BERLIN ZOMBIE CITY - Kalle Max Hofmann - E-Book

BERLIN ZOMBIE CITY E-Book

Kalle Max Hofmann

0,0

Beschreibung

Als Ben nach einer Bootstour im Stadthafen Berlin-Tempelhof anlegt, ist nichts wie zuvor: Eine aggressive Erkrankung hat den Großteil der Bevölkerung zu tollwütigen, hirnlosen Wilden gemacht. An jeder Ecke lauert der Tod, aber Ben hat keine Wahl – er muss unbedingt seine Freundin erreichen, um mit ihr fliehen zu können. Doch drei Millionen Zombies stehen diesem Ziel im Wege.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 352

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Berlin Zombie City

Impressum

Deutsche Erstausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-443-2

Du liest gern spannende Bücher? Dann folge dem LUZIFER Verlag aufFacebook | Twitter | Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf deinem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn du uns dies per Mail an [email protected] meldest und das Problem kurz schilderst. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um dein Anliegen und senden dir kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche dir keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Berlin Zombie City
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
Kalle Max Hofmann

Kapitel 1

BRANDENBURG

15:30 Uhr

Kein Lebenszeichen. Absolute Totenstille. Erneut formte Ben einen Trichter mit seinen Händen.

»Hallo! Hallo?«

Nichts. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Vielleicht war der Typ gerade im Gebüsch, pinkeln. Hoffentlich friert ihm der Schniedel ab, dachte Ben, als eine kalte Windböe durch seinen Kapuzenpulli drang. Er hasste es, zu warten, aber im Moment konnte er wirklich nichts tun. Die letzten Tage hatten ihm sowieso mal wieder deutlich gezeigt, dass ein bisschen Ruhe nie schaden kann. Also setzte er sich auf das Kabinendach seines Bootes und atmete erst einmal tief durch.

Trotz seiner guten Vorsätze wanderte sein Blick sofort wieder von der Wasserkante an den moderigen Wänden der Schleuse hinauf zu dem kleinen Wärterhäuschen. Ben musste unwillkürlich lächeln, als ihm klar wurde, wie ausgeprägt und tief verwurzelt seine Ungeduld war. Tanja hatte wahrscheinlich recht, da könnte er mal dran arbeiten.

Er hob eine Pobacke an, griff in seine Gesäßtasche und zog das Foto hervor. Ihre tiefblauen Augen leuchteten wie immer, doch ansonsten sah das Bild inzwischen ziemlich mitgenommen aus. Kopfschüttelnd drehte Ben es um und betrachtete die Leukoplast-Streifen auf der Rückseite, die das Ganze zusammen hielten. Warum war er nur so verdammt impulsiv? Sich einfach alleine auf das Boot zu verpissen … und der viele Alkohol. Der hatte seine Wut nur noch mehr angestachelt und dadurch einige Opfer gefordert. Abgesehen von diversen Schürfwunden und blauen Flecken war als Erstes sein Handy über Bord gegangen.

Aber zumindest das ging teilweise auch auf Tanjas Konto. Sie hätte ja nicht andauernd so penetrant anrufen müssen. Okay, man kann ein Telefon auch abstellen. Aber nicht, wenn man Benjamin Jovanovic heißt und der beste Kumpel Jack Daniels. Eigentlich ein falscher Freund, wie Ben dann festgestellt hatte, nachdem er das Bild von Tanja zerrissen hatte. Und auch Old Jack sollte seinen Zorn spüren, die verdammte Flasche bekam von ihm Flugstunden erteilt. Natürlich hatte er nicht mit Absicht auf die Steuerkonsole gezielt und auch nicht damit gerechnet, dass die fiese Spirituose einen dicken Kurzschluss in der Bordelektronik auslösen würde. Doch nun saß er hier.

Der gellende Aufschrei einer Krähe ließ Ben aus seinen Erinnerungen hochschrecken. Seine Nackenhaare stellten sich auf, es musste an der Kälte liegen. Wo war dieser Vogel? Nirgends zu sehen. Ben kam sich vor wie lebendig eingemauert. Und wo war dieser beknackte Schleusenwart? Wenn jeder seinen Job so machen würde, dann gute Nacht.

Außer ein paar Büschen und Baumwipfeln konnte Ben nicht viel sehen. Es war bestimmt schön da oben, die tief stehende Sonne tauchte die schon ziemlich kahlen Bäume in ein goldenes Licht. Das sah wirklich warm aus, und er musste hier unten frieren, in seinem Betonsarg. Ätzend.

Ben versuchte, die Kapuze noch enger zu machen, aber die Kälte war ihm längst in die Knochen gefahren. Jetzt überkam ihn wieder eine dieser typischen Wellen von Aktionsdrang; er sprang wie von der Tarantel gestochen auf und machte ein paar unkontrollierte, zappelnde Bewegungen.

»HALLOOOOOO?!?«, schrie er aus voller Kehle, wobei er sich über das unerwartet starke Echo fast ein bisschen erschrak. Das dämpfte seinen Ausbruch, aber seine Geduld war eindeutig zu Ende. Der ganze Trip war eine Schnapsidee gewesen. Ihm war inzwischen klar, dass Tanja das nicht mit Absicht getan hatte. Oder etwa doch? Sofort begann es in Ben wieder zu kochen. Hitze schoss in sein Gesicht. Es war eine verdammt beschissene Situation, aber er musste das jetzt regeln. Genau wie die Sache mit der Schleuse.

Ben schnappte sich den Bootshaken, stemmte ihn an die gegenüberliegende Wand und lehnte sich mit aller Kraft hinein. Während er aggressiv aufstöhnte, bewegte sich das Boot widerwillig und lautlos auf die Metallleiter zu, die einen Ausweg aus dieser Sackgasse versprach. Von der Anstrengung war Ben schon regelrecht heiß, er riss sich die Kapuze vom Kopf und ließ den Bootshaken genervt aufs Deck fallen. Für irgendwelche Sicherungsmaßnahmen hatte er jetzt keine Geduld mehr; es war Zeit für Piraten-Action. Nach einem angewiderten Blick auf die angerostete und verdreckte Leiter streckte er sich und packte eine Sprosse. So zog er das Boot das letzte Stück in Position und wackelte noch einmal kräftig an der Leiter, um sicherzugehen, dass sie ordentlich befestigt war. Das Personal hier schien ja nicht gerade übermotiviert zu sein.

