Bella Chaos - Marion Rink - E-Book

Bella Chaos E-Book

Marion Rink

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Beschreibung

Im Dezember 2023 schnappte Marion sich kurzerhand Julian, ihren schlitzohrigen Freund, und düste mit ihrem treuen Opel Corsa in das gestiefelte Land. Genauer gesagt nach Turin. Dort tanzte sie drei Monate lang im Homeoffice zwischen deutscher Effizienz und italienischen Turbulenzen. Die Tierliebhaberin und Julian befanden sich plötzlich in einem Strudel aus nerviger Organisation und kulturellen Überraschungen. Aus diesem Durcheinander erwuchs Marions Inspiration für ihren ersten Roman: eine witzige Odyssee durch Norditalien. Diese berichtet nicht nur von aufregenden Erlebnissen, sondern auch davon, dass man das irdische Dasein nicht zu ernst nehmen und dem folgen sollte, was glücklich macht. Schließlich: wer lechzt nicht nach ein bisschen mehr Bella Chaos im Leben?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Marion Rink, Bella Chaos. Mein Winter im Süden

ISBN 979-12-5532-094-4

 

© 2025 by Effekt! GmbH, Neumarkt an der Etsch, www.effekt.it

 

Autorin: Marion Rink

Lektorin: Franziska Plaga

Herstellung und Verlag: Effekt! - Buchverlag

Alle Rechte vorbehalten, auch die der auszugsweisen Wiedergabe in Druck- oder elektronischen Medien.

 

Der vorliegende Roman ist autobiografisch – so oder so ähnlich hat es sich zugetragen. Alle darin enthaltenen Schilderungen beruhen auf subjektiven Erinnerungen. Die Namen der meisten in diesem Werk erwähnten Personen und Tiere wurden aus Gründen der Anonymität geändert.

 

Mit freundlicher Unterstützung von:

 

 

 

 

 

Prolog      1

Ciao, teutonische Eiseskälte

Ciao, piemontische Eiseskälte

Explosivität auf vier Rädern

Der Pate und ein Mysterium

Was ist denn Twääärken?

Chihuahua mit Hirschgeweih

Ein Schneeengel in den Alpen

China-Stil und Waschmittel

17 Grad über den Wolken

Ein Greis im Paradies

O sole mio!

310

Don’t cry for us, Italia

 

 

Prolog

Fünf Tage vor unserer Ausreise nach Italien beschränkt sich mein Wissen über das Land hauptsächlich auf vier Gestalten: Fred, Valentino, Nesto und Gianni. Der Erste in diesem illustren Kreis ist mein gitarrenspielender Nachbar sowie ein treuer Kumpel meines Vaters. Er ist im zarten Alter von einem Jahr aus dem sonnigen Neapel ins trübe Deutschland verschleppt worden. Genauer gesagt, in meine gemütliche Heimat Bielefeld. Ach, die Stadt, die so tut, als sei sie das Opfer einer Verschwörungstheorie! Fred erzählte mir: Zu seiner Zeit war es leichter, eine Kuh auf einem Hochseil tanzen zu sehen, als neben der italienischen die deutsche Staatsbürgerschaft zu ergattern. Mit seinem Pass tingelte er um die Welt, wie es ihm gefiel. Wozu im bürokratischen Hindernisparcours um die doppelte Nationalität sprinten?

Als Kind schockte es mich, zu erfahren, dass Fred in Wirklichkeit Alfredo heißt. Steckte ich zu tief in deutschen Schubladen? Aus der Heimat meiner Eltern kenne ich Leute, deren Spitznamen auf den ersten Blick nicht zu ihrem richtigen Namen passen. Es ist fast alltäglich, einen Kuba für Jakub und eine Ola für Alexandra zu hören. Doch Julians Bezeichnung für ihn, „Der, der immer da ist“, passt perfekt zu Fred.

Fred ist stets überall. Ich wette, eines Tages finde ich ihn in meiner Müslischüssel, bereit, den Tag mit mir zu beginnen! Komme ich aus dem Büro nach Hause, dann tritt er seine Schlappen auf der gegenüberliegenden Fußmatte ab. Selbst, wenn ich zum Netto um die Ecke gehe, winkt er mir strahlend aus seinem Auto zu. Sobald ich meinen Sonnenschirm auf dem Balkon aufspanne, sehe ich ihn ein Fenster weiter, wie er entspannt auf einem Gartenstuhl sitzt. Er erschreckt mich ständig, obwohl er nichts Gruseliges macht – er ist einfach da. Vor ein paar Monaten hat er damit die Krönung erreicht. Mein Herz vibrierte wie die Flügel eines Kolibris.

An einem Abend brachte ich den Müll raus. Auf dem Weg von der Haustür zu den Tonnen hörte ich ein Geräusch und drehte mich um: Niemand war da. Hm. Ich setzte zum nächsten Schritt an und vernahm ein Rascheln. Verblüfft schaute ich genauer hin und entdeckte Fred im Halbdunkeln am Rande des Gartens im Gebüsch.

„Was machst du da?“, fragte ich verdutzt.

„Ich pflücke Beeren“, antwortete er gelassen.

