Berliner Weiße mit Schuss - Thomas Knauf - E-Book

Berliner Weiße mit Schuss E-Book

Thomas Knauf

4,5

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

In einer Baugrube im Mauerpark wird eine Leiche gefunden. Schnell bestätigt sich die Vermutung des Privatdetektivs John Klein, dass es sich bei dem Toten um Jan Felsberg handelt, der 1989 als Siebzehnjähriger in der Nacht des Mauerfalls spurlos verschwand. Seine Mutter vermutete damals, dass er in den Westen abgehauen sei, aber jetzt steht fest: Jan wurde erschossen und vergraben. Ein letzter Mauertoter? Ein Kapitalverbrechen? John Klein kommt einem dunklen Geheimnis auf die Spur - einer Spur, die bis in die Spitzen der Lokalpolitik führt und bald weitere Tote fordert...Berlin und seine Kieze - ob Neukölln, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg - Sie alle bieten in unserer Reihe "Kiezkrimis" eine spannende Kulisse, vor welcher die zum Teil kauzig-symphatischen Kommissare ermitteln. Lesen Sie doch mal rein: Thomas Knauf "Prenzlauer Berg Krimis", Krause und Winckelkopf "Friedrichshain Krimis" oder Christoph Spielbergs "Neuköllnkrimi"

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Thomas Knauf

Berliner Weiße mit Schuss

Ein Prenzlauer Berg Krimi

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2013

© der Originalausgabe:berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH, Berlin-Brandenburg, 2012KulturBrauerei Haus 2, Schönhauser Allee 37, 10435 [email protected]: Gabriele Dietz, BerlinUmschlag: Umschlag: Ansichtssache, Berlin,unter Verwendung eines Fotos von Uwe Friedrich, BerlinSatzbild: Friedrich, BerlinSchrift: Stempel Garamond 10/13,5ISBN 978-3-8393-6127-6 (epub)ISBN 978-3-89809-526-6 (print)

www.bebraverlag.de

Kurz & Klein

Wäre er als Preuße geboren, könnte er diese Ansammlung von Dörfern, Berlin genannt, aus Pflichtgefühl lieben. Als Sachse aber betrachtete er die Dinge je nach ihrem Gebrauchswert positiv oder negativ, in diesem Fall sowohl als auch: Wenn schon Provinz, dann Berlin.

Inzwischen war John Klein ein echter Spree-Athener geworden, eine Mischung aus Franz Biberkopf und Harald Juhnke. Wie sie hatte er eine Karriere nach unten gemacht und war als Ermittler bei der Vermisstenstelle gelandet. Vor die Wahl gestellt zwischen Entzugsklinik und Selbstständigkeit, entschied er sich für Letzteres, da Berlin deutlich mehr Kneipen besitzt als Privatdetektive. Im Prenzlauer Berg waren er und sein Partner konkurrenzlos, seit andere Detekteien den lukrativeren Sicherheitsdienst vorzogen.

Zuerst hielten die Bewohner der Metzer Straße das Firmenschild Kurz & Klein für das eines Abrissunternehmens oder einer Änderungsschneiderei. Dass sein westdeutscher Partner schwul war, er hingegen Ostalgiker und leicht homophobisch, störte ihre Teilhaberschaft nicht im Geringsten. Von sprachlichen Missverständnissen abgesehen – 9 Uhr 45 war für Klein drei viertel neun, für Kurz Viertel vor zehn; eine Tasse Kaffee eine Tasse Kaffee und nicht Latte oder Olé –, waren der übergewichtige Melancholiker und das schmalbrüstige Nervenbündel ein ideales Paar. Jeder hatte seine Klientel. Kurz die Versicherungsbetrüger und Urkundenfälscher, er die delikaten Fälle wie Ehebruch, Erpressung, Wiederbeschaffung entlaufener Hunde, Katzen und anderen Getiers. Alles in allem eine Tätigkeit mit niedrigem Stressfaktor und gleitender Arbeitszeit.

