Bei Ebbe geht das Meer nach Hause - Springtide - Marie Wendland - E-Book

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause - Springtide E-Book

Marie Wendland

0,0

Beschreibung

Was passiert nach dem Happy End? Das Leben! Klara und Ally sind endlich glücklich. Als im Hotel "Idas Haus" ein rauschendes Fest gefeiert wird, könnte das Leben auf der kleinen Nordseeinsel Wangerooge für die Hotelchefin und ihre erwachsene Tochter gerade nicht schöner sein. Aber das Leben kennt kein Happy End! Schon hat der Alltag mit seinen kleinen und großen Tragödien das Hotel wieder eingeholt und die schüchterne Ally ist immer mittendrin. Wie die Flut steigt auch der Druck und es zeigt sich, wie unterschiedlich die Menschen in Idas Haus damit umgehen. Freundschaften werden auf die Probe gestellt, während neue Freunde zu unerwarteten Verbündeten werden. Zusammen meistert das Team alle Herausforderungen und beweist: An der Nordsee ziehen Wolken schnell vorüber. Ein weiterer Schicksalsschlag aber gefährdet die Zukunft des Hotels. Die starke Klara ist am Ende ihrer Kräfte. Alte Konflikte brechen wieder auf und Ally und Klara müssen beide für sich entscheiden: Ist es Zeit, die Insel zu verlassen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 481

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marie Wendland

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause
S p r i n g t i d e

Roman

Impressum

Texte: © Copyright by Marie Wendland

Umschlag: © Copyright by Marie Wendland

Verlag: Marie Wendland

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

[email protected]

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Über die Autorin

Marie Wendland ist das Pseudonym einer Autorin aus dem schleswig-holsteinischen Lauenburg. Sie liebt das Wasser; die Elbe, an der ihre Heimatstadt liegt, genauso wie die nordischen Meere, sodass es sie so häufig wie möglich an die Nord- oder Ostsee zieht. Durch ihre Freude am Lesen ist sie zum Schreiben gekommen. Bei Ebbe geht das Meer nach Hause – Springtide ist ihr dritter Roman.

Alle bisherigen Werke:

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause (Teil 1)

Bei Ebbe geht das Meer nach Hause – Springtide (Teil 2)

Rapsblütenherz (Einzelband)

Noch einmal… für Oma

* 1931 † 2022

Prolog

Hamburg, Juni 1991

„Sie gehen nun“,

sagte der Hoteldirektor feierlich, „hinaus in die weite Welt.“ Sein Blick ruhte kurz auf jedem einzelnen der erwartungsvollen Gesichter vor ihm. „Dafür wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute.“ Die Stimme Frank Ludwigs war so tief, dass man sie wie ein leichtes Beben über den Boden zu spüren schien. Klara aber reichte das nicht, sie wollte jedes Wort des Hoteldirektors verstehen, auch wenn es nicht an sie gerichtet war. Vorsichtig schob sie sich dichter an den Vorhang heran, hinter dem sie sich versteckt hielt, und erschrak, als der Stoff sich bewegte. Sie erstarrte und schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass man sie, den ungebetenen Gast, das Aschenputtel, nicht bemerkte. Warum war sie überhaupt hier? Sie sollte sich lieber schleunigst wieder an die Arbeit machen! Aber Klara war unfähig zu gehen, stattdessen lauschte sie angestrengt auf die Rede von Direktor Ludwig, als würde sein tiefer Bass sie hypnotisieren. Zum Glück nahm sowieso keiner der Anwesenden Notiz von ihr und dem raschelnden Vorhang. Klara war heute unwichtig.

Also blieb sie, wo sie war, und schnell war ihr auch wieder nur allzu bewusst, warum sie hier war: Sie wollte sich quälen, wollte miterleben, was ihr nicht vergönnt war. Denn im Saal hinter dem Vorhang feierten gerade die Auszubildenden des Abschlussjahrgangs ihre bestandenen Prüfungen und damit das erfolgreiche Ende ihrer Lehrzeit. Jetzt stand ihnen die ganze Welt offen. Klara nicht. Dabei hätte sie auch dort sitzen sollen, zwischen den anderen jungen Leuten, die vor drei Jahren die Ausbildung zusammen mit ihr begonnen hatten. Frank Ludwig hätte auch zu ihr sprechen sollen, ja, sie hätte es sogar sein sollen, die er für das beste Prüfungsergebnis ehrte. Aber dort neben ihm auf der kleinen Bühne stand nicht sie, sondern Maren, das wusste Klara schon, bevor sie durch den winzigen Spalt zwischen Vorhang und kalter Wand hindurchspähte. Marens Haare waren immer noch schokoladenbraun und fielen ihr glänzend über den ganzen Rücken, genau wie an ihrem ersten Ausbildungstag, als sie beide noch dachten, sie könnten Freundinnen werden. Marens Blick aber war nicht mehr schüchtern zu Boden gerichtet wie damals, sondern stolz geradeaus, als würde sie ein Ziel fixieren. Oder als würde sie Klara, deren Versteck direkt in ihrem Blickfeld lag, hämisch anstarren.

Mit einem Ruck riss Klara sich los und wich zurück, auch wenn das natürlich albern war. Maren hatte ja keinen Röntgenblick, der Vorhänge durchdringen konnte. Aber jetzt wurde es wirklich Zeit, dass sie hier weg kam! Der Schmerz, dem sie sich eben noch absichtlich ausgesetzt hatte, war so heftig geworden, dass ihr übel wurde. Wie gut, dass ein anderer, stechender Schmerz das hässliche Gefühl des Scheiterns verdrängte, als sie den linken Fuß aufsetzte. Verdammt, sie hatte zu lange in dieser blöden Haltung gehockt! Das mochte ihr Knöchel immer noch nicht, obwohl die Ärzte sagten, dass alles wunderbar verheilt war. Klara unterdrückte ein Stöhnen und hinkte zur nächsten Treppe, um sich erstmal hinzusetzen. Mit dem Finger strich sie über die Narben, die die Operationen hinterlassen hatten und die sie auch durch die Strumpfhose spürte, die selbst bei den draußen herrschenden, sommerlichen Temperaturen zur Uniform im Hotel Ludwig gehörte. Ihre Hände wanderten von ihrem Knöchel zu dem schlichten schwarzen Rock und der steifen weißen Bluse, auf der das kleine goldene Namensschild saß. War es ihr zu Beginn der Ausbildung noch wie ein Privileg vorgekommen, diese Kleidung tragen zu dürfen, kam sie ihr jetzt vor wie ein Stigma, das bedeutete: Zimmermädchen! Aschenputtel eben. Denn im großen Saal saßen die anderen, in feierlichen Anzügen und Kleidern, die schick und luftig waren und nach Freiheit aussahen.

In ihrem Unterschenkel ziepte es immer noch und Klara schüttelte das Bein so heftig, dass es wieder richtig wehtat. Gut so! Schließlich war die vermaledeite Verletzung schuld, dass sie heute nicht ihren Abschluss feierte. Die Verletzung, die sie sich zugezogen hatte, als sie die Treppe hier im Hotel heruntergefallen war, genau die Treppe, auf der sie jetzt saß. Der dicke Teppich, der darauf lag, fühlte sich unter ihren Händen weich an, genauso weich, wie er im Oktober vor drei Jahren ausgesehen hatte. Aber er war ganz und gar nicht weich, wenn man mit voller Wucht darauf aufschlug, das wusste Klara dank ihres Sturzes. Unnützes Wissen, auf das sie gerne verzichtet hätte. Oder auch nicht, denn der Unfall hatte ja auch seine guten Seiten gehabt: Sie hatte Maren nicht mehr jeden Tag sehen müssen, seit sie doch keine Freunde geworden waren, und sie hatte …sie hatte dabei … Klara spürte dem Gedanken nach, den sie eben noch gehabt hatte, aber er war weg. Das passierte ihr immer, wenn sie an den Unfall dachte und insgeheim wusste sie, dass das gut so war.

„Fräulein Spelmeier, was sitzen Sie denn da herum?“, herrschte Frau Vogel, die Hausdame, sie an, die mit leisen, zügigen Schritten um die Ecke kam. Als sie aber Klaras Hand sah, die wieder auf ihrem Knöchel lag, wurde ihre Stimme gleich weicher: „Machen Sie Pause, wenn es nicht mehr geht. Aber gehen sie bitte in den Personalraum, da können sie sich auch etwas hinlegen.“

„Nein, nein, ist schon in Ordnung.“ Klara stand so schnell, wie sie konnte, auf, strich den Rock glatt und brachte sogar ein schiefes Lächeln zustande. Nachdem es seit fast drei Jahren ein Dauerzustand war, konnte sie Mitleid nicht mehr ausstehen.

