Bekenntnisse eines Betrügers - Rahul Raina - E-Book

Bekenntnisse eines Betrügers E-Book

Rahul Raina

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Beschreibung

»Bildungsberater« steht auf der Visitenkarte des jungen Inders Ramesh. Das klingt besser als »professioneller Prüfungsbetrüger«, denn sein Job ist es, für Indiens reichste Teenager diverse Examen abzulegen. Skrupel? Wozu? Moral ist eine Erfindung des Westens! Außerdem hat sich Ramesh seine Bildung hart erkämpft und möchte unter keinen Umständen in die bettelarmen Verhältnisse seiner Kindheit zurückkehren. Als er eines Tages bei den nationalen Uni-Aufnahmeprüfungen den ersten Platz belegt, macht er seinen Klienten, den 18-jährigen Rudi, über Nacht zum berühmtesten Mann ganz Indiens. Ausgelassen genießen die beiden das Leben in der Welt der Reichen und Schönen, treten aber den falschen Leuten auf die Füße und schlittern so in eine rasante Hetzjagd von Kidnapping und Erpressungen.

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Seitenzahl: 433

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INHALT

» Über den Autor

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

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» www.keinundaber.ch

ÜBER DEN AUTOR

Rahul Rainas Leben spielt sich zwischen Delhi und Oxford ab: In England leitet der Autor sein eigenes Beratungsunternehmen, in Indien arbeitet er für Wohltätigkeitsorganisationen und unterrichtet Englisch. Seinen Debütroman Bekenntnisse eines Betrügers schrieb er in der brütenden Hitze Neu-Delhis.

ÜBER DAS BUCH

Rahul Raina erzählt mit Charme und Selbstironie die Geschichte des schlagfertigen und klugen Aufsteigers Ramesh. In einer Welt, in der Korruption regiert und jeder sich selbst der Nächste ist, muss er die Gegner mit ihren eigenen Waffen schlagen und wird zu einem meisterhaften Betrüger: Als sogenannter »Bildungsberater« legt er Uni-Aufnahmeprüfungen für reiche Teenager ab, die weniger Grips haben als er. Bis fast alles aus dem Ruder läuft …

 

Für meine Familie, die schreckliche Angst hatte, dieses Buch würde von ihr handeln.

TEIL EINS

EINS

Das erste Kidnapping war nicht meine Schuld.

Alle weiteren – das war definitiv ich.

Ich war umgeben von einem Meer brauner Flaschen. Rudi lag neben mir auf dem Boden, Spritzer von Erbrochenem im Gesicht. Ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen. Rudi hatte Koks geschnupft, eine fiese westliche synthetische Droge. Was war falsch an unseren Drogen, den sanften, natürlichen orientalischen, wie Opium oder Khat?

Dieses schicke Scheißzeug.

Die Saraswati-Statue starrte uns schlecht gelaunt aus der Ecke an. Es stank nach den Kampfer-Räucherstäbchen, die ich besorgt hatte, um den schalen Geruch von Bier, Schweiß und mit Kurkuma gewürztem Streetfood zu übertünchen.

Rudis Apartment hatte – wie es in unseren elitären Kreisen so schön heißt – echte Klasse. Flachbildschirme, Seidenteppiche, moderne Kunst an den Wänden. Geschmackvolle indirekte Deckenbeleuchtung. Es war zehn Tage vor diwali. Überall stapelten sich Geschenke von Fans, Werbeagenturen, Politikern. Präsentkörbe, Schachteln mit Süßigkeiten, Blumensträuße, japanische Elektronik, Grußkarten vollgestopft mit Geldscheinen.

Es war einer jener schwül-heißen Nachmittage, an denen sich alle am Hinterteil kratzen und das BIP unserer großartigen Nation wieder mal den Zielen der Weltbank nachhinkt.

Eigentlich bin ich nicht so der Trinker. Aber ständig in Rudis Nähe zu sein, ihn zu beaufsichtigen, ihm den Rücken freizuhalten, zu verhindern, dass die Medien etwas von seinem Zustand mitkriegten, hatte seinen Tribut gefordert. Ich fühlte mich schuldig wegen alledem, vor allem war ich genervt, weil ich keine Zeit mit der Frau verbringen konnte, die ich liebte – tja, und das alles hatte bereits Konsequenzen. An diesem einen verdammten Tag hätte ich wirklich wachsam sein müssen, war es aber nicht gewesen.

Es war ein Uhr nachmittags. In drei Stunden würde der Wagen vorfahren, um uns ins Studio zu bringen. Noch vier Stunden bis zu Rudis Auftritt vor der indischen Nation, strahlend und geschminkt, in der beliebtesten Gameshow des ganzen beschissenen Landes, Beat the Brain.

Ich griff nach einer Flasche mit irgendwas drin, um mich aufzuputschen. Ich erwischte ein Bier, warm wie Katzenpisse, als genau in dem Moment die Tür nach innen explodierte. Arme reckten sich in die Wohnung, um das eine Scharnier abzureißen, das die Tür noch im Rahmen hielt.

Ich hörte ein leises, heiseres Fluchen. Ich krabbelte herum, versuchte, auf die Beine zu kommen. Brachte aber nichts Besseres zustande, als wieder auf dem Rücken zu landen, mit den Armen und Beinen in der Luft zu zappeln wie ein umgestürzter Büffel.

»Rudi! Wach auf, Rudi! Jemand versucht …«, flüsterte ich. Meine Kehle war ausgetrocknet und nutzlos.

Schließlich gab die Tür nach, ächzend wie ein Fünfzigjähriger im Fitnessstudio. Erneut versuchte ich zu schreien. Meine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut heraus.

Ein Mann kam herein, gekleidet wie ein Krankenpfleger, je einen Klapprollstuhl unter den Armen. Er lächelte angesichts des erbärmlichen Bilds, das wir beide abgaben.

Wack, wack!, machte der Totschläger.

Ich schrie, und als ich Blut schmeckte, gleich noch mal. Ich bekam eine chirurgische Maske ans Gesicht geschnallt, in die ich vergeblich etwas hineingurgelte. Ich leistete keinen Widerstand. Tat gar nichts. Ich wurde hochgehievt und auf einen Rollstuhl geschnallt.

Ich sah seine gelben Zähne, darunter eine Halskette aus schwarzen Gebetsperlen wie Schrumpfköpfe. Dann sagte eine Stimme: »Keinen Mucks, oder der Dicke kriegt eine verpasst.«

Sollte das eine Drohung sein? Offenbar missverstand er meine Beziehung zu Rudi.

Rudi wurde nicht mal wach.

Das war damals, als ich noch meinen Finger hatte. Ich vermisse das kleine Ding. An einem Punkt im Lauf der Geschichte mussten sie einen Beweis liefern, dass wir noch am Leben waren, und was gab es da Geeigneteres als den kleinen Finger des treuen Lakaien?

Sie hackten ihn mit einem Messer ab, das man in den dhabas zum Schneiden von Gemüse benutzt; eine dieser Klingen, mit denen an Marktständen große Korianderbüschel zurechtgestutzt werden. All das lehrte mich eine Lektion: Wenn du einen Jungen erpresst, um einen Anteil seines Reichtums abzukriegen, hackt man dir deine verfluchten Gliedmaßen ab.

Ich vermisse den Finger. Es war ein guter Finger.

Scheißdelhi. Scheißindien.

Es ist nicht wie in diesen Filmen, das müsst ihr wissen, die als Komödien beginnen, in denen Shah Rukh und Preity Uni-Freunde sind, und nach der Pause kriegen alle Krebs, und die Mütter flennen über die verlorene Familienehre, bis am Schluss eine Hochzeit gefeiert wird, auf der alle ihre Sorgen wegtanzen. Das hier ist kein Melodrama. Mir wurde lediglich ein Finger abgehackt. Und es gab eine Reihe von Kidnappings.

Keine Mütter, die dir Schuldgefühle einreden wollen. Keine Tränen. Keine emotionalen Verwicklungen, okay? Nur ein totales khichdi von Anfang bis Ende.

Es hatte alles so harmlos begonnen.

Eine Million dreihunderttausend Rupien. Mehr war für mich nicht drin. Für vier Wochen fieberhaftes, schweißtreibendes Lernen, jeden Tag vierzehn Stunden, damit das verzogene Balg auf eine Uni nach Wahl seiner Eltern gehen konnte.

Jetzt denkt ihr wahrscheinlich: Eine Million dreihunderttausend Rupien, Ramesh, das ist doch ein Haufen Geld! Du verdienst mehr als siebenundneunzig Prozent aller Inder, zumindest laut Angaben des Finanzamtes. Also warum beklagst du dich?

Weil ich brav meine Steuern zahle. Klar, ich weiß, es ist bescheuert von mir.