John Kleins Welt war wie sein Name, überschaubar und geläufig – die Gegend um den Kollwitzplatz von Ecke Schönhauser, wo das Leben nach Currywurst und Benzin schmeckt, bis Bötzow-Eck und Nikolai-Friedhof, wo der Hund begraben ist. Ein Bermudadreieck gescheiterter Existenzen und provinzieller Selbstdarsteller, umweht vom Mythos falscher Legenden, seit am Wasserturm die Freibeuterflagge der Besitzständler wehte. Zu denen John Klein nicht gehörte; er wohnte seit Jahren zur Miete im selben Haus, besaß zwei Anzüge von der Stange, ein Bankkonto ohne Dispo und einen Hund namens Seneca. Wie sein Herr ließ der andalusische Straßenköter sich ungern an die Leine legen oder herumkommandieren, was nicht nur die störte, die einiges auf dem Kerbholz hatten, sondern ihm auch beruflichen und privaten Ärger einbrachte.

Eile war für den Detektiv ein Fremdwort, nichts tun auch Tun, und stillsitzen eine andere Form der Bewegung. John Klein fand, dass er als Polizeiermittler oft genug in die falsche Richtung gerannt war. Der Erfolg eines Privatdetektivs fußt nicht auf Schnelligkeit, vielmehr auf Intuition und Überlegtheit. Der Rest ist Erfahrung und die Fähigkeit, jedes vorschnelle Urteil über Mensch und Dinge anzuzweifeln. Darin konnte John Klein nach dreißig Dienstjahren so leicht niemand etwas vormachen, nur er sich selbst. Denn ein Irrtum des Melancholikers ist es, zu meinen: »Nichts kann mir passieren, was mir im Traum nicht längst passiert ist.«

1

Eine halbe Stunde vor Mitternacht verließ Touré Kibala mit hunderten glücklichen Konzertbesuchern die Max-Schmeling-Halle. Auch er strahlte nach der dreistündigen Show, die Peter Gabriel wie immer mit der Anti-Apartheid-Hymne Biko beendet hatte. Wiegenden Schrittes ging Touré in Richtung Mauerpark. Obwohl es dort um die Zeit für Afrikaner nicht sicher war, wo war es das schon nachts in Berlin, wollte er lieber zu Fuß gehen als Samstagnacht auf der Schönhauser Allee mit besoffenen, bekifften oder normal bescheuerten Deutschen auf die letzte U-Bahn warten. Außerdem war er nicht der Einzige, der den Weg zur Bernauer Straße durch den Park nahm, nur der einzige Schwarze, so schien es ihm im matten Licht des Halbmondes, der wie eine zusammengefaltete Laterne am Himmel hing. Nachdem er ein gutes Stück gegangen war und dabei immer wieder leise »Biko, Biko, because Biko … the man is dead« vor sich hin sang, musste er pinkeln. Weit und breit kein Baum, kein Strauch, also entleerte er seine Blase auf der Wiese unterhalb des Cantian-Stadions. Er hatte die Hose noch nicht zugeknöpft, da hörte er hinter sich Stimmen.

»Guck dir die Negersau an. Wagt es, in einen deutschen Park zu schiffen.«

»Wo deutsche Kinder spielen und Deutsche sich sonnen.«

»Müssen wir dem Affen wohl einen Knoten in den Schniepel machen …«

»Damit er sich merkt, dass Neger hier nicht pissen dürfen.«

Touré versuchte nicht, mit den beiden Jugendlichen zu diskutieren, er verließ sich auf seine schnellen Beine und rannte los. Hinter sich vernahm er das Getrappel von schweren Springerstiefeln, doch sie würden ihn nicht einholen und bald schlappmachen, denn Touré war Kenianer, Ausdauerlaufen war ihm quasi in die Wiege gelegt. Auf der Bernauer Straße konnte er in ein Taxi springen oder, wenn keins vorbeikam, ins Polizeirevier flüchten. Was er nur im äußersten Notfall tun würde, denn seine Aufenthaltsgenehmigung war seit einem Monat abgelaufen.

Wäre ich bloß mit der U-Bahn gefahren, dachte Touré und drehte sich im Laufen nach seinen Verfolgern um. Dabei übersah er das Plastikband vor einer Baugrube und riss es im Fallen mit sich. Das fliehende Tier spürt keinen Schmerz, doch Touré schrie auf, als das Sprunggelenk seines linken Fußes brach. Er versuchte sich aufzurichten und hörte den kurzatmigen Gesang: »Häschen in der Grube, sahaß und schlief …« Einer der beiden Jugendlichen fuchtelte mit einem Butterflymesser vor seiner Nase herum. Der Afrikaner tastete mit den Händen in der Erde nach einem Stein oder Knüppel, um sich zu verteidigen, und stieß auf einen harten, länglichen, leicht gebogenen Gegenstand. Er zog ihn heraus und hielt ihn den Angreifern entgegen, erntete aber nur höhnisches Gelächter, als der Knochen knapp über seiner Faust brach. Touré grub weiter im Erdreich und förderte etwas Rundes hervor. Seine Angreifer ließen entsetzt von ihm ab, als er den Totenschädel hochhielt und etwas auf Suaheli rief, das wie ein böser Fluch klang.