Kommen wir zum zweiten Italiener in meinem Leben: Valentino. Mit neun Weltmeister-Titeln ist er der erfolgreichste lebende Motorradrennfahrer. Trotz seines Ruhestands auf dem Zweirad ist er dem Rennsport treu geblieben und mischt in der Autobranche mit. Die ikonische Nummer 46, die er und sein Vater Graziano Rossi auf ihren Helmen trugen, ist nicht nur eine Zahl – sie ist das Herzstück einer Leidenschaft, die die Welt erobert hat. In Italien wird Vale „Il Dottore“ genannt und gilt neben der Bezeichnung als Meister der Kurven und der Geschwindigkeit auch als der unangefochtene Champion des Humors und der Helmfrisuren. Dröhnte aus den Fernsehern anderer Familien ein lautes „Tor! Tor! Tor!“, erfüllte das Summen von fahrbaren Untersätzen unser Wohnzimmer. Das Geräusch, als würde man ein Wespennest schütteln, trieb Mama, mich und sämtliche Hamster zur Verzweiflung. Mein alter Herr verfolgte neben der Königsklasse auch die unteren Ligen des MotoGP. Wenn seine Ehefrau ihn dazu brachte, in der Küche mitzuarbeiten, dann lugte sein Kopf alle paar Sekunden in den Wohnraum. Vernachlässigte er das Kochen zu oft, gab es einen Rüffel. Doch am grauslichsten war der Tag vor dem Rennen, an dem die Fahrer um die besten Startpositionen kämpften. Manchmal schlief mein Vater im Laufe dieser Verfolgungsjagden ein – mit offenen Augen. Wenn ich hoffnungsvoll versuchte, die Gunst der Stunde zu nutzen und heimlich auf ein Kinderprogramm zu zappen, dann grunzte der Quälgeist: „Nicht umschalten! Ich gucke noch.“

Einmal zog er mich mit zur Rennstrecke nach Assen, dem niederländischen Mekka für Motorradfreaks. Dort saßen wir auf einem Hügel mit Blick auf die gewagteste Schleife. Zuvor hatte ich mit Pappe und Wachsstiften mühevoll ein Fan-Plakat gebastelt, das mein Vater mit einem Lachen am wolkenkratzerhohen Zaun anbrachte, der uns von den Profis trennte. Von meinem Platz aus betrachtete ich das Rechteck. Hm. Zu Hause hatte es den Schreibtisch bedeckt, hier wirkte es so klein. Dennoch war ich überzeugt: Valentino würde mein Kunstwerk sehen.

Ich versuchte, jedes Rennen durchzustehen, bis die Top-Stars mit den leistungsstärksten Maschinen um die Kurve fegten. Doch irgendwann fiel ich erschöpft auf meine mit Marienkäfern bemusterte Iso-Matte und schlief ein. Nach der Wettfahrt war ich den Tränen nahe: Das Publikum hatte den Boden aufgewühlt, ich war von der Unterlage gerutscht und voller Schmutz. Vor allem meine Sandalen waren ruiniert.

Mit Motorrädern habe ich nichts mehr am Hut. Trotzdem habe ich ein rotes Racing-T-Shirt behalten, das ich im Alter von etwa drei Jahren trug, eine gelb-blaue Cap und die 46 in meiner selbst gewählten Mobilfunknummer.

 

Im Juni 2022 kreuzte der dritte Italiener meines Lebens auf: Nesto. Der Herr besten Alters lenkte Julian, mich sowie eine sechsköpfige Familie in einem Bulli den Ätna hinauf. Zunächst plauderten wir auf Englisch. Als Nesto nach unserer Herkunft fragte, schwenkte er ins Ruhrpott-Deutsch. Er erzählte, dass er in Dortmund das Licht der Welt erblickt hatte und dort aufwuchs, bevor er nach Sizilien gezogen ist. Da lebt er nun mit seiner Freundin und seinem kleinen Sohn. Sein Knirps sei nicht so verhätschelt wie Rafael, der Fratz im Rückspiegel, fügte er noch hinzu. Nesto versuchte, die Gruppe hinter uns auf Italienisch zu unterhalten, doch alle waren mit Rafaels Kötzerchen beschäftigt. So blieb er beim Ruhrpottischen. Nesto heißt eigentlich Ernesto, benannt nach einem Vorfahren. Seine Mutter konnte „Er“ nicht aussprechen und kürzte auf „Nesto“. Daraus bastelten die FreundInnen des Kohlenrevier-Sizilianers „E“. Das bot die Spaßkanone uns ebenfalls an. Wir blieben bei fünf Buchstaben.

Während der Tour durch die Hitze plauderte Nesto aus dem Nähkästchen über die Gegend. Er erwähnte: An den Hochschulen auf Sizilien kann alles studiert werden, außer Tiermedizin und ein anderes Fach, das ihm nicht einfiel. Die jungen Einheimischen hoffen, nach ihrem Studium eine Arbeit auf der Insel zu finden. Klappt das nicht, nehmen sie Nebenjobs an und studieren weiter. In der Hoffnung, dass es beim nächsten Abschluss besser wird. Dieses Roulette wiederholt sich, bis viele resigniert in den Norden ziehen, um dort eine berufliche Zukunft zu finden und privat zur Ruhe zu kommen. Munter beantwortete Nesto all unsere Fragen. Beispielsweise die nach der Bergstadt, die wir vom Hotel aus gesehen hatten. Er erklärte uns, dass es sich um Castelmola handele und dort eine Gastronomie existiere, in der alles die Form des männlichen Schniedelwutzes hat.

„Das meint er nicht ernst, oder?!“, grübelte ich.

