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Über das Buch Als Kevin Junk vor ein paar Jahren nach Berlin zog, wollte er nicht ankommen, er wollte gleich voll da sein. Mitten in der Stadt, mitten im Leben, mitten im Zeitgeist. Es war das Berlin im Prekariat, im Kreativ sein, im tagsüber in den Club gehen, im internationalen Freundeskreis, in Armut, Hedonismus und Eskapismus. Doch der Wind wird rauer, die Mieten steigen, die Drogen werden härter, die Musik brachialer. Halb betäubt, halb rasend, taumelt Berlin einer ungewissen Zukunft entgegen. Alle merken, dass sich etwas bewegt, doch keiner weiß wohin. In kleinen Essays und Geschichten versucht Kevin Junk ein Bild von der Stadt zu zeichnen, in der er lebt. Es sind autobiographisch gefärbte Versuche nicht alleine etwas über ihn, sondern auch über andere auszusagen. Es gibt nicht das »kollektive Berlin«, aber es gibt eine Generation junger Menschen in der Stadt, die Erfahrungen teilen, die es wert sind, aufgeschrieben zu werden. Kevin Junk nimmt den Leser mit. Er erzählt von Clubkultur, Drogen, Sex und schwuler Identitätssuche, in einer Sprache, die ohne Phrasen und Stanzen auskommt.
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Seitenzahl: 102
Veröffentlichungsjahr: 2015
Als Kevin Junk vor ein paar Jahren nach Berlin zog, wollte er nicht ankommen, er wollte gleich voll da sein. Mitten in der Stadt, mitten im Leben, mitten im Zeitgeist. Es war das Berlin im Prekariat, im Kreativsein, im Tagsüber-in-den-Club-Gehen, im internationalen Freundeskreis, in Armut, Hedonismus und Eskapismus.
Doch der Wind wird rauer, die Mieten steigen, die Drogen werden härter, die Musik brachialer. Halb betäubt, halb rasend taumelt Berlin einer ungewissen Zukunft entgegen. Alle merken, dass sich etwas bewegt, doch keiner weiß, wohin.
In kleinen Essays und Geschichten versucht Kevin Junk ein Bild von der Stadt zu zeichnen, in der er lebt. Es sind autobiografisch gefärbte Versuche, nicht allein etwas über ihn, sondern auch über andere auszusagen. Es gibt nicht das »kollektive Berlin«, aber es gibt eine Generation junger Menschen in der Stadt, die Erfahrungen teilen, die es wert sind, aufgeschrieben zu werden.
Kevin Junk nimmt den Leser mit. Er erzählt von Clubkultur, Drogen, Sex und schwuler Identitätssuche in einer Sprache, die ohne Phrasen und Stanzen auskommt.
Kevin Junk studierte japanische Literatur und Kultur in Trier, Berlin und Kyoto. Seit 2009 lebt er in Berlin und schreibt seit 2013 frei für verschiedene Magazine. Sein Blog wolfauftausendplateaus.de
Kevin Junk
Berliner Befindlichkeiten
Geschichten aus der Stadt
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Jan Karsten
eBook-Cover: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 01.02.2015
ISBN 978-3-944818-77-1
Als ich vor ein paar Jahren nach Berlin zog, dachten alle, die hier schon länger lebten, mir erklären zu müssen, wie die nächsten Jahre so sein würden. Die, die hier geboren waren, ersparten mir die kleinen Lektionen für den urbanen Dschungel. Ich wollte nicht zuhören, ich wollte nicht ankommen, ich wollte da sein. Mitten in der Stadt, mitten im Leben, mitten im Zeitgeist. Sind es nur die Zugezogenen, die sich gern gegenseitig erklären, was um sie vorgeht? Was meine ich, wenn ich von Berlin spreche?