Mit einem beherzten Satz verließ Ben sein schwimmendes Zuhause der letzten Wochen und erklomm die Leiter. Die unteren Sprossen waren noch nass und schlüpfrig, oben wurden sie trocken. Das machte die Kälte aber fast noch unangenehmer, und der Rost bröselte unter seinem Griff. Er konnte förmlich spüren, wie kleinste Partikel keimigen Altmetalls in seine Haut drangen.

Oben angekommen krabbelte er alles andere als elegant aufs Festland. Ben sah sich kurz um. Wollte er wissen, ob jemand seine ungelenke Einlage beobachtet hatte? Oder ging es ihm nur darum, den Schleusenwart zu finden? Er wusste es selbst nicht genau, doch Letzteres war eindeutig wichtiger. So oder so war jedenfalls kein Mensch weit und breit zu sehen. Ben überblickte kurz das flache Land, das ihn umgab. Trotz des anbrechenden Winters waren die Wiesen noch einigermaßen grün, bis auf vereinzelte Baumreihen und einige Zäune gab es sonst kaum etwas zu sehen.

Also widmete Ben seine volle Aufmerksamkeit dem Wärterhäuschen. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass die Tür weit offen stand. Ungewöhnlich. Vielleicht hatte es einen Notfall in der Nähe gegeben. Oder dem Typen ist wirklich der Schniedel abgefroren?, dachte Ben und schüttelte schmunzelnd den Kopf.

Moment. Hatte sich da nicht etwas bewegt, im Gebüsch?

»Hallo?«, fragte Ben gefühlt zum zwanzigsten Mal. Es raschelte. Unsicher machte er einen Schritt auf einen dunklen Schatten im Unterholz zu. »Ist da jemand?«

Keine Antwort. Zögernd schaute Ben sich um, durch die geöffnete Tür des Häuschens fiel sein Blick nun auf einen großen, roten, mit Gummi ummantelten Knopf.

»Scheiß doch drauf«, murmelte Ben, machte zwei lange Schritte zur Tür, beugte sich vor und betätigte mit dem Handballen den Kontakt. Sofort jaulte ein schwerer, hydraulischer Apparat auf und zwei Krähen stiegen meckernd in den Himmel. Ben schaute ihnen kurz hinterher, dann vergewisserte er sich, dass der Wasserspiegel auch wirklich anstieg. Er quälte sich wieder die Leiter hinunter und wagte nach einem kleinen Stoßgebet den Sprung auf das Deck. Er landete halbwegs sicher und war zufrieden mit sich. Selbst ist der Mann – jedenfalls, wenn er nicht so ein beschissener Schleusenwart ist, den schon die Aufgabe überfordert, ein paar mal am Tag auf einen Buzzer zu hauen. Das waren Bens Gedanken, als sich das Schleusentor vor ihm öffnete, und er hinunterging, um den Motor zu starten. Das Blut, das schon etwas zäh von der Schleusenmauer tropfte, sah er nicht.

Kapitel 2

TEMPELHOFER HAFEN

16:48 Uhr

Als die letzten Sonnenstrahlen gerade um die höchsten Dächer tanzten, wurde Ben endgültig klar, dass in der Stadt etwas nicht stimmte. Auf dem Weg nach Berlin hatte er sich bereits über den quasi nicht-existenten Bootsverkehr gewundert. Aber nun erreichte er den Tempelhofer Hafen, eine alte Anlage, die um 1908 fertiggestellt wurde und lange als Umschlagplatz für Lebensmittel und Stückgut genutzt wurde. Heute wurden hier Liegeplätze für Sportboote vermietet und auf der gegenüberliegenden Uferseite thronte das Ullsteinhaus – ein gigantischer, alter Backsteinbau, der im Licht der untergehenden Sonne blutrot aufleuchtete. Ben war von diesem Anblick einen Moment lang regelrecht eingeschüchtert, dann wanderte sein Blick zu den Anlegestellen auf der Hafenseite und dem modernen Einkaufszentrum dahinter. Dort, wo normalerweise zum Feierabend hin geschäftiges Treiben herrscht, war in diesem Moment nichts los. Überhaupt nichts, rein gar nichts.

Ben rieb sich die Augen, langsam machte sich Nervosität in ihm breit. Ein lautes Geräusch ließ ihn zusammenzucken und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Kanal. Direkt in seiner Fahrtrichtung lagen zwei riesige Lastkähne schräg im Wasser, offensichtlich trieben sie nebeneinander her, wobei sie immer wieder kollidierten. Das kreischende Reiben von Metall auf Metall durchschnitt jäh die kühle Abendluft.

Ben traute seinen Augen kaum. Es war definitiv zu gefährlich, sich den Schiffen weiter zu nähern, also drehte er kurz entschlossen ab. Er würde nach dem Anlegen den Sicherheitsdienst des Shoppingcenters bitten, die Wasserschutzpolizei zu verständigen. Jemand musste dieses Schlamassel aufräumen, bevor ernsthafter Schaden entstand!

Als das Boot amtlich vertäut war und Ben bereit war, von Bord zu gehen, hatte der Himmel eine irreal wirkende, tiefblaue Färbung angenommen. Die kalte Herbstluft wirkte besonders intensiv – nicht nur durch ihre Kühle; irgendetwas anderes schwang noch mit. Es herrschte eine besondere Atmosphäre, eine Aufladung, die alle Sinne zu schärfen schien. Ben hielt kurz inne, um diese Empfindung auf sich wirken zu lassen. Klar, das war es: die Stille. Ungläubig schaute Ben auf seine dicke Pilotenuhr und klopfte auf das Glas. Aber sie lief ganz normal, es war 16:53 Uhr. Bei der Datumsanzeige war er sich aber nicht ganz sicher – war er wirklich fast drei Wochen unterwegs gewesen? Das kam ihm einerseits unwahrscheinlich vor, andererseits hatte sein übermäßiger Alkoholkonsum auch noch ganz andere Dinge möglich gemacht.

Wenigstens habe ich die Uhr nicht geschrottet, dachte sich Ben. Er atmete noch einmal tief durch, um das Gefühl des Heimkehrens nach einer so abenteuerlichen Reise ein wenig auszukosten. Den Kampf Mensch gegen Natur hatte er wieder einmal gewonnen.

Dieser sinnliche Moment verlor jedoch seine Qualität, als Ben plötzlich von einem Reizhusten geschüttelt wurde. Er hatte einen merkwürdigen Geruch in seine Lungen gezogen, den er nicht einordnen konnte. Eine leicht süßliche Note … eigentlich gar nicht so unangenehm, doch sein Körper reagierte heftig darauf. Vielleicht eine Allergie? Wie aus Reflex griff Ben sich an die Nase – dieser Mechanismus diente gar nicht in erster Linie der Kontrolle oder gar Reinigung, sondern war bei ihm ein Ausdruck von Nervosität. Wahrscheinlich war es besser, er würde die Kajüte sichern, bevor er von Bord ging. Diese Gegend hatte schließlich schon bessere Zeiten gesehen.

