Ben Salomo bedeutet Sohn des Friedens - Ben Salomo - E-Book

Ben Salomo bedeutet Sohn des Friedens E-Book

Ben Salomo

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Beschreibung

Ben Salomo gehört zu den erfolgreichsten und zugleich außergewöhnlichsten Rappern Deutschlands. Denn der in Israel geborene Musiker ist bekennender Jude und verarbeitet seine jüdische Identität offensiv in seinen Texten – eine Ausnahme in der deutschen Hip-Hop-Szene, die immer wieder durch gewaltverherrlichende, homophobe und frauenverachtende Aussagen auffällt und zuletzt bei der Verleihung des "Echo 2018" für einen handfesten Skandal sorgte. Mit seinem klaren Bekenntnis zum Judentum tritt Ben Salomo nicht nur antisemitischen Tendenzen im Deutschrap entgegen, sondern macht auch auf den wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft aufmerksam. In seinem mit Spannung erwarteten Buch spricht Ben Salomo über sein Leben als Jude in Deutschland. Aufgewachsen in den Hinterhöfen Schönebergs, wurde er bereits als Jugendlicher wegen seiner Wurzeln diskriminiert. Aber auch aus der Deutschrap-Szene schlägt ihm immer wieder Feindseligkeit entgegen, die bis hin zu persönlichen Bedrohungen reicht. Um sich von den gewaltverherrlichenden und antisemitischen Aussagen seiner Musikerkollegen zu distanzieren, gab er im Mai 2018 seine erfolgreiche Konzertreihe "Rap am Mittwoch" auf, mit der er monatlich bis zu zwei Millionen Views auf Youtube erreichte. Den Deutschrap hält er mittlerweile für eine gefährliche Musikrichtung, dessen Einfluss vollkommen unterschätzt wird. In seinem Buch ruft er zur Mäßigung auf und verweist auf seinen Künstlernamen: Denn Ben Salomo bedeutet "Sohn des Friedens".

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Ben SalomobedeutetSohn des Friedens

Unter Mitarbeit von Armin Fuhrer

Aus rechtlichen Gründen wurden einige Namen von handelnden Personen geändert.

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

1. eBook-Ausgabe 2019© 2019 Europa Verlag GmbH & Co. KG, MünchenUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Cristopher Civitillo und einesLogos von © Michael SenstLektorat: Rainer WielandLayout & Satz: Robert Gigler, München

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95890-271-8Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Inhalt

Prolog

Einleitung

Kapitel 1: Von Israel nach Deutschland – meine familiären Wurzeln

Kapitel 2: Eine jüdische Kindheit in Deutschland

Kapitel 3: Jugend zwischen Nuttenacker und Hinterhof

Kapitel 4: Israel – meine Liebe, mein Beschützer

Kapitel 5: Rap am Mittwoch – die erste Auflage

Kapitel 6: Goethe wäre heute Rapper, Mozart würde Beats produzieren

Kapitel 7: Rap am Mittwoch – Kult aus Kreuzberg

Kapitel 8: »Mal wieder Bock auf Endlösung« – Antisemitismus im Deutschrap

Epilog

Glossar

Prolog

Wir sahen schon von Weitem diese Silhouette. Es war zwar dunkel und die Straße war nur schwach beleuchtet. Aber diesen Typen erkannte man schon aus 50 Metern Entfernung, auch bei schlechter Sicht. Breit wie ein Schrank, durchtrainiert, mindestens 1,90 Meter groß. Der Kopf eckig wie ein Benzinkanister, mit dem typischen Boxerhaarschnitt – die Haare an den Seiten auf Millimeter rasiert, oben dagegen etwas länger. Eine körperlich beeindruckende Gestalt, Furcht und Respekt einflößend. Die schwarze Lederjacke unterstrich den Eindruck noch. Das war Habib. Wir kannten ihn schon, und er kannte uns. Wir wussten, dass so ein Treffen auf der dunklen Straße keine gute Sache war. Uns beschlich ein mulmiges Gefühl. Aber weglaufen war keine Option, damit hätten wir uns nur selbst erniedrigt. Habib hätte uns ohnehin schnell eingeholt. Und er hatte noch einen anderen Typen dabei, den wir nicht kannten und von dem ich heute nur noch in Erinnerung habe, dass er ein Schwarzer war und dass sich das Weiße in seinen Augen deutlich in seinem Gesicht abhob. Ich war in Begleitung meines Kumpels Philip, mit dem ich seit Jahren Tür an Tür wohnte. Der war zwar nicht so klein wie ich mit meinen damals knapp 1,70 Meter. Aber mit Habib und dem Schwarzen hätte er es auf keinen Fall aufnehmen können. Uns blieb gar nichts anderes übrig: Wir atmeten tief durch und gingen weiter.

Habib war ich zwei Wochen zuvor das erste Mal begegnet. Er hatte mich und meine Kumpels auf der Toilette des Café Ansbach, gleich um die Ecke vom Kaufhaus des Westens, abgezogen. Er hatte es auf meine Uhr abgesehen, doch ich hatte mich geweigert, sie ihm zu geben. Sie war ein Geschenk meines Vaters und hatte einen großen ideellen Wert für mich. Daraufhin hatte er mich gefragt, wer ich bin und wo ich herkomme. Ich sagte die Wahrheit: »Ich bin Jude und ich komme aus Israel.« Ich wartete darauf, dass er mir eine Bombe geben würde, doch Habib sah mich an und sagte: »Okay, du kannst gehen.« Ich war sehr erstaunt und machte mich schnell vom Acker. Diese Begegnung zwei Wochen zuvor ging mir durch den Kopf, als sich Habib und sein Begleiter unmittelbar vor uns aufbauten. Der Schwarze nahm sich Philip vor, zerrte ihn ein paar Meter weiter, und dann gab es erst mal eine ordentliche Schelle zur Einschüchterung. Habib kümmerte sich um mich. Er erinnerte sich an mich, was mich überraschte. Habib war berüchtigt. Es hieß, er gehört zu den Black Panthers, einer bekannten Gang aus dem Wedding. Schon vor meinem ersten Erlebnis mit Habib hatte ich immer mal wieder über ihn reden hören. Jetzt musterte er mich im Dunklen – und wollte wiederum meine Uhr. Das gleiche Spiel wie beim ersten Treffen: Ich weigerte mich. Das kostete wirklich Mut, aber ich blieb standhaft. Nebenan hörte ich das Klatschen, Philip bekam wieder eine ordentliche Backpfeife. Mein Kumpel gab aber keinen Mucks von sich. Dann kam der Schwarze zu uns, er hatte Philip 20 Mark abgenommen. Keine gute Beute, deshalb war er auch nicht wirklich gut drauf. Als er neben mir stand, sagte Habib: »Guck mal, Alter, der ist Jude.« Ehe ich wusste, was geschah, zog der Schwarze ein Messer aus der Tasche, ließ die Klinge herausspringen und hielt sie mir an den Hals. Eine kleine Bewegung und es wäre mein Ende gewesen. Mich zu wehren war völlig unmöglich. Ich war so erstarrt, dass ich nicht einmal Angst hatte. Ich spürte nichts und fühlte nichts – nur die scharfe Spitze der kalten Klinge an meinem Hals. Womit ich in diesem Augenblick rechnete? Ich weiß es nicht, vielleicht mit allem. Mit beschwichtigender Stimme sagte Habib plötzlich zu seinem Begleiter: »Lass ihn mal, der ist in Ordnung.« In derselben Sekunde nahm der Schwarze das Messer von meinem Hals, drückte die Klinge rein und steckte es in die Hosentasche. Ich kann nicht mal sagen, dass ich erleichtert war, denn ich war immer noch erstarrt und zum Denken unfähig. Habib und der Schwarze gingen dann einfach weiter, als sei nichts geschehen.

