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Berner Krimis ist eine Anthologie mit Kurzkrimis von Autorinnen und Autoren aus dem Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller Verein (BSV). Es wird gelogen, betrogen und gemordet, was das Zeug hält. Ein Muss für alle Krimi-Fans!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2021
Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller Verein (BSV)
Berner Krimis
Eine Anthologie des Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller Vereins
2021
www.bsv-bern.ch
© 2021 Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller Verein (BSV)
Umschlaggestaltung, Illustration: Stefanie Christ
Lektorat, Korrektorat: Margrit Dietschi
Herausgeber: Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller Verein (BSV)
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Paperback: 978-3-347-26313-0
ISBN Hardcover: 978-3-347-26314-7
ISBN e-Book: 978-3-347-26315-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller Verein (BSV)
Der Vorstand:
Daniel Himmelberger, Präsident
Saro Marretta, Vizepräsident
Henriette Brun-Schmid
Teres Liechti
Ruben Dellers
Vladislav Jaros
Sekretariat und Geschäftsstelle:
Nora Baumann
Dändlikerrain 21, 3014 Bern
Inhalt
Vorwort
Sandra Rutschi Ein mörderisches Solo
Thomas Kowa Die sechs Phasen der Akzeptanz
Susy Schmid Ältere Damen an Bushaltestellen
Christoph Simon Wie kommt man in sinnlos kurzer Zeit zu extrem viel Geld?
Barbara Traber Eine ganz gewöhnliche Geschichte
Markus Michel Der alte Schorsch
Regine Frei Wer nicht lesen will …
Pedro Meier Die Ermordung von Albert Einstein
Cornelia Leuenberger Die liebe Martha
Dominik Riedo Leserbriefe
Sabine Hunziker Der Fahrgast
Ruben Dellers Nicht aufgeben!
Christine Rothenbühler Chumm nume …!
Jost Imbach RONDO MORTALE
Marijke Schnyder Die Jagdtrophäe
Stefanie Christ Der unrühmliche Tod des Nasenbohrers durch die Hand des feinzinkigen Edelmanns
Paul Lascaux Arianes Mission
Susanne Thomann Häkelmuster
Vladislav Jaros Wachtmeister Stämpfli
Gerlinde Michel Ritualmord oder Töchter des Lebens
Daniel Himmelberger & Saro Marretta Das Blut des heiligen Gennaro
Daniel Himmelberger & Saro Marretta Das Tennisracket
Henriette Brun-Schmid Das Gespräch
Frank Seethaler Die Flucht
Irène Mürner Alles, was ich wollte
Thomas Röthlisberger Gift
Karin Bachmann Hermann
Andres Muhmenthaler Die Weisse Frau
Therese Bichsel Zur goldenen Stunde
Sunil Mann In stiller Andacht
Teres Liechti Gertsch Lillyhoney
Peter Krebs Herr Direktor Aebi
Esther Grünig - Schöni Das Morast Kleid
Gabriel Anwander Groxly
Adelheid Blättler-Schmid Der Feinschmecker
Martin Geiser Feierabend
Iris Gerber Ritter Der zweite Brand
STIFTUNG FELSENGRUND
Vorwort
In diesem Jahr feiert der Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller Verein (BSV) sein 80-jähriges Jubiläum. Grund genug, eine neue Anthologie – es ist inzwischen die vierte – mit Texten der Berner Autorinnen und Autoren herauszugeben.
Die «Berner Krimis» beinhalten 37 Texte, die eigens für dieses Projekt verfasst wurden. Dabei ist ein Juwel entstanden, welches jeden Krimi-Fan das Herz höherschlagen lässt. Es wird gelogen, betrogen und gemordet, was das Zeug hält! Oft mit einem Augenzwinkern, sind doch die Bernerinnen und Berner eher für ihre Gemütlichkeit als für ihre kriminelle Energie bekannt.
Dieser Umstand macht die Krimi-Anthologie umso attraktiver: Sie zeigt auf, wieviel Schreibpotenzial bei den Berner Autorinnen und Autoren vorhanden ist und an die Öffentlichkeit drängt.
Im Namens des BSV danke ich der Stiftung Felsengrund, der Burgergemeinde Bern und dem Kanton Bern für ihre finanzielle Unterstützung.