Ben stieg also die zwei Stufen hinunter und machte Licht. In dem kleinen Raum sah es wirklich abenteuerlich aus. Überall aufgerissene Packungen irgendwelcher haltbarer Lebensmittel, palettenweise leere Bierdosen und anderer Müll. Nach einigem Wühlen hatte Ben seinen Rucksack geortet und überzeugte sich, dass alle Wertsachen darin verstaut waren. Das Portemonnaie steckte er in die Hosentasche, vielleicht würde er sich noch einen Snack in der Mall gönnen. Den Fotoapparat hatte er gar nicht benutzt und der Rest der Sachen schien aus dreckiger Unterwäsche zu bestehen. Das brachte Ben auf die Idee, bei der Bordtoilette vorbeizuschauen, um noch mal schnell zu pinkeln, bevor der Ernst des Lebens wieder anfing.

Kaum hatte er die Tür geöffnet, schlug ihm ein fieser Geruch entgegen. Die Toilette war einfach hoffnungslos überfüllt; der Schmutzwassertank musste dringend geleert werden. Vielleicht war das der Grund für den Hustenreiz gewesen. Egal, einmal spülen musste noch drin sein. Der Boden klebte sowieso schon – kein Wunder, wenn man bei jedem Seegang im Stehen pisst. Also setzte Ben noch einen drauf, dann drehte er sich um und beugte sich hinunter zum Waschbecken – wobei sein Blick in den kleinen Spiegel fiel. Unweigerlich musste er innehalten, durch seinen wilden Bartwuchs sah er fast aus wie ein Seeräuber. Oder sogar ein Terrorist. So wollte er eigentlich nicht unter Leute gehen, und schon gar nicht, wenn er irgendwelche Sicherheitsbeamten um Hilfe bitten musste. Wegen seines leicht südeuropäischen Teints war er von gescheiterten Kaufhauscops schon oft blöd angemacht worden, und das konnte er jetzt gar nicht brauchen. Und wer wusste es schon so genau, vielleicht wartete dort ja auch eine attraktive Dame in Uniform auf ihn? Genug Gründe, um zum ersten Mal auf dieser Reise den elektrischen Rasierer auszupacken und seinen Wildwuchs wenigstens zum Dreitagebart zu stutzen. Zufrieden fuhr Ben sich anschließend über die Wangen, er war halt schon echt 'ne coole Sau. Das einzige Foto, das er von seinem leiblichen Vater kannte, hatte ihn immer an Cary Grant erinnert. Und Ben trat ganz in seine Fußstapfen, vor allem in einem lässigen Anzug sah er einfach unwiderstehlich aus – genau wie sein Vater damals. Für den Moment musste es aber seine dunkelbraune Lederjacke tun, ein edles Teil im Stil von Motorradbekleidung der 60er Jahre.

Ben fand sie in einer dunklen Ecke der Kajüte. Als er sie über den grauen Pullover streifte und sorgfältig die Kapuze wieder herauszog, fiel sein Blick auf die demolierte Bordelektronik. Die Navigation war zwar heil geblieben, aber das Funkgerät zu ersetzen würde ihn mindestens 500 Euro kosten. Im Prinzip war das aber auch egal. Er hatte bisher in der Firma einfach alles richtig gemacht und die Anrufe der Headhunter wurden von Mal zu Mal interessanter. Bald würde er ein richtig erfolgreicher Broker sein, dann wäre die Reparatur quasi mit einem Stundenlohn abgehakt. Um genau zu sein, müsste er das Radio wahrscheinlich gar nicht reparieren lassen – er könnte sich gleich ein neues Boot gönnen! Mit einem Lächeln auf den Lippen schloss Ben die Kabine ab, ließ den Schlüssel in seine Hosentasche gleiten und ging von Bord.

Schwungvoll sprang Ben auf den Pier. Da es inzwischen praktisch dunkel war und der Himmel nur noch in schwärzlichem blau glomm, war der Steg in Flutlicht getaucht. Als Ben sich in Bewegung setzte, blendeten ihn die Strahler regelrecht und ließen das Skelett des alten Verladekrans wie eine drohende Silhouette wirken. Ben kniff die Augen zusammen, um mehr von dem Einkaufszentrum erkennen zu können. Ja, es war beleuchtet, aber belebt wirkte es beim besten Willen nicht. Wirklich merkwürdig, denn Ladenschluss war noch längst nicht. Überhaupt war es so ruhig, dass seine Schritte auf dem knarrenden Steg extrem laut wirkten – so laut, dass ihm die dadurch entstehende Aufmerksamkeit fast unangenehm war.

Plötzlich hielt er abrupt inne. War da nicht eben ein anderes Geräusch gewesen? Ben horchte in die Stille und selbst sein Atem war ihm nun schon fast zu laut. Er nahm all seine Konzentration zusammen und spähte in die Dunkelheit zwischen den grellen Lichtern … bis es einen lauten Knall gab, der Ben zusammenzucken ließ wie ein kleines Kind, dem gerade sein geliebter Luftballon geplatzt war. In Wahrheit war es einer der Fluter gewesen, bei dem es wohl einen Kurzschluss gegeben hatte. Ein Funkenregen ergoss sich aus dem Scheinwerfer; das sah fast aus wie ein kleines Feuerwerk. Die anderen Lichter der Hafenanlage erstarben mit einem kurzen zeitlichen Versatz ebenfalls, aber wenigstens taten sie das leise.

Ben hatte inzwischen wieder Haltung angenommen, doch ein »Scheiße« zischte ihm trotzdem durch die Zähne. Was für ein verdammter Schreck, und dabei war es nur ein Kurzschluss! Nun stand er aber in absoluter Dunkelheit, das war unangenehm. Viel mehr störte ihn aber die aufsteigende Angst – er war doch ein gestandener Mann, zumindest in seiner Selbstwahrnehmung. Ben schüttelte den Kopf und zwang sich, mit forschen Schritten voranzugehen. Die Treppe hinauf zum Einkaufscenter musste doch irgendwo vor ihm sein, gar kein Problem. Noch ein paar Meter durch die Dunkelheit, dann würde das schwache Licht aus den Schaufenstern schon reichen, um sich genauer zu orientieren.