Der Kenianer hob den Kopf und blickte über den Rand der Baugrube. Seine Verfolger waren verschwunden. Er schaute auf den Totenschädel in seiner Hand und murmelte auf Französisch die Worte Hamlets, seiner Lieblingsrolle, die er vor Jahren in Paris bei Peter Brook gespielt hatte: »Sein oder nicht sein. Das ist hier die Frage … Sterben, schlafen, nichts weiter! Und zu wissen, dass ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stöße endet.«

Als er das erste Mal erwachte, war es noch dunkel. Er zog die Decke über den Kopf und dachte: Dieser Tag kann auch ohne mich auskommen. Zwei Stunden später kroch John Klein aus seinem Bett und fühlte sich wie der aufs Rad geflochtene Dieb auf dem Gemälde von Pieter Breughel. Das Bild passte weder in die Zeit noch gab es Auskunft darüber, wieso er diese Nacht wieder von Lea geträumt hatte. Seit zehn Jahren war seine Frau tot, seit zehn Jahren suchte sie ihn nachts heim, wenn er sich miserabel fühlte. Ging’s ihm gut, hielt sie sich fern, erschien nicht mal, wenn er ihren Namen rief. Typisch Frau. Sie mögen es nicht, dass der Mann zufrieden ist, weil sie es nie sind, am wenigstens mit sich selbst. Am Anfang ihrer Ehe kümmerte sie sich um ihn, wenn es ihm schlecht ging. Weil das öfter der Fall war, wurde sie misstrauisch, sobald er sich besser fühlte, und ließ nicht locker, bis der letzte Funke Selbstzufriedenheit in ihm erlosch. Sie mochte es nicht, wenn er Spaß an einem Vergnügen hatte, an dem sie nicht beteiligt war. Bis er nicht mehr wagte, von Vergnüglichem zu berichten, zumindest wenn dabei zufällig auch Frauen vorkamen. Mit und ohne ihre Eifersucht wäre es ihm nie eingefallen, fremdzugehen. Dazu war er zu beschäftigt, und er konnte die Frau, die er liebte, kein bisschen belügen. Sie hielt ihn trotzdem für einen Hallenser Schlingel, der ohne rot zu werden log, jedem Rock hinterherlief und zu Hause den Schoßhund gab. Einbildung ist eine Brille, die mehr sieht als da ist. Dass Lea eine schlechte Autofahrerin war, wusste er. Trotzdem ließ er sie allein in einem Gebrauchtwagen mit defekter Vorderachse Probe fahren und konnte sich bis heute nicht verzeihen, dass sie ohne ihn in den Tod raste. Deshalb war er zufrieden, dass sie nachts mit ihm Schlitten fuhr, und untröstlich, wenn sie es nicht tat.

»Wir müssen raus und auf andere Gedanken kommen«, sagte John zu Seneca, seinem Border Collie, der mit einem Satz vom Bett sprang und ungeduldig an der Wohnungstür kratzte.

Auf der Diedenhofer Straße morgens um neun kam John Klein sich vor wie in Ghost Town Berlin, der verlassenen Goldgräberstadt in Nevada. Die Gegend um den Wasserturm strotzte auch früher nicht vor Geschäftigkeit, doch seit die hippen, ökologisch bewussten Kleinstädter hier Einzug hielten, war Ruhe die erste Bürgerpflicht. Ihn störten die überängstlichen, dauergestressten, uncharmanten Mütter und Väter kaum, solange sie ihn und seinen Hund nicht anbellten. Kinderspielplätze mied Seneca, ging lieber im Pasternak und Gagarin ein und aus, um sich vom Küchenpersonal abspeisen zu lassen. Jeder im Kiez kannte den Vierbeiner, und niemand wunderte sich, dass er allein um die Ecken zog und die Straßen überquerte, ohne überfahren zu werden. Manchmal fühlte ein Oberlehrer aus der deutschen Provinz sich provoziert und pochte lautstark auf Leinenzwang, der in der Hauptstadt Vorschrift war, aber von den meisten Hundehaltern ignoriert und von der Polizei selten als Vergehen geahndet wurde.