„Na dann …“ Frau Vogel sah sie zweifelnd an. „Dann gehen Sie bitte in den Saal und helfen, das kalte Buffet für unsere Absolventen aufzutragen.“ Dieses Mal konnte Klara ihr Stöhnen nicht unterdrücken, setzte sich aber gehorsam in Bewegung. Was würde sie darum geben, keine Auszubildende mehr zu sein, die auf Frau Vogel hören musste, sondern tun und lassen zu können, was sie wollte! Dabei war die Hausdame eigentlich nett. Und Klara mochte ihre Arbeit im Hotel Ludwig. Aber heute wollte sie nur frei sein und sich wie einige der Auslerner auf neue Abenteuer außerhalb der dicken Mauern des altehrwürdigen Ludwig freuen. Maurice, einer der Köche, fing in einem angesagten Lokal im Portugiesenviertel an. Lena wechselte zu einer großen Hotelkette. Und Maren würde nach Berlin gehen. Berlin! Das wusste Klara natürlich nicht von ihr selbst, denn sie hatten seit diesem schrecklichen Tag im Krankenhaus nicht mehr miteinander gesprochen, aber sie wusste es. Maren würde das Hotel Ludwig, würde Hamburg hinter sich lassen, während sie noch hier festsaß. Ok, es war nur noch ein halbes Jahr, dann würde auch Klara ihren Abschluss haben, aber gerade kam ihr das vor wie eine Ewigkeit. Unsinn! Sie schüttelte entschlossen den Kopf. Ein halbes Jahr war ein halbes Jahr, nicht mehr als sechs Monate.

Dann würde auch sie, Klara Spelmeier, mit einem erstklassigen Abschluss als Hotelfachfrau in der Tasche endlich gehen können.

Kapitel 1

Wangerooge, September 2019

Die Luft war heute ganz klar. Nicht mehr so schwer und flirrend wie an heißen Tagen, aber auch noch nicht dunstig und nebelverhangen. Keine Sommerluft mehr und gerade noch keine Herbstluft. Ally Christie liebte den Spätsommer ebenso wie jede andere Zeit, die sich nicht entscheiden musste und irgendwo dazwischen war. Genau wie sie selbst.

Ally genoss noch einen Augenblick den Ausblick von ihrem Lieblingsplatz, dem Calton Hill, auf das Edinburgh Castle, dann machte sie sich auf den Weg in die Innenstadt. Die Shoppingmeile der New Town ließ sie schnell hinter sich, um die Princes Street Gardens zu durchqueren. Die Wege und Treppen durch den Park waren steil, aber Ally verspürte nicht die geringste Anstrengung. Sie konnte es kaum erwarten, auf der anderen Seite des natürlichen Grabens, der die Stadt durchschnitt wie ein grüner Fluss, die Old Town zu erreichen, deren rußgeschwärzte Häuser sich dicht an dicht an felsige Hügel schmiegten.

Das Dröhnen eines Motors ertönte und als Ally sich umwandte, sah sie einen großen Doppeldeckerbus, der sich ächzend die kurvige Straße Richtung Royal Mile hinaufschleppte. Hoch wie ein Haus schien der rote Riese die schmale Fahrbahn vollständig auszufüllen und Ally hätte es nicht gewundert, wenn die sandsteinfarbenen Gebäude zurückgewichen wären, um ihm Platz zu machen. Schließlich war Edinburgh eine Zauberwelt, in der sich Geschichte, Sagen und pulsierendes Leben zu einer Atmosphäre verwoben, die es nur hier gab, in dieser Stadt am Firth of Forth kurz vor den schottischen Highlands. Ally wich geschickt einigen Studenten aus und tauchte in eine Gruppe Touristen ein, deren Smartphone-Kameras aufgeregt klickten und die die Anwesenheit des elfenhaft zarten Mädchens mit dem lockigen, roten Pferdeschwanz gar nicht bemerkten. Nach einigen Metern schlüpfte sie durch eine schmale Gasse, die auch niemandem sonst aufzufallen schien, und fand sich nahe des Grassmarket wieder. Hier waren die Fassaden der Häuser in bunten Farben getüncht und liebevoll mit Blumen geschmückt. Zuerst kam ein Pub, dann eine flippige Boutique und zwei kleine Galerien und daneben … Ally blieb vor einem türkisfarbenen Gebäude stehen, das kaum drei Meter breit war, und zögerte. Das Schaufenster, die goldenen Lettern über der roten Tür, alles war da, aber so undeutlich, als würde sie durch Milchglas schauen. Ein Buchladen? Ein Juwelier?

Ally öffnete die Augen. Sie konnte sich einfach nicht mehr erinnern. Wo sie eben noch das quirlige Leben ihrer schottischen Heimat gesehen hatte, war jetzt die endlose Weite der Nordsee. Die klare Septemberluft aber hatte nicht nur in ihrer Vorstellung existiert: Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war, zeichnete sich der Horizont scharf von der Morgendämmerung ab. Ein Containerschiff schien zum Greifen nah, auch wenn es kilometerweit entfernt lautlos vorüberzog. Die Sehnsucht nach Edinburgh rollte als einzelne Träne über Allys Wange, gleichzeitig durchflutete sie ein Glücksgefühl, das sie jedes Mal empfand, wenn sie aufs Meer schaute. Sie war wie der Spätsommer - alles auf einmal und irgendwo dazwischen.

„Alles in Ordnung?“ Klaras Stimme riss Ally aus ihren Gedanken. Nebeneinander saßen sie auf den großen Steinen auf dem Deckwerk im Westen der Insel. Ein Morgenritual, das Klara bereits seit Jahren pflegte und das sie seit dem letzten Jahr gerne mit Ally teilte.

„Ja!“ Ally wischte sich die Träne vom Gesicht, das von der Morgenluft ganz kalt war, und lächelte. Klara sah sie noch ein paar Sekunden aufmerksam an, dann nickte sie und Ally wusste, dass sie sie verstand. Denn Klara hörte nicht nur zu, sie fragte auch nach den Antworten, die man nur mit den Augen geben konnte. Möglicherweise war das der Grund dafür, dass sie Ally inzwischen so gut kannte, und bestimmt war es der Grund, dass Ally ihr vertraute wie sonst niemandem auf der Welt.

Die Sonne war inzwischen vollständig aufgegangen, was bedeutete, dass es fast 7:00 Uhr sein musste. Ihre Strahlen brachten die ruhige See zum Funkeln und ließen Klara blinzeln. Sie wandte sich ab und ihr Blick fiel auf Allys rotes Haar, das im Licht zu leuchten schien. Wie sehr sie dieses Mädchen liebte! Bevor dieses Gefühl, das für sie auch nach über einem Jahr manchmal noch fremd und neu war, sie ganz überwältigen konnte, strich sie Ally nur flüchtig über die Wange mit den Sommersprossen und ging zur Tagesordnung über: „Wir müssen zurück zum Hotel, die Gäste warten auf ihr Frühstück.“

„In Ordnung! Ich helfe Nils in der Küche“, erklärte Ally, als sie sich mit einem letzten Blick auf die Nordsee zu dem schmalen Holzplankenweg umwandte, der durch die Dünen zum Hotel Idas Haus führte. Sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, wie sehr sie das Meer gehasst hatte, als sie im April des vergangenen Jahres zum ersten Mal auf die Insel gekommen war - gehasst und gefürchtet. Inzwischen war es aber ihr Freund geworden, genauso wie die Stille der Natur, die Dunkelheit der Nacht und der Wind, der hier niemals schwieg.

„Nein, es wäre besser, wenn du ins Dorf fahren würdest. Ich habe beim Bäcker Baguettes vorbestellt“, erwiderte Klara nach kurzem Überlegen. „Nils kommt zum Frühstück gut alleine klar.“

„Oh, stehen heute mal wieder Croques auf der Tageskarte im Café?“, hakte Ally nach, der bereits das Wasser im Mund zusammenlief.

„Ja“, bestätigte Klara, „aber bei uns gibt es heute Brokkoli-Pfanne, die Reste müssen weg.“

Ally verdrehte die Augen und stöhnte: „Brokkoli statt Croque! Und ich dachte bis jetzt, es hat Vorteile in einem Café zu wohnen!“

„Da fallen mir viele ein“, lachte Klara. Sie hatten jetzt das Hotel erreicht. „Aber Croques standen bisher nicht auf der Liste.“

„Dann solltest du die Liste nochmal überarbeiten“, grinste Ally, der aber auch genug Gründe einfielen, warum sie genau hier in Idas Haus leben wollte. Da ließ sie es sogar gnädig zu, dass Klara scheinbar Versäumtes nachholen wollte, indem sie jetzt anfing, die siebzehnjährige Ally gesund zu ernähren … mit Brokkoli!

Ally durchquerte das Foyer, das zu dieser Uhrzeit noch leer war, und nahm die Treppe, die zur Privatwohnung der Familie Klassen führte. Hier lebte sie seit dem letzten Dezember nicht nur wie zuvor als Praktikantin und Gast, sondern als Familienmitglied. Denn für Klara und ihren Mann Ralph war sie das Kind geworden, das sie nie gehabt hatten, und Ally konnte sich keine besseren Eltern vorstellen. Sie griff rasch nach Handtasche und Portemonnaie, dann flitzte sie wieder nach unten, entschied sich für die Abkürzung durch den Flügel des Gebäudes, in dem sich die Hotelzimmer befanden, und stand kurz darauf vor dem Hotel bei den Fahrradständern. Ihr leuchtend grünes Rad war nicht schwer zu finden und nachdem Ally es aus dem Gewirr aus anderen Drahteseln, Laufrädern und Bollerwagen befreit hatte, ohne einen Dominoeffekt auszulösen, machte sie sich auf den Weg Richtung Inseldorf.

