Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein schriller Ton, gleißende Sonnenwinde, dann Stille! Plötzlich, ohne zu realisieren was mit ihr geschieht, befindet sich Ilena in einer ihr völlig fremden Welt. Eine Welt, die ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellt und in der sie es mit geheimnisvollen, düsteren Kreaturen aufnehmen muss. Zwischen Kampf, Intrigen, Chaos und Liebe lernt sie ihre tief verborgenen Kräfte kennen und begibt sich in einen direkten Zweikampf mit dem Bösen, um sich und das Leben aller anderen zu retten. Als wäre das alles nicht genug, wirbeln zwei Engelskrieger ihre Gefühle durcheinander und stellen ihr Herz auf die Probe.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 363
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Sarah Zenker
Belorah
Die Prophezeiung
Fantasy Roman
Originaltexte: © 2021 Copyright by Sarah Zenker
Alle Rechte vorbehalten
Illustrationen: © 2021 Sarah Zenker
Umschlaggestaltung:
Sarah Zenker und Tom Kudick nach dem Motiv von Aaron Zenker © 2021 Sarah Zenker
Verlag:
Sarah Zenker
Ferdinandstraße 21
12209 Berlin
Lektorat: Anne Horsten
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Für meine Familie, die mich beim Schreiben immer treu begleitet hat und mir in schwierigen Zeiten immer zur Seite steht.
Sonnenwinde sind Sternenwinde der Sonne. Sie strömen von der Sonne ins All und sind im Volksmund auch als Sonnenstaub bekannt. Die Magnetosphäre schützt die Erde normalerweise vor dem Eindringen dieser Sonnenwinde, jedoch können je nach Stärke dieser Winde Polarlichter entstehen, wenn die äußersten Schichten überwunden werden. Diese Winde können die Kommunikation mit Satelliten oder Ähnlichem stören, jedoch ist dies nicht der Grund warum ich euch von ihnen erzähle.
Gerüchte machen die Runde, dass diese in allen Farben strahlenden Sonnenwinde übernatürliche Kräfte besitzen und zu mehr in der Lage sind, als nur Polarlichter hervorzurufen. Seit Jahrzehnten wird das wiederkehrende Verschwinden von Frauen, immer im Zusammenhang mit dem Auftreten gleißender Sonnenwinde, gemeldet. Keiner konnte das Mysterium je aufdecken, weshalb es der Allgemeinheit bis heute verschwiegen wurde.
Ilena stand auf einer grünen Wiese, mitten im seidenweichen Gras, Unmengen von Blumen wie von Zauberhand hineingestreut. Kaum fuhr sie mit dem nackten Fuß über die zarten Grashalme, verspürte sie den Drang, sich auf die Wiese zu legen, um sich von ihrem frischen Duft einhüllen zu lassen. Ilena ließ ihren Blick umhergleiten. Nicht weit entfernt säumten Sträucher das Gebiet. Dort begann ein üppig wuchernder Wald. Die junge Frau spitze ihre Ohren und lauschte dem Gesang unbekannter Vögel. Alles war so friedlich. So perfekt. Kein Laut der Zivilisation störte diese Idylle.
Sie drehte sich einmal um sich selbst und betrachtete ihre Umgebung. Kein Haus, keine Straße, nichts außer der freien, unbändigen Natur. In ihrem Augenwinkel bewegte sich etwas. Ein Rehkitz stand unentschlossen am Waldrand und schaute Ilena aus seinen haselnussfarbenen Augen an. Die Sonne ließ das goldbraune Fell des kleinen Kitzes glänzen. Ilena war von der Schönheit der Natur und dem Frieden, den sie geradezu in der Luft schmecken konnte, wie in Trance.
Plötzlich zerriss ein Zischen die Stille, das Kitz zuckte heftig am ganzen Körper, wankte und fiel zitternd zu Boden. Ilena presste sich eine Hand vor den Mund, um einen spitzen Aufschrei zu unterdrücken. Ein silbernes Jagdmesser ragte aus der Kehle des Tiers. Das Blut schoss pulsierend aus dem zuckenden Körper. In ihrer Bewegung erstarrt schnappte sie erschrocken nach Luft. Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, kam sie dem Kitz näher, bis sie nur noch wenige Zentimeter voneinander trennten. Sie kniete sich neben das am ganzen Leib bebende Tier und strich ihm mit zittriger Hand über den schweißnassen Kopf. Wie konnte jemand so herzlos sein und dieses unschuldige Wesen jagen? Sofort fiel ihr auf, dass sie nicht wusste, woher die tödliche Waffe gekommen war. Hektisch, ohne ihre Hand von dem Kitz zu nehmen, ließ Ilena ihren Blick über den Waldrand wandern und suchte jeden Winkel nach dem Jäger ab. Irritiert stellte sie fest, dass sie niemanden sah. Nicht einmal ein leises Knacken oder Rascheln verriet sein Versteck.
Unter ihrer Hand regte sich etwas. Sofort löste sie ihren suchenden Blick vom Waldesrand und wandte sich wieder dem sterbenden Tier zu. Verblüfft stellte sie fest, dass sich das Kitz unter ihren Händen in ein kleines Mädchen verwandelt hatte. Sie sah in die verängstigten, braunen Augen des Kindes, beruhigende Worte flüsternd. Das Mädchen war um die sechs Jahre alt, hatte langes, braunes Haar und eine blasse, samtene Haut. Ihre kalten, zitternden Hände umklammerten Ilenas Arm, und vergeblich versuchte sie zu sprechen. Doch nur anhand ihrer Lippenbewegungen konnte Ilena erahnen, was sie zu sagen versuchte: »Lauf!« Entschlossen schüttelte Ilena ihren Kopf und nahm den des Kindes in die Hände: »Nein, niemals würde ich dich hier so zurücklassen!« Das Mädchen zwang sich, etwas zu erwidern, was ihr jedoch nur unter einem heiseren Krächzen gelang: »Bitte. Lauf!« Ihre Stimme brach, doch sie nahm all ihre Kraft zusammen und flüsterte. »Sonst musst du auch sterben!« Kaum hatte die Kleine ihren Satz beendet, verschwamm alles um Ilena herum. Eine tiefe Schwärze umhüllte sie.
Ilenas Lider flatterten und flogen auf. Alles nur ein Traum! Alles nur ein Traum!, redete sie sich ein. Sie setzte sich auf und wischte mit der Hand über ihr tränennasses Gesicht. Erschöpft schlug sie ihre Decke zurück und ging auf nackten Sohlen ins Bad, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Ilena wagte es kaum, in den Spiegel zu schauen, denn sie wusste, wie sie jetzt aussah: rot unterlaufende Augen, vom Weinen ein fleckiges Gesicht und ihre lockigen, langen Haare zu einem Nest zerzaust. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel bestätigte ihre Befürchtungen, doch die Sorge um ihr Aussehen verschob sie auf den nächsten Tag und machte sich wieder auf den Weg zurück in ihr Zimmer. Seufzend ließ sie sich auf ihr Bett plumpsen.