Auf der Kollwitzstraße überlegte John, ob er nicht umkehren und den Rest des Tages im Bett verbringen sollte. An seinen Beinen hingen schwere Gewichte, und im Kopf hörte er noch den Crash scheppern, den er mit Lea im Traum übererlebt hatte. So sehr er sich bemühte, es gelang ihm nicht, den Vorhang zwischen Traum und Wirklichkeit herunterzulassen. Sein Cortex nahm die Außenwelt wahr, schickte die Sinnesreize aber nicht ans Kleinhirn und schaute zu, wie das limbische System mit sich selbst spielte – eine Matrjoschka, in deren Innerem lauter kleine Matrjoschkas verborgen waren. Traum in einem anderen Traum, zog die Realität vorbei, und es hätte ihn nicht überrascht, wenn vorm Restaurant Gugelhof Leas Opel Vectra parken und Kohlen-Kutte auf seinem klapprigen Pferdewagen über die Kollwitzstraße zuckeln würde. Die City-Toilette gegenüber schien auch kein Beweis, dass er nicht träumte, seit er eine Person hineingehen sah und, als die Toilette nach fünf Minuten automatisch aufging, niemand herauskam. John hätte es als Sinnestrübung wegen Alkohols abgetan, hätten nicht andere dasselbe berichtet. Obwohl der Detektiv im nüchternen Zustand dem Realitätsprinzip vertraute, wusste er, dass auf dünnem Eis wandelt, wer ein Gewichtsproblem hat und zu viel darüber nachdenkt, warum Dinge verschwinden und nie mehr auftauchen, oder plötzlich auftauchen, nachdem sie für immer verschwunden schienen. Heute war so ein Tag, der alles möglich machte, auch das Unmögliche. Darum bog er an der Kulturbrauerei links und nicht wie sonst rechts in die Sredzkistraße ab, um beim Kollwitz-Bäcker seinen Morgenkaffee zu nehmen, wo jeden Tag der Film Und täglich grüßt das Murmeltier ablief mit den immer selben Leuten und immer selben Gesprächen.

Sein Ziel war der Mauerpark. Der letzte Ort in Prenzlauer Berg, der zwischen Trümmerlandschaft und Townhouses ein gemeinsames Berlingefühl erzeugt. Die Gegend zwischen Bornholmer und Bernauer Straße auf Höhe Gleimtunnel und Cantian-Stadion war achtundzwanzig Jahre lang eine No-Go-Area aus Beton, Stacheldraht und Flutlicht gewesen, in der nur Grenzer und Lebensmüde herumspazierten. Nach dem Fall der Mauer und ihrer rasanten Demontage wurde das ehemalige Bahngelände zur Must-Go-Area mit Trödelmarkt, Karaoke-Show, Hundeauslaufgebiet.

Normalerweise scheute er den Ort sonntags wegen zu starken Befalls von homo sapiens sapiens. Doch John war eingefallen, dass sein Partner morgen Geburtstag hatte und sich eine Platte von Zarah Leander wünschte. Mehr als zehn Euro wollte er jedoch nicht ausgeben für die UFA-Göttin mit der tiefen Stimme, die homo sapiens homos so lieben.

Auf der Oderberger musste er aufpassen, dass er sich nicht die Knochen brach. Seit zwei Jahren glich die Straße einem Tagebau, in dem die Arbeiter mangels Kohle streiken. Aus Unmut über die Vernichtung von Parkplätzen zugunsten von Blumenrabatten und Fußgängerinseln demonstrierten die Anwohner jeden Samstag gegen die Pläne des Pankower Bezirksamtes. John nahm nicht daran teil, hatte aber dieselbe Stinkwut auf den Stadtrat, der an jeder Kreuzung in Prenzlauer Berg eine halbe Million Euro für Verkehrsinseln und Straßenpoller verbuddelte. Reine Geldverschwendung, gegen die der Stadtkassenraub des Hauptmanns von Köpenick ein dummer Jungenstreich war. Trotz lautstarker Proteste blieb der SPD-Politiker im Amt und sorgte in schöner Eintracht mit seinem Bürgermeister dafür, dass Berlin demnächst aussieht wie Itzehoe. Doch bald gab es Wahlen, dann würden die Pankower den Mann hoffentlich in die Wüste schicken, zu der er den Bezirk gemacht hatte.