Und weil ich ein gehetztes Leben führe, in dem jedes Jahr mein letztes sein könnte, weil ich ständig aufzufliegen drohe, jedes Klopfen an der Tür vielleicht die Polizei ist, und das alles für einen Fliegenschiss von 1,3 Millionen gandhis – in Ordnung, schon gut, ich jammere, weil ich gerne jammere, schließlich ist es das Geburtsrecht eines Delhi-Boys, und dieses Recht gedenke ich zu ehren.

Ich habe den Jungen dreifach getroffen – nein, dreimal, denn niemand sagt »dreifach treffen«, wie Claire mich belehrt hätte.

Ich hasste seinen Namen vom ersten Moment an. Rudi. Rudraksh. Scheißrudraksh. Wer nennt sein Kind so? Weiße Sechzigerjahre-Hippies. Klingt wie der Nachwuchs von Filmstars – diese Kids mit Millionen Followern auf Instagram und einer Louis-Vuitton-Sucht. Klingt wie ein Klebstoff oder ein Putzmittel: der kraftvolle, gründliche Allzweckreiniger, Freund der Hausfrau, nur neunundvierzig Rupien.

Rudis Eltern hatten ein hübsches kleines Apartment in der Nähe von Green Park – nicht gerade die allerbegehrteste Gegend, aber auf dem Weg dorthin. Ein aufstrebender Stadtteil, würden Immobilienmakler sagen, genau das Richtige für all diejenigen, die auf dem Sprung nach oben sind. Man fuhr Honda und Lexus, aber noch keine deutschen Karossen.

Bei meinem ersten Besuch trug ich eine Tasche mit der Aufschrift DeliveryFast – daher keine lästigen Fragen an den Toren, keine zeitraubenden Kontrollen, ich wurde einfach durchgewinkt. Ich spielte den Pizzaboten. Sehr kontinental. Sehr schick. Ich erhob mich über meinen Stand, wie die Briten in den alten Filmen immer sagen, in denen sie arme Tagelöhner schlagen, weil die ihren jungfräulichen Töchtern schöne Augen machen.

Rudis Vater war fett und trug ein Hemd mit dem Logo seines Golfclubs. Er war reich. Natürlich war er das. Wenn man fett und Inder ist, ist man reich; wenn man fett und arm ist, dann lügt man. Nur im Westen sind die Reichen dünn, vegan und moralisch. Seine Frau trug das übliche eng anliegende rosa Jogging-Outfit. Ihr Zuhause war ausgestattet mit Unmengen von Naturstein, altertümlichen Wandteppichen mit vagen Anklängen an das Mogulreich, einem prunkvollen Gebetsschrein neben der Wohnungstür, mediterranen Porzellanstatuen, Marmorgöttinnen in brünstigen Posen. Es hatte drei Schlafzimmer, Kostenpunkt auf dem Markt schätzungsweise vier crore.

Ich hasste den Jungen auf Anhieb. Überbiss, fettige Gesichtshaut, Schweinsäuglein. Kein bisschen wie der echte Rudraksh, der furchterregende, allwissende, Köpfe abhackende Avatar von Shiva.

Ich bin zu hart mit ihm. Wisst ihr, was mein eigentliches Problem mit ihm war? Dass es keines gab. Er war normal. Durchschnittlich. Achtzehn Jahre alt. In den letzten fünf Jahren hatte ich mit Hunderten seiner Art zu tun gehabt.

»Also«, sagte Rudis Vater. Seine Augen kullerten in seinem Schweineschädel, der voller masturbatorischer Fantasien darüber war, auf welch niedriges Honorar er mich herunterhandeln würde.

»Also«, wiederholte Rudis Mutter, als ob alles besser wäre als das. Lieber würde sie mit ihrer Schwiegermutter über den Zustand ihrer Ehe reden, oder Yoga nach Art der Weißen machen, bei der man den ganzen Ganges ausschwitzte (den Ganges? Solche Sprüche habe ich mir zugelegt). Noch schlimmer wäre jedoch: über meine Hoffnungen, Ängste und Ambitionen zu sprechen.

Gott sei Dank hielt sich das Vorspiel in Grenzen. Ich fing sofort an, meine Nummer abzuziehen.

Ramesh Kumar – Bildungsberater. So steht es auf meiner Visitenkarte.

Sie wollen, dass Ihr kleiner Liebling 99,4 Prozent der Prüfungsfragen richtig beantwortet, ein Absolvent des Indian Institue of Technology wird und über den Rest von uns herrscht? Dann kommen Sie zu mir. Sie wollen, dass Ihr kleiner Racker bis an die Spitze der staatlichen Verwaltung aufsteigt, einen Durchmarsch in ein Eckbüro an der Wall Street oder in London antritt, oder, wenn alles schiefläuft, Gott behüte, wenigstens in Bangalore? Ich bin Ihr Mann. Jede Prüfung, jedes Fach in nur vier Wochen. Oder Sie kriegen Ihr Geld zurück. Und genau darauf haben sie es alle abgesehen, jeder Einzelne von ihnen.

»Sie haben 0,1 Prozent weniger erreicht als versprochen.« »Er hat es nur nach Vassar geschafft.« »Der Junge von Tante Rupa war besser, und er hat die Prüfungen selbst geschrieben.« Ich kenne alle Sprüche.

Ich bin einer der besten Prüfungsabsolventen Delhis und deshalb vermutlich einer der besten der Welt. Die Chinesen sind meine einzige Konkurrenz. Dort muss es Tausende meiner Art geben, die Karrieren pummeliger Kinder kommunistischer Funktionäre vorantreiben, und dabei in ständiger Angst leben, eine Kugel in den Hinterkopf zu bekommen oder in ein Umerziehungslager geschickt zu werden, so wie die Muslime. Oder schlimmer noch, in die Fabriken von Shenzhen, um dort iPhones zusammenzubauen, ihr wisst schon, die Fabriken mit den Fangnetzen für Selbstmörder drumherum.

Scheiße, diese Typen wissen, wie man Menschen zum Arbeiten antreibt. Sie sind die Zukunft. Wenn die Kinder von westlichen Reichen oder Indern scheitern, werden sie einfach Social Entrepreneure. Und die Chinesen? Wenn ihre Kinder scheitern, werden sie zu Hackfleisch verarbeitet.

Wir Berater, seien wir braun oder schwarz oder gelb, sind ein Nebenprodukt der westlichen Arschloch-Meritokratie. Unsere Existenz ist notwendig. Wir sind das Schmiermittel im Getriebe dieser Ellbogengesellschaft. Wir sind die Geburtshelfer der Fulbright-Stipendien, der Forschungskredite und Ausbildungsförderungen. Wir sind die Handlanger der braunen Übernahme der Welt.

Gewöhnlich sitze ich in Neu-Delhi in meinem miesen kleinen Büro-und-Wohnzimmer im zweiten Stock und schwitze und schwitze, gebäre aus meinen Eiern Industriegiganten, zukünftige World Leader und Präsidenten. Ich erschaffe sie aus dem Nichts, wir alle tun das, eine Armee von Lohnsklaven. Vielleicht kriegen wir ja eines Tages auch ein Stück vom Kuchen ab, verhelfen unseren eigenen Kindern durch Bestechung zum Erfolg, haben selbst einen respektgebietenden Familiennamen, der andere in die Knie zwingt und sie buckeln lässt.

Natürlich verrate ich das meinen Kunden nicht. Ich erzähle ihnen nichts von meinen Träumen. Sie sagen mir, was sie wollen. Ich lege meine Preise fest. Ich mache ihnen klar, wie wenig ein paar lakh sind angesichts eines zukünftigen bequemen Jobs bei McKinsey oder BCG. Und ihre durchbohrenden Augen glänzen vor Lust und Gier, alles sehr pornografisch, dann versuchen sie mich über den Tisch zu ziehen, als wäre ich ihre aus dem Dorf stammende Wäscherin, die seit fünfzehn Jahren keine Gehaltserhöhung erhalten hat, nicht der Mann, der die Zukunft ihres Kindes in den Händen hält.

Sie würden nicht so mit mir umspringen, wenn ich einen Anzug trüge. Allerdings müsste es ein italienischer oder französischer sein. Trägst du einen indischen Anzug, riechen sie das und ficken dich nur umso härter.

Anzüge. Das ging mir durch den Kopf, als Rudrakshs ehrenwerter Vater, Vishal Saxena (starker, männlich klingender Familienname), mich beäugte und davon träumte, wie billig er mich bekommen könnte. Die Nummer mit dem Pizzakurier hatte sich abgenutzt. Ich dachte an ein Rebranding. Schon bald würde ich mit einem Maßschneider sprechen müssen.

»Rudraksh«, sagte Mr Saxena, worauf der Junge leise schnaubte und aus einem Tagtraum erwachte.