Die Geografie der Insel Wangerooge war ihr inzwischen so vertraut, wie die Straßen von Edinburgh es noch vor kurzem gewesen waren (was natürlich bei einer Insel mit nur einem guten Kilometer Breite und achteinhalb Kilometern Länge nicht sonderlich schwierig war): Ihr Umriss erinnerte an ein Seepferchen, das aber im Gegensatz zu seiner großen Seepferdchen-Schwester Sylt auf dem Bauch lag und in Richtung des ostfriesischen Festlands schaute. An seinem Rücken zog sich der lange Sandstrand entlang, an der Schnauze befand sich der Anleger für Fähren und Sportboote und das Inseldorf lag genau in der Mitte, als hätte das Tier den Ort verschluckt. Wie zwei Augen waren im Westen der Insel, wo sich auch Idas Haus in die Dünen kauerte, der Neue Leuchtturm und der sogenannte Westturm gelegen, während die Besiedelung im Osten immer spärlicher wurde, bis man sich an der Schwanzspitze des Seepferchens im Vogelschutzgebiet befand. Während Ally über den Deich, der die Insel im Süden vor Sturmfluten schützte, radelte, musste sie über diese Beschreibung schmunzeln. Aber passende Vergleiche und Spitznamen zu finden, war schon immer ihr Trick gewesen, sich Dinge einzuprägen, und er funktionierte.

Die Sonne schien, die Heidelandschaft zu ihrer Rechten war erfüllt von vielstimmigem Vogelgesang, aber Ally wurde mit jedem Meter, den sie allein auf dem Deich ihren Gedanken überlassen war, verzagter. Der Grund dafür war die Überraschungsfeier, die sie seit Monaten plante und die inzwischen bedrohlich näher gerückt war. Schon in knapp einer Woche, um genau zu sein am 6. September, sollte das Fest in Idas Haus steigen. Das Datum hatte Ally in Gedenken an den Geburtstag von Ida Paulsen, die im jetzigen Hotel früher einen Kiosk betrieben hatte, gewählt, wodurch der Arbeitstitel Idas 115. Geburtstag entstanden war. Dabei ging es Ally gar nicht so sehr um Ida, sondern vor allem darum, Klara und Ralph mit einer besonderen Überraschung zu danken. Und da sie wusste, dass Klara die unerschrockene Geschäftsfrau bewunderte, obwohl Ida schon verstorben war, als Klara auf die Insel kam, hatte ihr die Idee der posthumen Geburtstagsfeier gefallen.

Zuerst hatte Ally nur Stina, Julia und Charlie, die während der Saison im Hotel jobbten, in ihre Idee eingeweiht, inzwischen wusste aber auch Ralph Bescheid. Das war alles andere als gewollt gewesen, machte die Organisation jetzt aber um einiges einfacher. Denn gleichermaßen als Anlass und Höhepunkt der Feier hatte Ally einige ganz besondere Überraschungsgäste eingeladen, die ihre eigene Geheimhaltung zwar unabsichtlich, aber nach Kräften zu sabotieren versuchten. Mit Grausen erinnerte sich Ally daran, wie Klaras beste Freundin aus Frankreich versehentlich in der Hotellobby angerufen hatte, um die Einladung anzunehmen. Nicht auszudenken, wenn Klara selbst in diesem Moment dort gewesen wäre! Sie hätte das Gespräch noch nicht mal persönlich annehmen müssen, es hätte gereicht, dass Ally beim Telefonieren so rot angelaufen wäre wie ihre Haare. Dann hätte Klara nachgefragt und Ally wusste, dass sie ihr dann sofort alles gebeichtet hätte. Klara Klassen belog man nämlich nicht. Aber zum Glück war diese Situation ja gar nicht eingetreten und auch sonst war Klara noch vollkommen ahnungslos. Das war einerseits erfreulich, andererseits war es die Tatsache, die Ally mehr und mehr nervös machte.

Dabei hatte sie eigentlich schon genug andere Probleme, besser gesagt war die ganze Eventplanung für Ally ein einziges angsteinflößendes Problem. Denn Ally Christie fürchtete nichts mehr als Menschen, schlimmer noch viele Menschen, schlimmer noch viele fremde Menschen. Und genau damit war sie jetzt konfrontiert und hatte sich diese Suppe auch noch ganz alleine und freiwillig eingebrockt. Aber es half ja nichts, die Gäste mussten eingeladen werden, Zimmer mussten reserviert und Nachfragen beantwortet werden. Bisher hatte sie komischerweise alles heil überstanden, aber es konnte immer noch so viel schiefgehen. Was wenn jemand wieder absagte? Wenn die Fluglotsen in Paris streikten oder Imkes Enkel die Kopfläuse befielen, sodass Klaras älteste Freundin doch nicht kommen konnte? Und hatten sie sich überhaupt schon Gedanken über die Deko gemacht? Und das Essen? Was wenn es versalzen war? Ok, das war eher unwahrscheinlich, denn alle geladenen Inselbewohner würden etwas zum Buffet besteuern und die konnten ja nicht alle verliebt sein. Aber trotzdem … Ally runzelte besorgt die Stirn und versank so tief in ihren Grübeleien, dass sie fast einen Fasan überfuhr, der mit seinem prächtigen Gefieder in kräftig schillerndem Rot, Grün und Gold gerade den Weg kreuzte. Mit einem empörten Aufschrei stob das Tier davon, als sie im letzten Moment auswich und ihr Fahrrad einige Meter den Deich hinabschlingerte. Böse vor sich hin grummelnd schob sie ihr Gefährt wieder aufs Pflaster, dann fiel ihr auf, dass die Sonne noch immer schien und die Vögel noch immer zwitscherten. Also wischte sie ihre sich überschlagenden Gedanken energisch zur Seite und trat wieder in die Pedale. Es würde schon alles gut gehen!

Der Besuch beim Inselbäcker war schnell erledigt. Zumindest für Ally, die noch nicht mal in Erwägung zog, sich in die lange Schlange einzureihen, die bis weit auf den Fußweg reichte. Stattdessen schlüpfte sie zwischen einigen Abfalltonnen neben der Bäckerei hindurch, sprang über eine flache Gartenmauer und klopfte an die Hintertür, von der sie wusste, dass sie direkt in die Backstube führte. Von drinnen hörte sie französische Chansons, was bedeutete, dass Ulf gerade Blätterteig zubereitete. Während er Brötchen backte, hörte er dagegen immer einen nüchternen Nachrichtensender und zum Verzieren des Gebäcks mussten es Hardrock oder Heavy Metal sein, denn das hasste er.

Als sich ansonsten hinter der Tür aber nichts regte, klopfte Ally noch einmal, dieses Mal lauter. Wie alles, was irgendwie Aufmerksamkeit erregte, kostete sie das einige Überwindung. Prompt polterte Ulf aus seiner Backstube, wobei er Ally fast die Tür gegen den Kopf knallte. „Was zur Hölle ist hier los?“ Mit seinem mehlverschmierten Gesicht, das von der Hitze des Ofens hochrot war, sah er sich wild um, als würde er eine Horde Hooligans erwarten. Würde Ally nicht wissen, dass Ulf der sanftmütigste Mensch auf ganz Wangerooge war, hätte sie vor Angst das Weite gesucht. Aber sie kannte ihn ja längst und auch er kannte sie. Das war eine Sache, die sie in Edinburgh immer um jeden Preis hatte vermeiden wollen, aber hier auf der Insel hatte sie gelernt, dass es gut war, Freunde zu haben. Das bestätigte sich auch jetzt wieder, als sich Ally wenig später nicht nur mit einem Jutebeutel voller Baguettes, sondern auch mit einem frischen Schokocroissant in der Hand von Ulf verabschiedete. „Bis zum nächsten Mal!“, rief er ihr fröhlich hinterher, bevor er laut und falsch in den nächsten Chanson einstimmte und Ally winkend wieder über die Gartenmauer verschwand.

Als sie sich wieder zwischen den Abfalltonnen hindurchzwängte, deutete ein kleiner Junge, der mit seiner Mutter gerade aus der Bäckerei kam, auf sie und rief: „Mama, wohnt die Frau in der Mülltonne?“ Wahrscheinlich hatten seine Eltern ihn heute schon vor die Sesamstraße gesetzt, um selbst noch etwas schlafen zu können. Prompt drehte sich nicht nur die Mutter, sondern auch die halbe Warteschlange zu Ally um. Sie blieb wie angewurzelt stehen und versteckte die Tüte mit den Baguettes schuldbewusst hinter ihrem Rücken, als hätte sie sie gestohlen.

„Weißt du, Karlchen, es gibt Leute, die haben nicht so viel Geld …“, setzte die Mutter im Flüsterton zu einer Erklärung an.

„Haben wir zu Hause auch Geld im Müll?“, unterbrach Klein-Karl sie laut. Die Umstehenden schmunzelten und Ally nutzte die Gunst des Moments, um so schnell wie möglich zwei Straßenecken zwischen sich und die Mülltonnen zu bringen. Dabei hatte sie nichts falsch gemacht, erinnerte sie sich. Die Baguettes hatte sie rechtmäßig gekauft, außerdem hatte Ulf ihr erlaubt, die Hintertür zu benutzen. Die Zeiten, in denen sie Kleinkriminellen bei ihren Beutezügen durch Edinburgh geholfen hatte, waren vorbei!