Das war nicht das erste Mal, dass dieser Traum sie heimgesucht hatte, erst gestern Nacht war sie ebenfalls davon aufgeschreckt. Sie war doch kein Kind mehr, dass sie mit ihren 20 Jahren immer noch Angst vor Alpträumen hatte und sich abends oft davor fürchtete einzuschlafen. Im Moment war es ihr aber wirklich zu viel. Von Tag zu Tag wurde sie immer unausgeschlafener und unkonzentrierter. Nun plagte sie dieser Albtraum schon seit längerer Zeit, und immer, wie auch heute, starb das Rehkitz, das sich am Schluss als kleines Mädchen entpuppte. Jedes Mal von einem Messer durchbohrt. Der Traum häufte sich; am Anfang träumte sie ihn nur wöchentlich, doch nun kam er jede Nacht angekrochen, um ihr Unterbewusstsein heimzusuchen. Irgendetwas stimmte hier nicht, doch sie war bereit, es herauszufinden. Ein Schauer schüttelte Ilena und plötzlich fror sie, als ob der Winter in ihrem Zimmer wütete, weshalb sie die Decke zurückschlug und eilig darunterschlüpfte. Jetzt ist aber Schluss, ermahnte sie sich selbst, eingekuschelt bis zum Hals. Mit klammen Händen fischte sie ihr Lieblingsbuch aus einem kleinen Regal neben ihrem Bett und begann darin zu lesen, eine Angewohnheit, die Ilena sich, seitdem sie nachts oft nicht mehr schlafen konnte, zugelegt hatte.
Ein immer lauter werdender, schriller Ton durchbrach die Stille, ließ sie aufhorchen und den Kopf heben. Genervt schwang sie ihre Beine aus dem Bett und blickte sich suchend nach der Quelle dieses Übels um. Sicher war nur wieder bei einem ihrer Geräte der Akku leer. Verdutzt kräuselte Ilena die Nase, einem ungewohnten Duft folgend. Bildete sie es sich nur ein, oder roch es nach Heu, Blumen, frischem Gras und Sommer? Davon angezogen lugte sie neugierig um ihren Kleiderschrank in den hinteren Teil ihres Zimmers, und plötzlich sah sie es: Ein Wirbel aus Sonnenstrahlen, vergleichbar mit den aufkommenden Sonnenwinden an den Polen, strahlte von ihrer Zimmerdecke herab. War es eine optische Täuschung oder konnte Ilena direkt in den Himmel sehen? Geblendet durch die hellen Strahlen musste sie ihre Augen abwenden. Als sie sich dem Leuchten weiter näherte, wandelte sich der schrill anhaltende Ton auf einmal in fröhliches Gezwitscher, und der Wirbel bewegte sich langsam kreisend auf sie zu, als würde er nach ihr suchen. Berauscht von dieser magischen Schönheit stand sie nun direkt unter dem zum Trichter geformten Sonnenwirbel und blickte nach oben. Die glitzernden Strahlen zauberten Ilena ein angenehmes Prickeln auf die Haut und ließen sie, umgeben von Wärme, erschaudern.
Das Licht wurde heller und heller, beinahe gleißend weiß. Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen, doch die Strahlen blendeten sie, sodass sie beide Augen schließen musste. Plötzlich spürte sie, wie ihr der Boden unter den Füßen entglitt, doch sie hatte keine Angst, ganz im Gegenteil, sie war fasziniert und neugierig, was sie erwarten würde. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit, ruckartig wurde sie heftig hin und her gewirbelt; dennoch ließ sie es mit sich geschehen und versuchte nicht, dagegen anzukämpfen. Abrupt landete sie unsanft auf ihren Knien und fiel vornüber. Der Boden war samtweich, tausend Vögel gaben ein Konzert, doch die hellen Strahlen hatten sie derart geblendet, dass sie ihre Augen noch geschlossen hielt.
Langsam öffnete Ilena ihre Augen. Sie fand sich auf einer mit Blumen übersäten Wiese, ganz in der Nähe eines dunklen Waldrandes wieder. Ach, wie goldig, dachte sie, als sie das kleine Kitz ein paar Meter neben sich im Gras liegen sah. Doch auf einmal gefror ihr das Blut in den Adern, und ihr Herz setzte für einen kurzen Schlag aus. Starr vor Schreck zählte sie eins zum andern: die Wiese, der von Büschen gesäumte Waldrand und das kleine Rehkitz! Sie stand mitten in der Landschaft ihres wiederkehrenden Albtraums. Ohne lange nachzudenken warf Ilena ihren Kopf herum, suchend streiften ihre Augen über den Rand des Waldes; eilig stand sie auf und schritt vorsichtig und gebückt auf das liegende Kitz zu. Langsam streckte sie ihre Hände nach ihm aus. Das Tier begann, an ihr zu schnuppern und sie vertraut anzustupsen.
Doch dann hörte Ilena, wie aus dem Nichts, plötzlich ein Zischen die Luft durchschnitt. Intuitiv rollte sie sich blitzschnell zur Seite, das Kitz im Arm haltend. Die tödliche Waffe bohrte sich nicht weit von ihnen in die Erde und blieb aufrecht stecken. Ihr war sofort klar, dass der Jäger bald zum erneuten Angriff ansetzen würde. So schnell sie konnte, hob sie das kleine Kitz hoch und huschte mit flinken Schritten in das schützende Dickicht des Waldes. Erschrocken begann das junge Geschöpf zu wimmern und weitete seine Augen, bevor es den Kopf einzog und ein weiteres Messer, nur wenige Zentimeter neben Ilenas Kopf, die Luft mit einem surrenden Laut durchschnitt. Sie schnappte nach Luft. Die Waffe hatte sie zum Glück wieder verfehlt. Noch eine weitere Chance würde sie wohl nicht bekommen.
So schnell ihre Beine sie trugen, sprang sie über Wurzeln und kleine Unebenheiten im Boden, immer tiefer in den dichten Wald hinein, bis sie ein Knacken in den Ästen über ihr aufhorchen ließ. Beruhigend legte Ilena ihre Hand über den Kopf des Kitzes, woraufhin sich ihr Schützling noch enger an sie schmiegte. Die sich nähernden Geräusche ließen es erneut aufschluchzen. Ilena blickte ungläubig auf das sich in ihren Armen gewandelte Kitz, und wirklich lag dort das kleine Mädchen aus ihren Träumen. »Es gibt kein Entkommen!«, hauchte sie mit einem zittrigen Wimmern an Ileanas Brust gepresst. Sie ahnte, dass die Kleine Recht hatte. Sie konnte nicht viel länger in diesem Tempo und mit dieser Last in ihren Armen laufen, aber trotz allem wollte sie dem Mädchen Mut machen: »Wir müssen es schaffen! Glaub nur ganz fest daran!«
Ihr Blick, der bis jetzt auf den Boden geheftet war, damit sie nicht über die vielen Hindernisse stolperte, schreckte hoch, als vor ihnen urplötzlich ein kräftig gebauter Mann in einem dunkelgrauen Mantel aus dem Dickicht auftauchte. Abrupt bremste sie ihren Lauf ab, um nicht gegen ihn zu prallen. Ihr Kopf flog herum, als sie auch hinter sich ein dumpfes Geräusch vernahm. Ein weiterer Mann hatte sich von einem dicken Baum abgeseilt. Von allen Seiten, was ihnen auch den letzten Fluchtweg abschnitt, kamen weitere Kreaturen hinzu, die Affen glichen. Sie waren größer als die Kerle. Ihr ganzer Körper war mit einem struppigen, rabenschwarzen Fell bedeckt. Um ihre Bäuche trugen sie schwere Gürtel, die mit etlichen, in der Sonne glänzenden, scharfen Messern und breiten Schwertern bestückt waren; doch keinem fehlten die Waffen. Hastig zuckte Ilenas Blick auf den Gürtel des Mannes, der direkt vor ihr stand: Dieser wies zwei klaffende Lücken auf.