»Papa, du weißt, ich mag nicht –«

Der Vater starrte ihn kurz an, brachte ihn mit einem einzigen Blick zum Schweigen. Indische Eltern, hm? Sie haben es immer noch drauf, auch wenn der Junge eine Generation früher geohrfeigt worden wäre, nur weil er es gewagt hatte, den Mund aufzumachen.

Mr Saxena hatte dicke rote Lippen, die Lippen einer Filmschauspielerin, sehr unpassend. Seine Frau hatte überhaupt keine, aber das war kaum ein Wunder, wenn man mit diesem Mann verheiratet war. Ihre Lippen waren wahrscheinlich schon am Tag ihrer Hochzeit verschrumpelt.

Sie schaltete sich ein, als wollte sie mich schnellstmöglich loswerden, damit die Bediensteten die quietschende, mit Plastik überzogene Couch, auf der ich saß, reinigen und ausräuchern könnten. »Rudi strebt eine Karriere in der Risikokapitalbranche im Silicon Valley an«, erklärte sie in einer Art und Weise, die verriet, dass der Junge alles andere nur das nicht wollte. »Wir nehmen das All-India-Premium-Prüfungs-Packet. Unter den Top-Zehntausend oder Geld zurück.« Sie sprach jedes Wort langsam und deutlich aus, als wäre ich ein beschissener Analphabet. Die Silben hallten vom geschmackvollen Marmor und den von Khajuraho inspirierten Holzmöbeln wider.

Ich nickte, freundlich und langsam. Sollte sie doch denken, ich sei unterwürfig, wenn sie auf so was stand.

Sie hatte diesen typischen herablassenden Gesichtsausdruck. Diesen »Wir kaufen jetzt in Shopping-Malls ein, nicht mehr im Palika Bazaar. Wer geht da heutzutage noch hin, Cousine? Im Ernst? Du und dein Mann? Ach?«-Ausdruck. Man ahnte, wozu sie imstande war. Ihr Gesicht erzählte die Geschichte müheloser Oberer-Mittelschichts-Überlegenheit. Ihre offene Verachtung hatte etwas Aufrichtiges. In diesem Land solltest du dich hüten vor Gesichtern, die etwas anderes bekunden, als sie bekunden sollten. Kriegst du es mit einem besorgten, freundlichen Polizeiinspektor oder einem hilfsbereiten Beamten zu tun, weißt du, dass du in der Scheiße steckst.

Die All Indias sind die ganz Großen, die jeder macht, wenn er die Schule abschließt. Es gibt das ganze Jahr über auch andere Aufnahmeprüfungen für alles Mögliche, für die juristische Fakultäten, für die Armee, für Toiletteninspektoren, aber die All Indias sind die Crème de la Crème, meine wichtigste Einnahmequelle im Jahr. Sie sind das Eintrittsticket für die besten Universitäten, zu den besten Zukunftsaussichten, zum weißesten Leben. Ich bot ein komplettes All-India-Paket an, sämtliche fünf Teilprüfungen, die ich alle selbst übernahm – die gewöhnlichen Prüfungen waren bei mir in Englisch und Hindi zu haben, obwohl jeder Trottel sie bestehen konnte. Die wirklich entscheidenden Prüfungen waren Mathematik, Wirtschaft, Finanzen – die Sprungbretter, um Indien zu entkommen. Das waren meine Spezialgebiete, aber auch jede beliebige andere Kombination: künstlerische Fächer oder Naturwissenschaften, auch kein Problem, alles im Angebot, wann und wo immer Sie wollen.

Wenn du unter die Top-Eintausend kommst, ist deine Zukunft gesichert. Die Villa in New Jersey wartet auf dich, ebenso wie der Chevrolet SUV und die Geigenkonzerte der Kinder, die du nie besuchen wirst.

Die Porträts der Top-Einhundert-Absolventen kleben an den Mauern der Schulen, die sie hervorgebracht haben. Ihre Lehrer werden im Fernsehen interviewt, als wären sie Zeugen einer erfolgreichen Trennung siamesischer Zwillinge oder arabisch-israelischer Friedensgespräche. Sie erhöhen sofort ihre Preise und bringen ihre bescheuerten Educational-Apps auf den Markt.

Top-Ten? Die werden schlagartig Berühmtheiten.

Aber man musste seine Kunden sorgfältig auswählen. Wenn sie betrogen und nicht zahlten, waren die Einnahmen eines ganzen Jahres futsch.

Diese Eltern hier waren jedoch zu offensichtlich gierig, um gefährlich zu sein. Die Leute, vor denen man sich wirklich in Acht nehmen musste, waren solche, die über Traditionen und Dharma salbaderten, dich beta nannten und solchen Scheiß. Bei denen suchte man besser gleich das Weite. Ich hatte ungute Erinnerungen an das Kind eines stellvertretenden Bürgermeisters. Jede Menge Geschrei, sehr unangenehm. Keine Politiker mehr.

Ich verlangte eine umfassende Selbstauskunft. Sozialversicherungsnummer und Angaben zur adhaar, der persönlichen Identifikationsnummer. Einkommen, legal und illegal. Schulgeschichte, von wem sie empfohlen worden waren. Ich bezahlte jemanden beim Finanzamt, der meine Kunden überprüfte. Sie alle hatten kleinere Registereinträge üblicher mittelständischer Betrügereien. Hier und da waren Bestechungsgelder geflossen: für Baugenehmigungen, für eine Aufnahme an einer Privatschule ohne Prüfung, oder an die Regierung, damit ihre Kinder für die Quotenzulassungen als Angehörige niedriger Kasten ausgegeben werden konnten. Der übliche verkommene Schmutz, der dieses großartige Land zu dem macht, was es ist, genau wie die Pestizide in der Milch, die unseren Kindern Charakter, Mumm und lebenslange Verhaltensprobleme bescheren.

Jeder weiß, was Indien groß macht. China hat die Kommunisten an der Macht, Xi Dada und seine Kumpane; Europa hat Piazzas und Kunstgalerien; Amerika hat Rindfleisch, Titten und Geld. Wir haben die Demokratie. Wir diskutieren, endlos. Wir reden achttausend verschiedene Arten von Scheiße, wir beleidigen einander, wir machen Dinge möglich. Dies ist das Land der Deals. Dies ist das Land der Verhandlungen. Jeder Ziegelstein mag nur halb gebrannt sein, jedes Gebäude mehr durch den Glauben zusammengehalten als durch Zement – aber es wird hingestellt. Zum halben Preis, in der halben Zeit.

Wir unterzeichneten den Vertrag. Ich nahm einen Stapel Schulbücher des Jungen mit und wurde durch die Hintertür hinauskomplimentiert. Ich ging nach Hause, bereit, einen Monat lang mein Gehirn vollzustopfen, Junkfood zu essen und den Weg zu einem besseren Leben für mich und die kommenden Generationen von Kumars zu ebnen. Auf dass sie mir Statuen errichten und mich in ihren Gebeten ihren glücksbringenden Vorfahren nennen würden, der Mann, der das Familienvermögen gemacht und dem Familiennamen zu neuem Glanz verholfen hatte.

Um wirklich erklären zu können, wie ich in dieses fingerlose Schlamassel geraten bin, muss ich noch weiter ausholen, weiter zurück als zu Rudi, bis zu meiner Herkunftsgeschichte. Meine Familie war arm gewesen, solange wir zurückdenken konnten. Wir hatten Legenden, wie sie jede Familie hat: dass wir einst Dichter gewesen seien, von Eroberern, Griechen, Briten oder Russen abstammten und unsere Armut nur vorübergehend sei. Aber das Vorübergehende hatte sich als äußerst dauerhaft erwiesen.

Unser Geschäft war der Tee. Seit Generationen verkauften wir diese wunderbare, duftende Pflanze, die den einfachen Mann und Mogulen gleichermaßen verzauberte, an jeden, der –

Also gut, wir landeten tatsächlich an irgendeinem Punkt im Teegeschäft, aber damit hatte es nicht begonnen. Mein Vater war ursprünglich im Straßenbau tätig. Dort hatte er sich den Rücken ruiniert und sich vor meiner Geburt die Hände übel verbrannt, wahrscheinlich weil er sturzbetrunken in einen brodelnden Teerkübel gestürzt war. Wir haben natürlich keine Handschuhe in Indien. Ich erinnere mich daran, wie er liebevoll versuchte, seine Finger zu strecken, wenn er mich abends zu Bett brachte … Okay, die Wahrheit ist, er schlug mich. Mit einem Rückhandschlag, für den Indien in der ganzen Welt berühmt ist. Aber seine Hand, eine umgekehrte Klaue, deren Finger sich nicht mehr nach innen krümmen ließen, mit verhärteten Muskeln, die Haut glänzend vor Narben, machte den Schlag härter und verursachte heftigste Schmerzen, als wäre sie gar nicht seine Hand, sondern eine speziell konstruierte Waffe, die er nach Belieben einsetzen konnte.