Vor der Feuerwache wich Klein dem Löschzug aus, der ohne Sirene aus der Garage fuhr, und trat in ein ungesichertes Bauloch. Da verstand er, weshalb die älteste Feuerwache der Welt die Hausnummer 13 hatte. Mit steifem Hals hielt er Ausschau nach seinem Hund. Seneca stand schwanzwedelnd Ecke Bernauer und ließ sich von einer ansehnlichen Person streicheln.

»Ist das Ihr Hund«, fragte die Frau. John nickte artig.

»Ein süßer Kerl. Passen Sie auf, dass er nicht unters Auto kommt«, ermahnte sie ihn, winkte einem Porsche-Fahrer zu, der aus der Schwedter Straße geprescht kam, und stieg in den Wagen.

Vergeblich fragte John auf dem Trödelmarkt nach Zarah Leander, fand stattdessen zwei CDs von Barbra Streisand und Milva zu je fünf Euro. Für sich wollte er die Filmmusik zum Letzten Tango in Paris, doch die Platte kostete so viel wie ein neuer Plattenspieler, den er nicht brauchte, solange sich sein alter noch drehte.

Nachdem er eine Thüringer Rostbratwurst zur Hälfte verzehrt hatte, die andere Hälfte verschlang Seneca, verließen sie den Trödelmarkt und schlenderten über die große Wiese in Richtung Gleimtunnel.

Schon von Weitem sah John eine Gruppe von Forensikern in weißen Overalls, die unweit der Max-Schmeling-Halle um eine Baugrube herumstanden. Die Grube war durch gelbes Plastikband weiträumig abgesperrt, und vier Uniformierte forderten allzu Neugierige auf, weiterzugehen. Seneca kümmerte das wenig, er lief unter der Absperrung durch und schaute interessiert in das Loch auf der Wiese.

»Das gibt’s doch nicht! Wem gehört der verdammte Köter?«, brüllte ein Kommissar, das Handy am Ohr. »Verzeihung! Ich meine nicht Sie … rufe gleich zurück.«

John erkannte seinen alten Kollegen Bernd-Ulrich Scholz, der mittlerweile kurz vor der Pensionierung stehen musste, an seiner unangenehmen Stimme. »Hallo Bubi! Immer noch der alte miese Bulle.«

Der Kommissar fuhr wie vom Blitz getroffen herum, während einer der Polizisten den Hund mit einer wedelnden Handbewegung vom Rand der Grube wegscheuchte.

»Komm, Seneca! Wir sind hier unerwünscht«, rief John.

Scholz klappte sein Mobiltelefon zu und steckte es ein. »Ist heute Freitag der dreizehnte, dass ausgerechnet du mir in die Quere kommst!?«

»Habt ihr einen Toten«, fragte John und wollte die Absperrung hochheben, um hindurchzuschlüpfen.

»Keinen Schritt weiter! Zivilisten werden keine Auskünfte erteilt. Das solltest du noch wissen.«

John schüttelte den Kopf. »Hab alles vergessen, was ich mal gelernt habe.«

»Wir nicht«, versicherte Scholz. »Wir reden noch heute von dir, wenn wir schlecht drauf sind.«

»Um gute Laune zu bekommen, hoffe ich.«

Der Kommissar bekam hektische Flecken im Gesicht. »Immer das letzte Wort! Aber du erfährst nichts. Sieh zu, dass du Land gewinnst.«

»Morgen steht ohnehin in der Zeitung, was ihr da ausgebuddelt habt«, sagte der Detektiv und ging nachdenklich davon. Weil die Wirklichkeit ein dünnes Eis war, in dem Dinge verschwinden und plötzlich wieder auftauchen.

Er wollte nicht weiter darüber philosophieren und überlegte, was er mit dem Rest des Sonntags anfangen sollte. In seinem Kühlschrank herrschte gähnende Leere, im Bett lag niemand, der ihn die Wirklichkeit spüren ließ, auf Fernsehen hatte er keine Lust. Also ging John Klein zu Biene auf der Prenzlauer Allee, trank ein Bier und bestellte Eisbein mit Sauerkraut. Sein Arzt hatte ihm geraten, wegen des hohen Cholesterinspiegels fette Kost zu meiden, deshalb ließ er die Speckschwarte auf dem Tellerrand, aß nur das zarte Fleisch, das er mit Spreewälder Senf einstrich.