Wütend und ohne an die Konsequenzen zu denken trat sie einen gewagten Schritt auf ihn zu und schaute ihm direkt in das Narbengesicht. Ihr Blick sollte eiskalt wirken, sie hatte ihre Augen zu bedrohlichen Schlitzen zusammengezogen und hob angriffslustig den Kopf. Die beiden waren nur noch eine Beinlänge voneinander entfernt, doch Ilena zeigte weder Angst noch Schwäche. Der Mann ergriff als Erster das Wort: »Übergib sie uns und wir lassen dich gehen. Versuchst du, sie weiterhin zu schützen, werdet ihr beide sterben. Entscheide dich!« Ilenas Blick wanderte zwischen dem zitternden Mädchen in ihren Armen und den offenbar mordlüsternden Kreaturen hin und her. Der hoffnungslose Blick der Kleinen zerriss ihr fast das Herz. Niemals könnte sie das Kind hier hilflos zurücklassen! Diese furchtbaren Wesen würden sie augenblicklich töten. Wie konnte sie verhindern, dass sie hier beide auf ebendieser Stelle starben? Darauf bedacht, Zeit zu schinden, versuchte sie die Männer in ein Gespräch zu verwickeln. Vielleicht erfuhr sie mehr, um sich aus dieser tödlichen Schlinge ziehen zu können. »Was wollt ihr von diesem Kind? Wieso wollt ihr so etwas Unschuldiges töten?«
Sie war erstaunt, wie fest und selbstsicher ihre Stimme klang. Doch intuitiv wusste sie, dass mit diesen Gestalten nicht zu spaßen war. Lange würden die sich nicht von ihr hinhalten lassen. So schnell es ging musste Ilena sich für einen Weg entscheiden. Nein, das hatte sie bereits getan. Was auch immer diese grausamen Kreaturen mit ihnen vorhatten, sie würde alles versuchen, um wenigstens das Mädchen zu retten. Plötzlich riss einer der Männer sie mit seiner rauen, tiefen Stimme aus ihren Gedanken: »Sie ist eine Mostrana! Seit Jahrhunderten hatten sie die Macht über unsere Welt, nun ist es an der Zeit, dass wir uns unser Land und unsere Macht zurückholen! Das ist doch überall bekannt! Närrin!... Alle wissen das!« Hämisch grinsend breitete der Kerl die Arme aus, um seinen Worten mehr Wirkung zu verleihen.
Wovon redet er? Mostrana, der Name sagt mir überhaupt nichts. Und davon wissen alle? Nun, ich nicht, dachte sie und verzog angewidert das Gesicht. Diese Reaktion entging dem Mann wohl nicht, denn er durchbohrte Ilena mit seinem Blick. »Wer bist du? Kommst her, pfuschst uns dazwischen und tust, als wüsstest du von nichts.« »Ich äh… Ilena… und äh… wo bin ich hier?«, stotterte sie und erkannte zu spät, dass sie das besser nicht gesagt hätte. Der Mann sah sie erstaunt an und musterte sie eindringlich. »Die Prophezeiung!«, zischte jemand hinter ihr, Hass zitterte in der Stimme. Die Affen grunzten laut, wobei einige von ihnen, als Ausdruck ihrer Zustimmung, ihre Waffen aufeinanderschlugen und damit ohrenbetäubend schepperten. Sie hatte das Gefühl, dass alle Augenpaare auf ihr ruhten und sie von Kopf bis zu ihren Füßen musterten. Ilena schwirrte der Kopf. Welche Prophezeiung? Das alles war ihr allmählich doch zu viel. Erst lande ich in einer anderen Welt, dann diese Mostrana, diese Affendinger und jetzt auch noch irgendeine Prophezeiung. Was kommt denn jetzt noch, dachte sie panisch. Sie fand, jetzt wäre der richtige Moment, um wieder aufzuwachen – zu Hause im warmen Bett.
Doch der hochgewachsene Mann vor ihr hatte seine Fassung wiedergewonnen und sprach sie direkt an: »Na, das nenne ich mal Glück, dass wir dich gleich gefangen haben, bevor du noch mehr Unsinn stiften konntest!« Er freute sich sichtlich, worauf ein höhnisches Lachen folgte. »Das ist schon lustig, so ein kleines, zartes Mädchen wie du«, sein Grinsen wurde noch breiter, »soll uns davon abhalten, die Macht zu übernehmen? Das hat noch keine vor dir geschafft! Und du, Mäuschen, hast jetzt schon verbockt!« Sein boshaftes Lachen schallte durch den Wald und ließ sogar die Vögel verstummen, die von den Ästen auf sie herablugten.
Urplötzlich verstummte der Kerl und gab seinem Gegenüber ein Zeichen; dieser reagierte sofort und war mit ein paar Schritten bei Ilena. Seine vorgeschnellte Hand wollte sie gerade packen, als ein mit goldenen Ranken verzierter Pfeil seine Brust durchbohrte. In derselben Sekunde schlossen sich große, weißglänzende Flügel um Ilena und das an sie gepresste kleine Mädchen. Nicht einen Wimpernschlag später schossen sie hinauf in die Lüfte. Starke Arme hielten sie beide umschlungen und schützten sie. Schnell entfernten sie sich von ihren Angreifern, die immer mehr verblassten, bis sie nur noch als kleine Punkte auszumachen waren und dann zwischen den Baumkronen verschwanden. Die Luft zischte warm an ihnen vorbei, während sie in einem berauschenden Tempo über Wiesen und Wälder, Flüsse und Seen flogen. Ihre Angst wich langsam einem Gefühl der Freude. Seit sie ein Kind war, wünschte sie sich von Herzen, fliegen zu können. Nur hatte sie diesen Traum schon seit Jahren aufgegeben, nachdem sie auf dem Pferdehof ihres Onkels von der Scheune gesprungen und mit einem gebrochenen Fuß davongekommen war.
Das Geräusch auf- und abschlagender Flügel riss sie aus ihren Gedanken. Höher und höher ging es. Kann es möglich sein, dass… nein! So etwas gibt es nur in der Fantasie, im Traum, in Büchern oder Filmen, doch keinesfalls in Wahrheit! Was geschieht hier mit mir? Ist das eine andere Realität oder habe ich nur wieder einen meiner verwirrenden Träume? Ihr Bauchgefühl widersprach ihr jedoch. Alles wirkte real. Das Kind in ihrem Arm. Eine Mostrana, das klang schön. Die Bedrohung durch die brutalen Jäger und diese affenähnlichen Wesen. Da war es wahrscheinlich, dass diese neue Welt weitere Überraschungen für sie bereithielt. Langsam und darauf bedacht, dass ihr Retter es nicht mitbekam, drehte Ilena ihren Kopf zur Seite und schräg nach oben um ihn genauer anzusehen.
Sie blickte in das makelloseste Gesicht, das sie je gesehen hatte – eine gerade männliche Nase und perfekt geschwungene Lippen. Schwarze Locken flogen wild im Wind. Sein Blick war hingegen starr und konzentriert nach vorne gerichtet. Seine Flügel waren gewaltig und reflektierten seidig das Sonnenlicht. Seine Aura versprühte Sicherheit und Macht. Dann ließ Ilena ihren Blick wieder über das kleine Mädchen schweifen, das sich zufrieden lächelnd an sie kuschelte. Sie strich der Kleinen mit einer Hand über den Kopf, und ihr Blick huschte zu ihrer Retterin auf, sie neugierig musternd.