Ein perfekter Start in ein Leben periodisch auftretender Folter.

Meine Mutter habe ich nie kennengelernt. Sie starb bei meiner Geburt, und mein Vater hatte nichts Gutes über sie zu vermelden. Eines Tages, als ich ihn wieder einmal verärgert hatte, vielleicht war mir ein Pfefferkorn heruntergefallen oder ich hatte die Milch überkochen lassen, hatte er gesagt: »Er ist stockdämlich, das ist er, genau wie seine Mutter. Sie hatte Augen wie eine Kuh und lange Wimpern. Ich hätte es wohl besser wissen müssen, was?«, worauf seine Kunden gelacht hatten. An diesem Abend hatte er mich besonders heftig geschlagen, sodass seine Hand danach mehr als üblich schmerzte und er mich mit zusätzlicher Erbitterung hassen konnte.

Gewöhnlich hatten die Teestände Namen, Singh’s oder Lalit’s, aber unserer nicht. Deshalb dachte ich immer, wir seien bekannt als: Der Stand, wo der Kerl seinen Sohn schlägt, du weißt schon, bhai, der am Kaschmir-Tor.

Was müsst ihr sonst noch wissen? Über mich?

Es lohnt sich nicht, mich zu beschreiben. Ich war klein und hatte große braune Augen. Heute bin ich größer und habe große braune Augen. Ich trug Jeans aus siebter Hand mit Löchern im Schritt und lief auf Plastikschlappen, um deren Ränder sich meine Zehen krümmten. Alles klar?

Wir lebten in einem Ein-Zimmer-Betonverschlag, ein paar Gassen von dem Ort entfernt, von dem westliche Reiseführer behaupten, das sei das wahre Indien, mit Gewürzbergen, Frauen in mangofarbenen Saris, Männern, die nach Haaröl und Weihrauch duften und Kühe hinter sich herziehen, stattlich und fett, und wo Weiße aus ihren klimatisierten Jeeps steigen und verkünden, wie sehr der Anblick und die Geräusche sie überwältigten.

Mein Indien riecht nach Scheiße. Es riecht wie etwas Ekliges, Verdorbenes, aus all den Träumen, die geronnen und verklumpt sind wie ranziger paneer. Es riecht, als hätten sich die Bewohner mit Cannabis, Alkohol und Weihrauch betäubt und würden nur existieren, um Mais, Reis und Weizen in Babys und Scheiße zu verwandeln. Man trinkt, man spielt, man schaut Kricket und verwettet Geld, das man nicht hat, man lyncht Muslime, man schlägt seine Kinder, die erwachsen werden und dasselbe tun.

Papa und ich gingen jeden Morgen in den Tempel. Das muss ich dem hinkenden kleinen lund lassen. Immer sehr religiös, mit das Einzige, was ich von ihm übernommen habe – inzwischen gehe ich selbst dorthin, sooft ich kann.

Jeden Morgen läutete er die Glocke am Tempeleingang (andere Eltern hoben dazu ihre Kinder auf die Schultern – meiner etwa?), wir zogen unsere Schuhe aus und hofften, dass sie später noch da sein würden. Papa warf mit seiner Klauenhand ein paar paise in die Sammelbüchse, schon damals, bevor Indien von der Inflation, von McDonalds und Kids mit amerikanischem Akzent in Shopping-Malls heimgesucht wurde, eine klägliche Summe. Eine kurze Verbeugung vor der Göttin, die dunkel und triumphierend thronte, während ihre Tiger das Leben aus Dämonen und Männern quetschten, die ihr auf die Titten starrten. Ich betete um das Ausbleiben von Schlägen, um Geld und ein Entkommen aus diesem Elend. Papa betete für Erfolg im Chai-Geschäft, dass er keine Syphilis bekommen und sein einziger Sohn kein verdammter Volltrottel bleiben würde.

Immerhin beteten wir für etwas Reales, etwas Greifbares. Besser als die Menschen, die täglich zig Millionen Rupien dafür verschleuderten, dass ihre Kinder gute Menschen und TED-Talker würden, glückliche Ehen hätten oder anderen Reiche-Leute-Scheiß.

Nach dem Tempel begann der Teeverkauf. Im heraufdämmernden Morgen. Am Kaschmir-Tor, in der Nähe der Geldwechsler, die westliche Touristen übers Ohr hauten. Wir fuhren mit unserem kleinen mobilen Teestand mit rissiger und vergilbter Bemalung durch enge Gassen, in denen verpesteter Nebel hing, während in der Ferne die Werbesprüche, Flüche und Witze der Nachtwächter, Milchmänner und Wäscher gespenstisch hallten.

Mein Vater fuhr das Rad, die Muskeln seiner Beine spannten sich, und wir platschten durch Schlaglöcher. Jeder seiner Muskeln arbeitete synchron, eine einzige große Maschine vom Schädel bis zur Sohle, die Alkohol wie eine Art Treibstoff in Energie und Geld umwandelte. Ich trabte hinterher, folgte ihm wie ein tollwütiger Hund einem Sack Fleisch, schaute nach oben, zu den Stromleitungen, die sich verflochten und wieder entwirrten, auf die zur Landung ansetzenden Flugzeuge. Als wir unseren Standplatz erreichten, den Papa durch subtile Verhandlungen und einige seiner berühmten Rückhandschläge ergattert hatte, musste ich meine Beine vom Straßendreck sauberkratzen, der in einer Million Jahren zu Erdöl komprimiert sein würde.

Unser Platz war am Rand von Alt-Delhi, wo das Mittelalter der Moderne weicht. In den Straßen röhrten ungeduldige Männer mit Schnurrbärten vorbei, nahmen Abkürzungen auf ihren Honda Heros, die mit Klebeband und Gebeten zusammengehalten wurden. Frauen umklammerten ihre Handtaschen und hielten ihre Schlüssel wie Messer, um jeden Mann aufzukratzen, der ihnen zu nahe kam. Kinder in meinem Alter, fünf in einer Rikscha, wurden zu ihren Schulen gefahren, Uniformen in Blau, Grau und Grün, Rotznasen, ölglänzende Haare, Plastik-Lunchboxen mit chapatis und vegetarischen Currys, gekocht von ihren liebevollen Eltern.

Das war eine andere Welt, ein Indien, das meinem ein Jahrhundert voraus schien. Mehr sah ich davon nicht, nur ein kurzer Blick, zweimal am Tag. Ich würde wohl niemals Teil davon sein.

Ich gehörte zu den Untersten der unteren Mittelschicht. Mein Vater besaß zwar ein Geschäft, das ich erben würde, das schon. Und wir waren nicht am Verhungern, waren weder dalits noch Obdachlose. Aber wir würden niemals aufsteigen. Die großen gesellschaftlichen Bewegungen hatten uns links liegenlassen. Die Unabhängigkeit, der Sozialismus, der Kapitalismus, für uns machte das keinen Unterschied. Mein Leben bestand im Mahlen von Gewürzen für den Tee.

Selbst jetzt, ein Jahrzehnt nachdem ich meinem Vater erklärte, er könne sich zum Teufel scheren, kann ich mich noch genau an das Mischungsverhältnis erinnern: drei Teile grüner Kardamom, drei Teile Fenchel, zwei Teile Nelke, zwei Teile Zimtblüte, ein halber Teil Pfefferkorn, ein halber Teil schwarzer Kardamom. Frisch gemahlen, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute in der das Gehirn zum Schmelzen bringenden Hitze, prompt auf Bestellung, geliefert von meiner Wenigkeit. Und Gott stehe dir bei, wenn dir ein Fehler unterlief. Ihr wisst inzwischen, was der Lohn dafür war.

Ich hatte einen Stein, mit dem ich meine Gewürze pulverisierte, viel zu groß für ein Kind, dick und schwer und dunkelgrau, mit dünnen weißen Streifen, die ihn durchzogen wie Zellulitis die Oberschenkel eines Politikers. Ich verbrachte meine Tage gebückt hinter dem Verkaufsstand und schlug die Gewürze zu Staub, meine Rückenmuskeln schmerzhaft verknotet am Ende des Tages. Nachts hatte ich Albträume, dass ich mich in einen Buckligen verwandeln würde, und bevor mein Vater aufwachte, versuchte ich in stockfinsterer Nacht meinen Rücken gerade zu strecken und mit Händen und Füßen nach China und Pakistan zu greifen, so wie es die Westler beim frühmorgendlichen Bikram Yoga machten, um ihre Lendenwirbelprobleme zu lösen.

»Kein im Laden gekauftes Pulver bei uns, Sir!«, schrie mein Vater immer. »Alles frisch gemahlen von meinem kleinen Zwerg von einem Jungen da unten. Du, Ratte! Zeig dem Gentleman deine Muskeln! Ha ha!« Manchmal fanden ein paar Insekten, ein bisschen Dreck, etwas Spucke ihren Weg in die Mischung, natürlich nur durch Zufall.