Ein lautes Klappern vertrieb die Peinlichkeit des Vorfalls aus ihren Gedanken: Über die kleine Einkaufsstraße zuckelten unzählige Rollkoffer in Richtung Inselbahnhof. Kleine Kunststoffrollen auf mit Backstein gepflasterten Straßen – ein typisches Inselgeräusch, das Ally inzwischen so vertraut war wie ihr eigener Herzschlag. Eigentlich hätte sie das ständige Rattern nervtötend finden müssen, aber für sie hätte keine Musik schöner sein können. Schließlich bedeutete dieses kleine Geräusch genauso wie das Rauschen der Nordsee, das Rascheln des Seewindes im Dünengras und das heisere Geschrei der Möwen nur eins: Du bist zu Hause! Und ein echtes Zuhause zu haben, war genauso viel wert, wie Freunde zu haben.

Ein Pärchen, das trotz der milden Spätsommertemperaturen gleichfarbige Regenjacken trug, versuchte an einem überladenen Bollerwagen vorbeizukommen, den Blick hektisch Richtung Bahnhof gerichtet. Wie so viele andere übersahen die beiden dabei Ally, die in der Folge unsanft in eine Hecke gedrängt wurde. Genervt über die Menschenmenge, die an diesem Samstagmorgen mit der ersten Fähre die Insel verlassen wollte, bog sie kurzentschlossen in den Garten des Alten Leuchtturms ab und kauerte sich dort hinter die alte Diesellok, die schon lange keine Gleise mehr gesehen hatte. Aufmerksam beobachtete Ally den langsam versiegenden Strom der Rollkoffer. Bis zur Abfahrt konnte es also nicht mehr lange dauern. Sobald die kleine rote Lok mit ihren blau-weißen Wagons das Gepäck und natürlich dessen Besitzer zum Anleger gebracht hatte, würde Wangerooge wieder ein bisschen leerer sein. Das war nicht schlecht, denn jetzt würde sie hoffentlich etwas mehr freie Zeit haben als in den letzten Wochen, überlegte sie. Die Sommerferiensaison war anstrengend gewesen! Gut anstrengend. Das erste Mal in ihrem siebzehnjährigen Leben hatte Ally das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Das würde vielleicht nicht jeder so empfinden, schließlich handelte es sich bei Allys Tätigkeiten hauptsächlich um das Bettenbeziehen in Hotelzimmern und das Geschirrabräumen im Café. Aber für jemanden, der noch letztes Jahr null Komma null Plan vom Leben gehabt hatte, war das schon was. Ihr entfuhr ein leises Lachen, als ein Border Collie es schaffte, seinem Herrchen die Leine so kompliziert um die Beine zu wickeln, dass der Mann stolperte und hinter sich eine Massenkarambolage auslöste. Eine Frau fluchte und mahnte zur Eile, die Inselbahn würde noch ohne sie abfahren. Ally warf einen Blick hinüber zum Bahnhofsgebäude, dann auf das große Holzschild gegenüber, das verkündete: Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt. Gerne hätte sie der nervösen Dame mitgeteilt, dass hier in der nächsten Viertelstunde bestimmt noch nichts und niemand abfuhr. Aber das tat sie natürlich nicht, denn dann hätte sie ja ihre Tarnung aufgeben müssen. Und das wollte Ally nicht, denn immer noch war es eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, ihre Umwelt unbemerkt zu beobachten.

„Was machst du hier?“, fragte da eine Stimme und Ally fuhr herum. Hinter ihr stand ein Mann, der sie sofort an einen Baum denken ließ: groß, aufrecht und knorrig. Vielleicht war sie doch nicht mehr ganz so gut darin, unbemerkt zu bleiben. Vielleicht war sie unvorsichtig geworden. Ihre Muskeln spannten sich an wie bei einer Katze kurz vor dem Sprung. Sie musste schleunigst hier weg! „Verschwinde!“, stieß auch der Baum jetzt hervor, während er drohend einen Schritt näher trat. In diesem Punkt schienen die zwei sich einig zu sein. Allys Blick wanderte von seinem zusammengepressten Kiefer zu seinen Augen, die sie aus seinem zerfurchten Gesicht heraus aufmerksam beobachteten, und entschied einem plötzlichen Impuls folgend, dass sie genau das nicht tun würde.

~

Schon in der nächsten Sekunde bereute Ally ihren spontanen Entschluss. Der Mann stand immer noch da, groß und grimmig, und sie hockte noch immer auf dem Boden, geduckt und fluchtbereit. Beide hatten den Blick unverwandt auf den jeweils anderen gerichtet, als hätte jemand die Pause-Taste gedrückt. Es hätte eine Szene aus einem Thriller sein können, trotzdem musste Ally ein Kichern unterdrücken: Ein Mann wie ein Baum, eine alte Eiche vielleicht, und ein Mädchen wie ein Eichhörnchen. Schließlich hatte man sie in Edinburgh Swirrel genannt wegen ihres langen, roten Zopfes. Außerdem war ja auch helllichter Tag und nur wenige Meter entfernt war die Straße voller Menschen, sodass die Gefahr durchaus überschaubar war.

Besonders wohl war Ally in der Situation trotzdem nicht. Der Baum machte keine Anstalten näher zu kommen, einfach so entwischen lassen würde er sie wohl jetzt aber nicht mehr. Vielleicht hätte sie eben noch das Überraschungsmoment nutzen können, dafür war es nun jedoch zu spät. Ihre Gedanken wanderten zurück ins nächtliche Edinburgh, als sie, die damals noch Swirrel gewesen war, und Maxwell Goulding sich auch direkt in die Augen gesehen hatten. Das war der Anfang von allem anderen gewesen, der Auslöser, der sie nach Wangerooge geführt hatte. Denn am nächsten Tag hatte Goulding, den Ally im Stillen den Storch nannte, sie wiedererkannt und für eine Diebin gehalten. Das Praktikum in Deutschland, fernab von der schiefen Bahn, auf die sie seiner Meinung nach geraten war, war ihre einzige Option gewesen, einer Anzeige zu entgehen. Damals war Allys Welt zusammengebrochen, heute wusste sie, dass ihr nichts Besseres hätte passieren können. So oder so, dieser eine Augenblick hatte ihr Leben verändert und während Allys angespannte Oberschenkel langsam zu brennen anfingen, fragte sie sich, ob jetzt wieder so ein Moment war. Oder war es nur ein Beweis dafür, dass sie sich noch immer meisterhaft in Schwierigkeiten bringen konnte? Ein neuer Gedanke huschte durch ihren Kopf und sie überlegte, wie alt der Baum-Mann wohl sein mochte, was natürlich gerade überhaupt nichts zur Sache tat. Auf jeden Fall wirkte er alt, älter als Ralph zumindest, der Anfang fünfzig war. Vielleicht war er schon siebzig, so zerfurcht wie sein Gesicht war. Wettergegerbt und faltig – oder waren das Narben? Gleichzeitig wirkte er aber auch kräftig wie jemand, der jeden Tag körperlich arbeitete, und seine hellen, fast farblosen Augen, die Ally so faszinierten, waren die eines neugierigen Jungen.

Bevor Allys Kopf weitere irrelevante Überlegungen anstellen konnte, räusperte der Baum sich, was wohl bedeutete, dass Ally das Wettstarren gewonnen hatte. „Ich wollte mir gerade einen Tee machen. Willst du auch einen?“, fragte er, als wäre sie gerade auf einen Besuch vorbeigekommen.

„Gerne“, antwortete Ally vorsichtig, schlicht weil ihr auf diese unerwartete Frage hin nichts Besseres einfiel.

„Komm!“ Damit wandte der Baum sich ab und strebte mit langen Schritten Richtung Leuchtturm. Thure, so hieß er, fiel Ally plötzlich ein. Er war der Leuchtturmwärter, wenn man das bei einem Leuchtfeuer, das seit Jahren nicht mehr in Betrieb war, noch so nennen konnte. Vielmehr öffnete er den Turm für Besucher und kümmerte sich um das kleine Museum, das im Erdgeschoss des Gebäudes untergebracht war. Ally hatte ihn bisher immer nur von Weitem gesehen und sich nie besonders für ihn interessiert. Jetzt aber erinnerte sie sich auch wieder daran, dass die Insulaner ihn für sonderlich hielten, weil er sich aus allem heraushielt. Das wiederum hielt Ally für völlig verständlich, sodass sie ihm jetzt umso neugieriger folgte. Auf den Steinstufen, die zur Eingangstür hinaufführten, warteten ein Vater und seine stupsnasige Tochter auf Einlass. Thure grüßte knapp, dann drehte er das große Geöffnet-Schild vor ihren Nasen auf Geschlossen .

„Asloch!“, hörten Ally und er das kleine Mädchen noch durch eine erstaunlich große Zahnlücke kreischen, die Reaktion des Vaters ging im Zuschlagen der schweren Tür unter. Wahrscheinlich hatte er seinem Töchterchen aber trotz der drastischen Ausdrucksweise Recht gegeben, überlegte Ally. Das war doch echt dreist von dem Baum!