Philip hielt sich die Wange. Schweigend gingen wir nach Hause. Wir sprachen nicht über das Erlebte, auch später nicht. Wahrscheinlich war es uns beiden irgendwie peinlich. Wir waren die Opfer und hatten uns nicht gewehrt. Aber sich zu wehren wäre für uns viel zu gefährlich gewesen, das war uns bewusst. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich überhaupt mit jemandem darüber redete. Der wirkliche Schock aber kam erst etwas später. Wenige Wochen nach diesem Erlebnis hörte ich eine neue Geschichte über Habib. Man erzählte sich, er habe bei KFC im Europa-Center am Breitscheidplatz einen Security-Mann niedergestochen. Als ich das hörte, wurde mir klar, wie viel Glück ich gehabt hatte. Mein Leben war in der Hand von Leuten gewesen, denen es nichts ausmachte, mal eben zuzustechen und einen Menschen zu verletzen oder gar zu töten. Die ganze Sache hätte auch ganz anders ausgehen können – ich hätte das gleiche Schicksal erleiden können wie der Sicherheitsmann des Fast-Food-Restaurants.

Bis heute frage ich mich, warum Habib mir nichts tat und auch seinen Begleiter davon abhielt. Ich glaube, ihm hat es irgendwie imponiert, dass ich, der kleine, schwache, wehrlose Jude, Haltung gezeigt hatte. Ich hatte mein Judentum nicht verleugnet, obwohl ich mit Prügel hatte rechnen müssen. Und ich hatte mich geweigert, meine Uhr herzugeben, weil sie mir viel bedeutete. Und das gleich zweimal. Ich denke, damit habe ich mir in seinen Augen Respekt verschafft, ganz gleich, ob Jude oder nicht. Das war eine wichtige Lehre für mein weiteres Leben.

Einleitung

Mein Name ist Jonathan Kalmanovich. Ich wurde 1977 in Israel geboren, bin Jude und kam im Alter von knapp vier Jahren 1981 nach Deutschland. Es war nicht meine Entscheidung hierherzukommen. Aber nun wuchs ich in diesem Land auf. Wir lebten in kleinen Verhältnissen in Berlin-Schöneberg. Im Migrantenmilieu, in dem ich aufwuchs, erlebte ich schon als Kind die ersten antisemitischen Vorfälle. Das setzte sich in der Schule fort. Später begann ich zu rappen. Deutschrap hatte eine große Faszination für mich, wurde zu meiner Leidenschaft. Ursprünglich war die Rap-Szene ganz offen, open minded, doch musste ich leider im Laufe der Zeit feststellen, dass sich antisemitische Tendenzen auch hier ausbreiteten. Das kann nicht überraschen, die Rap-Szene ist Teil der Gesellschaft, und so spiegelt sie diese auch wider.

Antisemitismus im modernen Deutschland gibt es auch ohne den Rap. Trotzdem spielt die Rapmusik eine besondere Rolle bei seiner Ausbreitung. Denn sie nimmt den virulenten Antisemitismus nicht nur auf, sondern verstärkt ihn zugleich. Die Rapper hören in ihre Fanbase rein, registrieren, über was dort gesprochen wird, und rappen darüber. Da die Sprache des Rap sehr verroht ist und absolut keine Rücksichten auf Befindlichkeiten anderer oder gar die Political Correctness nimmt, werden die Grenzen dessen, was »man« sagen darf, immer weiter ausgedehnt. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Erfolgreiche Rap-Künstler haben eine riesige, Millionen zählende Fanbase, die aus Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 18 besteht, die meist leicht beeinflussbar sind. Die Glaubwürdigkeit dieser Künstler in den Augen der Jugendlichen ist oftmals viel größer als die von Eltern oder Lehrern. Wenn Rap- Künstler antisemitische Narrative verbreiten wie zum Beispiel, dass alle Juden sehr reich sind und die Juden die Welt kontrollieren wollen, glauben viele Jugendliche das. Vom naiven Gläubigen bis zum waschechten Antisemiten ist es kein weiter Weg. Gerade in Deutschland haben Juden schmerzhaft erfahren, dass aus Gedanken und Worten schnell Taten werden können.

Die Gesellschaft – die Eltern und Lehrer, die Politik – hat die Gefahr, die von diesen einflussreichen antijüdischen und antiisraelischen Rappern ausgeht, überhaupt noch gar nicht erfasst. Diese Bedrohung hängt eng damit zusammen, dass sich im Laufe der Jahre immer mehr arabisch-, türkisch- und iranischstämmige Migranten der Deutschrap-Szene angeschlossen haben. Unter diesen Personengruppen herrscht, das habe ich häufig am eigenen Leib zu spüren bekommen, ein großer Hass auf Juden und auf Israel. Antisemitismus wird dabei oft als Antizionismus verkleidet. Diese Antizionisten behaupten gerne, sie hätten nur etwas gegen Israel, aber nicht gegen die Juden. Das ist grundfalsch, und niemand sollte darauf hereinfallen. Wer den Staat Israel von der Landkarte tilgen will, der will auch die Juden vernichten. Ein solcher hinter dem Antizionismus versteckter Hass auf Juden findet sich nicht nur unter Migranten, sondern auch unter vielen deutschen Linken. Rechtsradikale dagegen bekennen sich eindeutig zu ihrem Hass auf Juden und auf Israel. Ich versuche daher auf den folgenden Seiten auch zu erklären, welchen Stellenwert Israel für viele der in Deutschland und anderen europäischen Ländern lebenden Juden hat – zumal in einer Zeit, in der sich der Antisemitismus immer offener im Alltag äußert und vielen Juden Angst macht. Wenn uns niemand anderes mehr hilft, dann bleibt als letzter Zufluchtsort immer noch Israel. Wäre dieses Land von der Landkarte ausgelöscht, würde es für uns diesen letzten Zufluchtsort nicht mehr geben.