Mein Hass hätte Indien zum Weltmarktführer für erneuerbare Energien machen können.

»Heißer Chai! Frischer Chai! Ingwer-Chai für die Kranken! Milch-Chai für die Depressiven! Garam! Garam! Täglich, von früh bis spät!« Papa schrie stundenlang, er wurde nie heiser, wenn das Geschäft zufriedenstellend lief, schmetterte er Film-Songs, pries die Götter, pries Indien, verkündete, dass die People’s Party die nächsten Wahlen verlieren würde, dass unsere Kricketspieler fett und behäbig seien, tat insgesamt sein Bestes, um seine Millionen von Konkurrenten zu übertrumpfen. Wenn sie ihre eigenen, von Hass erfüllten Söhne hätten, so malte ich mir aus, dann könnten wir uns eines Tages zusammenschließen, unseren Vätern die Kehle durchschneiden, die Büffelmilch blutrot färben und den Vatermord-Chai saufen.

Stets stand Papa hinter seinem uralten Kupfertopf, die Gasflamme erwärmte seine Eier, brachte die Milch zum Kochen, die gerade so stark verwässert war, dass es niemand bemerkte. Bis heute kann ich weder den Geruch von verbrennendem Fett, noch den Anblick hochschäumender Milch ertragen. In Abständen von fünf Minuten gab ich ihm die zerdrückten, zerstampften, zermahlenen Gewürze. Vorsichtig reichte ich ihm das verschlossene Gefäß mit dem Kristallzucker, verklebt wegen der Feuchtigkeit, natürlich zu langsam, – klatsch, klatsch!, setzte es Ohrfeigen. »Und jetzt lässt du’s auch noch fallen, jetzt kommen die Käfer rein!« –, oder Sucralose für die korpulenten Neureichen; Tassen, Becher, Behälter mit den diversen Teemischungen …

Wir hatten sechs davon. Auf jedem Behälter klebte ein kleiner Zeitungsausschnitt mit dem Bild einer Göttergestalt, die die Schirmherrschaft für die entsprechende Wirkung hatte. Eine der Mixturen versprach Reichtum, eine andere Gesundheit, eine dritte zahlreiche männliche Nachfahren aus deinen Lenden, eine weitere Liebe, Zuneigung und sexuelle Gefälligkeiten der molligen Rezeptionistin, die du gerne nebenher ficken würdest. Vermutlich habt ihr es bereits erraten, dass sie alle aus dem gleichen Topf stammten. Dem Liebes-Chai hatten wir ein paar falsche Rosenblätter hinzugefügt, einfach wegen der Farbe. Dafür verlangten wir fünfzig Prozent mehr. Fünfzehn Rupien pro Tasse! Könnt ihr euch das vorstellen? Raub am helllichten Tag! Zwar bestellte ihn nie jemand, aber trotzdem! Wie dem auch sei, wir und unsere harmlosen kleinen Schwindeleien waren immer noch besser als die Chinesen, die Tiger zerstückelten, um Viagra-Tee daraus zu brauen, oder Bauern zerstückelten, um ihnen die Netzhaut zu stehlen.

Vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung war ich an den Verkaufsstand gefesselt. Viel lieber hätte ich das alte Delhi erkundet, wäre durch schattige Gassen und verlassene havelis geschlendert, zwischen dicken Mauern, die den britischen Kanonen nicht gewachsen waren, hätte verschimmelte Bücher auf dem Markt gestohlen, die heimlichen Gespräche von Räubern, Dieben und hijras belauscht, mystische Geheimnisse aus Versen ausgemergelter Sufis gelernt oder schmutzige Rupien auf Katzen-, Hunde-, Hahnen- und Menschenkämpfe gewettet. Doch stattdessen zerstieß ich von früh bis spät Gewürze und wurde geschlagen.

Immerhin rochen meine Finger nach dem Potpourri, das man heute in den feinsten Häusern bekommt, Fantasy Orient oder Ethnic Adventure, oder wie auch immer diese Mixturen hießen. Das war doch was.

Manchmal hatte ich sogar frei. Nicht etwa an einem der multikulturellen Feiertage, die unsere Regierung erlassenen hatte, sondern an den Tagen, an denen Papa betrunken war, und ich ihn nicht wecken konnte. Man musste ihn ziemlich schubsen, sich alle Mühe geben – ein ganzer Arbeitstag verloren, weil man ihn nicht wach kriegte? Oh, dann bekam man es extra-hart zu spüren.

An diesen Tagen ging ich zur Schule. Ich lernte etwas über die Welt außerhalb Delhis. Ich lernte lesen und schreiben. Ich war ein braver kleiner Junge. Ich verschlang Bücher. Eine Wohltätigkeitsorganisation hätte ein Foto von mir machen und für ihre Plakate verwenden können, diese Art Plakate, auf denen krummbeinige Kinder schlagartig geheilt und »restlos aus ihrem Elend befreit« werden, weil sie vier Seiten aus Die kleine Raupe Nimmersatt gelesen hatten.

Unsere Geschäfte liefen gut, aber wo die Einnahmen versickerten, weiß ich nicht. Ich besaß nicht mal einen Topf, in den ich pissen konnte, und mein Papa schon gar nicht: Er verschaffte sich Erleichterung vor den Haustüren von Feinden oder Kredithaien, oder gar auf ihren Gesichtern, wie er immer behauptete, wenn er nachts betrunken war und die Prahlerei begann, wie viele Frauen er in seiner glorreichen Jugend rumbekommen und wie viele Genicke er gebrochen habe.

Er hatte eine Menge Frauengeschichten. Er tat nichts im Haushalt. Wer wusch meine Wäsche? Woher bekamen wir Seife? Essen? Ich sah meinen Vater so gut wie nie kochen. Welche Hausfrau bezirzte er dazu? Welche kleine Angestellte gab uns von ihrem Abendessen ab?

Wo er geboren war? Keine Ahnung.

Was aus ihm wurde? Ihr werdet es noch erfahren.

Wir hatten keinen Fernseher. Jede Zwei-paise-Familie besaß zumindest eine Schwarz-Weiß-Kiste. Er nicht. Nur ein Radio, das Kricket-Ergebnisse plärrte, auf die er wettete. Tendulkar schied aus, Ramesh bekam Schläge. Sehwag schied aus, Ramesh bekam Schläge. Dravid schied nie aus. Den mochte ich.

Keine Küche. Nur ein kleiner Gaskocher, auf dem mein Vater sich gelegentlich dazu herabließ, chapatis zuzubereiten, meistens nur dann, wenn er eine Frau zu Besuch hatte.

Wir lebten im billigsten und miesesten Loch, das er hatte finden können.

Es war 2005, aber ebenso gut hätten wir ein Jahrhundert früher leben können. Im Jahr 2005 hockten die Amerikaner in ihren Florida-Subprime-Behausungen und masturbierten auf Jessica Alba, ohne sich darüber klar zu sein, dass die Zukunft schwarz, braun und gelb sein würde. Selbst ein paar Kilometer von unserem Verschlag entfernt hatten dämliche indische Teenager iPods und hörten Blink 182. Und was lief bei uns?

Bei uns lief nichts. Wir hatten kein Geld. Wir hatten zu essen immerhin, aber was war das für eine Existenz? Kein ruhiger Moment. Immer schuften, Tee kaufen, Tee verkaufen, Trübsal blasen, weinen, Gewürze zerstoßen und ein Leben führen, das nirgendwohin führte – mein größter Albtraum war, dass ich würde wie mein Vater, mit einer Krallenhand wie seine, mit einer Brust voller dunkler Haare wie seine, meine Augen, mein Gesicht und mein Gehirn verwandelt in seine. Und vielleicht wäre es auch so gekommen. Dann wäre ich heute wie er, wütend, ein Nichts, arm …

Doch dies ist keine Geschichte über Armut. Es ist eine Geschichte über Reichtum.

ZWEI

Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, ein weiteres Jahr, in dem ich Prüfungsbetrug beging. Noch hatte ich keine Ahnung, dass Rudi der Klient war, der mein Leben komplett auf den Kopf stellen würde

Die zweite Begegnung mit dem Jungen war nicht besser. Er war angepisst, weil ich ihm keine Pizza mitgebracht hatte. Ich war angepisst, weil ich so wenig Geld bekam. (Eine Million dreihunderttausend gandhis, und ich war trotzdem schlecht drauf! Mein Gott, dafür hätte man ganze Bihari-Dörfer kaufen können, Mütter, Väter, kleine Jungs und Mädchen inklusive, und mit ihnen tun können, was immer man wollte, und vermutlich gab es tatsächlich Leute, die so etwas machten.)