„Warum machen Sie das?“, fragte Ally ihn atemlos, während sie sich beeilte, mit ihm Schritt zu halten. Das Sammelsurium des maritimen Heimatmuseums konnte sie dabei keines Blickes würdigen.

Jetzt blieb er stehen, warf Ally einen schnellen Blick zu und erwiderte schulterzuckend: „Weil ich es kann.“ Dann widmete er sich wieder konzentriert den 161 Stufen, die den Turm hinaufführten, ohne sich noch ein einziges Mal nach Ally umzusehen. Er schien einfach darauf zu vertrauen, dass sie ihm folgte. Was ja auch funktionierte. Er war wirklich dreist, aber auf eine so gelassene und gemütliche Art, dass Ally ihn fast gegen ihren Willen dafür bewunderte.

Nachdem der Abstand zwischen den beiden von Stufe zu Stufe größer geworden war (was zum einen an fehlender Beinlänge, zum anderen an fehlender Kondition lag), erreichte auch Ally den Lampenraum, der heute nur noch als Aussichtsplattform diente. Sie war noch nie hier gewesen, denn der Leuchtturm war ein Touristenziel und Ally war zuerst zum Arbeiten auf die Insel gekommen und dann geblieben, um hier zu leben. Der Baum hatte sich bereits an einem alten Wasserkocher zu schaffen gemacht und sie nutzte die Gelegenheit, sich erst einmal ausgiebig umzuschauen:

Den kreisrunden Raum, in dem früher das Leuchtfeuer untergebracht gewesen war, dominierte heute ein dreidimensionales Modell des historischen Inseldorfes unter Glas. Auf den ersten Blick erkannte Ally einige Häuser wieder, die die Zeit überdauert hatten. Gleißendes Sonnenlicht flutete durch die umlaufende Verglasung und brachte den Turm, der seit Jahrzehnten erloschen war, auf andere Weise wieder zum Leuchten. Staubkörner tanzten in der Luft. Dieser Raum, der zwar alt und staubig war, aber im wahrsten Sinne über den Dingen stand, passte zu Thure. Beide schienen wie aus der Zeit gefallen. Genau, überlegte Ally, es war unwichtig, wie alt der Baum-Mann war, denn er war aus der Zeit gefallen. Als hätte er schon hier Tee gekocht, als der Turm noch seinen Lichtkegel über die Nordsee geschickt hatte, und als würde er noch genau das tun, wenn um ihn herum längst alle Schiffe zu Raumfähren geworden waren. Dieses Mal konnte Ally ihr Kichern nicht unterdrücken und Thure wandte sich zu ihr um. „Du kannst auch nach draußen gehen“, schlug er vor und deutete auf die Galerie aus lackiertem Stahl, die rings um das Lampenhaus führte. Ohne zu zögern trat Ally hinaus, denn der Ausblick war noch viel faszinierender als das Innere des Lampenhauses. Begeistert wie ein Kind lief sie am Geländer der Galerie entlang und konnte sich nicht sattsehen. Hier sah sie auf die offene See mit den auf Reede liegenden Containerriesen, ein paar Schritte weiter schweifte ihr Blick über die unzähligen Windräder am Festland. Da war der Anleger, dort der Flugplatz und auf dem Deich zogen winzige Fahrräder wie Ameisen ihre Bahn. Ally drehte noch eine Runde und erkundete die Heidelandschaft mit den Augen. War das nicht eine Elektrokarre? Vielleicht das Inseltaxi mit Gästen an Bord? Oder Dennis vom Insel-Supermarkt auf Auslieferungsfahrt? Ihr Blick folgte der Straße bis zum westlichen Ende der Insel, wo sich ein Gebäudekomplex aus rotem Backstein in die Dünen schmiegte. Idas Haus! Sogar die meerblauen Fenster glaubte Ally zu erkennen, aber das konnte auf diese Entfernung auch Einbildung sein. Wie anders die Landschaft, die sie doch täglich sah, aus dieser Perspektive wirkte. Auf jeden Fall hätte sie noch ewig hier stehen und beobachten können. Beobachten, ohne selbst gesehen zu werden – für Ally Christie hätte das Schlaraffenland genau so ausgesehen.

Da sie sich aber daran erinnerte, dass sie nicht alleine hier oben war, wandte sie sich schweren Herzens ab und kehrte in den Lampenraum zurück, wo Thure bereits auf sie zu warten schien. „Dann trinken wir jetzt Tee“, stellte er fest und deutete auf eine angeschlagene Teekanne, zwei unterschiedliche Tassen, eine Packung Kandiszucker und ein Kännchen, das wahrscheinlich Sahne enthielt. Ally schloss daraus, dass es sich um Schwarztee handeln musste, echten Ostfriesentee. Während der Baum je einen Brocken Kandis in die Tassen warf, fragte er: „Du weißt, dass ich Thure bin, der Leuchtturmwärter?“

„Ja“, erwiderte Ally und beobachtete, wie die dunkle Flüssigkeit dampfend über den Zucker floss. Die Kandiskristalle knisterten. „Und ich bin Ally Christie. Ich lebe bei Klara und Ralph Klassen in Idas Haus.“

„Gut, dann wissen wir jetzt beide nichts voneinander“, schloss Thure. Er schmunzelte in sich hinein und reichte Ally das Sahnekännchen. Um das bittere Getränk, das sie deswegen sonst immer mied, irgendwie hinunterzubekommen, gab sie einen sehr großzügigen Schuss Sahne in ihre Tasse und griff zum Teelöffel. „Ostfriesentee wird nicht umgerührt“, unterbrach Thure sie mitten in der Bewegung. „Oben die Sahnewolke, dann der herbe Tee und je weiter du trinkst, desto süßer wird es. Damit man sich auf was freuen kann.“

„Ich bin Schottin. Das habe ich nicht gewusst“, entschuldigte Ally sich zunächst. Dann fiel ihr wieder ein, wie Thure die Touristen vor der Tür abgefertigt hatte, und sie nahm den Löffel wieder auf und rührte kräftig um.

„Jetzt weißt du es doch. Warum rührst du dann trotzdem?“, erkundigte sich der Baum, ein amüsiertes Funkeln in seinen durchscheinenden Augen.

Ally lächelte ebenfalls und antwortete so selbstbewusst, dass es sie selbst überraschte: „Weil ich es kann.“

Jetzt lachte Thure richtig, er lachte aus vollem Hals, ein dröhnendes, kehliges Geräusch, das im Lampenhaus widerhallte. „Dann fangen wir jetzt wohl an, uns kennen zu lernen“, stellte er fest, als er sich wieder beruhigt hatte. Ally hielt das für eine ausgezeichnete Idee, trotzdem wurde sie langsam unruhig. Wie spät war es eigentlich schon? Sie musste dringend nach Hause, besser gesagt zur Arbeit. Und Nils wartete bestimmt schon auf seine Baguettes, die zu allem Übel auch noch irgendwo hinter der Diesellok lagen. Als hätte er ihre Gedanken erraten, meinte Thure nach einer Weile: „Ich muss wohl mal wieder Geld verdienen.“ Dabei zwinkerte er Ally zu, als betriebe er neben dem Leuchtturmmuseum noch ein illegales Geschäft.

Gemeinsam stiegen sie die 161 Stufen wieder hinunter und Ally winkte zum Abschied. Sie vereinbarten kein Wiedersehen, aber Ally wusste, dass sie ab jetzt häufiger im Alten Leuchtturm sein würde, und sie war sich sicher, dass Thure, der Baum, es auch wusste. Kurzentschlossen wandte sie sich aber nach einigen Schritten nochmal um und rief: „Am nächsten Samstag feiern wir in Idas Haus ein kleines Fest. Du kannst auch vorbeikommen! Aber sag‘ Klara nichts, es ist eine Überraschung“

„Mal sehen“, erwiderte Thure, was für Ally aber nach einem klaren Nein klang. „Und wegen der Überraschung musst du dir keine Sorgen machen: Ich habe nicht die Absicht, in der nächsten Woche mit jemandem zu sprechen“, fügte er hinzu, während er das Schild an der Tür wieder auf Geöffnet drehte und im Inneren des Turms verschwand. Ally sah ihm noch einen Moment lang hinterher, in dem sie sich fragte, ob Thure wohl aufhörte zu existieren, wenn er das Gelände des Leuchtturms verließ, und warum er gerade heute die Absicht gehabt hatte, mit jemanden zu reden und dann auch noch mit ihr.

~

„Ah, da sind sie ja, meine geliebten Baguettes“, säuselte Nils mit einem sehr schlecht imitierten französischen Akzent, der alle Anwesenden gerade deswegen zum Lachen brachte. Keuchend überreichte Ally, die wie eine Verrückte über den Deich zurück zu Idas Haus gestrampelt war, ihm die Tüte und suchte hektisch nach einer Schürze. „Trink erstmal was, Chérie“, bremste Nils sie. „Du bist ja ganz außer Atem.“

„Ne, ich muss mich beeilen, Klara kriegt sowieso schon eine Krise“, widersprach Ally und drängelte sich an seiner massigen Gestalt vorbei.