Mein Dank gilt auch allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge. Es ist nicht selbstverständlich, dass derart viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller mitmachen und es freut mich sehr, dass dies auch im Jahre 2021 möglich ist.
Den Leserinnen und Lesern wünsche ich bei der Lektüre der «Berner Krimis» viel Spannung und Vergnügen!
Daniel Himmelberger, Präsident des BSV, im Herbst 2021
Ein mörderisches Solo
Sandra Rutschi
Ein Schuss knallt durch das Probelokal. Er übertönt das Fortissimo der Trompeten und das Donnern der Pauke. Sekunden später ist es still. Langsam gleitet der Dirigent vom Podest und bleibt regungslos am Boden liegen.
«Was … was war denn das?», stammelt die Querflötistin in der vordersten Reihe.
Panik bricht aus. Notenständer kippen um, Blätter fliegen durch die Luft, jemand schluchzt. Die Querflötistin blickt auf den Dirigenten und beginnt zu zittern.
Der Posaunist ganz hinten flucht. «Herrgott noch mal, muss denn immer etwas passieren in diesem Verein?!»
Ständig läuft etwas schief, seit die Musikgesellschaft mit den Proben fürs Jahreskonzert begonnen hat. Zuerst verstauchte sich der Saxophonist, der das Solo des Abends hätte spielen sollen, bei einem Velounfall beide Hände. Wenige Wochen später brach im Probelokal während einer Pause ein Feuer aus und beschädigte zahlreiche Instrumente. Und nun, am Abend vor dem Konzert, liegt der Dirigent vor seinem Notenständer und regt sich nicht mehr.
«Halt! Alle bleiben, wo sie sind!», dröhnt der Bassist und bahnt sich mit seinem massigen Körper einen Weg durch die Reihen. Er kniet sich neben den Dirigenten und fühlt nach dessen Puls. Die Musikanten verstummen und warten gespannt.
«Du», sagt der Bassist und zeigt auf die flinke Klarinettistin. «Ruf die Ambulanz. Schnell.»
Die Klarinettistin zückt ihr Handy und eilt hinaus.
«Oh mein Gott», flüstert die Querflötistin.
«Himmeldonnerwetter», röhrt der Posaunist.
Ein Raunen geht durch die Reihen.
«Ruhe!», poltert der Bassist. «Ich will jetzt wissen, wer das war.»
Auf einen Schlag wird es still.
«Matthias' Unfall, das Feuer, und nun Urs. Das hat doch alles einen Zusammenhang. Sagt mir, was hier vor sich geht! Sonst lernt ihr euren Dorfpolizisten mal richtig kennen.»
«Nun dreh nicht durch, Alter», mault der Posaunist. Doch seine Augen mustern aufmerksam die Kameraden. Lauerndes Schweigen breitet sich aus.
Schliesslich erklingt ein Schluchzen aus dem Register der Trompeten.
«Das mit Urs, das war ich nicht», schnieft der erste Trompeter. «Ich schwöre es! Die Scherben am Hang auf Matthias' Heimweg, die waren vielleicht ein bisschen fies von mir, ja. Und das Feuer, das hat sich weiter ausgebreitet als ich wollte. Eigentlich hätte es doch nur …»
Der Trompeter stockt.
«Eigentlich hätte es doch nur die Saxophone zerstören sollen. Diese verflixten Saxophone! Jedes Jahr kriegen sie das Solo. Ich dachte, wenn Matthias nicht spielen kann, ist die Sache geritzt. Dann kommen endlich die Trompeten, dann komme endlich ich zum Zug! Doch nein, stattdessen übernahm einfach Susanne das Sax-Solo. Aber das hier, das war ich nicht!»
Vor dem Probelokal heult die Sirene. Auf der Treppe poltern Schritte, die Tür wird aufgerissen. Doch anstatt der Sanitäter betreten zwei Polizisten das Lokal.
«Gut gemacht, Jasmin, genau wie wir's gestern besprochen haben», lobt der Bassist die Klarinettistin. «Dort, Kollegen.
Der Vorderste mit der Trompete.»
Wortlos ergreifen die Polizisten den Trompeter.
«Aber ich habe Urs nicht erschossen!», kreischt dieser noch auf der Treppe.