Die Jahre zogen ins Land, ich studierte im Ausland, kehrte zurück nach Berlin. Ich beendete das Studium, wegen dem ich in die Stadt gekommen war, und blieb. Natürlich gäbe es Alternativen, aber die Stadt hat mich verändert – und sich. Mein Leben hier fräste kleine Kerben in meine Identität, als sei Berlin das einzige Schloss, auf das mein Schlüssel passte. Das Berlin, in dem ich lebe, ist ein Mikrokosmos mit bestimmten Orten, Ritualen, Gewohnheiten und Dynamiken, die nicht Berlin als solches sind, aber das Berlin, das ich mir zusammengesucht habe. Es ist das Berlin des Prekariats, des Kreativseins, des Tagsüber-in-den-Club-Gehens. Ein Berlin im internationalen Freundeskreis, in Armut und Hedonismus, in Zeitgeist und Eskapismus. So weit der Status quo.
In den letzten beiden Jahren, in denen ich mich und die Stadt sich am stärksten verändert haben, hat sich eine neue Erzählung entwickelt. Eine Erzählung von einer Stadt, die wirkt, als sei sie das letzte Refugium der Freiheit, die aber schon zwei Saisons ohne Sommer der Liebe auskommen musste, die ihre Unschuld verloren hat und die die letzten Wehen einer kollektiven Adoleszenz durchlebt. Der Wind wird rauer, die Mieten steigen, die Drogen werden härter, die Musik brachialer. Immer wieder fällt mir auf, dass die Gespräche zwischen den jungen Menschen in dieser Stadt sich ähneln, dass Diskussionen vielleicht diskursiver sind, als man denkt, wenn man sie unter zwei Augen führt. Es wird viel über Berlin geschrieben, das kleine Enfant terrible unter den europäischen Hauptstädten mit der einzigartigen Geschichte und den vom Kapitalismus schlecht versorgten und vernarbten Wunden im Stadtbild und in der Atmosphäre.
Ich habe das Wort Berlin schon so oft gehört, dass es nichts mehr bedeutet. Manchmal fahre ich mit dem Rad eine Strecke entlang, die ich auch blind abfahren könnte, und realisiere, dass diese Orte real sind. Einzigartig. Keine Kulisse, sondern Orte, die auf einer Karte auffindbar sind – und sich von anderen Orten in der Stadt, im Land, auf dem Kontinent und auf der Welt unterscheiden. Dann bedeutet Berlin wieder etwas, dann habe ich einen dieser »Berlin«-Momente, in denen ich mich freue, hier zu sein. Dann liegt die ganze Schönheit der Stadt auf der gleichen Koordinate wie ihre Hässlichkeit, dann lächele ich selig und fühle mich eins mit mir und zufrieden mit der Stadt. Dann bin ich erhaben über Genervtheit und Zweifel, dann ist kein Weg zu weit und kein Augenblick verschwendet.
Die kleinen Essays und Geschichten, mit denen ich versuche, ein Bild von der Stadt zu zeichnen, in der ich lebe, sind autobiografisch gefärbte Versuche, nicht nur etwas über mich, sondern auch etwas über andere auszusagen. Ich glaube nicht, dass meine Erlebnisse und Gedanken singulär sind, vielmehr prägen die Menschen um mich herum, was ich zu sagen habe, was ich denke – und umgekehrt. Es gibt nicht das »kollektive Berlin«, aber es gibt eine Generation junger Menschen in dieser Stadt, die Erfahrungen teilen, die es wert sind, aufgeschrieben zu werden. Ich will kein Beispiel sein, aber auch kein Einzelfall. Ich will nicht von mir sprechen, muss aber aus meinen eigenen Erfahrungen schöpfen, um zu schreiben. Was Fiktion ist und was wirklich passiert, kann ich selbst nicht immer sagen, die Brüche, mit denen ich spiele, die Stimmen, mit denen ich spreche, sollen nicht verwischen, wer ich bin, sondern unterstreichen, was ich zu sagen habe.