„Bei dir doch nicht! Du bist ja quasi ihr Kind“, mischte sich Julia ein, die gerade mit einem Tablett voller Geschirr in die Küche kam und in Bezug auf Klaras Krisen auf einen sehr großen Erfahrungsschatz zurückgreifen konnte. Ally verdrehte nur die Augen, denn obwohl es alle behaupteten, bevorzugte Klara sie bei der Arbeit überhaupt nicht. Eher das Gegenteil war der Fall.

„Wo zum Teufel hast du gesteckt? Hast du das Brot erst noch gebacken, oder was?“, hörte sie wie aufs Stichwort Klaras strenge Stimme. Wie aus dem Nichts hatte sich die Chefin von Idas Haus hinter ihnen materialisiert.

„Ich habe zufällig Thure getroffen und er hat mich zum Tee eingeladen“, erklärte Ally wahrheitsgemäß. Sich irgendeine Ausrede einfallen zu lassen, wäre ohnehin zwecklos gewesen.

„Leuchtturm-Thure?“, fiel Nils, jetzt wieder in normaler Stimmlage, überrascht ein. „Dass der mal jemanden zum Tee bittet …“

„Ja, deswegen mochte ich auch nicht Nein sagen“, bediente sich Ally jetzt doch einer kleinen Notlüge, indem sie ihre missliche Lage hinter der Diesellok verschwieg.

„Thure ist schon ein eigenartiger Mensch“, stimmte Klara zu, die ihren Ärger über Allys Verspätung scheinbar zurückgestellt hatte. „Ein Einzelgänger und wahnsinnig stolz.“

„Du meinst, er hält sich für was Besseres.“ Nils rümpfte die Nase.

„Nein …“, begann Klara zu erklären, aber Ally unterbrach sie und fasste zusammen:

„Ich mag ihn. Vielleicht mag ich die eigenartigen Menschen sowieso am liebsten.“ Sie grinste Klara an und meinte es als Kompliment.

„Na, danke“, erwiderte diese trocken, war aber stolz darauf. Auf ihre eigene Art.

Kapitel 2

Wangerooge, September 2019

Am Abend traf sich eine Abordnung des Festkomitees für Idas 115. Geburtstag in dem Zimmer, das sich Stina und Charlie während dieser Saison teilten. Im Erdgeschoss dieses Gebäudeflügels lag der kleine Saal des Hotels, in dem gerade Hildegard und Heino Huff aus der Friesenstraße ihre Goldene Hochzeit feierten. Da Julia für den Service eingeteilt war, fehlte sie bei diesem Teammeeting, aber sie hatten einfach nicht mehr genug Zeit bis zum nächsten Samstag, um auf vollständiges Erscheinen des Gremiums zu bestehen.

Ally hockte mit verknoteten Beinen in der Ecke von Stinas Bett und angelte sich einen Stapel Chips aus der Packung, die neben Schokoriegeln und Erdnussflips auf der Decke lag. Dass sie beim Essen der Chips wirklich wie ein kleines Eichhörnchen aussah, indem sie sie in beide Hände nahm und mit winzigen Bissen daran knabberte, während ihr ihre roten Locken ins Gesicht fielen, brachte die anderen jedes Mal zum Schmunzeln, aber heute war Ally das egal. Da sie von Klaras hochgepriesenem Brokkoli-Auflauf nämlich nur die Anstandsportion geschafft hatte, knurrte ihr jetzt noch der Magen. Charlie saß mit einer Flasche Bier auf der Fensterbank und ließ die Beine nach draußen baumeln, wo über der Nordsee gerade orange und rot die Sonne unterging. „Mach‘ mal einer ein Foto von mir“, rief sie über ihre Schulter ins Zimmer. „Ich brauch‘ mal wieder ein anständiges Profilbild.“

„Ich kann nicht“, murmelte Stina hinter ihrem Laptop hervor. „Ich krieg‘ den Video-Call nicht zum Laufen und Mats wartet schon.“ Während Ally pflichtschuldig nach ihrem Handy griff und einige Male auf den Auslöser drückte, atmete Stina erleichtert aus und drehte ihren Laptop so, dass alle den Bildschirm sehen konnten. Auf diesem war inzwischen Mats Wuschelkopf aufgetaucht, der in seiner Studentenbude in Bremen saß. In der letzten Saison hatte auch er in Idas Haus gejobbt und er und Stina waren ein Paar geworden. „Hi …“, hauchte Stina und schickte einen Handkuss Richtung Bildschirm. Ally verdrehte die Augen, aber Charlie nickte wissend:

„Ach, ich kann euch verstehen, ihr Turteltauben! Ich bin ja schließlich verlobt.“ Daraufhin verdrehten alle anderen einschließlich Mats die Augen, denn Charlie konnte sie gar nicht häufig genug daran erinnern, dass sie verlobt war (und hatte sie überhaupt schon erwähnt, dass sie verlobt war?).

„Hallo und guten Abend zusammen“, schaltete sich Finns Stimme wie die eines Nachrichtensprechers dazwischen. Sein Gesicht war, groß wie eine Melone mit Brille, neben Mats auf dem Bildschirm aufgetaucht. Die Perspektive war derart unvorteilhaft, dass klar war, dass er sein Smartphone vor sich hielt, um an der Zoom-Konferenz teilzunehmen. „Kann sein, dass die Verbindung mal abbricht, bin im Zug“, erklärte er jetzt auch. Ally vernahm ein unruhiges Grummeln in der Magengegend, als ihr bewusst wurde, dass Finn in der Bahn saß, um schon morgen auf der Insel anzukommen. Sollte sie jetzt nicht auch das Bedürfnis haben, Kusshände durch den Raum zu werfen? Denn Finn und sie waren doch inzwischen auch ein Paar.

„Gut, dann sind wir für heute vollzählig“, eröffnete Stina geschäftsmäßig das Meeting. „Was steht auf der Tagesordnung?“

„Checklisten-Check“, warf ein Finn.

„Deko!“, trällerte Charlie euphorisch, aber Ally unterbrach sie:

„Ewa will übermorgen nach Polen fahren.“ Daraufhin herrschte erstmal Schweigen.

„Echt jetzt?“, hakte Charlie nach und wirkte dabei gar nicht mehr begeistert.

„Mmh“, bestätigte Ally grimmig, „sie will ihre Familie überraschen.“

„Welch‘ Ironie des Schicksals“, stellte Mats fest und hatte damit eindeutig Recht. Denn das Festkomitee wollte Ewa, die gute Putzfee von Idas Haus, ja selbst überraschen, indem ihre polnische Familie zur Feier eingeladen worden war. Wie blöd wäre es also bitte, wenn Ewa in Polen ankäme, nur um festzustellen, dass ihre Lieben gar nicht da waren? Und die wiederum zeitgleich auf Wangerooge das Gleiche erlebten? Es entbrannte eine wilde Diskussion darüber, wie man die herzliche Polin von ihrem irrwitzigen Plan abbringen könnte, aber keiner hatte die passende Idee.

„Warum hat Klara ihr nur den Urlaub genehmigt?“, seufzte Stina irgendwann, woraus Finn, logisch wie er eben veranlagt war, folgerte:

„Dann muss diese Genehmigung eben rückgängig gemacht werden.“ Das wiederum war natürlich nicht einfach, weil Klara ja auch nichts von dem ganzen Schlamassel wissen durfte. Wieder schwiegen sie nachdenklich.

„Ralph muss das regeln“, entschied Ally irgendwann und begann gleich, eine Nachricht zu tippen. Zwar wusste sie auch nicht genau, wie er das machen sollte, hatte aber seit letztem Jahr ein unumstößliches Vertrauen entwickelt, dass ihr Daddy alles schaffen konnte. Die anderen nickten, während Stina ihr Notizbuch öffnete und einen Stift zückte.

„Dann also weiter mit dem Checklisten-Check“, verkündete sie. „Buffet?“

„Die Liste, was die eingeladenen Insulaner mitbringen, ist vollständig, und es ist von allem was dabei, soll ich von Julia ausrichten“, erklärte Ally. „Also Check.“

„Für die Musik hab‘ ich Boxen und alles von ‘nem Kumpel geliehen. Sven holt mich dann am Freitag in Harlesiel ab, um den Kram rüberzubringen“, fuhr ihr DJ Mats fort. „Check!“ Sven war der Sohn von Bäcker Ulf, dessen Angebot, die sperrige Ausrüstung mit seinem Boot statt mit der Fähre zu transportieren, viel Geld sparte.

„Bei den Gästen gab es zwischenzeitlich keine Absagen – Check!“ Ally knabberte zwei weitere Chips, dieses Mal um ihre Nervosität zu überspielen. „Bitte betet, dass das auch so bleibt.“

„Deko …“, meldete sich Charlie wieder zu Wort und legte eine Kunstpause ein, „ …kein Check! Wir haben uns noch kein bisschen darum gekümmert.“

„Ich finde ja, wir brauchen keine Deko“, wand Ally ein. „Idas Haus und die Landschaft sind doch schön genug. Außerdem haben wir auch so schon genug zu tun.“ Pragmatisch war sie schon immer gewesen.

„Nein, das geht nicht. Eine Feier ohne Deko macht man einfach nicht“, wischte Stina den Einwand resolut weg.

„Entscheiden wir nicht selber, was man bei unserer Feier macht und was nicht?“, gab Finn zu bedenken und Ally wusste wieder, warum sie in ihn verliebt war.