Zehn Jahre zuvor wäre ich wahrscheinlich der Nachhilfelehrer des Jungen geworden. Wir wären miteinander und aneinander gewachsen, hätten die Stärken und Schwächen des anderen kennengelernt, und sonstigen westlichen Unsinn. Ich hätte sein Haar gewuschelt, wenn er mir von seinen akademischen Heldentaten berichtete. Zum Dank hätte er mir Blumen und Pralinen geschenkt.

Doch heute gab ich stattdessen vor, er zu sein. Vermutlich ist es das, was man Fortschritt nennt.

Es begann mit seiner Garderobe. Nur eine kleine Schwindelei, bei der man den Eltern versicherte, jedes Detail sei von Bedeutung: »Wollen Sie, dass eine Kleinigkeit wie falsche Kleidung bei der Prüfung für Ärger sorgt?« Auf die Art konnte man ihnen ein paar Tausend Rupien zusätzlich für Kleidung und Schuhe aus den Rippen leiern. Niemand kontrollierte bei Prüfungen je die Kleidung. Doch die Eltern schluckten alles. In all meinen Kleidern steckten Erinnerungen, an ein erfolgreiches Examen, an ein Kind, das in ein besseres Leben geschickt wurde, an ein weiteres Paar gieriger Eltern, die um kostbare paise betrogen worden waren. Wenn die Ergebnisse herauskamen, war die Familie derart dankbar, dass sie ein paar Tage lang jede vorgelegte Quittung unterschrieb, und man hatte vielleicht eine Woche Zeit, bevor sie wieder geizig wurden und ihr Geld lieber in ein neues Auto, ein Haus oder ein Sommerpraktikum bei Google steckten.

Rudraksh. Rudi. Wie kann ich ihn beschreiben? Vor dem ganzen Geld, den Armani-Anzügen, der Werbung für Hautaufhellungscremes, den Diätberatern, die ihm seine Junkfood- und Cola-Gelage abzugewöhnen versuchten?

Unauffälliges Gesicht. Sehr nordindisches Gesicht. Uttar-Pradesh-Gesicht. In-Dörfern-gibt-es-Hundert-Millionen-davon-Gesicht. Keine-Matches-auf-Tinder-Gesicht. Bei-Versuch-einer-arrangierten-Heirat-nach-dem-ersten-Treffen-abgewiesen-Gesicht. Fettige Haut in der T-Zone. Vermutlich klebrige, verschwitzte Hände, mit denen ich stets jede Berührung vermied. Einziger Sport – Tischtennis. Badminton zu athletisch. Ölige Streetfood-Snacks nach der Schule; Magen, Hoden und Blut voller gol gappas und raj kachoris. Eltern kaufen ihm zu diwali Diätratgeber.

Sein Haar war die übliche lange, fettige, ungekämmte Mähne eines jeden reichen Teenagers ohne Selbstwertgefühl. Wenn ich immer noch Perücken eingesetzt hätte, hätte ich leichtes Spiel gehabt. Ich bewahrte nach wie vor ein Dutzend davon in unterschiedlicher Länge auf, alle Echthaar, nie schamponiert oder mit Seife behandelt, fünfzehntausend Rupien das Stück. Ich hatte den Verkäufer, einen stets besorgt aussehenden Mann in einem flohverseuchten Laden in Ost-Delhi, nie gefragt, woher er die Dinger hatte.

Aber mittlerweile hielt ich die Verkleidungen bei den Prüfungen einfach. Ich übertrieb nicht mehr. Ich hatte einen gewissen Ruf. In den Augen mancher war ich eingebildet, sie fanden, ich benähme mich wie ein Filmstar. Meine Kollegen aus dem Bildungsbereich rezitierten pathetische Dialoge aus Filmen der Siebziger, sobald ich mich näherte.

Rudi hatte seine Teenagerjahre mit Abhängen verbracht. Zu viel Gaming. Zu viel manische Mitternachts-Masturbation. Fragte man ihn, was er in der Schule gelernt hatte, stöhnte er nur. Er war damals eher noch nervtötender als vor dem Ruhm, dem Geld, den Frauen, bevor er Mister Number One wurde, Brain of Bharat, der Mann, der alles wusste, der nawab des Wissens: Denn davor war er nur ein normales indisches Mittelschichtskind, das einen mit einem einzigen Verdrehen seiner Augen in den Selbstmord treiben kann.

Ich verbrachte die ersten drei Tage damit, herauszufinden, was er tatsächlich wusste.

Drei Tage reinster Folter. Wir gingen seine Lehrbücher durch, die er so gut wie nie aufgeschlagen hatte, mit ungebrochenem Rücken, ohne die üblichen indischen Spuren wilder Unterstreichungen, verschmierter Tränenflecken und Essenskleckereien vom nächtlichen Büffeln.

Alle fünf Minuten ermahnte ich ihn, meinen Fragen bezüglich seines Schulstoffes, seines Lehrplans, all dessen, was ich wissen musste, mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

»Deine Eltern zahlen gutes Geld dafür«, erklärte ich ihm, etwas, das vor fünf Jahren bei Kids gezogen hätte. Doch er stöhnte nur, wischte weiter über sein Smartphone, die GIFs und der ganze YouTube-Dreck spiegelten sich in seiner schmutzigen Brille.

In der Ecke seines Zimmers stand eine Gitarre, die eindeutig noch nie berührt worden war. Sie lehnte an der Seitenwand eines dunklen Schranks, wie man ihn in jedem Delhi-Schlafzimmer findet, ob reich oder arm: Vollgestopft mit alten Schals, mottenzerfressenen Brautkleidern, aus der Mode gekommenen salwar-kameezes und Hartschalenkoffern von 1985, die niemand wegwerfen will, denn egal wie viel Geld man hat, die indische Geschichte hat einen gelehrt, dass es jederzeit den Bach runter gehen kann, sodass man immer fluchtbereit sein muss. Vielleicht sind wir aber einfach nur schäbige Kleinkrämer. Keine Ahnung.

In den Regalen stapelten sich verstaubte westliche DVDs, Schrottfilme, die wahrscheinlich ein Verwandter aus Kanada angeschleppt hatte, damals, als man damit jemanden beeindrucken konnte, vor den Nachbarn hatte angeben können, was für ein wunderbares Leben unsere Familie in Amrika führte. Das war lange vor Social Media, die uns dann in Echtzeit vorführten, wie dämlich die Amerikaner tatsächlich waren.

Rudi schwitzte heftig, obwohl er nur ein paar Fragen beantworten sollte. Auf seiner Brust bildete sich ein dunkler Fleck. Über uns dröhnte ein Ventilator in Enthauptungsgeschwindigkeit, quirlte aber nichts als heiße Luft. Am Boden stand eine funkelnagelneue Klimaanlage, die anscheinend wieder deinstalliert worden war, zweifellos aufgrund von Streitigkeiten mit den Handwerkern.

»Arrey, yaar«, sagte Rudi, wenn ihm meine Fragen zu viel wurden oder ich meinen Unmut deutlich zeigte. »Geh mir nicht auf den Sack, Mann. Weißt du, wie viel Arbeit das ist? Alter, verschon mich einfach.«

Auf den Sack gehen? Alter? Bitte ein bisschen mehr Respekt vor älteren Menschen. Nur etwa fünf Jahre älter, aber immerhin. Ich war vierundzwanzig und verdiente Achtung. Wie sehr doch unsere Sitten seit dem Aufkommen der Smartphones verroht waren.

Dann bohrte er wieder in der Nase, murmelte vor sich hin, suchte nach Musikvideos oder nach Mädchen, von denen er meinte, sie würden auf Instagram zu viel nackte Haut zeigen.

»Schau dir die da an«, sagte er mit vergnügtem Entsetzen, als er die Freundin eines Freundes entdeckte, die an einem thailändischen Strand ihr Duckface in die Kamera hielt. »So unanständig!«

Es war eindeutig, dass er noch nie ein Mädchen berührt oder auch nur mit einem gesprochen hatte.

Ein Hanuman-großer Berg von Arbeit rückte ins Blickfeld. Der kleine Scheißer hatte nicht das Geringste gelernt. Er konnte mir nichts sagen, konnte mir kein bisschen helfen.

Die Eltern hatten ihn als »guten Jungen, der Hilfe braucht« beschrieben, und eine Lüge vom Ausmaß »die Briten richten nur einen Handelsposten ein« wittere ich auf zehn Meilen gegen den Wind. Der kleine Pisser war hirntot, eine Niete, oder wie auch immer indische Eltern in Filmen ihre Kinder nannten. Er lungerte herum, hörte Nirvana und Emo-Musik, hatte nicht die Eier, sich dem Marxismus oder Marihuana zu verschreiben, wie es jedes Kind mit Selbstachtung in seiner Situation getan hätte. Nie hatte ich einen stärkeren Drang verspürt, einem meiner Klienten eine zu scheuern.