Nach drei Bieren war er müde. Zudem nervte ihn der Versuch der Stammgäste, einen neuen Guinessrekord im Kommentieren der Bankenkrise aufzustellen. Das Gerede der Habenichtse über die, die alles hatten, erschien ihm so amüsant wie ein Dia-Vortrag für Blinde und brachte ihn nicht auf andere Gedanken. Im Gegenteil. Je mehr er versuchte, den Film der letzten Nacht anzuhalten, umso lauter ratterte die Endlosschleife in seinem Kopf. Darum beschloss er, ins Büro zu gehen und seinen Schreibtisch aufzuräumen. Berliner Sonntage waren für Marathonläufe, Rad-Demos, Liebesparaden und ähnlich schweißtreibende Aktivitäten – Dinge, die einem zufriedenen Menschen mit Übergewicht nichts sagten.

Die Prenzlauer Allee lag träge wie ein Dorfköter in der Mittagssonne. Selbst wochentags herrschte hier kaum Menschengedränge, nur Straßenbahn- und Autoverkehr. Wer hier wohnte, hatte es eilig, in eine der Nebenstraßen zu kommen, wo es weniger laut und gefährlich war. Auf der Allee machten Radfahrer Jagd auf Fußgänger, Autos lieferten sich Wettrennen mit der Straßenbahn, und manchmal starb ein Mensch, der es nicht geschafft hatte, rechtzeitig übern Damm zu kommen.

John erreichte die Metzer Straße unversehrt und überlegte, ob er sich nach dem Eisbein ein Stück selbst gebackenen Karottenkuchen bei Hilde gönnen sollte. Weil das Lokal bis auf den letzten Platz von brunchenden Paaren mit Kindern okkupiert war, ging er geradewegs ins Büro. Es gab keinen dringenden Grund, dort zu sein, außer vielleicht den Anrufbeantworter abzuhören, der immer auf Empfang war, weil seine beiden Mobilnummern nicht im Branchenverzeichnis standen. Eine behielt er für sich, die andere gab er nur dann an Klienten weiter, wenn er jederzeit erreichbar sein wollte.

Das Büro Kurz & Klein in der Metzer Straße im ersten Stock des Quergebäudes auf einem schmalen Hof ohne Seitenflügel war eine Wohnung mit zwei Zimmern, Küche und Toilette. Beide Zimmer lagen über der Tordurchfahrt zum Hof und waren vom Flur aus über eine Treppe zu erreichen. Das vordere, in dem John residierte, hatte ein halbkreisförmiges Fenster, Kuhauge genannt, wie Sam Spades Detektivbüro in San Francisco. Das Zimmer seines Partners schaute auf die Mauer der alten Bötzow-Brauerei, in der schon zu DDR-Zeiten kein Bier mehr gebraut wurde. Nachdem hier Filme und andere krumme Dinger gedreht worden waren, plante jetzt ein Investor Wohnungen und Büros für zahlungskräftige Mieter. Die Firma Kurz & Klein gehörte nicht zu denen, die hundert Euro für den Quadratmeter berappen konnten, und falls sie es könnte, würde sie es nicht ums Verrecken tun. Lange hatten sie nach etwas Besserem gesucht als dieser Wohnung im Zille-Milieu mit Innenklo. Doch entweder war es zu teuer oder unbezahlbar. Zudem liefen die Geschäfte in letzter Zeit eher schleppend. Weniger in Sachen Versicherungs- und Kreditbetrug, für die sein Partner zuständig war, als in seinem Betätigungsfeld Ehebruch/Bigamie/Scheinheirat. Niemand in Prenzlauer Berg schien mehr Zeit oder Lust zum Fremdgehen zu haben. Er fing an, sich Sorgen zu machen um den guten Ruf seines Viertels, das im Sozialismus berüchtigt war für seine kriminellen, unsittlichen und politisch unzuverlässigen Bewohner.