Doch nach ein paar Schritten hörte er es wieder – das Geräusch. Und es klang wie ein Wimmern. Ein unheimliches, jammerndes Stöhnen. Das war nun wirklich zu viel des Guten, Ben griff an seinen Anglergürtel und zog eine kleine LED-Taschenlampe heraus. Er schaltete sie an und leuchtet sich zum Test in die eigene Handfläche – sie funktionierte. Nun war er für alle Eventualitäten gewappnet.

»Wer ist da?«, rief er in die Dunkelheit, wobei seine Stimme nicht ganz so fest klang, wie er es gerne gehabt hätte. Trotzdem leuchtete er offensiv in die Richtung, aus der er das Geräusch zuletzt gehört hatte. Kauerte da eine Gestalt am Fuße des Verladekrans? Ein Mensch?

»Was machen Sie da?«, fragte Ben extra laut, damit vielleicht in der Nähe befindliche Passanten auf die Situation aufmerksam würden.

»Hallo?«, kam ein schwaches Stimmchen zurück, so brüchig, dass Ben es kaum verstehen konnte. Sein Angstgefühl verflog jedoch sofort und er näherte sich der offensichtlich weiblichen Person mit langen Schritten. Als er sie gerade fast erreicht hatte, peitschte wieder ein Zischen durch die ausgestorben wirkende Hafenanlage. Hinter Ben sprangen die Fluter wieder an und machten aus dem dunklen Schattenriss eine junge Frau. Bens erster Gedanke war, dass sie auf der Straße leben musste. Sie mochte vielleicht sechzehn Jahre alt sein, optisch fast noch ein Kind, aber sie schien schon eine Menge durchgemacht haben. Selbst ihre Klamotten waren eher Girlie-mäßig, als dass sie punkig oder alternativ wirkten. Aber sie war zerzaust und dreckig und hatte sich garantiert seit Tagen nicht gewaschen. Sie schaute angestrengt in Bens Richtung, ihren zusammengekniffenen Augen nach zu urteilen konnte sie ihn aber nicht wirklich gut erkennen. Als sie mit einer zitternden Hand ihre Augen abschattete, begriff Ben, dass er total im Gegenlicht der Scheinwerfer stand, die sie blendeten. Auf einmal hatte er das Gefühl, in einen intimen Moment gestolpert zu sein, zumindest hatte das Mädchen offensichtlich vor irgendetwas Angst. In so einer Situation die Initiative zu ergreifen und Höflichkeit zu beweisen war eigentlich genau Bens Ding, und so begann er in bemüht lockerem Tonfall zu sprechen: »Oh, hey. Ich bin Ben. Du musst keine Angst haben!«

Obwohl Ben es gewohnt war, eine positive Wirkung auf Menschen zu haben, war er nun überrascht. Die Augen der jungen Frau weiteten sich und ein Ausdruck extremer Erleichterung, ja sogar Freude huschte über ihr eben noch verkrampftes Gesicht.

»Ich bin … Abby. Bist … bist du mein Engel?«

Sie gab sich Mühe, so flüssig wie möglich zu sprechen, aber es wirkte so, als hätte sie dabei Schmerzen. Was Ben wiederum verstehen konnte, denn das, was sie sagte, bereitete ihm schon beim Zuhören Schmerzen.

»Bist du auf Drogen?«, entfuhr es ihm. Auf so ein Jesus-Gespräch hatte er jetzt gar keine Lust. Abby war von seiner Gegenfrage jedoch mehr als geschockt.

»NEIN! Ich war doch immer … ein anständiges Mädchen! Du … du kannst mich ruhig mitnehmen, in den Himmel.«

»Du willst mich verarschen, oder?«, antwortete Ben abgeklärt. Doch Abby meinte es offensichtlich ernst.

»Ich will, dass du mich mitnimmst … auf die andere Seite … einfach weg von hier.«

»Geh' mal lieber nach Hause, du erkältest dich noch«, lautete Bens nüchterner Rat. So eine durchgeknallte Lifestyle-Pennerin konnte er jetzt echt nicht brauchen. Er wollte nur dem Sicherheitsdienst Bescheid sagen und dann so schnell wie möglich weiter. Als er sich wegdrehte und einen Schritt in die Dunkelheit machte, wurde Abby lauter.

»Bitte! Sag mir wenigstens eins …«, flehte sie ihn an. Ben schüttelte im Weggehen den Kopf, doch im Augenwinkel sah er etwas glitzern. Die Bewegung des Mädchens setzte irgendetwas frei, etwas, das ihm ganz und gar nicht behagte. Unwillkürlich musste er sich zu ihr hindrehen, als sie mit der rechten Hand ihre Jacke öffnete und ihren Satz beendete: »Im Himmel … da bin ich doch wieder ganz, oder?«

Sie hob nun auch den anderen Arm, der vorher in der Jacke gesteckt hatte und schaute Ben fragend an. Seine Pupillen weiteten sich bei dem Anblick und er spürte einen Schwindel, einen Vertigo-Effekt, als würden seine Augen zu Abbys Bauch gezogen. Ihre Bluse war zerrissen, alles war voller Blut.

Wie in Trance hob Ben seine Taschenlampe und leuchtete auf ihre Körpermitte … da war eine klaffende, offene Wunde, aus der feucht glitzerndes, schleimiges Fleisch quoll … es musste ihr Magen oder Darm sein! Ben spürte einen Würgereiz, seine Knie gaben nach. Ungewollt stürzte er auf Abby zu, nur in letzter Sekunde gelang es ihm, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen und halbwegs geordnet vor ihr auf die Knie zu gehen, statt direkt auf sie zu fallen.

Dabei durchzuckte ihn der Impuls, die hellrosafarbene Masse wieder in die Bauchhöhle zurückzudrücken, doch er wagte es nicht, die Wunde zu berühren. Panisch ratterte es in seinem Kopf, den letzten Erste-Hilfe-Kurs hatte er vor über zehn Jahren absolviert. Und da kamen keine gottverdammten zerfetzten Gedärme vor! Es musste also jemand anders helfen, und zwar schnell.

»Du musst sofort zum Arzt!«, brach es hektisch aus ihm hervor. Instinktiv griff er an seine Jackentasche, wobei ihm wieder einfiel, dass sein Handy auf dem Grund des Meeres schlummerte. Abby hielt sowieso nicht viel von der Idee; leise sagte sie: »Es gibt doch keinen Arzt mehr.«

Ben ignorierte sie, seine Panik war unbeschreiblich. Er hätte das arme Mädchen am liebsten geschüttelt, konnte sie aber nicht einmal anfassen.

»Ich hab mein Handy weggeworfen! Gib mir deins!«, sagte er drängelnd.