Die hier in aller Kürze beschriebenen Tendenzen haben mich Ende 2017 dazu bewogen, meine sehr erfolgreiche Veranstaltungsreihe »Rap am Mittwoch« aufzugeben. Ich habe die Reihe Rap am Mittwoch acht Jahre lang mit Leib und Seele betrieben. Wir waren mit mehr als 112 Millionen Klicks auf YouTube und bis zu 1000 Besuchern pro Veranstaltung äußerst erfolgreich. Viele später berühmte Deutschrapper haben bei uns ihre erste Chance bekommen, sich vor einem großen Publikum zu beweisen – und sie haben diese Chance genutzt. Zugleich aber wuchs mein Unmut über den Antisemitismus, der sich in dieser Szene seit einigen Jahren immer mehr ausbreitet, so stark, dass ich diese Tendenzen einfach nicht mehr ignorieren konnte. Das gilt sowohl für die Deutschrap-Szene insgesamt wie auch für den Mikrokosmos Rap am Mittwoch und meine persönliche Erlebniswelt. Als es im April 2018 zum Skandal um die Verleihung des »Echo«-Musikpreises an die Deutschrap-Superstars Kollegah und Farid Bang kam, war für mich das Ende der Fahnenstange erreicht. Ich wollte mit dieser Szene nichts mehr zu tun haben und stieg aus. Das war eine schmerzhafte Entscheidung für mich. Dabei ist nicht so entscheidend, dass bestimmte Rapper hin und wieder eine antijüdische Line von sich geben. So etwas geschieht oftmals »nur«, um zu provozieren – was sicherlich schon geschmacklos und schlimm genug ist. Wichtiger ist es, den Background des jeweiligen Künstlers abzuchecken. Nachzusehen, ob er wirklich meint, was er rappt.

Nach meinem Ausstieg bei Rap am Mittwoch entschloss ich mich, dieses Buch zu schreiben. Meine Erfahrungen als Jude in der Deutschrap-Szene sind darin ein wichtiges Thema. Aber es ist nicht das einzige. Es geht in diesem Buch auch um meine Erfahrungen als Jude in Deutschland außerhalb der Rap-Szene, um meine Erfahrungen als Migrant: Ich bin Israeli mit südosteuropäischen Wurzeln, wie man leicht an meinem Nachnamen erkennen kann. Alle diese Dinge hängen untrennbar miteinander zusammen.

Wichtig sind mir aber zwei Punkte: Erstens ist Deutschrap natürlich keine an sich antisemitische Musik. Der größte Teil dieser Musikrichtung hat mit Antisemitismus überhaupt nichts zu tun. Das ist vergleichbar mit dem Verhältnis von Rockmusik und Neonazi-Rock: Nur weil irgendwelche Nazis die Rockmusik als Ausdrucksform für ihren Hass missbrauchen, kann man nicht sagen, die komplette Rockmusik sei rechtsradikal. Es ist nur ein kleiner, aber gefährlicher Ausschnitt. Zweitens bin ich weit davon entfernt zu behaupten, dass alle Araber, Türken oder Iraner Judenhasser sind und uns Juden am liebsten das Messer in den Hals rammen möchten. Ich habe gute Erfahrungen mit Arabern, Türken oder Iranern gemacht und habe einige in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Aber darum geht es in diesem Buch nicht.

Klar ist auch, dass es neben dem Antisemitismus eine ganze Reihe anderer unerfreulicher oder auch gefährlicher Tendenzen im Deutschrap gibt: Verherrlichung von Gewalt und Drogen, eine krasse Frauenfeindlichkeit und Homophobie sind die prägnantesten. Diese Erscheinungen mögen gesellschaftspolitisch relevanter sein als der über die Musik verbreitete Hass auf Juden. Es gibt eben viel mehr Frauen als Juden. Jeder Mensch kann Opfer von Gewalt werden, der Konsum von Drogen ist in nahezu alle Schichten der Bevölkerung vorgedrungen und besonders in der Jugendkultur weit verbreitet. Homosexuelle werden im Alltag nach absoluten Zahlen sicher häufiger diskriminiert als Juden. Aber keine dieser anderen Gruppen in Deutschland hat, vielleicht einmal abgesehen von den Homosexuellen, auch nur annähernd solche Erfahrungen gemacht wie die Juden unter den Nationalsozialisten. Das wirkt – natürlich – auch fast 75 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches nach. Und keine dieser anderen Gruppen fühlt sich in ihrer Existenz bedroht, so wie wir Juden es tun, mögen die anderen Erscheinungen auch noch so diskriminierend und widerwärtig sein.

Wie konnte es in einem aufgeklärten Europa zu Konzentrationslagern und Massenvernichtung kommen? Sie wurden angetrieben vom Hass, den der Antisemitismus in der Bevölkerung heraufbeschworen hatte. Ohne Antisemitismus hätte die industrielle Vernichtung von Menschen keine breite Zustimmung erhalten. Weder allein gegen Schwule, Frauen, geistig oder körperlich Behinderte oder Kommunisten wäre so etwas möglich gewesen. Nur der Antisemitismus als Massenbewegung war stark genug, um die Menschlichkeit komplett zu zersetzen.

Mit dem im Deutschrap verbreiteten Antisemitismus hat die Gesellschaft ein Problem, das sie noch gar nicht richtig erfasst hat. Dieses Buch soll dazu beitragen, sie wachzurütteln. Aber vergessen wir nicht: Der Antisemitismus im Deutschrap ist nur Teil eines größeren Problems – des wachsenden Antisemitismus in der ganzen Gesellschaft.

KAPITEL 1

Von Israel nach Deutschland – meine familiären Wurzeln

An den Tag, der für mein Leben eine so große Bedeutung haben sollte, kann ich mich noch ganz gut erinnern. Ich war gerade mal drei Jahre alt und ein paar Monate. Aber dieser Tag hat sich festgesetzt in meiner Erinnerung. Das Ganze dauerte nur einige Stunden. Wir verließen unsere Wohnung, stiegen in einen Bus und fuhren zum Flughafen nach Tel Aviv. Für mich gab es eigentlich gar keinen Unterschied zwischen dem Bus und dem Flugzeug. Mir war überhaupt nicht bewusst, dass dieses große Ding in der Luft fliegt und anschließend in einem ganz anderen Land landet. Für mich war es gefühlt so, als wenn wir von Be’er Scheva, wo wir eine Zeit lang gewohnt hatten, nach Rechovot fuhren, um meine Großeltern zu besuchen, die dort lebten.