Mein Lebenspartner und ich erklommen den Berg und beäugten die skurrile Einrichtung. Selbst die Fliesen der Bar Turrisi waren mit dem kuriosen Motiv verziert und die Wasserhähne im WC hatten dieselbe Form. Das monströse Objekt, das in einem Türrahmen hing, entlockte Julian einen so hellen Laut, als nähme er beim Vorsingen für einen Knabenchor teil: „Ihihih! Ein fliegender Pimmel!“

 

Der vierte Italiener meines Erdenlebens trägt den klangvollen Namen Gianni. Unsere Beziehung? Eine Mischung aus Geschäftlichem und Emotionalem – wie eine italienische Romanze, die den Gaumen kitzelt. Letzten Sommer beschlossen Julian und ich, nach Schloß Holte-Stukenbrock zu düsen, um das phänomenale Eiscafé Gianni zu stürmen. Unser Ziel? Süßkram in uns reinstopfen, bis wir – ähnlich wie bei einem Besuch bei schlesischen Groß- oder Urgroßeltern – nicht mehr von den Sitzen aufstehen können. Bei Gianni entdeckte ich als kleine „Schlingeline“ – wie Julian mich zweieinhalb Jahrzehnte später schmunzelnd nennt – eine ungeahnte Fähigkeit: Essen, selbst wenn mein Magen schon die weiße Flagge geschwenkt hat. Mein Favorit? Der Schokobecher mit vier Kugeln. Immer schmachte ich nach extra Soße.

Als ich darüber nachdachte, etwas Neues zu probieren, wurde mir klar, dass ich oft genug der gleichen Versuchung erlag. Zum x-ten Mal sagte der Kellner meine Bestellung vor. Das war fast schon erschreckend! Doch stellte sich mir eine existenzielle Frage: Warum sollte man sich von einem bewährten Geschmack abbringen lassen?

 

 

Ciao, teutonische Eiseskälte

Mit einem theatralischen Seufzen lasse ich mich am zweiten Dezember plumpsen und spüre einen brennenden Schmerz in meinen Wangen. Als hätte sich der Nordpol persönlich einen Spaß erlaubt.

„Puste, um dein Leben!“, klammere ich mich an die Heizung.

Mein nächstes Auto wird definitiv einen Sitzfleischröster haben. Das anmontierte Navi zeigt eine Fahrtzeit von 10:59 bis 15:41 Uhr an.

„Wir werden vor dem Check-in ankommen“, bemerkt Julian optimistisch.

Doch ich zweifle daran, dass wir das Hotel in Ulm, wo wir auf halber Strecke eine Übernachtung eingeplant haben, zum Spazieren verlassen werden. Die Gedanken an die bevorstehende Reise lösen in mir schon jetzt Erschöpfung aus, als würde ein Sack voller Backsteine auf mich zukommen. Die Frage, wie mein kürzlich operierter Fuß diese beschränkte Sitzposition aushalten wird, schwebt ebenfalls im Raum. Zudem werfe ich einen letzten Blick auf mein vertrautes Zuhause und spüre, wie sich mein Bauch wirbelt – ähnlich den Augen von Kaa aus dem Dschungelbuch.

Ein Schwenk zurück offenbart das imposante Volumen meiner Knutschkugel. Während Julian und ich letzte Woche unser Gepäck durchgingen, kamen mir Zweifel auf: Wie um alles in der Welt sollten wir all das in den Opel Corsa quetschen? Julians Gepäck bestand aus einem riesigen Koffer, einem Handgepäckstück, einem Rucksack und einer Werkzeugkiste.

Doch es fehlten seine Schuhe, sein Adventskalender, Geschenke für mich und ein Router. Auf der einen Seite mag das Reisen einfach sein, wenn man nur schätzungsweise zwei Oberteile, zwei Unterteile und zwei Paar Schuhe einpackt. Julian hat eine Kosmetiktasche, die so handlich ist wie eine Federmappe, und dazu nimmt er schier das Nötigste für Lernen und Arbeiten mit. Auf der anderen Seite versetzte mich diese Vorstellung in Panik, insbesondere wenn ich daran dachte, wie hektisch unsere Abfahrten immer waren – trotz meiner detaillierten Vorbereitung.

Ich schickte Julian eine Nachricht à la „Houston, wir haben ein Problem“, inklusive Bildmaterial: vier Tischbeine, die ich von meinem Schreibtisch abgeschraubt hatte, einen Riesenkoffer, einen Handgepäckkoffer, eine kleine Sporttasche, eine große Sporttasche und drei Bananenkisten. Dazu mein massiger Rucksack, mein Adventskalender und unsere Weihnachtsgeschenke, die mir meine Mutter im Laufe der Woche mitgegeben hat. Wir werden ein Vierteljahr unterwegs sein. Da wird so einiges passieren! Einerseits ist es notwendig, dass ich die Technik für meine Arbeit mitnehme. Andererseits muss ich kleidungsmäßig für alle Anlässe gerüstet sein: unser Jubiläum, Weihnachten, Silvester und einen Geburtstag. So oder so werde ich das Kleidungsstück vermissen, das ich zu Hause vergessen habe.

Julian sah die Sache entspannter. Als er mir den riesigen Koffer entgegenstreckte, scherzte er: „Brauchst du all das wirklich?“ Ich lächelte und antwortete mit einem Augenzwinkern: „Nur für den Fall, dass wir auf eine spontane Gala-Einladung stoßen.“

Wenn ich morgens vor meinem großen dreitürigen Kleiderschrank stehe, der zwei Meter siebzig misst, und darüber nachdenke, was ich anziehen soll, ist Julian selten wach. Er gleicht einem Fantasie-Mix aus Koala und Papagei: Erstens schläft Julian genauso lange wie ein Koala. Jeden Morgen, wenn der Wecker klingelt, ist er regelrecht fassungslos – wie die Deutsche Bahn Jahr für Jahr wegen des ungeahnten Schneefalls. Zudem schätzt er die Schlummertaste und kommentiert das mehrmalige Klingeln mit Sätzen wie: „Der Wecker hört einfach nicht auf.“

Zweitens erinnern mich seine wild umherfliegenden Haare beim Aufwachen an das Gefieder eines Papageis. Manchmal sieht er sogar ein wenig wie Elvis Presley aus. Wenn ich ihm das sage, erklärt sich Julian selbst zum „König des Rock'n'Roll“.