»Ich bin Ilena! Und wie heißt Du?«, sagte sie mit einem warmen Lächeln. »Anastasia, aber alle nennen mich Ana!« Ihre Augen funkelten fröhlich. Wo war das ängstliche Mädchen von vorhin geblieben? Fühlte sie sich in der Gegenwart des Engels auch so unverletzlich wie sie selbst? Kaum hatte Ilena den Gedanken zu Ende geführt, setzte ihr Retter zum Landeflug an. Es war ein elektrisierendes Gefühl. Eine Achterbahnfahrt konnte man wohl am ehesten damit vergleichen, so, wie sie durch die Luft glitten und schließlich zwischen gewaltigen Bäumen landeten. Der Engel entließ sie aus seiner Umarmung und nahm ihr das Mädchen ab. Ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, sprach er zu Ana: »Das nächste Mal passt du bitte besser auf und entfernst dich nicht so weit vom Dorf! Wäre ich nicht im richtigen Moment aufgetaucht, wärst du jetzt tot und deine Begleiterin«, mit einem Kopfnicken zeigte er in Ilenas Richtung, »wäre eine Gefangene Luzifers und das nur, weil sie dir – im Prinzip – das Leben retten wollte!«
Also wirklich, dachte Ilena, ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, um Ana zu retten und dann habe ich Anas Leben nur im Prinzip gerettet. Was für ein arroganter, selbstverliebter Typ ist das denn! Okay, er hat uns in letzter Sekunde aus der Patsche geholfen, aber hätte ich nicht den ersten Schritt gemacht und wäre mit Ana geflohen, dann würde es keine Ana mehr geben und auch er wäre zu spät gekommen, verteidigte sie sich innerlich, aber es auszusprechen wagte sie nicht. Sie wusste ja nicht, wozu diese Engel fähig waren.
»Ich wollte niemals, dass irgendjemand sein Leben für mich aufs Spiel setzt! Wirklich! Oh, Ilena es tut mir so leid!«, weinte Ana und wischte mit einer Hand über ihre Augen. »Ach, Ana!«, Ilena drückte das Kind an sich, »Alles ist doch noch gut ausgegangen! Niemandem ist zum Glück etwas passiert.« Die Augen der Kleinen schauten zu ihr auf, und sie presste die Arme noch fester um Ilena. »Ich denke, wir sollten die anderen im Dorf informieren, dass Ana wieder da ist und dass«, er warf einen skeptischen Blick auf Ilena, »eine neue Retterin erschienen ist, um unser Volk zu schützen und zu regieren.« Es sprudelte nur so vor Wut in ihr: »Was denkst du eigentlich, wer du bist, dass du die ganze Zeit so herablassend mit mir reden kannst? Ich habe mir das hier alles auch nicht ausgesucht, wo bin ich überhaupt?« Der Engel erwiderte ihren feurigen Blick mit Gelassenheit. »Also, um deine erste Frage zu beantworten, ich heiße Samael. Und dass dies hier nicht deine Welt ist, wirst du wohl schon bemerkt haben.« Auf Ilenas fragenden Blick hin ergänzte er: »Du bist in Belorah, in einer Zwischenwelt, zwischen Himmel und Erde, die überwiegend Mostrana bewohnen. Also wundere dich hier über nichts.«
»In Belorah? Also ich sehe nur Bäume und Wildnis…«, erwiderte Ilena und blickte ihn spöttisch an, aber er ignorierte sie einfach, drehte sich um und trat zwischen drei hohe Pinien, die ein gleichschenkliges Dreieck bildeten. Ana nahm Ilenas Hand und zog sie ebenfalls hinein. Sobald die drei hineingetreten waren, begannen sich die durch die Baumkronen fallenden Sonnenstrahlen in Windrosen zu wandeln. Lose Blätter, die eben noch zu ihren Füßen lagen, bewegten sich tanzend gen Himmel. Die vielen hell glitzernden Windrosen kreisten geradewegs auf sie zu, bis sie sich schließlich miteinander vereinigten und einen an ihren Gliedern zerrenden, funkelnden Wirbelsturm bildeten. Starke Böen erfassten ihre drei Körper und rissen sie vom Boden. Die Strahlen waren so gleißend hell und schmerzten, dass Ilena ihre Augen zukneifen musste. Kaum konnte sie realisieren, was mit ihr geschah, da hatte sich der wirbelnde Sturm wieder verzogen und sie mitten in ein quirliges Dorfleben hineintransportiert. »Wie… was… «, stotterte Ilena durcheinander und musste sich an Ana festhalten, bis es sich in ihrem Kopf nicht mehr drehte, und ihr Gleichgewicht zurückkam.
»Daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen! «, entgegnete ihr Samael kühl, »wir sind durch ein Portal in unser Dorf gelangt. So halten wir es vor den grauen Kriegern, den Wukogi, und ihren Soldaten, den Sluvrak, versteckt. Und bevor du fragst – das Portal lässt nur Lebewesen hindurch, die ein reines Gewissen und ein liebendes Herz haben. Na ja, mich wundert´s etwas, dass es dich hindurchgelassen hat!«, fügte er grinsend hinzu. »Dasselbe könnte man von dir sagen!«, konterte Ilena. »Wie es auch sei, willkommen in Belorah! Es ist mir eine Freude, dich hier begrüßen zu können!«, mischte sich ein weiterer Engel in ihr Gespräch ein, der den Wortwechsel zwischen ihnen gehört zu haben schien. Er machte eine kleine Verbeugung, nahm charmant ihre Hand, hob sie an seine Lippen und hauchte einen sanften Kuss darauf. Ilena sah ihn verblüfft an und machte ihrerseits einen kleinen Knicks zur Begrüßung. »Vielen Dank!«, hauchte sie.
Der Engel lächelte sie kurz an und ließ seinen Blick langsam über ihren Körper gleiten, als würde er ihn begutachten. Ilena tat es ihm gleich und musterte ihn ebenfalls. Seine Kleidung bestand nur aus einer enganliegenden, dunklen Hose und hohen Stiefeln aus Leder. Seinen muskulösen nackten Oberkörper zierte nur der breite Gurt für sein riesiges Schwert, abgesehen von den ausladenden Flügeln auf seinem Rücken. Eher ein Krieger als ein Engel. Aber auch er hatte diese schwarzen, zerzausten Haare und ein ebenmäßiges, wie aus Marmor gehauenes Gesicht, das Ilena beeindruckte. Sein blau blitzender Blick traf sie unvorbereitet. Ertappt schlug sie die Augen nieder, als sie ein Schmunzeln um seine Mundwinkel wahrnahm.
Aber da spürte sie Anas Hand in ihrer, die heftig daran zog. Ilena gab nach und die Kleine drängelte sich mit ihr durch die sich inzwischen versammelte Menge, weg von diesem irritierenden Engel, von dem sie leider nicht einmal den Namen erfahren hatte. »Du musst unbedingt meine Familie kennenlernen!«, plapperte Ana aufgeregt und hüpfte vor ihr her. Einige der umstehenden Leute, alle in langen farbigen Gewändern, musterten Ilena misstrauisch, andere lächelten und begrüßten sie herzlich. So wie es schien, kannte hier jeder jeden, und da fiel ein Fremder sofort auf.