»Es gibt auch kein Netz mehr«, antwortete Abby schwach und sackte daraufhin in sich zusammen. Erschrocken fuhr Ben sie unpassend laut an.

»Hör zu, du musst mir schon helfen, okay!«

Er tastete vorsichtig ihre Jacke ab und fischte ein altes, pinkfarbenes Klapphandy im Hello-Kitty-Design aus einer der Taschen. Die Tastenfolge »112« hatte er schon gedrückt, bevor ihm der Schriftzug »KEIN NETZ« auf dem Display aufgefallen war. Das Gerät quittierte seinen Wählversuch mit nervigem Piepsen.

»Scheiße, was mach ich denn jetzt?«

Zu seiner Überraschung antwortete Abby auf die Frage; er hätte er schwören können, die Worte nur gedacht zu haben.

»Sag mir doch einfach, dass alles gut ist«, bat sie ihn mit schwacher Stimme. Ben unterbrach seine Versuche, dem Handy ein weiteres Lebenszeichen abzutrotzen, und hielt verwirrt inne.

»W…was?«

Ein Stoß durchzuckte Abbys Körper, sie riss die Augen weit auf und packte Bens Lederjacke mit ihren blutigen Händen.

»Sag mir einfach, dass du mein Engel bist! Dass alles gut wird!«

Im Affekt stieß Ben sie weg und sprang erschrocken auf.

»Mann, was soll diese freakige Scheiße! Hör auf mit diesem Engelszeug! Du musst zum Arzt!«

Hilflos streckte Abby ihre Arme nach ihm aus, wie ein kleines Kind, das auf den Arm genommen werden möchte.

»Sag mir, dass du mein Engel bist«, wiederholte sie immer wieder, »Sag mir doch bitte einfach nur, dass du mein Engel bist. Dass du mich auf die andere Seite bringst! Bitte … bitte sag mir … «

Nachdem Ben sie mit eindringlicher werdenden Gesten zum Schweigen aufgefordert hatte, riss ihm nun der Geduldsfaden. Er schrie sie an.

»MANN, RUHE! HÖR AUF DAMIT! DU MUSST ZUM ARZT!!!«

Abby erschrak, aber vielleicht nicht unbedingt vor ihm. »Nicht so laut … sonst … sonst lockst du sie noch an …«, stammelte sie.

Ben fauchte sie an: »WAS?!?«

Abbys Augen wurden jetzt noch größer, aber sie schien ihn gar nicht mehr anzugucken. »Ich will doch nicht … dass sie mich …«

Ihr Kopf fiel in den Nacken und eine Welle von Krämpfen durchzuckte ihren Körper, wobei sie kaum hörbar ihren Satz beendete: »… dass sie mich … fressen.«

Dann erschlaffte sie abrupt und ihr Kopf schlug zurück an die Stahlwand des Verladekrans. Ihre weit offenen Augen starrten in den Himmel, aber Ben wusste, dass sie nichts mehr sah. Und schlagartig dämmerte ihm, was dieser komische Geruch war, der ihn schon die ganze Zeit begleitete: Der Tod.

Ben hatte ein Gefühl, als müsse er sich in die Hose scheißen. Sein Schließmuskel vibrierte und er musste mit aller Kraft dagegen arbeiten, dass sich sein Darm entleerte. Er atmete angestrengt ein und aus, schließlich beruhigte er sich etwas. Den Blick des Mädchens konnte er jedoch nicht ertragen. Er fühlte sich schuldig. Was war hier gerade passiert? Er hatte bisher erst einmal in seinem Leben eine Leiche gesehen, und jetzt … Bilder der Beerdigung seiner Mutter durchzuckten sein Hirn. Wie sie damals aufgebahrt in ihrem Sarg lag … so jung und wunderschön … und er noch ein kleines Kind. Aber ihre Augen waren geschlossen.

Langsam, ganz langsam steckte Ben den Arm aus, seine Hand näherte sich Abbys Gesicht. Der Geruch wurde wieder stärker, viel stärker. Leichte Windstöße trugen ihn in Bens Richtung, er ließ die Hand sinken und schloss für einen Moment die Augen – wodurch er den Kampf gegen seine Tränen endgültig verlor.

Doch seine Nase holte ihn wieder in die Gegenwart zurück, der Geruch war inzwischen ein Gestank, da konnte etwas nicht stimmen. Plötzlich ließ ihn ein unglaubliches Getöse einen Satz nach hinten machen und er fiel auf seinen Hintern – ein Stapel leerer Farbeimer, der an der nächstgelegenen Gebäudeecke gestanden hatten, ging zu Boden, als ein groß gewachsener Mann auf Ben zu gestolpert kam. Sein Gesicht war mit getrocknetem Blut verkrustet, seine Augen strahlten blanken Wahnsinn aus. Wütend und irritiert blickte er auf die klappernden Plastikteile. Ben krabbelte derweil wie auf Autopilot langsam auf allen vieren rückwärts.

Als der Mann ihn registrierte, streckte er die Arme nach ihm aus und ließ einen markerschütternden Schrei fahren, der von allen Wänden des Hafens widerhallte. Ben mochte sich täuschen, bestimmt war es nur das Echo, aber ihm war so, als hörte er aus allen Richtungen Antworten auf diesen Schrei. Als der Mann auf ihn zu stolperte, gewann Ben endlich wieder die volle Kontrolle über seinen Körper und schnellte nach oben – fast erleichtert wollte er sich gerade von dem unheimlichen Fremden wegdrehen, als dieser Abby bemerkte – und sich zu Bens Entsetzen auf sie stürzte! Er beugte sich über sie, es sah aus, als würde er ihren Hals ablecken, gleichzeitig riss er unkoordiniert an ihrer Jacke … Ben konnte nur an eines denken: An ein Raubtier beim Fressen, wie er es aus Naturdokumentationen kannte. Inzwischen traten weitere Gestalten aus den Schatten und stürzten sich förmlich auf den Mann und Abby. Aber auch sie waren nicht gekommen, um diese Leichenschändung zu beenden … In Bens Kopf formte sich nun endlich ein klarer Gedanke: Flucht.

Abzuhauen war das Einzige, was er jetzt tun konnte. Er drehte sich in Richtung seines Bootes, doch auch auf dem Pier schlurften inzwischen die schattigen Gestalten herum. Eine von ihnen stolperte gerade mit dem Kopf zuerst über die niedrige Reling und schlug mit einem lauten Krachen auf dem Deck auf.