Er schiebt die Tatsache, dass er sich wie ein meiner Fantasie entsprungener Koala-Papagei verhält, auf mein gemütliches Boxspringbett: „Diese Falle ist einfach zu einladend!“ Tief in ihm drin kennt er den wahren Grund und macht selbst Witze darüber. Er gibt Geräusche von sich wie ein Grizzly und kündigt an: „Das Grummeltierchen ist erwacht.“ Dann lässt er sich wieder ins Bett fallen und rudert zurück: „Doch nicht.“ Julian wäre der perfekte Probeschläfer für ein Unternehmen, das Matratzen herstellt – mit Senior-Status, versteht sich.

Sporadisch wacht Julian gleichzeitig mit mir auf und erfasst die Situation im Schlafzustand. In solchen Momenten nutzt „das Ärgerli meines Lebens“, wie ich ihn in den Tom-und-Jerry-Phasen unserer Beziehung nenne, die Chance für etwas Schabernack: Entspannt unter der Bettdecke sitzend, verschränkt er die Hände hinter seinem wilden Haar, beobachtet das Spektakel, feixt und parodiert meine Gedanken: „Was soll ich bloß anziehen? Ich habe wirklich nichts Passendes.“ Dieser Spruch oder Ähnliches wie „Marion in Aktion!“ wird mir in Turin zu Ohren kommen.

Dass aus seinen Lauschmuscheln hingegen etwas herausquillt – Flausen – leugnet er halb. Als ich Julian eines Morgens die Haare kumpelhaft rieb, beschwerte er sich dramatisch: „Auuu! Du hast mir Kopfschmerzen verursacht.“

„Das machst du bei mir jeden Tag“, wehrte ich mich im gleichen Stil.

„Na! Ich bin wohlbringend und wurde gesandt“, versuchte er sich zu retten.

„Hahaha! Von wem?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Von guten Kräften. Um dich auf den richtigen Weg zu bringen“, grinste er triumphierend.

Bevor es soweit ist, dass mein Freund sein Halli-Galli-Programm mit mir durchzieht, liegen 1.161 Kilometer Autofahrt vor uns. Diese haben wir ohne Zwischenfälle zu bewältigen.

„Man muss bei Google Maps schon ordentlich herauszoomen, um Bielefeld und Turin auf einer Karte zu haben“, stellt Julian fest.

Ich drehe mich wieder nach vorne und hoffe, dass wir die Gepäckstücke, die wir aussortiert haben, nicht vermissen werden. Den Inhalt von zwei Bananenkisten habe ich neu organisiert. Ein paar Jacken sind gewichen. Außerdem haben wir uns entschieden, meinen riesigen Bildschirm nicht mitzunehmen, da er zu sperrig verpackt war. Stattdessen haben wir Julians kleinen Monitor gewählt, den er mir überraschenderweise ohne Hülle brachte.

„Was ist denn das?“, war mein erster Gedanke.

Der Bildschirm ist in eine alte Kuscheldecke gewickelt und liegt hinter dem Lenksitz, begleitet von einer Einkaufsbox. Ich vertraue auf unsere Tetris-Fähigkeiten: Gestern Abend haben wir das meiste verstaut, und heute Morgen sind spezielle Gepäckstücke wie Technik und Kosmetika dazugekommen sowie ein rätselhaftes Paket, auf das Julian bestanden hat. Meine Freundin Lisa und ich haben uns die wildesten Theorien überlegt, was sich darin verstecken könnte.

Das Beladen des Autos hat mich die letzten Nerven gekostet.

„Kann nicht einmal etwas glatt laufen?“, fragte ich mich.

Alles ist mit Spanngurten gesichert und mit einer Malerdecke geschützt, bereit für die Abfahrt. Der Opel Corsa wurde gründlich gewartet: jungfräuliche Bremsen, eine neue Antenne und frisches Öl. Gemeinsam wechselten wir die Winterreifen. Die Sommerreifen von Julians schwarzem Z4, der zurückbleibt, ließen wir gemäß der Oktober-bis-Ostern-Regel stehen. Mein Freund ist sich sicher: Er wird das „Motorboot-Feeling“ seines Zorros, wie er sein Pseudo-Kabriolett mit breiter Brust bezeichnet, vermissen.

„Mal sehen, ob ich es schaffe, meine Jacke auszuziehen. Das wird lustig. Hehe“, bemerkt Julian und deutet auf das überfüllte rückseitige Drittel des Kleinwagens. „Vielleicht kannst du sie hinter deinem Kopfteil verstauen“, schlage ich vor. Nachdem er den letzten freien Platz mit Gepäck gefüllt hat, setzt er sich ans Steuer und kommentiert: „Ich kann zwar nichts sehen, aber na ja“, während er den Schlüssel umdreht. Wir verlassen den Parkplatz meiner Wohnung. Julian winkt übertrieben: „Dann verabschieden wir uns jetzt mal!“

Ich wedle in Richtung meines Midi-Balkons. Überraschenderweise stehen Fred und sein Kamerad Roland an den Garagen und winken zurück. Ich breche in Gelächter aus und wische mir die Tränen aus den Augen: „Er ist wirklich überall! Ich kann nicht mehr!“ Ausgelassen setzen wir die Fahrt fort, lassen uns von unserem eigenen Zwei-Mann-Fanclub abfeiern und nehmen Kurs auf die Autobahn. Julian knetet mein Knie und singt: „All I want for Christmas is yooou!“

 

Wie kam es zu diesem irrwitzigen Vorhaben? Vor etwa einem halben Jahr traf ich auf der Sonnenterrasse meiner Mutter ihre treue Freundin Karla. Die weltkluge Rentnerin, rund um die Uhr auf einem Drahtesel unterwegs, berichtete von Jennifer, ihrer ältesten Tochter: Nach ihrem Studium zog sie für einen Job nach Seoul und gabelte dort ihren Mann auf. Mittlerweile lebt sie mit ihm und ihren zwei putzigen Söhnen in Los Angeles, wo sie kürzlich ein neues Heim eingerichtet haben. Die Erzählung von Karla klang fast zu schön, um wahr zu sein – wie aus einem Hollywood-Drehbuch entsprungen!