Im Laufe des Vormittags lernte sie Anas siebenköpfige Familie kennen. Außer der altmodisch wirkenden Kleidung war an ihnen nichts Ungewöhnliches. Höflich und gastfreundlich dankten sie ihr für Anas Rettung. Keiner von ihnen erwähnte den Schutzengel, was Ilenas Selbstvertrauen steigerte. Gegen Mittag sollte Ana ihrer Mutter in der Küche helfen, sodass der Neuankömmling Zeit hatte, sich im Dorf umzusehen. Unter einem Baum, der Schatten vor der Hitze bot, saßen einige Mädchen und spielten mit ihren Puppen; ein Stück weiter rauften Jungen miteinander, die sich während dieses Spiels immer wieder in kleine Löwen verwandelten. Ilena schaute gebannt zu. Hier gab es einiges, was sie verwunderte, aber alles wirkte friedlich und harmonisch, sodass ihr warm ums Herz wurde. Wieso wollte jemand so etwas Schönes zerstören? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. »Hey, warte!«, rief plötzlich eine Stimme zu Ilena herüber und sie zuckte zusammen, hatte sich jedoch schnell wieder gefasst und drehte sich fragend um.
Vor ihr stand ihr spöttischer Retter, dieses Mal recht menschlich angezogen und ohne sichtbare Flügel. Er sah ihr leicht zerknirscht ins Gesicht. »Tut mir leid, wie ich dich vorhin behandelt habe! Ich hatte nur jemand anderen erwartet, jemanden der etwas mehr Erfahrung mit Waffen hat und etwas älter ist«, sagte er und fuhr sich verlegen mit der Hand durch seine lockigen Haare. »Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe. Aber das hier,« Ilena drehte sich einmal im Kreis, »habe ich mir nun wirklich nicht ausgesucht!«
Der Engel grinste und hielt ihr seine Hand für einen Neubeginn hin. »Ich bin Samael!« Ilena schlug ein. »Ilena«, stellte sie sich vor und überspielte ihre Verlegenheit mit einem bezaubernden Lächeln. »Ich weiß!«, meinte er. »Das ist bestimmt so eine Gabe, die alle Engel besitzen, in den Kopf des anderen zu gucken und alles zu wissen, bevor er antworten kann oder? Echt krass!«, staunte Ilena. »Also, na ja, nicht so ganz. Ich kenne deinen Namen, weil Ana dich vorhin so genannt hat. Und nein, so eine Gabe haben wir nicht«, erklärte er ihr, grinste sie an und verschränkte seine Arme vor der Brust. Ilena lief rot an und schaute beschämt weg, nun hatte sie sich schon zum zweiten Mal vor ihm blamiert. Oh Mann, Ilena! Du Volltrottel! Nehmen diese Peinlichkeiten gar kein Ende? »Aber du hast Recht, ein Engel zu sein, ist nicht übel«, tröstete Samael sie und lachte leise, »zu fliegen ist das Beste! Die Gabe, dass wir die Gefühle anderer beeinflussen und ändern können, ist manchmal hilfreich, und außerdem können wir Engelsfeuer mit Hilfe alter Runen heraufbeschwören.« Ilena beäugte interessiert seine Hand und versuchte irgendwo Drüsen oder ähnliches zu entdecken, welche das Engelsfeuer erzeugten. Samael hatte ihren neugierigen Blick bemerkt und schob den Ärmel seines Hemdes hoch, um auf eine schwarze Rune auf der Unterseite seines Handgelenks zu deuten. »Das ist die Rune für engelhafte Stärke, sie ist meine einzige Verbindung zum Himmel und ermöglicht auch das Entfachen des Engelsfeuers. Aber jetzt zu dir. Wie bist du hierhergekommen?«, fragte er interessiert und schob seinen Ärmel wieder herunter, um das verschlungene Zeichen zu bedecken. »Können wir das vielleicht woanders besprechen? Und nicht so mitten auf der Straße?«, erkundigte sich Ilena und sah sich um. »Da hinten gibt es ein kleines Gasthaus«, antwortete er und wies mit seinem Kopf die Straße hinunter.
Im Wirtshaus setzten sie sich an einen Tisch in der hintersten Ecke. Samael hatte sich eine silbern glänzende Flüssigkeit bestellt, dessen Namen Ilena bereits in der nächsten Sekunde wieder vergessen hatte, während sie sicherheitshalber bei Wasser blieb. »Na dann, schieß mal los«, forderte Samael sie auf und lehnte sich zurück. Ilena beschloss, ihm alles zu erzählen, angefangen von ihren Alpträumen; vielleicht wusste er mehr über diese mysteriösen Umstände und konnte es ihr erklären. »Seit ungefähr einem Monat hatte ich immer wieder diesen gleichen Traum, bei dem ich mich entweder im Wald, am Fluss oder auf einer Wiese befand. Dort war immer ein Rehkitz, welches friedlich dalag. Doch bevor ich es näher betrachten konnte, wurde es von einer Klinge durchbohrt und verwandelte sich kurz darauf in ein kleines Mädchen: Ana. In keinem der Träume habe ich den Jäger je gesehen.« Sie legte eine Pause ein und versank in ihren Gedanken. Samael hatte ihr mit ernster Miene zugehört und dabei verstehend genickt.
»Letzte Nacht suchte mich erneut einer dieser Träume heim. Nachdem ich aufgeschreckt war, konnte ich nicht mehr schlafen und begann deshalb etwas zu lesen, um mich wieder zu entspannen. Plötzlich kam von irgendwo her ein schrilles Geräusch, ich folgte ihm und schon stand ich auf der Wiese, von der ich kurz zuvor geträumt hatte«, fuhr sie fort. Es folgte Stille. Samael trank in einem Zug aus, stellte sein Glas zur Seite und schwieg weiter. Gedankenverloren sah er auf den Tisch, sein Blick war leer und er machte keinerlei Anstalten, etwas zu ihrem Gespräch beizusteuern. Ilena fühlte sich unwohl, so viel von sich preisgegeben zu haben und wippte unter dem Tisch mit ihrem Fuß. Nach einiger Zeit ließ Samael seinen Blick zu ihr zurückschweifen und auf ihr ruhen. »Die Wukogi hatten recht, die große Prophezeiung hat sich bereits zum Teil erfüllt, weiter als je zuvor.«
Schweigend liefen sie nebeneinander her. Ilena kaute auf der Innenseite ihrer Wange, während sie versuchte, ihren Kopf freizubekommen, durch den Tausende von Fragen schossen. »Welche Prophezeiung?«, begann sie mit der quälendsten. Samael sah sie forschend an: »In der großen Prophezeiung heißt es, dass eine Kriegerin uns finden wird. So schlau wie der Fuchs, so weise wie die Eule und so flink wie der Hase.« An dieser Stelle stoppte er kurz und gab Ilena Zeit zum Nachdenken. Also das kann ich schon mal nicht sein! In Mathe war ich noch nie eine Leuchte, und weise zu handeln ist ebenfalls nicht meine Stärke, dazu bin ich zu impulsiv. Flink bin ich erst recht nicht, das habe ich ja vorhin bei meinem Fluchtversuch bewiesen...