Das haben wir häufig gemacht. Die Fahrt dauerte etwa eineinhalb Stunden, also rund halb so lange wie der Flug, den wir nun antraten. Aber niemand hatte mir gesagt, dass wir in ein anderes Land fliegen und von dort nicht mehr zurückkehren würden. Dieses andere Land war Deutschland. Ich war drei Jahre alt und verstand gar nichts. Was ich aber sehr schnell begriff, war, dass ich wieder zurückwollte, nach Hause.

Es war Herbst, es war kalt, und alles war grau, als wir in Berlin Tegel landeten. Am Flughafen wurden wir von meinem Großvater Saba Alex und meinem Onkel Yura freudig in Empfang genommen, während meine Großmutter Safta Asia zu Hause in Marienfelde geblieben war, um uns zur Begrüßung ein Festmahl zu bereiten. Der lange Weg durch Berlins Innenstadt, über die Stadtautobahn Richtung Süden, wirkte einschüchternd auf mich. Man bekam einen guten Eindruck davon, wie groß diese fremde Stadt war. Kurz bevor wir in Marienfelde ankamen, fuhren wir an der Lankwitzer Dreifaltigkeitskirche vorbei. Es war das erste Mal, dass ich ein gotisches Bauwerk zu Gesicht bekam, und aus irgendeinem Grund machte mir der Anblick Angst.

Schließlich kamen wir in der Wohnung meiner Großeltern in der Maximilian-Kaller-Straße an. Die Haustür öffnete sich, und ich betrat mein neues Zuhause, das für mich so viel Veränderung bedeutete. Safta Asia nahm mich in die Arme und knutschte mich erst mal so richtig ab. Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, erkundete ich die Wohnung. Sie war so ganz anders als diese typischen israelischen Wohnungen, die ich kannte. Die Wände waren mit Tapeten in einem barocken Ornamentmuster versehen. Die Böden waren in allen Zimmern, außer der Küche und dem Bad, mit Teppichboden bedeckt. Es gab keine Wohnzimmerveranda wie in Israel, sondern nur einen kleinen Balkon mit Blick auf eine breite Wiese, die von großen Bäumen gesäumt war. Solche Bäume gab es in Israel nicht, und ihre Blätter waren nicht grün, sondern gelb, braun und orange.

Als ich am nächsten Morgen noch mal vom Balkon aus auf diese Wiese schaute, hoppelten dort Kaninchen herum. Es war schön und gleichzeitig ganz anders. Von nun an sah ich jeden Morgen aus dem Fenster, um die Kaninchen zu beobachten. Eines Tages, ein paar Wochen später, erlebte ich eine große Überraschung: Alles war weiß. Es hatte über Nacht geschneit, und der Schnee lag kniehoch. Für Berlin war es der erste Schnee des Jahres. Für mich aber war es der erste Schnee meines Lebens. Ich kam aus einem Land mit viel Sonne, Wärme und Palmen. Willkommen in einer anderen Welt!

Aber das war bei Weitem nicht die einzige Veränderung für mich. Die Sprache, mit der ich aufgewachsen war, war Hebräisch, Deutsch konnte ich überhaupt nicht. Meine Eltern hatten sich darüber, wie das Leben für mich in dieser neuen Welt sein würde, gar keine Gedanken gemacht, bevor wir uns in Israel auf den Weg gemacht hatten. Erst später erklärten sie mir, was passiert war. Sie wussten es wohl zu Beginn selbst nicht: Denn eigentlich wollten wir ja nur die Eltern meiner Mutter besuchen, die seit zwei Jahren in Deutschland lebten. Wahrscheinlich glaubten sie, ich würde in meinem Alter all die Veränderungen gar nicht mitbekommen. Aber nun waren wir angekommen in dieser riesigen Stadt, die aussah wie eine große Betonwüste und die auch noch durch eine Mauer in zwei Hälften geteilt war. Man schrieb das Jahr 1981.

Schon kurz nach unserem Umzug nach Berlin fing ich an, Davidsterne zu malen. Wenn ich irgendwo saß und etwas zum Zeichnen und Papier zwischen die Finger bekam, malte ich Davidsterne, überall. Warum? Ich glaube, sie waren das, woran ich mich am besten erinnern konnte aus meinen ersten gut drei Lebensjahren in Israel, meinem Heimatland. Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass man sie in Israel überall und ständig sieht. Überall im Land hängt die Landesfahne, an öffentlichen Gebäuden oder an Wohnhäusern. In Berlin sah ich sie überhaupt nicht. Damals hängten die Deutschen ja kaum ihre eigene Fahne auf, das kam erst mit der Fußballweltmeisterschaft 2006. Seitdem ist das ganz normal, und das ist auch gut so. Aber die Fahne Israels sah ich nirgends, also fing ich an, Davidsterne zu malen. Das mache ich übrigens noch heute gerne und oft.

Geboren wurde ich 1977 als Jonathan Kalmanovich in Rechovot. Das ist eine Stadt, die heute etwa 135 000 Einwohner hat und 20 Kilometer südlich von Tel Aviv liegt. Die Stadt wurde 1890 von russischen und polnischen Juden gegründet, knapp 20 Jahre später kamen Einwanderer aus dem Jemen dazu. Vor der Ankunft der Juden hatten in dem Gebiet nur ein paar versprengte Beduinen gelebt. Obstanbau spielte hier immer eine große Rolle, und heute ist Rechovot das Zentrum der Saftproduktion des Landes. Es ist aber auch eine Stadt der Wissenschaft, denn hier ist das berühmte Weizmann-Institut für Physik und Chemie beheimatet. Das Wappen Rechovots besteht daher auch aus einem Mikroskop und drei Orangen.

Meine Mutter Bella war mit 19 Jahren ziemlich jung, als sie mich bekam. Mein Vater Shlomo war drei Jahre älter. Er kam 1955 in Israel zur Welt, und wie ich wurde auch mein Vater in Rechovot geboren, sogar im selben Krankenhaus. Seine Eltern waren aus Rumänien kurz vor der Staatsgründung mit dem Schiff über einen Zwischenaufenthalt im Lager für Displaced People auf Zypern nach Israel gelangt.