«So Kumpel, kannst wieder aufstehen. Den Fall hätten wir gelöst», brummt der Bassist und hilft dem Dirigenten auf die Beine. «Und du dort hinten am Schlagzeug: So einen lauten Knall mit der Peitsche hätte ich einer solch zarten Dame gar nicht zugetraut!»
Sandra Rutschi, geboren 1979, lebt in Bern. Zu ihren Publikationen gehören der Lesereiseführer «Rund um Bern – Lieblingsplätze zum Entdecken», das Porträtbuch «Bern – Porträt einer Stadt» und der Kriminalroman «Im Schrebergarten». Hinzu kommen unzählige Zeitungsartikel sowie dutzende Kolumnen und Kurzgeschichten.
www.sandrarutschi.ch
Die sechs Phasen der Akzeptanz
Thomas Kowa
«Ihre Tochter ist in meiner Gewalt», sagte ich so ruhig, als würde ich beim Bäcker meines Vertrauens leckere Mandelbärli bestellen.
Julius Wolf sass in Hemd und Krawatte im Homeoffice und starrte irritiert seinen Computerbildschirm an. Dort sah er nicht seine Vorstandskollegen, sondern einen ihm unbekannten Mann – also mich – als Clown verkleidet. «Ich hab wohl das falsche Videomeeting aufgerufen», sagte Wolf und schien den Button zum Deaktivieren des Videotelefonats zu suchen.
«Ihre Tochter ist in meiner Gewalt», wiederholte ich. Dieses Mal bemühte ich mich, so niederträchtig zu klingen, wie einer dieser Kleinkriminellen in einer ZDF-Vorabendserie.
Wolf sagte nichts, kein Wunder, er befand sich nach dem sechs Phasen Modell der Akzeptanz noch im ersten Stadium, dem des Schocks.
«Die kleine Tyger Joy Adèle Wolf ist doch Ihre Tochter, oder?», fragte ich.
«Wer will das wissen?» Wolf blickte mich wütend an. Offensichtlich war er sofort in die Phase des Zorns übergetreten.
«Ich werde mich wohl kaum als Clown verkleiden, anonym über einen Thor-Browser ins Internet gehen, Ihr Zoom-Meeting hacken, mir die Administrator-Rechte sichern und Ihre Vorstandskollegen aus dem Meeting ausschliessen, nur um Ihnen dann meinen Namen zu verraten, oder?» Wieder eine rhetorische Frage, aber es dauerte eine Weile, bis Wolf das verstanden zu haben schien.
«Was wollen Sie?», fragte er schliesslich, ganz der Banker. Ich hob eine Augenbraue. Offenbar hatte schon die Phase der Verhandlung begonnen. Wer so schnell reagierte, tat dies selten wohldurchdacht, ein typischer Manager eben.
«Nicht viel», antwortete ich. «Nur hundert Bitcoins.»
«Sind Sie wahnsinnig?»
«Ist Ihnen Ihre Tochter nicht mal einen Bissen Pizza wert?» Ich sparte mir die Bemerkung, dass am 22. Mai 2010 bei der weltweit ersten Transaktion zehntausend Bitcoins gegen zwei Pizzen getauscht worden waren. Da Wolf mit Bitcoins handelte, wusste er sicher davon.
«Das sind …» Ich hörte seine Computermaus klicken. «Das sind nach aktuellem Tageskurs über 5,4 Millionen Franken!»
«Nein», entgegnete ich. «Es sind nur Nullen und Einsen in einer Datenbank.»
«Ein Tausend-Franken-Schein ist auch mehr wert als das Papier, auf dem er gedruckt ist!»
«Wollen Sie mit mir über das internationale Finanzsystem sprechen oder Ihre Tochter retten?»
Wolf schluckte. «Was haben Sie mit ihr gemacht?»
«Wussten Sie, dass Kryptowährungen riesige Energiemengen verbrauchen, weil zur Aufrechterhaltung der Fälschungssicherheit hochkomplexe Rechenaufgaben gelöst werden müssen? Der Stromverbrauch durch Bitcoin lag im Jahr 2020 bei 124 TWh. Das ist doppelt so viel wie jener der gesamten Schweiz.»
«Das weiss inzwischen jede Hausfrau.»
