Hilfe brauchen«, funkte Spark und Pascal riss seinen Blick von der apokalyptischen Szenerie vor dem Bullauge los. Daran, dass sie nun nur noch ein einzelnes Schott von der Kälte des Vakuums trennte, versuchte er nicht zu denken.
»Ja«, antwortete er heiser und drehte sich um. Zwei Schritte und er hatte die Luftschleuse hinter sich gebracht. Die Schwere in seinem Magen begleitete ihn.
Hätte er nicht gewusst, dass sie immer in eine Richtung gegangen waren, hätte er denken können, dass sie wieder in der ursprünglichen Rettungsbucht angekommen waren. Der einzige Unterschied zu der vorherigen bestand darin, dass hier noch sämtliche Evak-Kapseln auf sie warteten. Das Licht an der Decke flackerte einige Male und brannte dann wieder konstant. Wie lange noch, würde sich zeigen.
Fünf ältere Männer und eine Frau hatten es außer ihm, dem Techniker und dem Oberfeldwebel geschafft.
Nur so wenige.
»Jerome, mach eine Rettungskapsel fertig. Ich weiß nicht, wie lange wir noch Saft haben«, befahl Spark und blickte zu den erneut bedrohlich flackernden Deckenleuchten. Bei Jerome handelte es sich offenbar um den Techniker, der kurz nickte und dann mit seinem Analysegerät zu der Steuerkonsole eilte.
Die Schwerkraft veränderte sich leicht. Sie nahm deutlich ab, jetzt wo der Ring nicht mehr konstant in eine Route rotierte und veränderte ihre Richtung. Nicht so stark, dass eine der Wände zum Boden geworden wäre, aber doch gerade genug, dass Pascal das Gefühl hatte, abzurutschen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Entweder das Fragment, auf dem sie sich gerade befanden, raste auch auf DeGaulle zu und würde bald abstürzen, oder aber sie entfernten sich in die entgegengesetzte Richtung in den Weltraum.
»Welche Kapsel?«, fragte Pascal den Techniker, als er an dessen Seite angekommen war. Spark war noch damit beschäftigt, die innere Luftschleusentür mit seinem Plasmabrenner zu versiegeln.
Anstatt zu antworten, deutete Jerome kurz angebunden mit einer raschen Geste auf die Luke direkt hinter sich und vertiefte sich wieder mit zusammengekniffenen Augen in das Innenleben der geöffneten Steuereinheit.
»Okay, alle zusammen«, sagte Pascal deutlich lauter als nötig und winkte die sechs Überlebenden herbei. Eines der wenigen nützlichen Dinge, die er auf der Akademie gelernt hatte, war, in Extremsituationen immer äußerst laut zu sprechen. Es signalisierte Selbstbewusstsein und Tatendrang, zwei Dinge, die verängstigte Menschen hören mussten. Es funktionierte auch jetzt. Sie folgten seinen Gesten und reihten sich mit leeren, müden Gesichtern vor der Evak-Kapsel auf, wie er es ihnen zeigte. Die Tatsache, dass sie nicht einmal mehr die Kraft aufbringen konnten, zu weinen, traf ihn wie ein Hammerschlag.
»Wenn diese Tür sich öffnet, geht ihr hinein, sucht euch einen Sitz und schnallt euch zügig an, verstanden?«, fuhr er fort. Wahrscheinlich wussten sie es selbst, doch er brauchte es jetzt, etwas zu tun, sonst würde er zum ersten Mal seit langer Zeit durchdrehen. Als wollte die sterbende Raumstation ihn zu genau dieser Reaktion drängen, erzitterte der Boden erneut. Statisches Quietschen und Knacken hallte von den schmucklosen Wänden aus Stahl und Keramik wider. Niemand schrie und so wurden die Laute immer bedrohlicher, je öfter sie hin und her echoten.
»Die Tür ist versiegelt«, meldete Spark und kam herübergetrabt.
»Alles in Ordnung?«, fragte er, als er vor Pascal zum Stehen kam und wie ein väterlicher Riese von oben auf ihn hinabschaute. Seine vom Passivlicht des Helms angestrahlten Augen wirkten müde, aber fokussiert.
»Ja«, raunte Pascal und nickte langsam. »Da drinnen ...« Er machte eine Pause und der Soldat sah in Richtung der versiegelten Luftschleuse. Als er sich wieder umdrehte, sagte er nichts und ließ ihm Zeit, etwas zu sagen.
»Dort war eine Frau, sie war irgendwie besonders«, fügte Pascal schließlich hinzu. Das Gesicht der Dame hatte sich in seine Netzhaut gebrannt wie ein Tattoo aus Erinnerungen.