Ich war so erstaunt, dass meine Kinnlade beinahe auf dem Boden aufschlug, und packte dann meine verstaubten Anekdoten aus: Nach wie vor bedaure ich, dass meine Auslandssemester einst unglücklich ins Wasser fielen. Ich hatte gehofft, die verpassten Erfahrungen mit anderen auszugleichen. Doch habe ich mich weiterhin nach den Museen in Madrid und Tango-Nächten nahe Buenos Aires gesehnt. Selbst meine Promotion, die ich mit 25 Jahren abschloss, machte diese verlorenen Erlebnisse nicht wett.

So kamen Karla und ich auf zwei weitere Lebensgeschichten zu sprechen: Sandra und Heinrich.

Sandra? Ihre Geschichte ist eng mit meiner künstlerischen Kumpanin Mathilde verknüpft. Die beiden kennen sich seit der Grundschule. Sandra war eines Tages von ihrem Beruf hierzulande so demotiviert, dass sie es nicht mehr aushielt. Sie kündigte und düste Hals über Kopf nach Österreich davon. Dort ergatterte sie eine Position in einem namhaften Unternehmen. Am Tag ihrer Ankunft legte sie sich einen neuen Schlitten zu. In einem Autohaus wurde sie beraten – und verguckte sich dabei gleich in den Kerl, der ihr den Flitzer andrehte. Mittlerweile sind die beide verheiratet und beherbergen eine Horde an Kleinvolk.

Heinrich, ein ehemaliger Uni-Professor, hat ebenfalls eine bewegte Laufbahn. Er und seine Frau bekamen Stipendien für eine Ami-Hochburg der Begabten: Stanford. Im Schlepptau hatten sie ihre einjährige Tochter! Auf dem USA-Campus richteten sie sich zunächst ein Apartment ein, verkauften die Möbel aber wieder, als es schließlich in ihr Heimatland zurückging. Das erzählte mir Heinrich nach einem Austausch über meine E-Learning-Forschung in seinem Büro – übrigens eine tolle Geste seiner deutschen Hochschule, die ihm die Räumlichkeiten trotz seines Ruhestandes weiterhin überließ. Seine Augen leuchteten bei all den Erinnerungen wie Glühwürmchen in der Nacht. „Ein glückliches Leben“, meinte er zum Schluss und ich stellte fest: „Besser geht‘s nicht!“

Worauf wartete ich also? Darauf, dass mir das Glück in den Schoß fällt? Was für eine gutgläubige Vorstellung! Ich beschloss, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen. Meine Tätigkeit erlaubt es mir, mit dem Laptop von überall aus zu arbeiten. (Voraussetzend ist dabei, dass die Umstände stimmen, doch dazu später mehr.) Das wäre beispielsweise in dem Sozial- oder Produktionsunternehmen, in dem ich zuvor tätig gewesen war, undenkbar gewesen. Wie wertvoll meine Arbeitsbedingungen nun sind! Für mich war klar: Ich will in den Süden – wie ein Zugvogel dem kalten, nassen Winter entfliehen, und erst dann wieder in den teutonischen Regenwald zurückkehren, wenn dort die Trockenzeit beginnt und ich nicht mehr befürchten muss, dass ekelhaftes Nass auf mein Gefieder prasselt.

Julians Arbeitgeber hat Standorte in Übersee. Zwar leider nicht in unserem 17. Bundesland, wo ich liebend gerne mit Flipflops herumschlürfen würde, aber dafür in Italien. Zudem ist er vernarrt in die melodiöse Sprache. Warum nicht? Ich würde im Homeoffice arbeiten, mein Liebster im Büro seiner Außenstelle. Der Plan stand.

Karla nickte anerkennend: „Ich habe meinen Mädels gesagt: ‚Geht, seht euch die Welt an! Wenn ihr nichts Besseres findet, dann könnt ihr zurückkommen.‘“

Der Ruf, Dinge zügig anzugehen, eilt mir nicht nur bei meiner Mutter voraus. Andreas, ein Arbeitskollege, nennt diese Marschroute den „Marion-Stil“. Meine direkte Art der Kommunikation wird von Julian als „Marion-Diplomatie“ bezeichnet. So blieb ich mir treu und rief am gleichen Abend meinen Lieblingsmenschen an: „Ich fahre nach Italien. Kommst du mit?“ Julian war sofort Feuer und Flamme – mein Komplize.

In den nächsten Tagen baten wir unsere Chefs um die Erlaubnis für die Reise nach Italien. Luca, der Boss meines Teams, segnete meine Bitte flugs informell ab. Ganz nach dem Motto: „Hauptsache, die Leistung stimmt und du bist erreichbar, wo auch immer du dich rumtreibst.“ Die anderen KollegInnen hielten ihre Daumen ebenfalls hoch.

Anschließend folgte eine formelle Prüfung. Zu klären war beispielsweise: Ist die Kundschaft, die ich betreue, im Hinblick auf den Datenschutz einverstanden? Wie lange darf ich mich in Italien aufhalten, ohne dass dort Steuern anfallen? Werde ich in meinem auswärtigen Homeoffice den Arbeitsschutz einhalten können?