«Höchstens die Hausfrau eines Bankiers», widersprach ich. «Und der ist das egal, sonst hätte sie keinen Bankier geheiratet. Der Energieverbrauch steigt zudem exponentiell an, denn die benötigte Rechenleistung um einen Bitcoin zu erschaffen, wächst kontinuierlich.»
«Was hat das mit meiner Tochter zu tun?»
«Eine einzige Bitcoin-Transaktion verbraucht heute so viel Strom wie ein amerikanischer Durchschnittshaushalt in 23 Tagen. Und die sind nicht gerade für ihre Stromsparmentalität bekannt, oder?»
Wolfs Augenlider zuckten. Besass er doch so etwas wie Anstand? In seiner Position fast ein Ding der Unmöglichkeit, aber ich war ein alter Sozialromantiker und glaubte nur zu gern an das Gute im Menschen.
Um stets aufs Neue enttäuscht zu werden.
Schon blickte Wolf mich mit dieser Mischung aus Verzweiflung und Wut an. Offensichtlich war er in die Phase des Zorns zurückgefallen, weil sich die Verhandlungen schwierig gestalteten. «Entweder Sie sagen mir jetzt, wo meine Tochter ist, oder ich rufe die Polizei!»
«Das können Sie gerne tun, aber dann werden Sie nie erfahren, wo Ihre Tochter steckt.»
«Wenn Sie Ihr etwas angetan haben …»
«Keine Angst», sagte ich. «Momentan ist sie das glücklichste Mädchen in Bern.» Ich teilte meinen Bildschirm und zeigte ihm ein Foto meines Kellers, der aussah wie ein Süssigkeitenladen vor dem Weihnachtsansturm. Mitten drin Tyger Joy Adèle. «Ich habe mich als Clown verkleidet und ihr von meinem Süssigkeiten-Zimmer erzählt», sagte ich. «Sie ist ganz freiwillig mitgekommen und fand auch das Spiel toll, sich die Augen zu verbinden.»
«Sind Sie wahnsinnig!», rief Wolf. «Wir ernähren unsere Tyger zuckerfrei!»
«Obwohl Ihre Bank in Nestle investiert? Das nennt man wohl zweigleisig fahren, oder?»
«Sie entführen meine Tochter und wollen mir etwas von Moral erzählen?» Wolf blickte mich an, als sei ich hier der Bösewicht.
«Ohne Ihre Tochter würden Sie nicht zuhören», entgegnete ich seelenruhig.
«Diese Unverschämtheit muss ich mir nicht länger anhören!» Erneut suchte Wolf den Button zum Abbrechen des Videotelefonats.
Offensichtlich war er in die Schock-Phase zurückgefallen, die heutigen Manager waren so abgehoben, sie hielten sich nicht einmal an tausendfach erprobte psychologische Modelle.
«Bald sind die Bitcoins ohnehin nichts mehr wert.»
Ich legte ein Grinsen auf, so diabolisch wie Joker, ich hatte es extra vor dem Spiegel geübt.
«Im Gegenteil, die steigen wie eine Rakete!»
«Challenger?», fragte ich. «Tragische Sache damals. Hätte man aber vorhersehen können. So wie den kommenden Bitcoin-Crash.»
«Das ist doch Blödsinn!»
«Anscheinend muss ich Ihnen erst mal erklären, wie der Bitcoin funktioniert», sagte ich. «Also passen Sie auf, der Bitcoin wurde von Satoshi Nakamoto erfunden, niemand weiss, wer dahinter steckt.»
«Erzählen Sie mir etwas, das ich nicht weiss!», antwortete Wolf.
«Die zugrundeliegende Technologie nennt sich Blockchain, also Blockkette, was nichts anderes ist als eine Datenbank, in der sämtliche ausgeführten Transaktionen enthalten sind, die aufwendig verschlüsselt werden. Für jeden neu errechneten Block erhält man Bitcoins als Belohnung. Jene, die den Block erschaffen, nennt man Miner oder Schürfer.»
«Wie schon gesagt, weiss ich das …»
«Dann wissen Sie auch, dass die Anzahl der Bitcoins auf 21 Millionen begrenzt ist?»
Wolf blickte mich mit grossen Augen an.
«Und dass von diesen 21 Millionen Bitcoins schon weit über 18 Millionen generiert wurden?»
«Weil es immer schwieriger wird, einen neuen Bitcoin zu errechnen, ist das kein Problem», entgegnete Wolf.