Die Familie meiner Mutter stammte aus Odessa. Heute liegt die Stadt in der inzwischen ja selbstständigen Ukraine, vorher gehörte die ganze Ukraine zur Sowjetunion. Odessa hatte früher eine sehr große jüdische Gemeinde. Um 1900 war fast die Hälfte der Bevölkerung jüdisch. Berühmt war das Viertel Moldawanka, das damals ein Zentrum des jüdischen Lebens war, aber auch ein krimineller Hotspot; ihm wurde in den Geschichten aus Odessa von Isaak Babel ein literarisches Denkmal gesetzt. Im Laufe der Geschichte kam es in Odessa immer mal wieder zu Pogromen gegen die Juden, so zum Beispiel 1871, 1881 und 1905. Im Jahr 1941 griffen die Rumänen als Verbündete des Dritten Reiches Odessa an und besetzten es schließlich im Oktober. Für die Juden begann eine grausame Leidenszeit. In den folgenden drei Jahren war Odessa von rumänischen und deutschen Truppen besetzt. In dieser Zeit wurden etwa 60 000 Einwohner ermordet oder deportiert – und die meisten von ihnen waren Juden. Bei einem Massaker kurz nach der Besetzung wurden von den Rumänen allein 30 000 Juden ermordet.

Hier lebte also die Familie meiner Mutter. Meine Urgroßmutter Tscharna hat als Krankenschwester gearbeitet und den Krieg voll miterlebt, als sie verletzte russische Soldaten versorgte. Mein Urgroßvater Grischa war bei den Partisanen, kämpfte gegen die Deutschen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Ich habe ihn noch kennengelernt, aber ich war damals noch ein Kind. Er hatte Glück, denn die Deutschen bemerkten nicht, dass er Jude war. Er passte nämlich gar nicht in ihr rassistisches Klischee vom »typischen Juden«, weil er blond und blauäugig war. So kam er mit dem Leben davon. Wenn er enttarnt worden wäre, wäre er gewiss erschossen oder in ein Vernichtungslager deportiert worden. Seinen Nachnamen hat er den Deutschen nicht preisgegeben. Denn er hieß Talis, ein absolut jüdischer Nachname. Um genau zu sein, entspricht dieser Name der jiddischen Version des hebräischen Wortes Tallit. Der Tallit ist der traditionelle jüdische Gebetsumhang, den sich jüdische Männer während des Gebets über Kopf und Schulter legen. Es ist wirklich gut, dass die Deutschen diesen Namen nicht kannten!

Mein Opa Alexander, sein Zwillingsbruder und seine gesamte Familie kamen aus Berschad im Westen der Ukraine. Wahrscheinlich stammte die Familie ursprünglich aus Königsberg, dem heutigen Kaliningrad. Während des Krieges wurden sie von der deutschen Wehrmacht in Berschad eingekreist und konnten nicht mehr flüchten. Meine Mutter erzählte mir, dass die Familie fliehen wollte, aber es war schon zu spät. Nach der Besatzung wurden die Zeiten sehr schwer. Der Hunger breitete sich immer weiter aus. Um zu überleben, mussten sie Brot stehlen und Streichhölzer verkaufen. Dann aber wurden mein Opa und sein Bruder in das Ghetto von Berschad getrieben. Es war schon wenige Wochen nach dem Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion Ende Juli 1941 eingerichtet worden und wurde zum größten Ghetto für Juden aus Transnistrien. Bis zu 25 000 Bewohner lebten hier unter erbärmlichen Bedingungen in einem kleinen, abgeriegelten Gebiet, das zwölf Straßen umfasste. In jedes Haus wurden bis zu 60 Menschen gepfercht. Bei einer Typhusepidemie kamen binnen kurzer Zeit 16 000 Juden ums Leben. Auch Alexanders Zwillingsbruder erkrankte irgendwann und starb. Alexander überlebte die Epidemie und schaffte es irgendwie, im Ghetto zu überleben.

Saba Alex war nur etwas über 1,70 Meter groß. Er hatte sanfte blaue Augen und dunkle, etwas längere, nach hinten gekämmte Haare. Schon früh entwickelte er Geheimratsecken, aber das machte ihn für die Damenwelt nur attraktiver. Er kleidete sich gerne elegant, war schlank und bewegte sich mit einer gewissen Leichtigkeit, weil er auch ein guter Tänzer war. Er war ein Gentleman der alten Schule und ein Schöngeist. Trotz seiner Schmächtigkeit war er ein zäher Mann, sonst hätte er die Zeit des Krieges nicht überlebt. Er selbst sagte, dass das Regiment der rumänischen Nazi-Verbündeten, die das Gebiet bald verwalteten, etwas weniger grausam war als die vorausgegangene Schreckensherrschaft der deutschen Nazis. In Odessa allerdings soll die Brutalität der rumänischen Besatzer den Nazis in nichts nachgestanden haben. Alexander, der von den meisten Erwachsenen liebevoll Sascha genannt wurde, erzählte später niemals etwas über diese Zeit. Das änderte sich auch nicht, als meine Mutter ihn bewusst darauf ansprach. Die Erinnerung muss sehr schmerzvoll für ihn gewesen sein, zu viele schlimme Ereignisse hatten sich in seine Seele eingebrannt. Heute ärgere ich mich, dass ich ihn nicht dazu bringen konnte, seine Geschichte mit mir zu teilen. Mich würde so wahnsinnig interessieren, was er erlebt – und vor allem, wie er das alles überlebt hat. Er ist aber seit einigen Jahren tot. Als er noch lebte, hüllte er sich in Schweigen. Wenn ich versuchte, mehr zu erfahren, wurde ich von meiner Mutter davon abgehalten. Es hieß einfach, dass er es nicht verkraften würde, über diese Zeit in seinem Leben zu sprechen. Er hatte immer wieder Nächte, in denen er schweißgebadet und völlig verängstigt aus Albträumen aufwachte. Meine Oma musste ihn dann minutenlang beruhigen. Wenn sie am nächsten Tag meiner Mutter davon berichtete, machte sie sich immer große Sorgen. Obwohl es mich sehr interessierte und ich recht früh anfing, mich mit der Geschichte meines Volkes, des jüdischen, zu beschäftigen, gab ich es irgendwann auf, etwas aus ihm herauszubekommen. Heute denke ich oft, ich hätte es versuchen sollen, ganz behutsam. Ob er mir etwas von damals erzählt hätte, weiß ich nicht. Aber ich hätte es versuchen sollen.

Meine Großmutter Asia, die spätere Ehefrau meines Opas Alexander und Mutter meiner Mutter, wurde in Odessa geboren und dann wie viele andere Kinder aus dieser Region von den sowjetischen Behörden nach Kasan evakuiert. Safta Asia wer eine recht kleine Frau, gerade mal etwas über 1,50 Meter. Weil sie teilweise von einer sephardischen Familie abstammte, war sie insgesamt ein dunkler Typ – schwarze Haare, dunkler Teint, und ihre Augen waren fast schwarz. In ihrer Jugend war sie Schwimmerin, deswegen blieb sie zeit ihres Lebens körperlich robust und sportlich. Sie entwickelte sich zu einer sehr warmherzigen Person, wurde eine überragende Köchin, tanzte gerne und konnte sehr gut singen.