Charlie versuchte einen Kompromiss: „Dann nur ein bisschen Deko, dafür aber was mit Bedeutung?“

„Was ist denn Deko mit Bedeutung?“, wollte Mats wissen und gähnte.

„Wisst ihr in Asien“, begann Charlie, „da war ich letztes Jahr Backpacking mit …“

„Mit deinem Verlobten“, ergänzten die anderen im Chor.

„Ja, genau, mit meinem Verlobten“, überging Charlie den Sarkasmus ihrer Freunde einfach. „Also in Asien ist ja der Kranich ein Glückssymbol und die Leute glauben, dass man einen Wunsch erfüllt bekommt, wenn man tausend kleine Kraniche aus Papier faltet. Und auf ein Band aufgezogen ist das doch eine tolle Deko.“

„Are you kidding me?“ Allys Entsetzen war so groß, dass sie in ihre Muttersprache verfiel. Trotzdem verstand wohl jeder, was sie sagen wollte.

„Tausend? Eins mit drei Nullen?“, hakte auch Stina ungläubig nach. „Wie wollen wir das denn schaffen?“

„Und wie soll das eigentlich gehen? Der Origami-Experte bin ich jetzt nicht so.“ Das war Mats. Charlie hatte auf ihrem Handy bereits ein Video geöffnet, das sie jetzt so vor die Kamera des Laptops hielt, dass er und Finn etwas erkennen konnten. Da Stina sowieso nichts sehen konnte, setzte sie sich neben Ally und fragte leise:

„Geht’s dir eigentlich gut?“

„Klar, warum nicht?“ Seit sie auf der Insel lebte, hatte Ally das Gefühl, dass es ihr gar nicht mehr wirklich schlecht gehen konnte.

„Naja, ich dachte nur … Ist ja nicht immer einfach mit Klara. Und wenn man dann auch noch nach Feierabend mit ihr zusammenwohnt …“

„Klara ist die Beste!“, antwortete Ally voller Überzeugung. Sie wusste, dass Stina, die sich von Anfang an um sie gekümmert hatte, es nur gut meinte, ärgerte sich aber trotzdem.

„Ja, aber stört dich das nicht, wie sie dich immer anfaucht?“

„Das ist nicht wichtig.“ Ally fiel es nicht leicht, diesen komplizierten Sachverhalt zu erklären, sie hatte aber das Gefühl, es um Klaras willen zu müssen. „Ich weiß, dass sie mich lieb hat, das ist wichtig. Außerdem kennt ihr sie nicht so wie ich.“ Denn keiner der anderen kannte die Klara, die ganze Nächte bei Ally saß, wenn sie vor lauter Heimweh nicht schlafen konnte. Die sich geduldig ihre Beschreibungen Edinburghs anhörte und sich jedes Detail einprägte, um Ally daran zu erinnern, wenn diese wieder einmal die Angst packte, ihre Heimat zu vergessen. Die wusste, wann es ihr nicht gut ging, und sie dann einfach in den Arm nahm, ohne dass Ally etwas erklären musste.

„Aber …“ setzte Stina erneut an, Allys Blick verriet jedoch, dass alles gesagt war. Trotz ihrer Schüchternheit war sie nämlich auf eine leise, beharrliche Weise stur, die die anderen bereits zur Genüge kannten.

„Schwer ist das ja nicht“, lenkte sie Mats Stimme in diesem Moment glücklicherweise ab. „Aber tausend ist schon ‘ne Hausnummer …“

„Wenn wir mit sechs Personen ab heute noch sechs Tage daran arbeiten, muss jeder pro Tag 27 Komma Periode 7 Kraniche falten“, präzisierte Finn. „Hab‘ ich gerade mal überschlagen.“

„Nerd!“, zog Charlie ihn auf. „Das klingt doch aber machbar!“ Sie schaute aufmunternd in die Ruhe.

„Jo, ich mach die Komma Periode 7. Mit halben Hähnchen kann ich was anfangen.“ Mats gähnte erneut.

„Damit ist das also entschieden.“ Charlie klatschte in die Hände, wobei sie aufpassen musste, dass sie nicht aus dem Fenster fiel.

„Planung Deko – Check.“ Stina kritzelte etwas in ihr Notizbuch. „Umsetzung – ongoing.“ Ally wollte widersprechen, aber da sich scheinbar alle anderen einig waren, traute sie sich das nicht. Und vielleicht war ein bisschen zusätzliches Glück ja auch gar nicht verkehrt … Denn egal, wie gut es Ally gerade ging, hatte ihr bisheriges Leben in verschiedenen Pflegefamilien sie doch schon gelehrt, wie schnell sich das ändern konnte.

~

Es sah wirklich idyllisch aus. Am Strand bei Idas Haus, nah am Dünenrand mit seinem leise raschelnden Strandhafer, lag eine bunte Decke im weichen Sand. Vier aufgeregt kichernde junge Frauen saßen darauf und ihre langen Haare in Blond, Rot und Rosa flatterten im Wind (nur Charlies gegelter Pixie Cut blieb vollkommen reglos).

Klara und Ralph hatten mit Troll, dem treuen Golden Retriever, einen Spaziergang gemacht und standen jetzt oben auf dem Deckwerk, wo sie außer Hörweite des Strands waren, aber einen guten Überblick hatten. „Mit der Truppe haben wir wirklich Glück gehabt“, stellte Ralph fest und deutete in Richtung der bunten Decke. Auch wenn er unter der Woche als angestellter Projektmanager in Hamburg arbeitete, war Idas Haus genauso seine wie Klaras Leidenschaft.

„Naja“, schränkte Klara ein, „Julia ist immer noch zu unordentlich. Sie hat einfach keinen Blick für Details. Dafür ist Stina manchmal schon zu organisiert. Ohne ihr Notizbuch und Fünf-Stufen-Plan verlässt sie ja kaum das Haus. Und Charlie ist im Moment so abartig verliebt. Komisch, dass sie Nils noch nie das Essen versalzen hat …“

„Ich sag‘ ja, wir haben Glück gehabt mit ihnen“, schmunzelte Ralph. Ihm war nicht entgangen, dass seine Frau an Ally nichts auszusetzen gehabt hatte, was bei Klara das größte Lob überhaupt war. Diese enthielt sich eines weiteren Kommentars, denn auch sie war mit ihren Saisonkräften mehr als zufrieden. Das zuzugeben, gelang ihr aber nur selten.

„Was machen die da eigentlich?“, fragte sie stattdessen, als ein bunter Fetzen von der Decke Richtung Wasserkante wehte und in den Nordseefluten versank.

„Keine Ahnung.“ Ralph zuckte ohne großes Interesse mit den Schultern.

„Wir sollten fragen, ob wir helfen können“, erwiderte Klara trotzdem und setzte sich in Bewegung.

„Unsinn! Lass‘ sie doch einfach“, widersprach Ralph mit einem leicht ungeduldigen Unterton, der eigentlich gar nicht zu ihm passte, und hielt sie zurück.

„Aber …“

„Entspann‘ dich, Schatz.“ Ralph lächelte jetzt wieder ganz locker und Klara nickte. Sie war immer wieder über sich selbst erstaunt, dass sie das inzwischen überhaupt konnte – sich entspannen. Denn noch vor einem Jahr war da ein bedrohliches Dunkel in ihrem Inneren gewesen, das sich aus Schuldgefühlen nährte, und sich nur durch eine harte Schale und einen ausgeprägten Kontrollzwang in Schach halten ließ. Aber dann war Ally in ihr Leben getreten und Klara hatte endlich den Mut gefunden, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Nichtsdestotrotz nervte es Klara, wenn sie die Dinge nicht im Griff hatte, und es würde sie auch immer nerven – so war sie eben. Deswegen beachtete sie das irritierende Spektakel am Strand jetzt nicht weiter, ein leises Misstrauen konnte sie aber nicht unterdrücken.

Vom Wasser her näherte sich ein neongrüner Kite, an dessen Leinen eine schlaksige Gestalt hing. „Kaum hier und schon auf dem Wasser“, meinte Klara, denn sie hatte Finn erkannt. Der Sechzehnjährige (fast siebzehn, wie er hinzufügen würde!) kam jetzt aus den Wellen und ging auf die Mädchen zu. Bevor er sie erreicht hatte, war Ally bereits aufgestanden und kam ihm entgegen, wobei sie ihre Haare umständlich hinter die Ohren strich.

„Was machen die denn da?“, fragte dieses Mal Ralph, der noch nicht einmal versuchte, seine Neugier zu verbergen. Nachdem Ally und Finn einige Male wie zum Test die Köpfe geneigt hatten, küssten sich die beiden jetzt.

„Ach, lass‘ die beiden doch.“ Was die Beziehung ihrer Wahltochter anging, war ausnahmsweise mal Klara die Entspanntere. „Wir waren doch auch mal frisch verliebt.“

„Ja, das schon. Sind wir ja eigentlich immer noch.“ Ralph zog Klara an sich und hätte ihr wohl einen Knutschfleck am Hals verpasst, wenn sie sich nicht lachend wieder befreit hätte. „Siehst du, so macht man das“, fuhr Ralph fort und deutete wieder zum Strand. „Nicht wie die beiden, die aussehen wie zwei Hühner, die gleichzeitig im selben Napf picken.“

„Wir sind älter“, wand Klara ein, „und weiser. Selbst als wir uns kennen gelernt haben, waren wir keine Teenager mehr.“

„Wahrscheinlich hast du Recht. Ich sag‘ ja, dass Ally noch viel zu jung für sowas ist“, deutete Ralph die Aussage geschickt um, woraufhin Klara ihm scherzhaft in den nicht mehr ganz so flachen Bauch boxte.