Julian bekam von seinen unteren ChefInnen ebenfalls grünes Licht. Es blieb nur ein Punkt zu klären: die Erlaubnis, ein Arbeitszimmer im Bürogebäude in Turin zu mieten. Perfekt! Wir fingen an, im Internet nach einer Wohnung zu suchen.

Die Unterkünfte, auf die wir stießen, wirkten fast so unpassend wie ein Clown auf einem Friedhof – unpraktisch geschnitten, zu klein, zu groß, zu teuer, zu schäbig, zu abgelegen. Dazu erfuhren wir, dass die Dauer, für die es erlaubt ist, ein Apartment am Stück zu mieten, von dessen Lizenz abhängt. Nach wochenlangem Suchen stieß ich über Airbnb auf ein Drei-Zimmer-Domizil in der Vorstadt von Turin. Wir reservierten es für drei aufeinanderfolgende Monate. Insgesamt kostete das Heim 3.718,27 Euro.

 

Später stellte sich heraus, dass Julian doch keine Erlaubnis erhalten würde, im Vaterland von Pinocchio und Galileo zu arbeiten – ein Hindernis, das uns aber nicht davon abgehalten hat, unseren Plan weiterzuverfolgen. Um mich zu begleiten, jonglierte mein Partner gewieft mit drei Arten von Urlaub: Erst wird er einen Online-Sprachkurs belegen, der als Bildungsurlaub durchgeht. Danach folgen bezahlte und unbezahlte Urlaubstage. Dabei achtete Julian darauf, dass er krankenversichert bleibt. In der freien Zeit strebt er an, sein berufsbegleitendes Masterstudium voranzutreiben. Das absolviert er online an einer Fernhochschule.

Wie Julian griff ich zum Telefonhörer, um bei der Gesundheitskasse nachzufragen, ob ich eine zusätzliche Versicherung benötigen würde. Ein weiteres Thema auf meiner privaten To-do-Liste: Da Julian und ich nicht im Bund fürs Leben sind, stehen uns einige Rechte nicht zu. Was passiert, wenn jemand von uns im Krankenhaus landet und nicht ansprechbar ist? Die ÄrztInnen dürften uns keine Interna über einander verraten. Um jegliches Drama zu umschiffen, zauberte ich eine Vollmacht aus dem Hut.

Zudem klärte ich, wer sich um die Bielefelder Bleibe kümmern wird. Sie aufgeben? Niemals! Erstens ist es für meinen Arbeitgeber grundlegend, dass ich in Deutschland gemeldet bin. Zweitens wäre es wie die Suche nach dem Heiligen Gral, in wenigen Monaten eine bezahlbare und renovierte Drei-Raum-Bude mit Süd-West-Balkon zu ergattern. Meine Mutter arbeitet im selben Stadtteil und wird einmal pro Woche nach dem Rechten sehen. Zusätzlich wird Fred ein wachsames Auge auf das Geschehen haben.

Julian kündigte seine Junggesellenhöhle, registrierte sich unter meiner Adresse und packte all seine Sachen in meinen Keller und einen gemieteten Container. In Italien werden wir zum ersten Mal zusammenwohnen. Zurück in Deutschland wird er in mein Reich einziehen. Dann werden wir nach einem größeren Zuhause suchen.

 

„Jetzt geht’s los. Bene, bene!“ Julian strahlt und zeigt einen Moment später auf ein rasendes Auto: „Aber so fahre ich nicht. Über den Standstreifen zu überholen? Nicht mein Stil.“ Während der Fahrt schütteln wir mehrfach den Kopf über diverse VerkehrsteilnehmerInnen. Zum Beispiel: Ein Wagen auf dem rechten Fahrstreifen beschleunigt genau dann, wenn Julian links rüberzieht, um zu überholen.

„Das liegt an meinem Auto“, erkläre ich nüchtern. „So etwas passiert mir ständig.“

In meinem Flitzer fühle ich mich wie Däumelinchen in der Nussschale bei Windstärke 12. Ich seufze.

Trotz des wüsten Straßenverkehrs verzichte ich nicht auf ein Fahrzeug – der Opel ist mein erstes. Menschen wie ich, die umgeben von Weiden und Traktoren aufwuchsen, verbinden mit dem Auto eines: Freiheit. Mittlerweile wohne ich in einer Gegend mit besserer ÖPNV-Anbindung, aber die Probleme bleiben: fehlende Verlässlichkeit, mangelnde Hygiene, lausige Stimmung, lächerliche Sicherheit – vor allem als Kind oder Frau allein im Dunkeln wartend – und hohe Kosten. Solange die Öffis meine Lebensqualität mindern, anstatt sie zu heben, bleibe ich beim Spritfresser und Luftverpester.

Non mea culpa, KlimakleberInnen. Da könnt ihr euch die Tatzen so oft an den Asphalt kleistern, wie eure Hornhaut es zulässt. An meiner Einstellung wird es nichts ändern.

Passend zum Thema entdecken wir auf dem rechten Fahrstreifen eine schwarze Blechbüchse, die einen ebenso fipsigen grauen Wagen abschleppt wie meinen. Auf der Gegenfahrbahn juckelt ein silberner Golf 5, der – in Julians Worten – „eins mitgekriegt“ hat. Hoffentlich bleibt uns das erspart! Sobald wir aus Turin zurück sind, ein größeres Heim gefunden haben und die Finanzen geklärt sind, kaufe ich mir auf jeden Fall einen sichereren heißen Ofen!

 

Das Auto-Navi erkennt zwei Straßensperrungen nicht, obwohl ich die Karte unlängst aktualisiert habe. Wir wechseln zum Smartphone und nutzen Google Maps.