Ben schaute sich hektisch um, der einzige Fluchtweg führte zu einer kleinen, eisernen Wendeltreppe, die an der Seite der Kanalbrücke nach oben auf den Fahrdamm führte. Kurzentschlossen rannte Ben darauf zu, und auch die Absperrung davor interessierte ihn herzlich wenig – er schwang sich über das kleine Metalltor und stampfte dann die Treppe hinauf, die unter seinem Gewicht verdächtig knarrte. Das machte Ben zusätzlich nervös, und als er oben angekommen einer weiteren Absperrung gegenüberstand, rutschte er zu allem Überfluss auf etwas Nassem aus. Nach vorne fallend griff er nach dem Metalltor und nutzte seinen Schwung, um darüber zu rutschen. Da sein Versuch, sich auf der anderen Seite elegant abzurollen, kläglich scheiterte, grüßte ihn stattdessen der kalte Asphalt.

Die schnelle Drehung und der harte Aufprall benebelten zusätzlich seine Sinne, die sowieso schon von Panik getrübt waren. Hektisch und unkoordiniert rappelte er sich auf und schaute ruckartig in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass keine der Gestalten in seiner Nähe waren. Die Lage schien fürs Erste in Ordnung, und so kam Ben langsam wieder zu Atem. Er richtete sich vollends auf und blickte aus der erhöhten Position der Brücke in Richtung Innenstadt. Es dauerte einen Moment, bis Ben realisierte, was er dort sah.

Berlin brannte.

Kapitel 3

TEMPELHOFER DAMM

17:37 Uhr

Das Panorama wirkte wie der Blick auf einen Kriegsschauplatz. Autos standen kreuz und quer auf dem Fahrdamm und sogar auf den Gehwegen, die Schaufenster der normalerweise belebten Geschäftsstraße waren zum großen Teil eingeschlagen. Überall loderten kleinere Brände, mittendrin verstreut lagen leblose Körper. Gegen den dunklen Himmel hoben sich zahlreiche Rauchsäulen ab. Ben konnte das, was er sah, einfach nicht verarbeiten, und in seinem Kopf legte sich ein Schalter um. So sehr er sich auch wünschte, dass dies nur ein Traum sei, schrie ihm jede Faser seines Körpers etwas zu: Sein Leben war in Gefahr. In sehr großer, sehr ernst zu nehmender und vor allem sehr realer Gefahr.

Ohne weiter über das Warum und Weshalb nachzudenken, handelte Ben. Er registrierte Geräusche von der Metalltreppe her, also machte er zwei große Schritte auf das Brückengeländer zu und schaute nach unten. Die Angreifer hatten bereits eine Traube um die Treppe gebildet und versuchten, nach oben zu kommen, doch zu seiner Erleichterung waren sie dafür zu unkoordiniert. Ein besonders kräftiger Mann in einem zerrissenen Jackett starrte zu Ben hinauf, legte den Kopf in den Nacken und schüttelte die Fäuste. Dann ließ er einen anhaltenden, kehligen Schrei der Frustration los. Dieser skurrile Anblick ließ ein verwundertes Lächeln über Bens Gesicht huschen, doch es entglitt ihm sogleich, als der Schrei aus einer anderen Richtung erwidert wurde. Bens Blick schnellte die Straße hinunter, irgendwo bei den geparkten Autos am Ullsteinhaus kam Leben in die Schatten. Und wieder ertönte ein ähnlicher Schrei, diesmal von dem U-Bahn-Eingang dort gegenüber. Bevor Ben vollends realisiert hatte, was das wohl zu bedeuten hatte, rannten seine Beine auch schon los.

Seine Schritte waren die eines gehetzten Tieres, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Die kalte Herbstluft brannte in seinen Lungen und seine Muskeln verkrampften sich immer mehr. Er hatte kaum den Fuß der Brücke erreicht, als ihn schon schweres Seitenstechen durchzuckte.

Obwohl oder gerade weil ihn die Angst voranpeitschte, bekam er seinen Körper einfach nicht unter Kontrolle. Unter diesen Schmerzen würde er nicht lange weitermachen können. An der nächsten Kreuzung rannte er auf den Eingang eines Wohnhauses zu und drückte panisch alle Klingeln – doch niemand reagierte. Ben schaute nach oben, mit dem Kopf weit im Nacken drehte er sich ungläubig um die eigene Achse wie ein Schlafwandler: Die meisten Fenster in der Straße waren dunkel. Als sein Blick wieder das Straßenniveau erreichte, fiel er auf eine Frau, die in einer dunklen Hofeinfahrt stand. Ben versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und rief einfach »Hey!«

Doch sie reagierte nicht. Als Ben auf sie zu stolperte, fiel ihm auf, dass sie ihr Gesicht zur Wand gedreht hatte – es wirkte, als würde sie den Putz inspizieren. Ben ignorierte diese merkwürdige Pose.

»Wohnen Sie hier? Haben Sie einen Schlüssel dabei?«

Keine Reaktion.

»Wir müssen von der Straße runter! Wir … wir müssen Hilfe holen!«

Nichts. Ein kalter Schauer lief Ben den Rücken hinunter, er bekam Gänsehaut an den Armen. Sein Körper hatte ihm etwas voraus, das sein Geist noch nicht begriff – es war, als würde ein Urinstinkt die Kontrolle übernehmen wollen. Alle Sinne klingelten, und als Ben kurz das Gefühl hatte, der Boden würde ihm unter den Füßen weggezogen, wurde seine Aufmerksamkeit zu einhundert Prozent in die gegenwärtige Situation katapultiert, er befindet sich nun im Hier und Jetzt …

Als Ben die Frau fast erreicht hat, betritt er den Messbereich eines Bewegungsmelders, der eine Lampe über dem Eingang anschaltet. Ben blinzelt kurz, denn er wird geblendet, während das Gesicht der Frau immer noch vom Schatten der Einfahrt verdunkelt wird.

»Haben Sie ein Telefon?«, fragt Ben, als er die regungslose Frau an der Schulter packt. Langsam dreht sie sich um und Bens Ohren registrieren ein tiefes Knurren, das er nicht einordnen kann. In den dunklen Schatten im Gesicht der Frau registriert er ein feuchtes Glitzern und er macht unwillkürlich einen Schritt zurück. Genau in diesem Moment stolpert sie auf ihn zu, ihre Zähne schlagen dabei laut klackend aufeinander – hat sie etwa nach ihm geschnappt? Bevor Ben sich diese Frage beantworten kann, gleitet der Kopf der Frau in den Schein der Türbeleuchtung.