Allys Lippen lösten sich von Finns. Ihre Wangen fühlten sich seltsam heiß an und die Tatsache, dass Julia, Stina und Charlie ihre Begrüßung mit angesehen hatten, machte die Sache nicht besser. Schnell zog sie Finn einige Meter zur Seite. „Heute sind wir genau drei Monate zusammen“, informierte ihr Freund (wie merkwürdig das immer noch klang!) sie fröhlich, während sie sich nebeneinander in den warmen Sand fallen ließen.

„Echt?“ Ally war gar nicht auf die Idee gekommen, darauf zu achten. Und drei Monate waren ja schließlich auch noch keine Silberhochzeit. Trotzdem befiel sie ein schlechtes Gewissen.

„Ja, am 1. Juni haben wir uns zum ersten Mal geküsst …“

„Stimmt nicht“, fiel Ally ein. „Zum ersten Mal haben wir uns bei der Jubiläumsfeier des Hotels geküsst und das war schon letzten Sommer.“

„Schon. Aber das zählte nicht“, bestimmte Finn einfach, obwohl Ally dieser erste, nach Bier schmeckende und nach Ed Sheeran klingende Kuss kurz nach Sonnenuntergang bisher am meisten bedeutet hatte. „Auf jeden Fall sind wir also heute drei Monate zusammen“, fuhr ihr Freund fort, „deswegen können wir heute mal mit Zunge machen.“ Wieder schoss Ally die Röte ins Gesicht. Sie war definitiv nicht prüde, aber warum mussten sie sowas überhaupt besprechen? Sie nickte deswegen nur, beugte sich zu Finn hinüber und neigte den Kopf (nach links, denn so funktionierte das Küssen am bequemsten, hatten sie herausgefunden). Er drückte seine Lippen vorsichtig auf ihre und Ally fiel gerade noch rechtzeitig ein, den Mund leicht zu öffnen. Finns Zunge wanderten unternehmenslustig an ihrem Gaumen entlang, während Allys Gedanken rasten: Hatte sie sich die Zähne heute Morgen gut genug geputzt? Und Finn? Hatte er etwa Knoblauch gegessen? Sollte sie die Augen besser schließen? Und musste sie ihre Zunge nicht auch irgendwie bewegen?

„So geht das nicht“, schimpfte Stina nach einer Weile, die Ally wie eine Ewigkeit vorkam. Auch wenn sie und Finn nicht gemeint sein konnten, gab sie ihr insgeheim Recht. Ruckartig zog sie den Kopf zurück.

„Gut?“, fragte Finn so Beifall heischend, dass Allys Zweifel wieder schmolzen wie Eis in der Septembersonne. Zaghaft nickte sie, wandte sich dann aber schnell den anderen zu.

„Was geht nicht?“, fragte sie.

„Hier fliegt alles weg“, fluchte Charlie und raffte die bunten Papierbögen zusammen, die sich selbstständig gemacht hatten. „So werden wir mit unseren Kranichen nie fertig!“

„Dann gehen wir ins Hotel“, schlug Stina vor und angelte ein weiteres Blatt aus der Luft.

„Nein, das möchte ich nicht“, lehnte Ally ab. „In ihrem Hotel kommt es mir vor, als hätten wir Geheimnisse vor Klara.

„Aber wir haben Geheimnisse vor Klara“, erinnerte Julia sie lachend, was bei Ally Übelkeit auslöste. Heute war wohl nicht ihr Tag.

„Wie auch immer, irgendwo müssen wir hin mit unseren Vögeln“, schaltete sich Stina wieder ein. „Lasst uns ins Dorf fahren, da finden wir bestimmt irgendwo eine windstille Ecke.“

Nachdem sie ihre Räder beim Schwimmbad an der Promenade abgestellt hatten, waren sie aber auch von diesem Plan nicht mehr überzeugt. Entweder waren die Cafés voll oder die Gefahr, dass sich jemand dort gegenüber Klara verplapperte, erschien ihnen zu groß. Erst Finn, der sich zunächst noch um seinen Kite hatte kümmern müssen, hatte die zündende Idee: der Lesesaal der Kurverwaltung an der Oberen Strandpromenade, in den sich niemals ein Insulaner verirrte! Dort hatten sie genug Platz und Ruhe für ihr Projekt und schnell waren die ersten Kraniche für diesen Tag fertig. Ungefähr 168 mussten es heute werden, dann hätten sie das von Finn errechnete Pensum geschafft.

Fasziniert beobachtete Ally die anderen, die sich konzentriert über ihre Papierbögen beugten: Julia faltete schnell und ziemlich schief, dafür nahm sie für ihre Kraniche nur die schrillsten Farben. Stina dagegen falzte das Papier so kräftig, dass man es an den Kanten hätte exakt teilen können. Bei ihr glich ein Papiervogel dem anderen bis auf den letzten Kniff. Finn faltete am langsamsten, denn er war damit beschäftigt über die ideale Technik zu philosophieren. Und Ally selbst? Sie sah auf ihre eigenen Hände hinunter und stellte fest, dass auch ihre Kraniche einiges über sie selbst aussagten – klein und eher unscheinbar lagen sie vor ihr auf dem Tisch.

„Ist das hier ein Origami-Kurs?“, fragte eine interessierte Stimme und drei ältere Damen samt ihrer Rollatoren schoben sich in den Raum. „Davon haben wir im Veranstaltungskalender ja gar nichts gelesen.“

Ally beugte sich tiefer über ihre Vögelchen, denn plötzlich war ihr die Sache ganz schrecklich peinlich. Charlie erklärte ihr Vorhaben aber so charmant und mit so viel Begeisterung, dass die Besucherinnen ganz aus dem Häuschen gerieten. „Ob wir das wohl auch noch können, Lore?“, überlegte die eine.

„Aber natürlich, das ist ganz einfach“, kam Charlie der Angeredeten zuvor. „Hier, versuchen Sie es!“ Während Lore und auch ihre Freundin, die Waltraud hieß, sich an ihrem ersten Kranich versuchten, klopfte die Dritte im Bunde an die Fensterscheibe und winkte auffordernd. Kurz darauf quetschten sich fünf weitere Damen in den Lesesaal und Finn übernahm ganz selbstverständlich die Rolle des Origami-Lehrers, nachdem Charlie jede einzelne freudig begrüßt hatte. Auch Stina und Julia widmeten sich wieder dem Falten, während Ally es übernahm, die fertigen Kraniche zu zählen und sorgfältig einzutüten. Nach zwei Stunden waren schon über 500 Papiervögel fertig! Dazu noch die 168 von gestern sowie Mats 27 Komma Periode 7 Vögelchen von heute – erleichtert lehnte Ally sich zurück, denn bis Samstag würden sie ihr Deko-Projekt jetzt mit Sicherheit abschließen können.

„Wir sind Ihnen zu ganz großem Dank verpflichtet“, bekundete Stina und legte sich eine Hand aufs Herz, als die Damen sich wieder zum Aufbruch fertig machten.

„Nein, nein“, widersprach Waltraud mit einem milden Lächeln. „Wir hatten lange nicht mehr so einen lustigen Nachmittag.“

„Jung und Alt sollten viel häufiger etwas zusammen unternehmen“, ergänzte Erika, die trotz ihrer gekrümmten Finger in einer enormen Geschwindigkeit gefaltet hatte.

„Danke“, sagte auch Ally schüchtern, was aber in dem fröhlichen Abschied unterging. Also drückte sie jeder ihrer fleißigen Helferinnen einen Papiervogel als Glücksbringer in die Hand.

„Die brauchen wir doch“, flüsterte Finn ihr zu und man sah, wie es in seinem Gehirn rechnete.

Ally aber meinte nur schulterzuckend: „Auf acht mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an.“ Denn dieser besondere Nachmittag hatte ihr gezeigt, dass Charlie Recht hatte – die Kraniche brachten Glück!

Noch in dieser Hochstimmung kam Ally wieder im Hotel an. Summend machte sie sich gerade für ihre Schicht in der Küche zurecht, als Klara in die Wohnung kam. „Wo warst du denn die ganze Zeit? Ich hab‘ dich gesucht.“

„Im Dorf mit den Mädels“, antwortete Ally schnell. „Sorry, dass ich nicht Bescheid gesagt hab‘.“ Inständig hoffte sie, dass Klara nicht weiter nachfragte.

„Kein Problem“, meinte diese nur. „Ich weiß nur gerne, wo du bist.“ Sie strich ihr liebevoll über den Rücken und Ally hatte das Gefühl, ihr schlechtes Gewissen könnte nicht noch schlimmer werden, bis Klara, ohne sich etwas dabei zu denken, hinzufügte: „Ich kann Überraschungen halt einfach nicht leiden, das war schon immer so.“

~