„Marie-Curie-Straße“, liest Julian vor.

„Eigentlich Marie SKŁODOWSKA-Curie“, korrigiere ich.

Sie stammt aus Polen wie Frederyk Chopin, dessen Herz in Warschau ruht, oder Maria Leszczyńska, eine der Königinnen von Frankreich.

Das Google-Navi lotst uns zuverlässig, und wir genießen die winterliche Landschaft.

„Manche sind schon in ihren Autos erfroren“, bemerkt Julian.

„Das macht mir Mut“, lache ich verwirrt.

Im Radio erfahren wir, dass der Wintereinbruch im Freistaat zu Chaos geführt hat: Das Fußballspiel zwischen dem FC Bayern und Union Berlin ist abgesagt worden. Der Betrieb am Münchner Flughafen wurde eingestellt, was andere Flugplätze beeinflusst hat. Manche Flugzeuge landeten nicht in der Heimat der Brezeln und Obazda, sondern in Nürnberg oder Frankfurt. Dies hat zu Planänderungen und Ausfällen im ÖPNV geführt. Der Alltag normalisiert sich nur langsam.

 

Der Opel schnurrt und zieht. Mein Co-Reisender wechselt auf den rechten Fahrstreifen und ordnet sich hinter einem Lkw ein. Das gefällt mir: „Ich denke, wir bleiben auf der rechten Spur.“ Julian meint, mein Auto „muss sich ganz schön anstrengen“ und würde „einen sechsten Gang vertragen.“

Ich gewöhne mich an die Geräusche, die meine tapfere Karosse von sich gibt. Julians Freude an der winterlichen Natur hält an. Passend dazu läuft im Radio „Walking in a Winter Wonderland“. Mein Freund bewegt seine Schnute im Takt des Liedes, als hätte er ein Mikrofon in der Hand. Die glitzernde Gegend finde ich ebenso zauberhaft und Julian drollig. Obwohl er ein kreativer Denkmensch ist wie ich, ist er jederzeit dazu bereit, den Unfug aus seinem Kopf rauszulassen, wie ein Cowboy seinen Bullen aus dem Gatter. Dauert es zu lange, bis er seinen Quatsch ausgelebt und wieder eingezäunt hat, spreche ich ihn im Nachhinein darauf an. In dem Fall parodiert er einen deutschen Politiker: „Ich kann mich nicht erinnern.“

Als Nächstes spielt der Sender „The Best Time Of The Year“, gefolgt von „Driving Home for Christmas“. Die Stimmung bleibt prächtig: Wir spielen, als wären wir ein DJ und eine DJane, die eine Party anheizen.

Google Maps bereitet erneut Probleme, und wir halten die Augen offen wie NachbarInnen, die beim Reality-TV mitfiebern.

„Der Corsa hat echt zu kämpfen“, stellt Julian fest und neckt mich: „Am Ende streckt er alle Viere von sich.“

„Hoffentlich nicht!“, entgegne ich mit großen Augen, lache und gebe die Anweisung: „Jetzt rechts.“

An einer Tankstelle sehen wir wieder einen Fiat 500.

„Da, wo die hergestellt werden, werden wir bald wohnen“, scherzt Julian. „Bene, bene! Miep, miep!“

Um 18:06 Uhr fahren wir auf den weitläufigen Parkplatz des Seligweiler-Hotels in Ulm. Der Schnee liegt reifenhoch und leuchtet unter dem dunklen Himmel. Wir checken ein und folgen dem roten Teppich zu einer Gabelung, an der wir rechts abbiegen müssen. Julian geht voraus, streckt seinen Arm nach rechts und gibt ein Piepen von sich: „Auch BMW-Fahrer müssen blinken“, witzelt er über das fahrlässige Image seines Lagers und zweigt ab. Unsere Laune ist weiterhin euphorisch. Die Anreise verlief prima.

Wir packen die Rucksäcke aus, in denen Schlafsachen, Kosmetik und frische Kleidung stecken. Julian parkt den Wagen in der gemieteten Garage, während ich mit meiner Heimat telefoniere. Daraufhin gönnen wir uns im Hotel-Restaurant Bier und heiße Schokolade. Zurück im geräumigen Zimmer stürzen wir uns auf das chinesische Essen, das seit Bielefeld auf uns wartet. Es ist erstaunlich, wie gut Reis und Ente kalt schmecken, wenn man hungrig ist.

Julian lädt eine Offline-Karte der angedachten Route auf sein Smartphone runter. Unsere dubiosen Mobilfunkverträge zu durchblicken war schwerer als die Jagd von Asterix und Obelix nach dem Passierschein A38. Wir klappten die Ordner zu und entschieden: Zur Sicherheit werden wir das Daten-Roaming ausschalten, solange wir durch die Schweiz fahren. Andernfalls müssten wir, um die Kosten zu begleichen, eine Hypothek auf ein Haus aufnehmen, das wir nicht einmal besitzen. Zum Abschluss des Tages schauen wir „Barbie“. Julians Fazit: „Der Film hat eine Botschaft und ist spacey.“

„Proviant?“, erkundigt sich Julian bei mir. Gleichzeitig schauen wir in die Konsole zwischen unseren Sitzen: „Eine Banane“, stelle ich fest.

Daraufhin packt Julian wie am Vortag seine Jacke hinter sein Kopfteil und kommentiert die Heizung.

„Urlaubsfeeling“, beschließt mein Freund.

Dass wir in den Urlaub fahren, erzählte er auch Frau Lehmann, unserer Nachbarin in Bielefeld. Sie hatte das Gepäck gesehen und fragte, ob wir umziehen oder verreisen.