John vermisste die alten Zeiten nicht, litt nur selten unter dem neuen Biedermeier, obwohl die politisch korrekte Empfindlichkeit der Neu-Prenzlberger ihn manchmal nervte. Dass man auf die Straße gehen konnte, ohne fürchten zu müssen, von bröckelnder Fassade oder Dachziegeln erschlagen zu werden, war den Untergang der DDR wert, für die er sein halbes Arbeitsleben als Kripobeamter geschuftet hatte.

Und doch fühlte er sich an diesem ersten Sonntag im Mai unwohl wie lange nicht. Sein Gefühl sagte, etwas kam auf ihn zu, das sein mehr oder weniger geordnetes Leben durcheinanderwirbeln würde wie Leas Tod. Um auf andere Gedanken zu kommen, räumte er seinen Schreibtisch auf und machte sich an die Aufstellung seiner Honorare zur längst fälligen Steuererklärung. Keine Tätigkeit, die das Wohlbefinden steigerte und den Tag ausfüllte.

Lorenz Straub öffnete den Reißverschluss des Plastiksacks und beugte sich über den Leichenfund aus dem Mauerpark. »Na, wen haben wir denn da, Männlein oder Weiblein?«, sagte der Rechtsmediziner und zählte die übereinanderliegenden Knochen. Bis auf das linke Schulterblatt und den linken Oberarm war das Skelett komplett. Der Zustand der Gebeine ließ auf den ersten Blick eine Mortifikation von einigen Jahrzehnten vermuten. Wahrscheinlich ein Kriegsopfer, das dritte in diesem Jahr, dachte Straub und zog den Reißverschluss wieder zu. Früher hatten sie drei pro Monat bekommen, aber inzwischen lieferten die Baufirmen solche Fundstücke trotz Meldepflicht kaum noch ab, sondern fuhren sie mit dem Abraum auf die Halde, um Kosten zu sparen. Nicht selten stieß man bei Ausschachtarbeiten auf ein Massengrab, und wenn es sich um Soldaten früherer Kriege handelte, wurde die Baustelle zur archäologischen Grabungsstätte erklärt. Ein Albtraum für jeden Privatunternehmer. Auch Straub hatte weder Zeit noch Lust, fürs Rote Kreuz einen Vermissten des Weltkrieges zu identifizieren. Er griff zum Telefon, um der Mordkommission mitzuteilen, dass sie das Paket wieder abholen solle. Als er die Mappe mit den Laborfotos der Forensiker durchblätterte, verschob er das Telefonat.

Die Kleidung des Toten, auf einem Lichttisch fotografiert, bestand aus Parka-Kutte, Bluejeans, Pullover, Unterwäsche, Socken und Turnschuhen. Im blutverschmierten Unterhemd waren vier Einschusslöcher vom linken Bauch bis zum rechten Brustkorb, typisch für eine nach oben ziehende Salve aus einer Kalaschnikow. Im Bund der Jeans konnte man trotz Blutflecken das Fabrikat erkennen: VEB Bekleidungswerk Rostock. Auch die Turnschuhe waren Made in GDR, ebenso die goldene Armbanduhr Marke Glashütte Spezichron Automatik mit Datum. Obwohl der Deckel der Uhr fehlte und das Zifferblatt stark korrodiert war, hatten die Forensiker versucht, die Datumsanzeige leserlich zu machen – der 9. Tag eines unbestimmten Monats.

Straub schaute auf den Beipackzettel der Fundsachen: Prenzlauer Berg, Mauerpark, ehemaliger DDR-Grenzstreifen Höhe Bösebrücke/Gleimtunnel. Ein Mauertoter, in der Erde verscharrt? Das interessiert mich, dachte der Pathologe und wählte erneut die Nummer der Mordkommission.

2

Pünktlich wie immer betrat Gunnar Ziesche kurz vor neun sein Büro im Rathaus Pankow und ließ wie immer die Tür mit einem lauten »Mojn!« ins Schloss fallen. Roswitha Engel, die Sekretärin des Bezirksstadtrats für Öffentliche Ordnung, zuckte noch immer zusammen beim forschen Auftritt ihres Chefs und empfing ihn mit einem milden Lächeln.

»Was sagt der Terminkalender heute«, erkundigte sich Ziesche, während er mit der Hand das strähnige Seitenhaar über seine Glatze strich.

»Neun Uhr dreißig Jour fix beim Bürgermeister, elf Uhr fünfzehn Sitzung im Finanzausschuss, um zwei Präsentation der neuen Uniform fürs Ordnungsamt …«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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