Ihr Gesicht ist komplett blutüberströmt und von langen Schnittwunden durchzogen. Ihre Augen sind weit aufgerissen, doch die Iriden wirken stumpf und grau. Als sie ihren Mund wieder weit öffnet, ähnlich einem Fisch, der auf dem Trockenen liegt, stellt Ben mit Grausen fest, dass Teile ihrer Lippen fehlen. Die Frau brüllt ihn aus vollem Hals an und Ben taumelt rückwärts. Der Schrei hallt durch die Straßenschlucht und überall stimmen weitere kranke Stimmen mit ein.

Ben rennt los.

Kapitel 4

FRIEDRICH-KARL-STRASSE

17:52 Uhr

Instinktiv hat Ben die Richtung weg von den Stimmen gewählt und rennt nun die Friedrich-Karl-Straße hinauf. Es geht leicht bergauf, und wegen der zusätzlichen Anstrengung verflucht ein Teil seines Hirns diese Idee. Doch ein kurzer Schulterblick verrät ihm, dass er nicht nachlassen darf: Ihm ist ein regelrechter Mob auf den Fersen, der immer mehr an Tempo aufnimmt. Zwar wirken viele der Silhouetten träge und unkontrolliert, doch die immer wieder aufbellenden Schreie sorgen an jeder Ecke für neue Verfolger. Im Rennen mustert Ben jeden Schatten vor sich voller Angst und ein Schauer krabbelt ihm von den Haarwurzeln den Nacken hinunter, folgt der Wirbelsäule und erreicht sein Steißbein. Sein Schließmuskel zuckt wieder. Bodenlose Panik überkommt ihn.

»Hilfe! HILFE!!!«, ruft er.

Das Schreien kostet ihn noch mehr Energie, aber er weiß sich einfach nicht anders zu helfen. Die Seitenstiche kommen wieder, doch der drohende Zusammenbruch lässt seine Gedanken etwas klarer werden: Er wird kämpfen müssen. Kann er irgendetwas als Waffe verwenden? Seine Augen blicken hektisch umher. Nichts zu sehen. Ben trottet mit letzter Kraft vorwärts und blickt in düsterer Erwartung zurück. Tatsächlich, die Gestalten haben ihn fast erreicht.

»HILFE!!!«, schreit Ben noch einmal. Seine eigene Stimme hallt zwischen den Hauswänden hin und her und er ist selbst erschrocken darüber, wie hoch und angsterfüllt sie klingt. Doch plötzlich ist da ein Geräusch von schräg vorne – etwa hundert Meter vor ihm öffnet sich eine Balkontür und eine Frau tritt ins Freie. Auf den zweiten Blick wirkt sie aus dieser Entfernung fast wie ein junger Mann – sie ist relativ klein und trägt burschikose Klamotten, eine Mischung aus Jeans-, Leder- und Army-Materialien sowie einen asymmetrischen Kurzhaarschnitt. Sie führt ein Fernglas zu den Augen, fokussiert auf Ben und dreht sich dann blitzschnell in Richtung der offenen Tür: »Hey, kommt mal her! Da lebt noch einer!«

Ben ist so überrascht von dem Anblick, dass er kurz vergisst, weiter zu laufen – doch dann besinnt er sich und rafft seine allerletzten Kraftreserven zusammen. Olympiareif setzt er zu einem Spurt auf das Haus an. Dort kommt inzwischen ein älterer, kräftiger Mann in einer Outdoorjacke auf den Balkon. Er begafft mit offenem Mund die Horde, die hinter Ben her ist. Das Mädel drückt sich an ihm vorbei, greift ihm dabei blitzschnell an die Hose und zieht etwas heraus. Der Mann versucht, sie am Arm zu packen, doch sie ist bereits wieder im Dunkel der Wohnung verschwunden.

»Paula, du kleine Schlampe! Bleib stehen!«

Sein Ruf verhallt ohne jegliche Reaktion und er macht kurz einen Ansatz, ihr zu folgen, gibt dann aber sofort auf. Stattdessen wendet er sich Ben zu: »Verpiss dich!«, schreit er vom Balkon.

Doch Ben ignoriert ihn und rennt weiter, so schnell er kann. Zu seinem Entsetzen sieht er aber, dass der Mann sich bückt und dann drohend eine Schrotflinte in die Höhe hält!

Obwohl Ben kurz ins Straucheln kommt, reduziert sich seine Geschwindigkeit kaum. Der Mann legt auf ihn an und schreit: »Keinen Schritt weiter, oder ich schieße!«

Diese Warnung klingt für Ben sehr überzeugend, er stoppt abrupt ab und hebt fast automatisch die Hände auf Schulterhöhe. Nach Atem ringend blickt er zurück auf den Mob, zu dem er immerhin einen gewissen Abstand gewonnen hat.

Eine Stimme bringt seine Aufmerksamkeit zurück nach vorne: Es ist Paula, die junge Frau, die ihm nun an einer vergitterten Hofeinfahrt gegenübersteht. Auf diese Entfernung kann Ben einige Piercings in ihrem Gesicht erkennen.

»Hier, komm her!«, ruft sie. Hinter ihr kommen ein hagerer Mann mit einer dicken Brille und eine ebenfalls intellektuell oder lehrermäßig wirkende Frau im roten Strickpulli aus dem Treppenhaus. Beide sind vielleicht um die vierzig Jahre alt und wirken extrem nervös. Die Frau spricht Paula zögerlich an, während die mit einem dicken Schlüsselbund hantiert.

»Jetzt … jetzt warte doch mal …« Paula ignoriert sie und auch Ben machte einen weiteren Schritt nach vorne, was den Alten mit dem Gewehr zu einer weiteren Drohung veranlasst: »Ich meine es ernst! Ich knall' dich ab!«, schreit er vom Balkon. Ben hält wieder so abrupt an, dass er ins Wanken kommt, doch Paula gestikuliert wild in seine Richtung.

»Komm her! Die Knarre ist aus Plastik!«, ruft sie. Ben schaut nach oben zu dem Mann, der wutentbrannt das Gewehr sinken lässt und mit bösem Blick zu Paula herunter schaut. Ben fackelt nicht lange und setzt zu einem Sprint auf das Tor an, während der Mann oben loskrakeelt:

»Paula, spinnst du? Kennst du den?«

»Fick dich!«, schreit Paula ohne mit der Wimper zu zucken oder auch nur ihren Blick von dem Schlüsselbund abzuwenden. Endlich hat sie sich einen ausgesucht und führt ihn zum Schloss. Der Mann mit der Brille kann sich auch endlich dazu durchringen, seine Lauerstellung aufzugeben, und macht einen Schritt auf Paula zu.