»Weiter heißt es, dass sie unser Volk leiten und ihm wieder Mut geben würde. Nur durch ihre Hilfe würde es uns gelingen, den Thron zurückzuerobern und Frieden in unser Land zu bringen!« Er blickte in die Ferne und vermied es, sie anzusehen, sodass sie den Eindruck hatte, er verschwiege ihr etwas. »Ich spüre, dass du an dir zweifelst. Das habe ich, ehrlich gesagt, auch, als ich dich das erste Mal sah. Aber jetzt ist mir klar, dass die Kriegerin tief in dir ist, versteckt vielleicht und nur darauf wartet, geweckt zu werden. Du strahlst Entschlossenheit aus, auch wenn du es selbst nicht immer spürst.«
»Also bitte! Du denkst doch nicht wirklich, dass ich diese Kriegerin aus der Prophezeiung bin, oder? Das ist doch lächerlich! Ich komme noch nicht einmal richtig mit meinem eigenen Leben klar, wie kann ich dann das eure retten?« Entrüstet starrte Ilena ihn an.
Samael holte gerade tief Luft, um etwas zu sagen, aber Ilena ließ ihm keine Zeit dazu. »Ich habe keine Ahnung, weshalb ich hier bin! Aber ich will wieder nach Hause zurück, denn helfen werde ich hier sowieso nicht können. Sucht euch lieber jemanden, der dafür geeigneter ist!« Sie machte Anstalten, davonzulaufen, aber eine starke Hand um ihren Oberarm hinderte sie daran. Samael zog sie zurück. »Lass mich los! Ich kann euch nicht helfen, ich will nach Hause!« Anstatt sie loszulassen, hielt er sie noch fester und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Jahrzehnte haben sie auf dich gewartet, haben gelitten, aber hatten immer noch diesen einen Hoffnungsschimmer! Willst du uns diesen kleinen Trost rauben? Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen Ilena, wir brauchen dich!« Er sah ihr flehend in die Augen, aber lockerte seinen Griff und lies sie schließlich los. »Bitte bleib!«, bekräftigte er, drehte sich um und verschwand in der Dämmerung.
Einsam, verlassen und mit schlechtem Gewissen stand sie dort mitten in dieser anderen Welt und überlegte verzweifelt, was nun geschehen sollte. Einerseits hätte sie am liebsten alles hinter sich gelassen und wäre davongelaufen, andererseits hatte Samael etwas Seltsames in ihr ausgelöst, was es war, konnte sie noch nicht sagen.
Man hatte ihr ein kleines, schmuckloses Zimmer als erste Übernachtungsmöglichkeit angeboten. Ilena lag hellwach und starrte auf die Holzbalken der Decke, als könnte sie diesen eine Antwort entlocken. Was vermochte ein schwaches Mädchen wie sie schon auszurichten? Dieser Gedanke plagte sie Stunden, bis sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel. Hektisch wälzte Ilena sich von einer Seite zur anderen und versuchte so, den Traum abzuschütteln. Jedoch ohne Erfolg. Als gerade jemand mit einer Axt nach ihr warf, schrak sie auf und saß kerzengerade und nach Luft schnappend in ihrem neuen Bett. Ihr Atem ging schwer, und ihre Haare klebten schweißnass an ihrem Kopf. Nein, hier kann ich nicht länger bleiben! Entschlossen stand Ilena auf und trat vor die Tür. Kalte Nachtluft umwaberte ihren Körper und trug sie durch das Dorf. Nirgendwo brannte Licht, keine Menschenseele befand sich um diese Zeit draußen in der finsteren Nacht. Ilena schlich auf nackten Füßen über die mit groben Steinen gepflasterte Straße. Gleich hatte sie ihr Ziel erreicht, das Portal, mit dem sie in die Stadt hineingelangt war. Mitten auf der Straße blieb sie stehen und sah sich prüfend um. Hier muss es gewesen sein, dachte sie und hielt Ausschau nach etwas, was irgendwie auf ein verstecktes Portal hinweisen könnte, doch vergebens.
Aus einer schmalen Seitenstraße neben ihr hörte sie plötzlich wie messerscharfe Krallen über die unebenen Pflastersteine kratzten. Ilena wirbelte herum. In der Dunkelheit konnte sie nur schattenhafte Umrisse eines riesigen Wesens ausmachen, das mit gesenktem Kopf auf sie zu schlich. Bedrohlich klapperte das Ungeheuer mit seinem gekrümmten Schnabel und blies grollend heißen Atem aus seinen geblähten Nüstern. Reflexartig wich Ilena einen Schritt zurück und wäre beinahe über einen Stein gestolpert, der sich im sandigen Boden gelockert hatte. Nackte Angst stieg in ihr auf. Wenn sie sich jetzt nicht rührte war sie dem Tode geweiht. Panisch drehte sie sich um und rannte in dieselbe Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Mit großen, stampfenden Sprüngen folgte ihr das vogelartige Untier. Den heißen Atem schon im Nacken, nahm Ilena all ihre Kräfte zusammen und spurtete los. Sie hatte gerade die nächste Biege erreicht, als sich ihr Fuß in einer herausragenden Wurzel verhing und sie kopfüber auf den Boden zwischen zwei Büschen stürzte. Auf allen Vieren drehte sie sich blitzschnell um und sah den riesigen Schnabel des Tieres über ihr aufblitzen.
Das Vieh bäumte sich auf und schnellte herab. Es war vorbei! Wäre ich doch nur in meinem Zimmer geblieben! Oder besser: Wäre ich doch lieber gar nicht erst hierhergekommen. Vor Todesangst zitternd rollte sie sich auf die Seite. In diesem Moment vernahm sie ein Reißen und befürchtete, das Monster hätte sie schon zerfetzt, jedoch verspürte sie keinerlei Schmerz. Angespannt fühlte sie in sich hinein. Nicht einmal ein Haar hatte es ihr gekrümmt. Aber woher kam dann das Geräusch? Ihre Nüstern blähten sich auf und sie roch Unentschlossenheit. Ihre scharfsinnigen Ohren vernahmen das Schnauben genau über ihr. Ihre Nackenhaare sträubten sich, und sie spürte jede kleinste Bewegung um sich herum. Ihr Kopf schnellte hoch und sie blickte in das verzerrte Antlitz ihres Verfolgers.
Sie rannte. Jedoch nicht auf zwei Beinen wie gerade eben noch, sondern auf allen Vieren. Es war ihr, als würde sie die Straßen entlangfliegen. Das Monster hinterher. Neuer Lebensmut hatte sie gepackt und trieb sie voran. Ein langer Schwanz peitschte hinter ihr her und half ihr, das Gleichgewicht zu bewahren. Direkt vor ihr befand sich ein kleines Haus mit einem Balkon im oberen Stockwerk. Es war naiv von ihr, sich Hoffnungen auf eine Rettung zu machen, aber es gab im Moment keinen besseren Fluchtweg. Mit großen Sätzen jagte sie auf das rettende Haus zu. Sie machte einen letzten Sprung und stemmte sich vom Boden ab.
Während sie flog, setzte das Wesen ebenfalls zum Sprung an. Mit aller Kraft versuchte Ilena, sich an dem dünnen Geländer emporzuziehen. Der glatte Marmor gab ihren scharfen Krallen jedoch keinen Halt. Erst als sie drohte, in das weit aufgerissene Maul des Ungeheuers zu stürzen, griffen zwei Hände nach ihr und zogen sie in die Höhe. Jemand schob sie beschützend hinter sich und versuchte, das wilde Tier mit fremdartigen Worten zu beruhigen. Das Wesen knurrte widerwillig, gab dann jedoch zu ihrem Erstaunen die Verfolgung auf, missmutig dreinblickend und immer noch wutschnaubend. Ihr Retter war niemand anderes als Samael, schon wieder! Und jetzt hatte er sie auch noch beim Weglaufen ertappt. Er trat an das Geländer vor und streichelte dem Untier beschwichtigend den Kopf. Zum letzten Mal schlug es wild mit den massigen Flügeln, dann drehte es sich um und trabte davon.