«Ist es doch», widersprach ich. «Denn die Schürfer bekommen alle 210.000 Blöcke nur noch die Hälfte Bitcoins als Belohnung pro errechnetem Block. Vor Mai 2020 waren das 12.5, jetzt sind es 6.25 und irgendwann werden es nur noch 3.125 Bitcoins sein. In exakt diesem Moment ist es unattraktiv, neue Bitcoins zu generieren. Die meisten Schürfer nutzen das, um den alten Rechnerpark mit einem neuen zu ersetzen. Wenn aber jemand genau dann mit einer immensen Rechenpower in den Markt geht, kann er den Bitcoin übernehmen.»
«Was?»
«Das nennt sich 51-Prozent-Angriff. Der Bitcoin folgt immer der Mehrheit, der am System angeschlossenen Rechenleistung. Nach dem Motto, die Mehrheit irrt sich nie. Dabei könnte ich Ihnen mindestens drei US-Präsidenten nennen, die das Gegenteil beweisen», sagte ich. «Aber egal, verfügt man über genügend Rechenleistung, kann man den Bitcoin kapern, Transaktionen annullieren oder in die eigene Tasche wirtschaften.»
«Niemand kann sich das leisten!»
«Der Bitcoin-Erfinder Satoshi Nakamoto hat sich ganz am Anfang, als der Bitcoin noch für ein paar Cent zu erstellen war, mindestens eine Million Bitcoins gesichert, die nach heutigem Tageskurs …»
«54 Milliarden Franken wert wären», vervollständigte Wolf.
«Er könnte den Bitcoin also kapern und sich alle Werte sichern oder sie vernichten.»
Wolf blickte mich desillusioniert an. Er war endlich in der vierten Phase, jener der Depression angekommen. «Das wusste ich nicht», sagte er schliesslich kraftlos.
«Können Sie alles bei Wikipedia nachlesen.»
«Aber was wollen Sie dann mit meinen Bitcoins?»
«Den Bitcoin bekämpfen.»
Er lachte laut auf, war kurz davor mir den Vogel zu zeigen, hielt sich dann jedoch zurück, wahrscheinlich wegen seiner Tochter. «Glauben Sie, das hätten die Zentralbanken nicht versucht?»
«Ich habe andere Möglichkeiten.» Ich lächelte. «Möchten Sie noch ein Foto Ihrer Tochter sehen oder können wir uns jetzt über die Modalitäten der Transaktion unterhalten?»
«Ich hab doch noch gar nicht zugestimmt …»
«Wenn der Bitcoin erledigt ist, bringt das mehr gegen den Klimawandel, als den weltweiten Flugverkehr einzustellen.»
Er schaute mich mit einem Blick an, der deutlich machte, dass ihm der Klimawandel egal war, obwohl er eine Tochter hatte. Der Mensch ist eben zur Verdrängung fähig bis hin zur Selbstausrottung.
«Wie wollen Sie den Bitcoin erledigen?», fragte Wolf.
«Wenn eine alte Omi mit dem Enkeltrick reingelegt wird, hat das keinen Neuigkeitswert, wenn ein Bankier privat 5,4 Millionen Franken verliert, dann schon.»
«Das ändert doch nichts!»
«Nur wenn Sie Einzelfall bleiben», entgegnete ich. «Ausserdem können Ihre Bitcoins schon morgen wertlos sein, zum Beispiel, wenn Sie Ihr Passwort vergessen.»
«So blöd bin ich ganz sicher nicht.»
Ich liess mir meine Freude nicht anmerken, jetzt hatte ich ihn dort, wo ich ihn wollte. «Davon bin ich auch nicht ausgegangen», sagte ich. «Entgegen der Empfehlung lebensfremder IT-Experten schreibt jeder vernünftige Mensch einen kleinen Passwort-Spickzettel.» Ich grinste ihn an. «Und jetzt halten Sie diesen Spickzettel bitte in die Kamera.»
«Sie wissen, dass Sie mit dem Passwort ohne Wallet nichts anfangen können?»
Ein Wallet ist eine digitale Geldbörse in Form eines verschlüsselten USB-Sticks, auf welchem die Bitcoins gespeichert sind. Besitzt man Passwort und Wallet, besitzt man auch die Bitcoins.