„ICH muss arbeiten“, erinnere ich Julian.

„NOCH haben wir Sonntag“, korrigiert er.

„Montag habe ich frei, da muss ich zu Ikea“, verkünde ich.

Da das Pult im Arbeitszimmer des italienischen Apartments auf den Fotos klein aussah und meine massive Holzplatte nicht in den Corsa passte, ist meine Idee folgende: Ich werde für wenig Geld eine große Tischplatte kaufen und damit einen neuen Schreibtisch zusammenstellen. Die Tischbeine habe ich, sie sind kompatibel mit jeder Platte aus dem Möbelparadies. Diese werde ich dann Italien hinterlassen, obwohl meine Arbeitskollegen Tim-Bennet und Armin scherzten: So ein Holzbrett würde auf der Windschutzscheibe liegend gegen den Regen helfen.

„Also Urlaub.“ Julian lässt sich nicht beirren und ist im Flow: „Tschüsschen!“, sprudelt es um 9:24 Uhr aus ihm heraus.

Wir rollen vom Hotel-Parkplatz. Kurze Zeit später ärgert er sich: „Ich erkenne nicht, was auf den Schildern steht.“

Die Verkehrszeichen sind überwiegend eingeschneit. Zudem gibt das Google-Navi keine Geschwindigkeit an. Das nervt uns seit der Abfahrt: Wir haben eine Vignette für die Autobahnen der Schweiz, nicht für die österreichischen. In diesem Sinne war das Ziel, nur durch das Schweizerland zu fahren. Das begriff Google Maps zunächst nicht. Wenigstens wird es für meine Dashcam, die unsere Fahrten akribisch und oscarreif dokumentiert, in keinem Gebiet, das wir befahren, eine Strafe geben. Kurz bevor wir einfahren, scherzt Julian:

„Jetzt fährt der Ostfriese in die Schweiz.“

„Sind wir schon in der Schweiz?“, wundere ich mich.

„Nein, weil du immer meinst, ich wäre ein Ostfriese“, erklärt Julian.

Dies insbesondere dann, wenn er seinen gelben Regenmantel trägt.

„Ach so! Du bist mein Weißwurst-Italiener“, lache ich.

„Weißwurst-Italiener. Hahaha!“, quietscht der Blondschopf.

Um 10:04 Uhr meldet mir der Auto-Monitor minus 8,5 Grad: „Wie gut, dass ich meine Ballerinas nicht mitgenommen habe.“ Dafür zwei Paar Stiefel, inklusive der, die ich an den Füßen trage, Badelatschen und drei Sneaker-Pärchen.

Knapp eine Stunde später kommen wir am Bodensee an. Gewaltig! Er ist so großflächig, dass es Areale gibt, in denen tiefe Düsterheit herrscht, und Regionen, die unbekümmert Sonnenstrahlen aufsaugen. Ein See mit verschiedenen Wetterzonen. Wahnsinn! Dort, um 10:59 Uhr Tatzeit, wird Julian mit zehn Stundenkilometern zu schnell geblitzt. Entsprechend fällt der Fluch aus, den er der nächsten Radarkontrolle entgegenwirft. Er schließt das Thema zerknautscht ab: „Hier gibt es hässliche Fotos für viel Geld.“ Nach einem Tankstopp rollen wir weiter.

Kurz vor der Grenze zur Schweiz sehen wir auf dem Standstreifen zwei Autos mit leuchtenden Warnblinkern. Wir fragen uns, was zuerst passieren würde, wenn wir zwischen diesen Bergen liegen blieben: Würde uns die Einsamkeit in den Wahnsinn treiben? Würden wir verhungern oder zu Eiszapfen mutieren? Wie lange würde der Abschleppdienst brauchen, um uns zu finden und herauszuholen?

Julian ist irritiert, dass wir an der Grenze nicht kontrolliert werden. Wieso scheint er sich diesen Nervenkitzel zu wünschen? Von dem Gefühl, zwischen den steinernen Giganten gefangen zu sein, lenkt Julian mich ab: Er präsentiert seine Interpretation von Schweizerdeutsch.

„Ich glaube, Mama hat Recht. Dir reicht es, das Auto abzustellen oder irgendwo durchzufahren und ein bisschen Luft zu atmen. Dann bist du integriert“, schmunzle ich.

Wir sind zuversichtlich, hören im Radio eine alternative Version von „Loca“ und albern herum.

Derweil entdecken wir den dritten liegengebliebenen Pkw am Straßenrand. Julian verfährt sich zweimal. Die Sonne blendet ihn. Sein Gesichtsausdruck ist starr, und er ist kurz angebunden. Wir pausieren. Der erste Anblick der „gewaltigen Alpen“ treibt seinen Gemütszustand wieder hoch. Dass sich das Gelände erhebt, kündigt der Druck in den Ohren an. Wir fahren an diversen Seen vorbei – vom Zürichsee über den Zugersee bis hin zum Vierwaldstättersee –, teilen uns die Banane, passieren den fast 17 Kilometer langen Gotthard-Tunnel und tanken. Der Preis für Diesel wird an der Zapfsäule etwa 20 Cent höher angezeigt als an deutschen Stationen. Die Kosten für Benzin sind gleich. Nach diesem Halt nehmen die Gebäude allmählich eine Machart an, die ich von italienischen Postkarten kenne. In der friedlichen Landschaft zähle ich neun Wasserfälle. Meine Augen fallen zu.

 

Ich wache auf, als wir um 16:26 Uhr die schweizerisch-italienische Grenze erreichen. Julian ist erneut erstaunt, dass es am Länderübergang keine Auto-Kontrolle gibt und freut sich: „Wir sind in Italien.

---ENDE DER LESEPROBE---