Die Familie meines Vaters Shlomo hingegen stammte aus Botoschan, einer Stadt in der gleichnamigen Provinz im Nordosten Rumäniens, recht nah an der Grenze zur Ukraine im Norden und Moldawien im Osten. Sein Vater Aryeh Kalmanovich, also mein anderer Großvater, hatte neun Brüder, er selbst war das zweitjüngste Kind. Auch Saba Aryeh war nicht gerade groß gewachsen, hatte hellbraunes Haar und sehr gütige braune Augen. Er war von kräftiger Statur, hatte breite Schultern und große Hände, die anpacken konnten. Er liebte es zu grillen und kannte sich gut mit Autos aus. Schachspielen war seine große Leidenschaft. Er erzählte mir mal, dass er in einem Lager für Displaced Persons auf Zypern, in dem er sich nach dem Krieg eine Weile aufhielt, ein großes Schachturnier gewonnen hatte. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber ich fand diese Geschichte so spannend, dass ich mit sechs Jahren unbedingt Schachspielen lernen wollte. Er brachte es mir bei, und das wurde unser gemeinsames Ritual.

Die Familie hatte einen Landwirtschaftsbetrieb mit einer Pferde- und Rinderzucht, und es ging ihr ziemlich gut. In Europa war es damals eine absolute Ausnahme, wenn Juden in der Landwirtschaft arbeiten durften. Landbesitz war ihnen in den meisten Ländern sogar komplett verboten, so auch in Rumänien. Aber dort konnte man mit Bestechungen Ausnahmen erwirken, anders als in anderen europäischen Ländern. Allerdings gab es auch in Rumänien immer wieder Perioden, in denen es den Juden besonders schwer gemacht wurde. Zum Beispiel nach 1866, als den Juden per Gesetz die rumänische Staatsbürgerschaft verweigert wurde. Hinzu kamen Ausgrenzungen im Bildungswesen und bei der Berufswahl. Als dann aber der Zweite Weltkrieg ausbrach und Rumänien sich mit den Nazis verbündete, wurde die Lage um einiges schlimmer. So ereigneten sich in der Region in den Jahre 1940 und 1941 zwei grausame Pogrome an den Juden Rumäniens. Dabei wurden über 20 000 Juden von deutschen und rumänischen Soldaten ermordet.

Aryeh bedeutet Löwe, das hat mir als Kind immer sehr gefallen. Aryeh war ein starker, kämpferischer, beeindruckender Mann, der Name passte also gut zu ihm. Aber auch er mochte nicht über die damalige Zeit reden. Es wurde immer nur gesagt, das sei eine schwere Zeit gewesen und man habe Glück gehabt. Es wurde nicht geredet, sei es aus Schmerz oder Scham. Ich frage mich, woher die Scham damals kam. In den ersten zehn Jahren nach der Staatsgründung in Israel war es ein großes Tabuthema, das änderte sich erst mit dem Eichmann-Prozess 1961. Es wurde in der Öffentlichkeit einfach nicht über die Opferrolle der Juden während des Holocausts gesprochen. Ich denke, es lag auch daran, dass die israelische Gesellschaft die Tatsache, dass sich Millionen Juden nahezu widerstandslos zur Schlachtbank haben führen lassen, unbegreiflich fand. Da Israel von Nationen umgeben ist, die von seiner Vernichtung träumen, wurde man zwangsläufig dazu erzogen, wehrhaft zu sein.

Schließlich wurde Israel bereits 24 Stunden nach seiner Gründung von fast allen arabischen Nachbarstaaten angegriffen. Aber der kleine David wehrte sich. Er wehrte sich das erste Mal nach vielen tausend Jahren gegen einen großen Goliath. Aus dem wehrlosen Ghettojuden wurde ein wehrhafter Israeli. Und der Zionismus, also der Wunsch nach Selbstbestimmung in einem jüdischen Staat, sollte genau diese Mentalität hervorbringen. Da passte es einfach nicht, sich daran zu erinnern, wie Millionen Juden in Viehwaggons gepfercht und in die Gaskammern getrieben wurden, ohne sich zu wehren. Das gilt besonders für die ersten Jahre nach der Shoa und nach der Gründung Israels. Aus Scham und aus dem Willen, neu anzufangen, bildete sich eine Kultur des Schweigens. Erst seit einigen Jahrzehnten wird viel mehr darauf geachtet, dass die ganzen alten Erinnerungen und Zeugenaussagen konserviert werden.

Meine Familie erlebte Vernichtung, Flucht, Vertreibung, Emigration, Ghettoisierung, Hunger und Elend durch die Nazis und ihre Verbündeten. Am schlimmsten traf es die Familie meiner Großmutter väterlicherseits, Frida. Mitglieder aus ihrer Familie wurden in Lager deportiert und ermordet. Eine ihrer Verwandten wurde vom »Todesengel von Auschwitz«, Josef Mengele, zwangssterilisiert, damit sie sich nicht fortpflanzen konnte. Frida aber versteckte sich in Botoschan, und ihr gelang es irgendwie zu überleben. Sie stammte aus einer sehr religiösen Familie, die sogar einige Rabbiner hervorgebracht hat, darauf war sie sehr stolz. Sie hatte ein sehr hübsches Gesicht mit dunkelbraunen Augen und einer feinen Nase. Auch ihre Haare waren dunkelbraun, fast schwarz, und sehr lockig. Ihre Statur war schlank und zierlich. Wenn sie lachte, konnte sie damit einen ganzen Raum anstecken. Auch sie war eine überragende Köchin. Nach getaner Arbeit rauchte sie sehr gerne mal eine Zigarette.

Frida gelangte zwei Jahre nach dem Ende des Krieges gemeinsam mit meinem Großvater an Bord des Flüchtlingsschiffs Pan York auf die Mittelmeerinsel Zypern, wo sie in einem Lager für jüdische Displaced Persons interniert wurde – dort, wo mein Opa das Schachtunier gewonnen haben wollte. Hier waren Juden untergebracht, die aus ihrer Heimat verjagt oder deportiert worden waren, aber Krieg und Shoa überlebt hatten. Nun wollten sie nicht mehr dahin zurück, woher sie kamen. Das betraf sehr viele Juden, die aus der Ukraine, aus Polen, Rumänien oder anderen osteuropäischen Staaten kamen. Einige dieser Länder waren mit den Nazis verbündet gewesen, und nach dem Krieg regierten dort die Kommunisten. Aber in der Vergangenheit hatte es überall in Europa Pogrome gegeben. Egal wo, überall wurden die Juden gehasst. Warum also dorthin zurückkehren? Frida gelangte also ins Lager nach Zypern – und hier lernte sie Aryeh kennen, der ebenfalls in diesem Lager festsaß. Beide waren Zionisten. Ihnen war klar, dass es für sie nur einen Ort auf der Welt geben konnte, an den sie unbedingt gelangen wollten: Palästina. Dort wollten sie selbstbestimmt leben. Ohne Angst, ohne Verfolgung. Sie waren jung und wollten dabei helfen, einen jüdischen Staat zu gründen.