»Wo … wo hast du denn den Schlüssel her?«, stottert er. Auf dem Balkon fliegt derweil die vermeintliche Schrotflinte auf den Boden und Ben beobachtet, wie der tobende Frührentner in der Wohnung verschwindet. Paula dreht derweil den Schlüssel um, was wiederum die Lehrerin zu einer Wortmeldung veranlasst: »Jetzt warte doch erst mal …«

Doch Ben hat inzwischen das Tor erreicht.

»Bitte … Hilfe …«, stammelt er atemlos. Doch in dem Moment, wo das Schloss das erste mal klackt, weil sich der Riegel um eine halbe Länge zurückzieht, kommt der ältere Mann aus der Tür geschossen und rammt Paula aus vollem Sprint in die Seite. Mit der Luft, die dabei aus seinen Lungen gepresst wird, formt er ein Wort, das wie »Bissubescheuert« klingt.

Paula geht unter der Masse des fülligen Mannes zu Boden. »Mann Wolfgang, du Wichser«, zischt sie unter Schmerzen, die sie offensichtlich als einziges daran hindern, sofort wieder aufzuspringen. Stattdessen zieht sie sich langsam an den Eisenstreben des Tores hoch, während Wolfgang sich des Schlüssels bemächtigt und ihn wieder zurückdreht. Ohne Ben in die Augen zu schauen presst er an ihn gerichtet hervor: »Hau ab! Hier ist kein Platz für dich!«

Ben schaut ihn flehend an. »Bitte! Ich kann nicht mehr!«

Paula versucht, sich den Schlüssel zu greifen, den Wolfgang nun fest in das Schloss drückt. Seine wulstigen, vom Schweiß glitschigen und starken Finger sind zu mächtig für Paulas kleine Hände. Er schaut sie triumphierend an, als Reaktion macht sie fassungslos einen halben Schritt zurück und gestikuliert in Richtung Ben.

»Ey, willst du den da verrecken lassen?«

Diese Worte stechen Bens direkt ins Herz, er blickt über seine Schulter und sieht, dass der tobende Mob nicht mal mehr 50 Meter entfernt ist. Seine Pupillen verengen sich und springen zwischen einzelnen Gesichtern, die er im Schein der Straßenlaternen kristallklar erkennen kann, hin und her. Es sind von Muskelspasmen verzerrte und von verkrusteten Wunden gezeichnete Fratzen, die jegliche Anmutung von Menschlichkeit vermissen lassen. Geräusche vom Balkon lassen Bens Blick wieder nach oben schnellen, dort postieren sich zwei durchtrainierte Männer, vielleicht Anfang dreißig, mit klappernden Umzugskartons und schauen nach unten. »Wolfgang? Günter? Was ist los?«

Günter, der Brillenmann, geht mit ausgestrecktem Arm auf Paula zu und bedeutet ihr, zurückzubleiben.

»Überleg doch mal! Das könnte eine Falle sein!«

»Ja, vielleicht hat der Komplizen und die wollen uns ausrauben«, stimmt seine mutmaßliche Kollegin hektisch mit ein.

»Ist mir so oder so scheißegal«, brüllt Wolfgang und deutet mit dem Kopf in Richtung der näher kommenden Meute.

»Schaut mal, wen der mitgebracht hat! Die Tür bleibt zu!«

Einer der Männer vom Balkon ruft herunter. »Was ist jetzt?«

»Die Tür bleibt ZU!!!«, wiederholt Wolfgang laut, den Blick dabei wütend auf den Boden gerichtet. Paula stößt sich nun von der gegenüberliegenden Wand ab und versucht, Wolfgang beiseite zu schubsen, während Ben panisch an der Tür rüttelt, als könne er dadurch den Schlüssel bewegen. Aus dem Hausflur taucht inzwischen ein weiteres Paar auf, vielleicht noch etwas jünger als die beiden Männer auf dem Balkon. Der Mann ist offensichtlich südländischer Herkunft, die Frau ist sehr zierlich und ihr hervorstehender Bauch deutet auf eine Schwangerschaft hin. Beide blicken mit sorgenvollen Blicken zwischen allen Beteiligten hin und her. Bens Blick fällt auf die hervortretenden, weißen Knöchel seiner Hände, die sich um das kalte Metall klammern, und eine unangenehme Wahrnehmung bricht in sein Bewusstsein. Da ist er wieder, dieser Geruch. Der Tod. Er kommt näher, und Ben kann ihn riechen. Die schnaufenden Gestalten haben ihn fast erreicht.

Wolfgang verpasst Paula nun mit der rechten Hand eine Backpfeife, während seine linke den Schlüssel fest umklammert hält.

»Papa …« setzt die Schwangere an, als Paula zurücktaumelt, doch Wolfgang schreit mit inzwischen hochrotem Kopf einfach nur: »Schnauze, Melanie!«

Paula versucht kraftlos, ihm einen Tritt zu verpassen, doch schon im Ansatz der Bewegung bricht ihre Körperspannung zusammen, sie wirkt plötzlich richtiggehend verzweifelt. Ihre glitzernden Augen gucken an Wolfgang vorbei und suchen die Blicke der anderen Anwesenden.

»Mann, checkt ihr's nicht?«, fragt sie in die Runde. »Guckt mal, die da vorne, die mit der gelben Jacke! Und der Typ mit dem Schal!« Sie gestikuliert in Richtung einiger humpelnder Körper auf der anderen Seite des Tores. »Das sind alles welche, die wir weggeschickt haben! Und jetzt sind das welche von denen!«

Paulas Stimme überschlägt sich fast, und während sie schreit, sprüht ein feiner Nebel aus Feuchtigkeit aus ihrem Gesicht. Sie holt tief Luft, wobei ihre Augen auch kurz nach oben gehen, als wolle sie sicher gehen, dass die Männer auf dem Balkon sie auch hören können.

»Mann, wir haben die auf dem Gewissen! Wollt ihr das?«

Wolfgang und die Anderen starren sie fragend an. Ihre Blicke wandern zwischen Paula und den Kreaturen hin und her – und fallen auch auf Ben, der vor Angst wie erstarrt wirkt. Die schwangere Melanie fasst Wolfgang an die Schulter.

»Papa, das stimmt. Das Mädchen da«, sagt sie, und deutet auf eine junge Frau, deren halbes Gesicht unter frischem Blut verdeckt ist. Ihr Kopf und der rechte Fuß sind unnatürlich zur Seite geknickt. Mit abgehackten Bewegungen kommt sie auf das Tor zu.

Eine Welle der Erkenntnis geht durch die Anwesenden.

»Ich seh' die jeden Tag! Bei jeder Wache!«, schreit Paula.

»Die kommen immer wieder her – noch so einen ertrage ich nicht!«