Jetzt wandte Samael sich wieder ihr zu. Er ging in die Hocke. Seine braunen Augen lächelten sie an, während seine Hand sich ihrem Kopf näherte. Reflexartig sprang sie zurück, fletschte die Zähne und knurrte aus tiefer Kehle. Samael zog sofort seine Hand zurück und sprang auf. Erschrocken ging er ein paar Schritte rückwärts. Bestürzt über ihr Verhalten, hockte sie sich in die am weitesten entfernte Ecke des Balkons und winselte. Samael betrachtete sie skeptisch. »Wenn du willst, kannst du gerne mit hereinkommen, ich hab zwar keine Ahnung, wer du bist, aber bei mir bist du willkommen!« Daraufhin öffnete er die Balkontür und ging ins Zimmer. Was ist jetzt wieder passiert? Fremdartige Instinkte beherrschten ihr Denken. Nach dem gerade Erlebten verspürte sie keine besonders große Lust, die Nacht im Freien zu verbringen, also tappte Ilena vorsichtig durch die gläserne Tür in ein gemütlich eingerichtetes Zimmer. Samael hatte ihr eine Wasserschale auf den Boden gestellt und legte sich wieder auf sein Bett, um in einem ledergebundenen Buch weiterzulesen. Für wen ist denn die Wasserschale bestimmt? Naja, andere Welt, andere Sitten! Üblicherweise esse oder trinke ich ja nicht vom Boden.
Langsam ließ Ilena ihren Blick schweifen. Dieser blieb an einem goldgerahmten Gemälde einer zauberhaft schönen Frau hängen. Sie stand auf einer Wiese, ähnlich der aus Ilenas Träumen. Nein, es war genau dieselbe, verbesserte sie sich. Die Frau wirkte entspannt und fröhlich. Weder Unglück noch Angst waren in ihrem Gesicht zu finden. Ilena riss ihren Blick los und steuerte auf das ihr bereitgestellte Wasser zu. Als sie sich über die Schale beugte, stockte ihr Atem und sie fuhr erschaudernd zurück. Das bin nicht ich! Überall Fell, schwarze Augen, Schnurrhaare! Sie war eine Katze! Vorsichtig beugte sie sich erneut über die Schale. Sie war keine gewöhnliche Hauskatze, das erkannte sie an ihrer Größe. Sie war ein Leopard! So etwas gibt es nicht! Als sie gegen die Schüssel stieß verschwamm ihr Spiegelbild, doch sobald das Wasser sich beruhigt hatte, blickte sie wieder in die dunklen Augen des Leopards, ihre eigenen Augen.
Sie erschrak, als Samael plötzlich neben ihr kniete und langsam eine Hand ausstreckte, um sie zu streicheln. Seine warme Hand fuhr über ihr Fell. Wäre sie jetzt kein Tier, wäre sie knallrot angelaufen, aber diese Eigenschaft besaß sie im Moment zum Glück nicht. »Du bist wirklich wunderschön! Ich wüsste zu gerne, wer du bist...«, überlegte er laut. Dann stand er auf, um ein Stück rohes Fleisch zu holen, welches er auf einen Teller vor sie hinlegte. »Hier, friss das! Du siehst hungrig aus! Das ist das beste Stück, was ich habe.« Mit dem Satz setzte er sich wieder auf sein Bett und beobachtete das scheue Tier neugierig.
Angewidert betrachtete Ilena das rohe Stück Fleisch und taumelte ein paar Schritte rückwärts. Dann drehte sie schnell den Kopf weg, um es nicht länger ansehen zu müssen und versteckte sich hinter einem Sessel. Samael blickte verdutzt auf und folgte Ilena, die mit eingezogenem Schwanz zusammengekauert in der Ecke saß. Er lachte hell auf und hockte sich neben sie. »Du magst kein Hühnerfleisch? Mal schauen, was ich noch dahabe, irgendetwas wird dir ja schmecken. Schließlich bist du eine Raubkatze!« Innerlich schien Samael sich zu amüsieren. Eine Raubkatze, die kein frisches Fleisch mag... Er schüttelte den Kopf, das war so absurd.
Ilena war schon als kleines Kind von Fleisch nicht besonders angetan und nun sollte sie das ändern? Niemals! Flink huschte sie an Samael vorbei unter sein Bett und kroch in die hinterste Ecke. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem, um sich zu beruhigen. Schließlich schlief sie vor Erschöpfung ein.
Ein Knacken riss sie aus dem Schlaf, in ihre Nase drang ein fremdartiger Geruch. Sie räkelte sich und wollte aufstehen. Mit einem dumpfen Geräusch stieß ihr Kopf gegen den Lattenrost. Schlagartig wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst. Sie musste hier weg, bevor Samael aufwachte. Sein Atem schien immer noch ruhig. Sie kroch aus ihrem Versteck, sprang hinaus auf die Terrasse und weiter auf eine Bank und über das Geländer. Sie landete auf ihren weichen Tatzen, aufrecht und ohne Verletzungen. Rasch lief sie zu einem dichten Gebüsch, um sich vor fremden Blicken zu verstecken. Ohne es mit ihrem Willen zu beeinflussen, verwandelte sie sich dort in ihre eigene Gestalt zurück. Ilena blickte an sich herunter und erschrak, denn sie war splitternackt. Mit vor Scham vorgehaltenen Händen huschte sie von Versteck zu Versteck, bis sie hinter einem Haus ankam, das sie als den Gasthof ausmachte. Ohne Hemmungen stieg sie etwas ungelenk durch ein offenes Fenster hinein. Es war wohlig warm. Ilena begutachtete das Zimmer näher und stellte fest, dass sie in einem Nebenraum der Küche gelandet war. Sie huschte hinter einen breiten Vorratsschrank.
»Wo hast du denn schon wieder die Eier gelassen? Pass doch auf, wo du hinläufst! Nein, das sind sie falschen!« Dort ging es drunter und drüber. Eine ältere Frau warf einem kleinen Mädchen Befehle entgegen und kommandierte es herum. Schnell ging Ilena auf die Knie, um sich hinter einem Regal zu verstecken. In Eile verließ die ältere Frau das Zimmer und so waren die beiden alleine. Unentschlossen trat Ilena hinter dem Regal hervor und räusperte sich, darauf bedacht, sich mit ihren Händen vor Blicken zu schützen. Das Mädchen zuckte zusammen und rechnete wieder mit einem strengem Befehl der gebieterischen Frau, jedoch stand ihr diesmal Ilena gegenüber. Mit weit aufgerissenen Augen musterte die Kleine sie. »Wer bist du denn? Was willst du hier?«, fragte sie neugierig. »Tja, das ist eine lange Geschichte. Bitte hilf mir und bring mir etwas zum Anziehen. Und ich heiße Ilena.«
»Wieso bist du denn nackt? Hast du dich gerade zurückverwandelt?« »Woher weißt du das? Sind alle, die sich zurückverwandeln, nackt?«, fragte Ilena neugierig. »Anfangs schon, allerdings kannst du das mit etwas Übung beheben.« »Kannst du mir dabei helfen?« »Nein, das muss jeder für sich selbst herausfinden«, entschuldigte sich das Mädchen. »Kannst du mir bitte jetzt irgendetwas zum Anziehen geben?« »Versteck dich! Ich schaue, was ich finden kann.« Mit diesen Worten verschwand sie fröhlich ins Nachbarzimmer.