»Wir haben heute viele gute Leute verloren und wir werden sie vermissen«, erwiderte Spark und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Jetzt ist dafür aber keine Zeit. Es gibt immer noch Menschen, die wir retten müssen.«
Pascal schnaubte und Spark hob eine Augenbraue.
»Was?«, fragte er.
»Ach, nichts. Vor einigen Monaten noch wäre ich es gewesen, der das gesagt hätte, was du mir gerade gesagt hast.«
»Hm«, machte der Soldat.
»Das alles«, sagte Pascal und machte eine unspezifische Geste nach oben, »hat mich verändert. Ich bin mir noch nicht sicher, ob mir das gefällt, aber es hat mich verändert. Früher war ich klarer, fokussierter, aber ich glaube auch geschützter, für den Preis, dass ich härter und gefühlskälter war. Diesen Panzer wünsche ich mir gerade zurück.«
»Lass deine Panzerung deinen Panzer sein und deine Gedanken deine Gedanken«, gab Spark zurück und Pascal sah überrascht zu ihm auf. Von dem Hünen hatte er einiges erwartet, aber keine philosophischen Weisheiten.
»Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, diese Menschen von hier fortzubringen«, fügte Spark hinzu und Pascal nickte.
Jerome brauchte noch einige Sekunden, in denen die gesamte Rettungsbucht erbebte und sich die Schwerkraft weiter verlagerte, sodass es immer schwerer wurde, sich auf den Beinen zu halten. Das Ziehen in eine falsche Richtung verursachte Übelkeit in ihm und so konnte er sich kaum zurückhalten, als die runde Luke sich endlich öffnete und das Innere der Evak-Kapsel offenlegte.
»Los, los, los!«, rief er und trieb die sechs Überlebenden und Jerome hinein. Gemeinsam mit Spark bildete er den Abschluss und verriegelte die Luke manuell mit einem roten Hebel an der Kabinenwand. Dann sprang er auf einen der Beschleunigungssitze, der nicht nach vorne, sondern nach hinten zeigte. Die Evak-Kapseln wurden aus ihren Röhren in Richtung Oberfläche geschleudert und besaßen ein Raketentriebwerk am Bug, das als Bremse zündete, sobald sie ihren ballistischen Flug beendeten. Daher würden sie die schlimmsten g-Kräfte in Richtung der Bremskraft erleiden, während der Auswurf sich eher wie eine ambitionierte Achterbahn anfühlen würde. Zumindest hoffte er das.
Ein Zischen kündete von der Verriegelung der Luke und dann wurde es einen Moment lang still, bevor ein Rucken durch die Kabine ging und sie ausgeschleudert wurden wie ein Geschoss. Es wackelte und klapperte, irgendwo löste sich die Abdeckung an der Decke, die Pascal als störende Bewegung am Rande seines Sichtfeldes wahrnahm. Die Beschleunigung presste ihn erst ruckartig, dann unnachgiebig in die einfachen Dreipunktgurte. Seine Arme und Beine wurden langgezogen wie von einem Marionettenspieler. Das ganze Schauspiel dauerte eine geschlagene Minute, dann setzte Schwerelosigkeit ein und mit ihr die Übelkeit in Pascals Magen.
»Alles klar, Cop?«, funkte Spark.
Statt zu antworten, drehte Pascal den Kopf zu seinem Sitznachbarn und hob wie in Zeitlupe eine Hand mit hochgerecktem Daumen. »Ich versuche gerade, meine Kotze durch reine Willenskraft in den Magen zurückzupressen.«
»Der Anzug hat ein Absaugventil«, versuchte der Soldat ihn zu beruhigen. Es funktionierte nicht.
»Gut zu wi ...«
Ein metallisches Kreischen zerriss seinen Satz wie Papier und plötzlich geriet ihre gesamte Umgebung ins Taumeln. Oben und unten wechselten sich im Sekundentakt ab und die Gurte rissen hart an seinem Panzer. Er hoffte, dass die Zivilisten, die nicht mit einer militärischen Ausrüstung gesegnet waren, keine ernsthaften Verletzungen davontrugen.
Gleichgewichts- und Orientierungssinn protestierten in Form eines übelerregenden Schwindels, bevor es geschah: Sein Magen schien sich umzustülpen und sandte eine Woge Erbrochenes durch seine Magenröhre und schwallartig in seinen Helm. Es klatschte gegen das Visier und einzelne Brocken spritzten auf sein Gesicht zurück. Es stank erbärmlich und einen kurzen Augenblick lang kämpfte er gegen eine treibende Panik an, da er dachte, zu ersticken. Als die letzten Brocken halbverdauter Nahrung seinen Mund verlassen hatten, beruhigte er sich ein wenig. Es zischte und dröhnte in seinem Helm und die Kotze wurde abgesaugt.