Mein Opa Aryeh war ein junger, starker und widerstandsfähiger Mann. Durch irgendwelche Hindernisse ließ er sich nicht von seinem Plan abbringen. Gemeinsam mit Frida wanderte er 1948, kurz vor der Staatsgründung Israels, in Palästina ein. Er war überzeugter Zionist, während mein anderer Opa Kommunist war. Zu der Zeit wurde die Einreise von Juden nach Palästina stark eingeschränkt, was in den Displaced-Persons-Lagern immer wieder zu Demonstrationen führte. Großbritannien war damals Mandatsmacht für Palästina und konnte damit faktisch die Einreisepolitik dorthin bestimmen. Es gab verschiedene jüdische Organisationen, die Schiffe anheuerten, um heimlich jüdische Einwanderer an Land zu bringen, die in Palästina, dem historischen Heimatland der Juden, ein neues Leben beginnen wollten. Die meisten Schiffe wurden aufgegriffen, so auch die Pan York, aber nach ein paar Monaten im Flüchtlingslager auf Zypern gelang ihnen mithilfe der zionistischen Jugendorganisation Gordonia die Überfahrt. Dabei handelte es sich um eine Organisation, die die Gründung von Kibbuzim und das Wiederbeleben der hebräischen Sprache förderte.

Aryeh kämpfte in den folgenden Jahren für die Integration der rumänischen Juden, die nach Israel kamen und nichts hatten als ihr Leben. Er wurde zu einem echten Aktivisten und half vielen rumänischen Juden dabei, gegenüber Nachkriegsdeutschland ihr Recht auf Reparationszahlungen geltend zu machen. Sonst war er sehr schweigsam, was seine frühen Tätigkeiten in Israel betraf. Er gründete eine Geflügelfarm, die aber nach einer Vogelgrippe-Epidemie pleiteging, und arbeitete später bei Sunfrost, einem großen israelischen Lebensmittelkonzern, als Schichtleiter. Aber da war mehr, das ahnte ich schon als Kind. Nur darüber redete auch Saba Aryeh nicht.

Bis zu dem Tag, als ich in Israel wieder bei meinen Großeltern zu Besuch war und in einem seiner Regale ein Buch über eine berühmte israelische Kampftruppe der Marinestreitkräfte fand. Ihr Name lautete Schajetet 13. Das ist eine hoch spezialisierte und hervorragend ausgebildete Marineeinheit, die 1949 gegründet wurde. Sie ist unter anderem mit Angriffsbooten ausgerüstet. Wer sich für die Schajetet 13 bewirbt, muss topfit sein, die Ausbildung dauert sehr lange und ist sehr strapaziös. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte sie sich in den verschiedenen Kriegen, in denen Israel von seinen feindlich gesinnten arabischen Nachbarstaaten angegriffen wurde, zu einer echten Eliteeinheit entwickelt.

Ich sah dieses Buch, griff es mir und blätterte darin. Mein Opa fragte mich, ob ich diese Einheit kannte, und ich nickte. Von der Schajetet 13 hatte ich schon mal gehört. Da zeigte er auf ein Bild in dem Buch und fragte: »Weißt du, wer das ist?« Rasch erkannte ich, wer darauf abgebildet war: mein Opa. Er befand sich auf einem kleinen Schnellboot. Das Ruder in der Hand haltend, selbstbewusst nach vorne schauend. Ich schätze, er wird da etwa Mitte 20 gewesen sein. Ich war überrascht und ziemlich beeindruckt. Aus heutiger Sicht komplettiert diese Entdeckung das Bild, das ich von meinem Opa hatte. So wurde er ständig von allen möglichen Leuten auf der Straße gegrüßt, wenn ich während meiner Besuche in Israel mit ihm durch die Stadt ging. Er war ein bekannter Mensch. Es gibt auch Bilder von ihm, auf denen er händeschüttelnd mit Schimon Peres zu sehen ist. Diesen Politiker, der Ministerpräsident und später Staatspräsident war und Träger des Friedensnobelpreises, hat er immer bewundert. Er war auch Anhänger der Arbeiterpartei, der Peres angehörte. Ja, so war mein Opa. Aryeh bedeutet Löwe, das habe ich nie vergessen.

Meine Großeltern Aryeh und Frida waren die Ersten, die nach dem Krieg nach Israel eingewandert waren, Aryehs Geschwister kamen dann nach und nach dazu. Aber längst nicht alle Teile meiner Familie wollten ursprünglich in dieses kleine Land mitten in der Wüste, dessen Existenz durchaus unsicher war und das stets wehrhaft und verteidigungsbereit sein musste. Eine ganze Reihe Verwandter des ukrainischen beziehungsweise sowjetischen Zweigs wollte von dort auswandern, aber ihr Ziel waren eigentlich die USA. Der Bruder meiner Oma zum Beispiel ging dorthin und baute sich erfolgreich eine neue Existenz auf. Als seine jüngere Schwester dann auch nach Amerika auswandern wollte, zeigte sich, dass es nicht so einfach war, von der Sowjetunion in die USA einzureisen. Also landeten viele Familienmitglieder doch in Israel, das war zu Beginn der 1970er-Jahre. Auch meine Mutter kam um diese Zeit nach Israel, da war sie etwa 14 Jahre alt. Zufälligerweise sind meine Mutter und ihre Eltern dann in die Stadt Rechovot gezogen, in der die Familie meines Vaters lebte. Sie sind sogar in die Straße gezogen, in der mein Vater wohnte – was für ein Zufall! Meine Eltern haben sich gleich beim Einzug meiner Mutter kennengelernt, weil mein Vater den neuen Nachbarn auf Geheiß von Großmutter Frida beim Umzug helfen sollte. Meine Mutter ist dann ganz normal zur Schule gegangen. Sie spricht sehr gutes Hebräisch, bis heute. Mein Opa Alexander arbeitete in Israel als Bauingenieur in einer Baufirma. Auch mein Uropa Grischa kam kurze Zeit später mit meiner Uroma Tscharna nach Israel und arbeitete dort in einer Fleischerei.