Ich hätte besser einen auf Yoga machen sollen: Mystisch klingenden Blödsinn über Chakren erzählen, ein paar Zimmer in einem Landhaus in der Nähe von Delhi mieten, eine Handvoll Callcenter-Typen als Rezeptionisten einstellen und eine Web-1.0-Site einrichten, die gerade erbärmlich genug war, um die leichtgläubigen Trottel mit meiner vermeintlichen Bescheidenheit und meinem Mangel an modernem Know-how anzulocken. Und schon hätte es losgehen können. Das Geld der Weißen wäre in Strömen geflossen! Und wenn sie Durchfall gekriegt hätten, hätte man ihnen einfach nur erklärt, das gehöre zum Prozess der Erleuchtung und des Loslassens des Selbst.

Nach diesen ersten drei Tagen begann die eigentliche Arbeit. Ich machte mich ans Lernen. Für die Vorbereitung blieben mir vier Wochen. Gerade ausreichend.

Wie üblich vergrub ich mich in Büchern. Endlose Stunden. Ich konnte alles Gelesene im Kopf abspeichern, es war eingebrannt in meine Netzhaut, wie Brandzeichen ins Fell einer Straßenkuh.

Zwischendrin legte ich mich zum Ausruhen hin, ließ den Ventilator Staub und Schwefeldioxyd über mein Gesicht peitschen, schlief drei traumlose Stunden, dann machte ich weiter, aufgeputscht von Kaffee, Thums Up und höllisch scharf mit achaar gewürzten aloo parathas von Straßenständen.

In meinem Apartment führte ich einen aussichtslosen Kampf gegen Schimmel und abblätternde Farbe. Ich putzte natürlich selbst – nur weil ich ein Selfmade-Businessman aus der Mittelschicht war, wurde ich nicht unbescheiden und beauftragte jemand anderen damit. Der universelle indische Fußboden, gesprenkelter Stein, zog den Schmutz an wie eine seltene Kostbarkeit. Der Dunstabzug in meinem Badezimmer war kaputt, sodass die ganze Bude nach Muff und Fäulnis roch, vermischt mit meinem billigen Deodorant und meiner waffenfähigen Bleaching-Zahncreme.

In meinen Tagträumen fantasierte ich von Geld und was ich damit anstellen würde. Kebabs. Ein ausgedehntes Gelage im Moti Mahal. Alles vor Ghee triefend. Eine Klimaanlage. Ein Motorrad. Ein paar Dates in einem Restaurant am Connaught Place, bei denen es mir nicht gelingen würde, bis zur raffinierten Polyesterunterwäsche einer Junior-Kundenbetreuerin eines multinationalen Konzerns vorzudringen.

Ich sparte mein Geld. Schickte es direkt an die Bank, wie ein Idiot, ein absoluter vella. Und wofür sparte ich? Ich hätte ein Vermögen im Baugewerbe, in China oder mit Bitcoins verdienen können, wie Sumit behauptete: »Aber ich schätze, du hast es einfach nicht drauf. Wie die meisten von deiner Sorte.«

Was soll ich tun? Ich bin nun mal ein Anhänger des Gesetzes. Ich bin vorsichtig. Ich plane für die Zukunft. Zumindest war das früher der Fall.

Mein Leben bestand jedoch nicht nur aus Arbeit.

Jeden Morgen besuchte ich den Tempel. Die Macht der Gewohnheit, die Macht der Ohrfeigen. Ich spendete jeweils zwanzig Rupien, nicht viel, aber immerhin hatte ich dabei keine Hintergedanken und keine schlüpfrigen Wünsche, also zählte es zehnfach. Die Fahrt mit der Metro ins Zentrum Delhis war ein dahi bhalla aus Männern, die Angstschweiß ausdünsteten, dabei Blicke frustrierten sexuellen Verlangens auf parfümierte junge Frauen warfen, und das um fünf Uhr morgens, wenn man gegen solche lüsternen Fantasien gewappnet sein sollte durch die Gedanken an die eigene Ehefrau und ihre Kochkünste.

Ich ging auch immer in den Gurdwara. Ich machte eine Stippvisite, wie die Briten sagen würden, wenn die goldenen Kuppeln des Bangla-Sahib-Tempels in den ersten Sonnenstrahlen glänzten. Der Geruch nach Ghee und Koriander ließ einen würgen, während zehntausend Portionen daal, gobi und chapatis von vor Anstrengung grunzenden, schweißnassen sardarjis zubereitet wurden.

Gelegentlich, wenn mir danach war, machte ich auch einen Ausflug mit der Metro nach Alt-Delhi. Dann spazierte ich durch den Kabutar-Markt, wo Tausende bunter Wellensittiche verkauft wurden, in Käfigen übereinander gestapelt, sich gegenseitig anscheißend. Wer sie kaufte und wo sie letzlich landeten, war unklar. Natürlich gab es nicht nur Vögel. Da waren Kühe, Ziegen, reihenweise in Plastik eingeschweißte Motorradhelme. Chinesische Koffer, immer dasselbe Modell, das in einem Dutzend Läden verkauft wurde. Duftende Rinden, Bernstein, Tinkturen und Pasten aus Zentralasien, die jede Krankheit heilten. In den Gassen junge Frauen, die einen ins Verderben und in den Untergang lockten. So ziemlich das übliche Shopping-Mall-Angebot, oder nicht?

Ich schlenderte ein wenig herum, beobachtete die australischen Touristen, die in aller Öffentlichkeit ihr Geld zählten – man glaubt es kaum –, und kam dann zu der Kirche am Chandni-Chowk-Markt, wohl der ruhigste Ort in Delhi. Die meisten Christen waren vor langer Zeit geflüchtet, weil ihnen klar geworden war, dass sie im Westen weniger diskriminiert würden. Geblieben waren die Alten, ein längst pensionierter, faltiger Priester, den ein Schimmelgeruch umwehte, eine Nonne mit dicker Brille und abgenutzten Rosenkranzperlen, die mich an jemanden erinnerte, den ich vor langer Zeit gekannt hatte. Der Traum von einem christlichen Reich, der nur noch in müden Muskeln und porösen Knochen fortlebte.

Einmal pro Woche ging ich sogar in die Jama Masjid. Schließlich brauchen Bildungsberater allen Segen, den sie kriegen können. Niemals freitags, wenn die Kuppel widerhallte von zwanzigtausend Wehklagen an Allah über Töchter und Söhne, die von der Moderne korrumpiert worden waren, oder über das, was die Safrangelben, diese ergebenen Soldaten unserer international angesehenen Regierung, als Nächstes planen mochten (vielleicht ein Pogrom, eine Sterilisationskampagne oder einen Lynchmord, weil gewisse Männer davon ausgingen, jeder Muslim wolle ihre süßen kleinen Mädchen durch den Liebes-Dschihad herumkriegen). In diese Moschee ging man montags oder dienstags, wenn kleine Ansammlungen von Männern sofort verstummten, wenn man zu nah an ihnen vorbeilief.

Stets begrüßte ich meinen Lieblingsbettler Ram, der mit steifen Armen und Beinen vor dem Kasturba Hospital saß. Ich gab ihm immer einen Geldschein, worauf er mit seiner schönen, tiefen Stimme sagte, als hätte er mich nie zuvor gesehen: »Junger Mann, du wirst es zu etwas bringen! Ich war auch mal jemand, als ich im Krieg von ’71 Düsenjäger flog«, und dann erzählte er eine lange Geschichte, wie er die Pakistanis in ihren amerikanischen F-104-Jägern überflügelt hatte, und anschließend gab ich ihm immer noch etwas mehr, auch wenn alles frei erfunden war.

Ich bin natürlich kein reiner Wohltäter und selbstloser Gutmensch. Ich brauchte Ram. Meine Wurzeln reichten nicht mehr bis nach Alt-Delhi. Ich benötigte jemanden, der auf den Straßen ein Auge für mich offen hielt, jetzt, da ich zur Mittelklasse gehörte. So blieb ich mit den Füßen auf dem Boden der Tatsachen. Heimat ist Heimat, ich bin, wer ich bin.

»Neuigkeiten?«, fragte ich, und seine listigen Augen huschten die Straße entlang, registrierten den Silberglanz auf dem Schleier einer jungen Hausfrau, das rostige Knirschen am Fahrrad des Kokosnusshändlers, das Spiel der Lichter auf den Gesichtern der Passanten.

»Nichts, gar nichts«, sagte er.

Ich hielt den Kontakt trotzdem aufrecht. Vielleicht würde er eines Tages nützlich sein.

Dann scharten sich die Straßenkinder um Ram, taten, als wären sie Flugzeuge, griffen nach dem Geld in meiner Hose, ich gab es ihnen und versuchte anschließend zu verhindern, dass sie sich darum prügelten.

In einem Café genehmigte ich mir ein Frühstück, eine Hammelpastete, danach wieder ab nach Hause, um achtzehn Stunden lang zu lernen.