Das Sensorium der Menschen um mich herum für Veränderungen ist fein. Halb betäubt, halb rasend taumeln wir einer ungewissen Zukunft entgegen. Wir alle merken, dass sich etwas bewegt, wir wissen nur noch nicht, wohin. Zu glauben, wir seien einzigartig, wäre nur noch ein weiterer Trugschluss.
Ich gehe in den Supermarkt und hole mir Süßigkeiten und unnützes Zeug im Wert von ca. zwei Tagen gesund essen. Ein Akt der Selbstwertschätzung. Wann war das letzte Mal, dass ich für mich, nur für mich, so viel leere und unnütze Kalorien gekauft habe? Eigentlich schlage ich so nur im Verbund über die Stränge.
Die Schreibblockade soll das lösen, ich will mich auf’s Bett schmeißen, links der Süßkram, rechts das salzige Gesnacke. Umgeben von Mini-Haribos, Keksen und Schokolade, flankiert von Chips und Cashews erhoffe ich mir Kreativität gefüttert durch Zucker. Mit der Cola-Flasche in der Hand pumpe ich mir Ideen durch den Magen in den Körper.
Dann schreibt mir dieser Typ, den ich auf OKCupid gefunden habe, wieder eine SMS. Ich stehe auf, checke die Nachricht und drehe mir eine Kippe. Er ist lustig. Er schreibt mir, er hätte mich auf Facebook gestalked und fände mich süß. Nach meiner Antwort rauche ich die Kippe, bevor ich aufgeraucht habe, hat er mir wieder geschrieben. Hin und her geht es, schreiben, Kippe drehen, Cola nippen, zum Laptop rüberschielen.
Die Süßigkeiten liegen da so rum, in einem leeren Dokument blinkt ein Cursor, ich rauch so vor mich hin.
Scheiße, eigentlich wollte ich doch schreiben und jetzt flirte ich hier mit einem Boy per Telefon. Immerhin ist er real, und ich muss keine Premiumdienste für 1,99 Euro pro Nachricht auf meiner Rechnung befürchten.
Das Gespräch ist witty, ich versuche, mit seinem britischen Humor mitzuhalten. Unser Chat auf dem Datingportal bestand aus mehreren langen Nachrichten, hin und her, ohne wirklich viel Konkretes über uns zu verraten, aber es gab einen roten Faden. Auf einem Datingportal, ein Gespräch mit Faden!
Scheiße, immer noch ein leeres Dokument, das den Raum erhellt. Wenigstens ein paar Zeilen, einen kleinen Text will ich zu virtuellem Papier bringen. Wofür hab ich mir denn die ganze Scheiße gekauft, auf dem Bettlaken aufgetischt, das ganze Brimborium gemacht, wenn ich am Ende nur mit einem Boy chatte, den ich demnächst auch einfach auf ein Bier treffen kann? Schreiben wollte ich, verdammt noch mal.
Oh, wieder eine SMS. Er sagt, ich sei so butch wie ein Mädchen mit Drachentattoo. Ich erwidere, ich sei die Khaleesi des schwulen Berlins. Er will mein Khal Drogo sein. Das Risiko, mit Game of Thrones zu kommen war groß. Jede unserer Nachrichten ist ein Assoziationshurricane. Als ich mich als Kevin vorstelle, sagt er, es klänge nach einem 1970er Automechaniker, hot! Ich erwidere, für die meisten Deutschen klänge das nach Post-Wende-Asi aus dem Osten, aber ich bin vor der Wende und im tiefsten Westen geboren. Er erwidert: Die DDR ist super, Unterdrückung und Beton sind heiß.
Er ist smart. Er macht mich nachdenken. Er bringt mein vom Zucker und Koffein aufgepeitschtes Gehirn auf Trab.
Eigentlich wollte ich doch schreiben! Aber sorry, ich muss los, mein Handy hat gerade vibriert, und ich könnt’ schon wieder eine rauchen.