Gute zehn Minuten später stand Ilena in einem dunkelblauen Umhang, etwas altmodisch für ihren Geschmack, wieder auf der Straße. Sie hatte dem Mädchen versprechen müssen, später noch einmal vorbeizuschauen und das Kleidungsstück zurückzubringen. Den Umhang eng um sich geschlungen, lief sie mit gesenktem Kopf den Sandweg entlang, zurück zu ihrer Unterkunft. Ab und zu schaute sie nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass dieses Ding vom vorigen Abend nicht irgendwo auf sie lauerte. War sie denn total verrückt geworden, sich umzuschauen, ob ein Fabelwesen sie verfolgte, während sie anscheinend selbst eines war? Zu Hause hatte sie Angst, dass betrunkene Männer ihr folgten. Im Vergleich hierzu schien ihr dieser Gedanke deutlich weniger furchteinflößend.
Zu Hause... Normalerweise würde jetzt mein kleiner Bruder in mein Zimmer platzen und laut fragen, ob ich schon wach bin. Wie jeden Morgen würde ich ihn anmeckern: »Jetzt schon, danke!« Das nervt normalerweise schrecklich. Doch heute sehnte sie sich nach ihm, seinem frechen, doch lieben Wesen und seinem aufgeweckten Lachen. Beim Gedanken an ihren nächtlichen Fluchtversuch musste sie ihre Tränen zurückhalten. Kann ich jemals zurück zu meiner Familie? Samael hat gestern etwas davon erzählt. Aber er würde mir nicht verzeihen, wenn ich hier alle im Stich ließe. Er war ihr fremd und doch lag ihr etwas an seiner Meinung über sie. In Gedanken vertieft, stolperte sie über ihre eigenen Füße und fiel der Länge nach hin, was typisch für sie war. Immer stolperte sie, rutschte aus, rannte irgendwo gegen, weil sie mit ihren Gedanken woanders war. Nicht gerade heldenhaft und ein weiterer Aspekt, warum sie lieber nicht in Belorah bleiben sollte. Ilena versuchte, ihr Gesicht mit dem Umhang zu verdecken. Falls sie doch hierbleiben würde, mochte sie nicht als Tollpatsch dastehen.
»Alles ok bei dir?«, fragte jemand besorgt. Sie nickte nur, stand auf und lief weiter. »Wer bist du? Ich kann dein Gesicht nicht sehen!« Anscheinend hatte der Typ nicht die Absicht, sie in Ruhe zulassen. Ilena ignorierte ihn und beschleunigte den Schritt. Zu allem Unheil stand dann auch noch Samael vor ihr. Erschrocken wich sie vor ihm zurück. »Tschuldigung!«, murmelte sie, machte aber keine Anstalten, ihn anzusehen. »Ilena?« Mit einem Lächeln zog er ihr die Kapuze vom Kopf. »Wieso läufst du in diesem Umhang herum? Wo bist du gewesen?« Da Ilena ihm nicht antwortete und das auch nicht vorhatte, wandte er sich an ihren Verfolger. »Gab es Komplikationen zwischen euch, Selaiah?«, wollte Samael wissen. »Nein alles bestens! Sie ist über...« »Ich hab ihn nur gefragt, ob er weiß, wo ich etwas zu essen bekomme. Und was meinen Umhang angeht, den... ähm... habe ich mir geborgt, damit ich hier weniger auffalle!« Sie warf Selaiah einen vielsagenden Blick zu und hoffte inständig, dass er mitspielte. »Ja, das war´s eigentlich schon!«, kommentierte Selaiah und hielt ihrem Blick stand. Mehr fiel ihm wohl nicht ein, aber zumindest hatte er sie nicht verraten.
»Und wieso sah es so aus, als ob du vor ihm wegrennst?«, fragte Samael forschend. »Ich kannte sie nicht und habe deshalb keine Auskunft gegeben. Ich dachte mir, zur Sicherheit folge ich ihr, anscheinend zu auffällig, sodass sie es mitbekommen hat. Aber, da du sie zu kennen scheinst, könntest du uns miteinander bekanntmachen?« Während seiner letzten Worte zwinkerte er Ilena zu, um dann seinen Blick Samael zuzuwenden und ihn erwartungsvoll anzusehen. Die bisherige Flunkerei war ihm kein bisschen anzumerken. »Selbstverständlich! Das ist Ilena, sie hat gestern Anas Leben gerettet. Sie ist offenbar die Kriegerin aus der Prophezeiung!«, sagte Samael an Selaiah gewandt, der frech grinsend nickte. »Ilena, das ist Selaiah, einer meiner großen Brüder«, stellte er den anderen lustlos vor.
»So weit, so gut! Ilena, komm jetzt bitte mit mir!«, befahl er. Ohne zu wissen, warum, folgte sie Samael und winkte Selaiah zum Abschied zu. Als sie in sicherer Entfernung waren, bemerkte Samael plötzlich: »Ihr habt euch die ganze Zeit so angesehen, als hättet ihr etwas zu verbergen!« Schwang da etwa Eifersucht in seiner Stimme mit?
Sie hatte Selaiah doch nur flehend angeschaut, damit er mitspielte, aber wie schnell Samael so etwas falsch verstehen konnte. »Was soll ich nun deiner Meinung nach darauf antworten?« »Nein, es ist nur… Selaiah ist in unserem Dorf als Leichtfuß und Frauenheld bekannt. Lass dich also nicht von ihm einwickeln oder mach es ihm wenigstens nicht zu leicht.« Samael war stehengeblieben. »Keine Sorge, ich werde auf mich aufpassen!«, versicherte sie ihm und freute sich innerlich, dass Samael dachte, sie hätte bei Selaiah eine Chance, schließlich sah er genauso gut aus wie Samael selbst. Sie musste kichern, und er sah sie eindringlich an. Ihre hellbraunen Augen forderten ihn heraus. Ein paar ihrer dunklen Haare kräuselten sich leicht und spielten um ihre hohen Wangenknochen. Es hatte ihn gequält, Selaiah dabei zuzusehen, wie er sie anblickte und wie Ilena dies erwidert hatte.
Er verscheuchte seine Gedanken und ging weiter. Schließlich war er normalerweise der Unnahbare, und das hatte er nicht vor zu ändern. Ilena blieb verwirrt stehen. Erst hatte sie Eifersucht in seinem Blick gesehen, dann Bewunderung und dann, aber nur für eine winzige Sekunde, etwas Unergründliches, das sie zuvor noch nicht in seinen Augen hatte ausmachen können. Diese Emotionen schienen so komplett verschieden, dass sie sich fragte, ob man sie überhaupt alle gleichzeitig empfinden konnte.
Samael merkte, dass sie stehengeblieben war und drehte sich um: »Egal! Vergiss alles, was ich gesagt habe! Komm, ich muss dich dem hohen Rat vorstellen.« Ilena hatte sich wieder gefasst und nahm sich vor, den Vorfall von eben einfach wieder zu vergessen. Sie liefen nebeneinander eine Straße entlang, die sie bisher noch nicht kannte.