Alt-Delhi erscheint in gewisser Weise realer als Neu-Delhi. Es ist gemächlich, es ist geheimnisvoll, es ist vorkapitalistisch. Doch das ist alles nur Trug. Je nachdem, wen du fragst, besteht Delhi entweder aus acht Städten, die jeder Eroberer auf den Ruinen der Vorgängerin errichtete; oder es sind zwei Städte, eine reiche und eine arme, wie die Westler sagen würden; oder es ist eine einzige, in der wir alle Arschbacke an Arschbacke leben; oder es sind dreißig Millionen Menschen, wenn man die Obdachlosen in den Unterführungen mitzählt, Opfer der Hungersnöte in Bihar, von denen die Regierung behauptet, es hätte sie nie gegeben.

Und ich? Ich denke, Delhi gibt es überhaupt nicht, weder reich, arm, alt, neu, mogulisch, britisch oder indisch – es ist alles nur Geld rein, Geld raus, Gebäude rauf, Metro runter, Finger ab, Finger dran. Es ist eine Fata Morgana. Es ist ein Gewirr aus Straßen, Wohnblöcken und Siedlungen, die willkürlich nebeneinander existieren.

Die Märkte. Die Cafés. Der Chandni Chowk. Das waren nicht die Schauplätze meiner Jugend. Diese Orte lernte ich erst kennen, nachdem ich den Teestand verlassen hatte. Vorher hatte ich einfach keine freie Zeit. Aufstehen, in den Tempel gehen, Stand aufbauen, Tee kochen, den Kunden zuhören, die sich über die Wartezeit beschwerten, über ihr Gewicht, ihre Ehen, ihre Kinder, dann zurück nach Hause, schlafen. An einem freien Tag, einem gesegneten freien Tag, vielleicht zur Schule gehen, Hunde herumscheuchen, mich elend fühlen. Das war mein Leben.

Alles wegen des Tees.

Ich kann das Zeug nicht ausstehen. Ich bekomme davon Kopfschmerzen und Herzrasen, wie indischstämmige amerikanische Eltern es kriegen, wenn sie hören, dass ihr Junge mit einem schwarzen Mädchen zusammen ist. Es fällt mir schwer, mit meinen Kollegen aus meiner wunderbaren Branche Kontakte zu pflegen. Denn sie trinken ständig Tee. Sie schlürfen ihn, spucken ihn aus, inhalieren ihn so schnell wie möglich, als ob es ein Sport wäre. Nicht, dass sich die Unterhaltungen mit ihnen grundsätzlich lohnen würden, diese Söhne von Hurenböcken. Aber sie leaken ohne großes Tamtam geheime Prüfungsunterlagen, und man erfährt auch sonst allerlei Hilfreiches von ihnen: Welcher Polizist zu meiden ist, welches Prüfungszentrum eine Anti-Korruptionsaktion durchführt. Es ist eine dieser fadenscheinigen Stellen in der Erdkruste, an der die ganze Hitze aus der Unterwelt herausquillt.

Also wagte ich mich gelegentlich dorthin, in die Gassen der Teehäuser hinter Karkardooma, in denen sich die vor Skandalen flüchtenden Ex-Lehrer der Welt versammeln.

Ost-Delhi, auf Google Maps von oben betrachtet, wirkt wie ein grauer Fleck, mit kleinen sonnenverbrannten Parks, in denen seit 1994 die Springbrunnen versiegt sind und die Kricketspiele nicht mehr den Gesetzen des weißen Mannes folgen. Und vom Boden aus betrachtet sieht der Ort auch nicht besser aus.

Ost-Delhi, der am stärksten umweltverschmutzte Ort der Welt, wie dir die New York Times oder die WHO jederzeit bestätigen werden, ist dermaßen verseucht, dass er deren lächerliche dreistellige Skalen sprengt und ihre Messinstrumente ruiniert. Umweltverschmutzung konnte ich ertragen. Es war der Gestank von Gewürzen und kochender Kuhmilch, die Gerüche meiner Kindheit, bei denen ich mir die Nase zuhalten musste, um meine Geschäfte abzuwickeln.

Ost-Delhi, meine Heimat, mein Zuhause.

Ich will euch den Mann beschreiben, den ich dort am besten kannte, und sei es nur, weil ich mich später heftig mit ihm anlegen würde.

Man nahm sich besser in Acht vor ihm, diesem Sumit. Ein Haifisch. Dünn, rasiermesserscharfe Wangenknochen, hungrige Augen, ein Entrepreneur, Weltbester im lauernden Abwarten, es gab einen seiner Sorte an jedem Teestand, in jedem Hinterzimmer jedes Geschäfts in Indien.

Als erstes roch man sein Parfüm. Wie eine Grapefruit, die zu lange in der Hitze gelegen hatte und nun weich und braun und faulig war.

»Besorgst du dir immer noch Perücken, Ramesh?«, sagte er wie üblich lachend, als ich hereinkam.

Ich hatte mich an diesem Tag dorthin gewagt, um einige Antworten zu den neuen Regierungsbestimmungen für Prüfungssicherheit zu bekommen, um mein Ohr an den Puls der schnelllebigen Welt des Bildungsbetrugs zu halten. Westliche Geschäftsleute machten in Hotels sogenannte Minibreaks. Ich ging zu Sumit.

»Ramesh?«, sagte einer von Sumits chamchas, seinen Handlangern. Sie trugen Muskelshirts mit abgeschnittenen Ärmeln, genau wie ihr Herr und Meister. Sie hatten immer große durchsichtige Flaschen vor sich, voll mit Kreatin oder sonst einem westlichen Gebräu. Ich hatte Sumits Selfies gesehen. Er trainierte in einem verspiegelten Fitnessstudio, dem ausgebauten Keller einer Familie in Vaishali, wo sie die ganze Zeit über die Workouts von Marvel-Schauspielern und Präparate gegen Haarausfall diskutierten. Auf Social Media postete Sumit Workout-Selfies und idiotische Sprüche wie: Vermasselst du, es zu planen, dann planst du, es zu vermasseln. Oder: Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem ersten Schritt. Sätze, die man von sich gibt, wenn man über vierzig ist und junge Frauen anfangen, einen Onkel zu nennen.

Und alle stanken nach diesem Scheißparfüm, wie eine riesige, aufgedonnerte Wolke mit Rändern aus gegeltem Haar.

Sumit bemerkte mein Schnüffeln. »Paco Rabanne. Willst du was kaufen?«, fragte er, und wie aus dem Nichts drückte ihm jemand eine Flasche davon in die Hand.

Ich verdrehte die Augen.

»Wie laufen die Geschäfte in letzter Zeit, Bruder?«, fragte er. »Du solltest für mich arbeiten, Ramesh.«

»Warum? Hast du Ärger? Brauchst du jemanden, der die Organisation für dich leitet? Verdienst du nicht genug Geld mit gefälschten Parfüms?«

»Hah! Ramesh, Ramesh, Ramesh«, sagte er. »Immer gut für einen Scherz.«

Wie üblich wirkte Sumit überaus stolz auf sich. Er sonnte sich in Selbstgefälligkeit. Er wusste genau, wen er schmieren musste, welcher Unterinspektor keine lästigen Fragen stellte, welcher verschuldete Beamte den Prüfungsstoff herausrückte, welcher Prüfer mit sich reden ließ. Er betrog bei Fahrprüfungen, Aufnahmeprüfungen, Bewerbungsgesprächen. Wahrscheinlich würde er als Nächstes auch Tinder-Profile fälschen, für all die romantisch Unerfahrenen von Delhi, die Moped-Romeos, die ungefickten Männerscharen mit geölten Haaren, die die Cafés und Straßenmärkte bevölkerten.

Er scharte Hilfskräfte um sich, solche, die durchgefallen waren in den staatlichen Examen, bei denen sich zehntausend Menschen vergeblich um eine einzige freie Stelle als Angestellter der Stadtwerke, als Fahrkartenkontrolleur oder Kanalreiniger bewarben, um anschließend ziellos in unsere Welt hinauszudriften. Sie waren clever, aber bei einer Chance von eins zu zehntausend? Also legten sie jetzt für Achtzehnjährige Prüfungen ab, die sie im Schlaf beherrschten.

Sumit war ihr großes Vorbild, sie kopierten sein äußeres Gehabe, damit bald das Innere folgen würde, so wie unsere Regierung Hochgeschwindigkeitszüge baut, in der Hoffnung, wir würden wie Japan.

Wenn das Telefon klingelte, antwortete Sumit jeweils übertrieben lautstark: »Nur zwanzigtausend, Onkel? Normalerweise gebe ich mich nicht mit solchem Kleinkram ab«, und alle pfiffen anerkennend durch die Zähne, wegen seiner Unverfrorenheit und seiner importierten Zigaretten.