Oma Asia und Uropa Grischa kamen in Israel gut zurecht, aber für Opa Alex kann man das überhaupt nicht sagen. Von der Mentalität war er einfach zu europäisch für dieses Israel, das er als barbarisch empfand. Die Mentalität der Israelis ist stark geprägt von den Einflüssen des Nahen Ostens. Mein Opa aber war ein Intellektueller, ein Akademiker. Er liebte Konzerte und das Ballett und schätzte die gehobene, anspruchsvolle Unterhaltung. Europäische Manieren waren ihm wichtig. Und er war auch einfach recht hellhäutig, sodass das trockene und heiße Klima schwer für ihn zu ertragen war. Für meine Oma war das alles kein Problem, sie war eine starke und robuste Frau. Meine Oma liebte Israel sehr, sie hat sich ziemlich schnell eingelebt und die Sprache gelernt. Das Klima machte ihr keine Probleme, und sie konnte bald in ihrem Beruf als Krankenschwester arbeiten. Sie hat sich wunderbar dort integriert. Aber meinem Großvater ging es nicht gut in Israel, und so sollten Alexander und Asia das Land bald wieder verlassen.

Von der Familie meines Vaters sind alle gut in Israel angekommen. Das war eine Großfamilie, da half und stützte man sich gegenseitig. Mein Opa Aryeh mit seinem glühenden Zionismus war in Israel perfekt aufgehoben. Die Familie baute sich dann in Rechovot ihren Lebensmittelpunkt auf. Meine Oma Frida lebt heute noch in der Wohnung, die sie sich damals gekauft haben. Mein Vater kam 1955 auf die Welt, meine Tante Monica wurde drei oder vier Jahre später geboren, und mein Onkel Israel noch einmal vier oder fünf Jahre später.

Mein Vater galt als Jugendlicher als schwer erziehbar und hatte eine Menge Probleme. Das ging über Jahrzehnte so, auch als er längst ein erwachsener Mann war. Heute wissen wir, dass er wohl schon seit seinem frühen Erwachsensein an einer Unterform der bipolaren Störung leidet, die aber erst jetzt wirklich behandelt wird. Tante Monica ist am besten klargekommen, sie ist Lehrerin geworden. Onkel Israel dagegen, der jüngere Bruder meines Vaters, hatte ein tragisches Schicksal. Als Kind lernte ich ihn als einen unfassbar lieben, lustigen, intelligenten und talentierten jungen Mann kennen. Dann kam er zur Armee. Ich weiß noch, wie ich einmal zu Besuch kam und in seinem Zimmer ein M16-Gewehr aufgestellt war. Das war für mich als kleinen Jungen natürlich spannend.

Später war er als Verbindungsoffizier Funker in einer Kampfeinheit der Infanterie, die während der ersten Intifada ab 1987 im sogenannten Westjordanland stationiert war. Der Armeejeep, mit dem er unterwegs war, wurde von einem aufgebrachten Mob von Terroristen mit Molotowcocktails beworfen. Einige seiner Kameraden sind im Auto verbrannt. Mein Onkel selbst kam irgendwie noch raus. Aber dieses Erlebnis hat ihn schwer mitgenommen, er leidet seit diesem Tag an einer posttraumatischen Belastungsstörung. In Israel gibt es sehr viele Veteranen, die an dieser Krankheit leiden. Aus heutiger Sicht muss ich wirklich sagen, dass Onkel Israel schon immer eher ein talentierter und sensibler Künstlertyp war, viel mehr ein Poet als ein Soldat. Er war psychisch überhaupt nicht für den Dienst in so einer Einheit geschaffen. Nach diesem Erlebnis war er ein völlig veränderter Mensch. Er schlief nur noch, an vielen Tagen stand er gar nicht mehr aus dem Bett auf. Er wurde sehr dick, und wenn man versuchte, mit ihm ein vernünftiges Gespräch zu führen, begann er zu schreien. An jenem tragischen Tag irgendwo in der Westbank rettete sich mein Onkel Israel aus diesem brennenden Jeep, aber sein Verstand ist leider darin verbrannt.

Meine kurze Kindheit in Israel verlief wohl ganz normal. Die Zeit, die ich in meinem Geburtsland gelebt habe, ist in der Erinnerung ziemlich verblasst. Kein Wunder, ich war ja erst drei, als wir gingen. Aber an einige Dinge kann ich mich doch erinnern. Das geht wohl jedem Menschen so, und oft weiß man gar nicht, warum man sich nun eigentlich genau an diese oder jene Begebenheit erinnert, obwohl sie doch gar nichts Besonderes darstellt. Meine frühste Kindheitserinnerung stammt aus der Zeit, als ich zwei oder zweieinhalb Jahre alt war. Sie hat sich sogar als ziemlich starkes Bild in meinem Gedächtnis festgesetzt. Wir lebten zu dritt – meine Eltern und ich, meine Schwester Sharon wurde erst ein paar Jahre später in Berlin geboren – in einer Dreizimmerwohnung. Mein Kinderzimmer hatte so eine merkwürdige mintgrüne Wandfarbe. Ich wachte eines Morgens auf und schaute auf diese grüne Wand. Darin war ein klitzekleines Loch, und aus dem krabbelten Ameisen heraus, eine hinter der anderen. Eine Ameisenstraße über meinem Kinderbett – so marode war die Bausubstanz unseres Hauses damals, wie die meisten Häuser in Israel. Ich ekelte mich nicht vor den Ameisen oder ließ mich sonst irgendwie von ihnen stören. Mit meinen kleinen Fingern nahm ich eine der Ameisen wie mit einer Pinzette auf und steckte sie in Mund. Ich hatte schon kleine Zähnchen und kann mich noch genau an das Knacken im Mund erinnern, als ich draufbiss.

Ich kann mich auch noch genau an unsere Wohnung und ihren Grundriss erinnern. Man trat ein, und vom Flur gleich rechts kam als Erstes die Küche. Lief man weiter den Flur entlang, ging, wiederum rechts, das Wohnzimmer ab. Das war so ein typisches israelisches Wohnzimmer mit einer Veranda, die durch Schiebetüren abgetrennt war. Der Boden war gefliest mit diesen typischen beigen Steinfliesen mit Intarsien, die nahezu in allen Gebäuden der damaligen Zeit verwendet wurden. Wenn man den Flur weiter durchging, kam mein Kinderzimmer mit der Ameisenstraße, und ganz am Ende des Flurs gelangte man schließlich zum Schlafzimmer meiner Eltern. Mehr Zimmer brauchten wir damals nicht. Das Haus, in dem wir wohnten, stand auf Stelzen, so wie viele Häuser damals in Israel. Darunter waren oft die Autos geparkt. In den 1940er- und 50er-Jahren entschied man sich für diese Bauweise wegen des sandigen Bodens. Die Stelzen sollten mit den Jahren tiefer ins Erdreich einsinken und das Gebäude stabiler im Boden verankern.