Als ich nach Berlin zog, lebte ich mit meinem damaligen Freund in einem Kiez, für den sich keiner interessierte, angeblich weit weg, aber auf 100 Quadratmetern für knapp über 600 Euro. Zwei Jahre später Trennung, dann eine chaotische WG in der Weserstraße für 250 Euro. Ausland. Die Wohnung einer Freundin im Prenzlauer Berg, irgendwas unter 400 Euro, ich durfte kostenlos bleiben. Obdachlos für einen Monat, den ich halb bei meinen Eltern verbrachte, halb in Istanbul bei einem Freund. Eine andere WG im Prenzlauer Berg mit einer Freundin, dann mit Partner und Freundin, dann nur noch Freundin, ohne Partner, dann neue Mitbewohnerin, dann wieder mit Partner und Mitbewohnerin, dann nur noch Partner. Trennung. Dann Zwischenmiete, 330 Euro im Prenzlauer Berg, ca. 30 Quadratmeter, knapp hinter dem Ring. Uff.
Jetzt eine WG in Neukölln, weder Ersatzfamilie noch Zweck-WG. Ein kleines Zimmer, meine Schreibstube. Hier will ich bleiben, hier bin ich daheim. Vier Jahre in Berlin. Sechs Wohnungen. Die Mietpreise steigen, mein Einkommen ist stetig gesunken.
Der Kiez, in dem ich zuerst wohnte, von dem es hieß, er sei abgelegen, ist jetzt einer der beliebtesten in ganz Neukölln: schöne Wohnungen, viele Bars, direkt neben Tempelhof, ein stadtbekannter Burgerladen. Jetzt heißt es, der Westen sei im Kommen. Endgültig Moabit, der Funke springt vom Wedding her über. Man hört auch, Prenzlauer Berg sei das neue Neukölln, was für eine Zeitrechnung spricht, in der Neukölln schon Trendbezirk war und der Prenzlauer Berg bereits zu Tode gentrifiziertes Gelände mit zu viel Fruchtbarkeit. Die Narrative der Hipness sind widersprüchlich und anstrengend. Ihre Logik ist immer hungrig auf neue Ideen, die sich durchsetzen, die Spirale geht nach oben.
Mir ist egal, wo ich wohne, solange ich da bleiben kann, wo ich bin. Keine Trennungen, keine Zwischenmiete mehr.
Vor der Wehrpflicht wegzulaufen ist schon lange kein Grund mehr, nach Berlin zu ziehen. Es gibt heutzutage einen ganzen Kanon an mantraartig herunterbetbaren Gründen, warum es einen nach Berlin verschlägt: das Studium (auch wenn der NC an den Unis immer weiter anzieht), die billigen Mieten (das neueste Ding ist es jetzt, alte Verträge gegen Gebühr zu transferieren), der trotz oder wegen propagierter Armut ungetrübte Sexappeal der Stadt, die Clubszene, die Kreativität, die schönen Menschen ... Und dann ist da noch der Fame. Was? Berühmtheit? In einer Stadt, in der alle Kumpels sind?
Ja, es gibt ihn wirklich. Diesen Berlin-Fame. Keiner weiß so genau, was ihn ausmacht, aber er existiert. Bekannt sein, weil ist halt so, hat Einzug gehalten.
Vielen ist es eher passiert, als dass sie es provoziert hätten. Ein paar Mal in Folge auf die richtigen Partys gehen, die richtigen Veranstaltungen besuchen, und schon steigt die Zahl der Facebook-Freunde exponentiell an. Wir haben uns noch nie gesehen, aber 120 gemeinsame Freunde auf Facebook? Egal, einfach annehmen.
Wie viele gescheiterte, post-pubertäre Individuen schwemmt es wohl gerade nach Berlin? Egal, ob Fashionist_a/o oder Partymonster: Berlin verkommt für manche zu einem Ort, an dem man zu erreichen glaubt, was in der Provinz unmöglich scheint. Bekanntheit! Ansehen! Ultimative Coolness!