«Je länger Sie sich Zeit lassen, desto mehr Süsses stopft die Kleine in sich hinein …»
Wolf seufzte, nahm aus einer Schublade eine kleine japanische Box aus Bambus, öffnete sie mit einem komplizierten Mechanismus, holte ein Blatt Papier heraus und hielt es in die Kamera seines Computers. IchbinderbesteBankierder-Welt!21, stand darauf.
Das Passwort war so blöd, es konnte nur echt sein. Ich schoss ein Bildschirmfoto.
«Da waren Sie ja sehr kreativ», sagte ich. «Nun öffnen Sie bitte das Zoom-Meeting auch mit ihrem Smartphone, damit wir unterwegs in Verbindung bleiben.»
Er tat es und ich sah ihn nun hochkant.
«Jetzt packen Sie Ihren Bitcoin-Wallet bitte in eine Versandtasche, am besten gepolstert.»
Wolf schüttelte den Kopf. «Erst lassen Sie mich mit meiner Tochter reden, per Zoom.»
«Wollen Sie die kleine Tyger Joy Adèle so kurz vor Ihrer Freilassung traumatisieren, weil sie mit ihrem völlig panischen Vater telefoniert?» Ich schüttelte den Kopf. «Das kann ich dem armen Kind nicht zumuten.» Ich zeigte ihm ein weiteres Foto von Tyger, umringt von einer Menge Süssigkeiten.
Wolf starrte sehnsüchtig auf das Foto, mir war nicht klar, ob wegen seiner Tochter oder wegen der Zuckerbomben. «Wer garantiert mir, dass ich danach Tyger sehe, unversehrt?»
«Ich schwöre es Ihnen.»
Er lachte sarkastisch. «Ich soll einem Verbrecher trauen?»
«Ich vertraue Ihnen doch auch», entgegnete ich. «Bisher haben Sie nur einen Zettel in die Kamera gehalten, oder? Wenn Sie jetzt tun, was ich Ihnen sage, können Sie schon in einer Viertelstunde bei Ihrer Tochter sein.»
Wolf schloss die Augen und biss sich auf die Lippe.
«Es sind nur Nullen und Einsen», sagte ich.
Kurzentschlossen öffnete Wolf seine Schublade, nahm einen USB-Stick mit eingebautem Display heraus und legte ihn in eine braune Luftpolstertasche. «Welche Adresse soll ich draufschreiben?»
«Keine.»
«Absender?»
«Auch keinen. Das werfen Sie so in den Briefkasten im Talweg 1. Und beeilen Sie sich, er wird in zehn Minuten geleert.»
«Talweg? Wo ist denn das?»
«Fünf Minuten von Ihnen entfernt, mit ihrem Aston Martin wahrscheinlich nur vier. Geben Sie einfach Talweg 1 in das Navi ein.»
Wolf lief aus seinem Haus, ging in die Garage, stieg in seine silberfarbenen DB11, gab die Adresse in das Navi ein und fuhr los.
Weil Telefonieren während des Autofahrens meines Erachtens eine schwere Straftat ist, wartete ich, bis er vor dem Briefkasten hielt.
«Jetzt werfen Sie den Brief ein», sagte ich. «Sie werden unendlich erleichtert sein, wenn Sie Ihre Tochter wieder in die Arme schliessen können.»
Er stieg aus dem Wagen, das Handy immer noch in der Hand. «Wie wollen Sie denn an den Stick rankommen?»
«Die Zeit drängt», entgegnete ich. «Wenn der Postbote Sie sieht, gilt unsere Abmachung nicht mehr.»
Wolf schluckte und warf die unbeschriebene Luftpolstertasche in den Briefkasten.
Er war endlich in Phase fünf angekommen, der Akzeptanz.
«Sehr gut», sagte ich. «Fahren Sie in Richtung A1, sobald ich Wallet und Passwort überprüft habe, sage ich Ihnen, wo sich Ihre Tochter befindet. Ich verlasse jetzt kurz meinen Computer, aber Sie bleiben im Meeting. I'll be back.»
Wolf fuhr los und ich setzte mich auf mein Fahrrad, im Clownkostüm wohlgemerkt und kam drei Minuten später am Briefkasten an.
Ich wartete zwei weitere Minuten, dann kam der kleine Posttransporter angefahren. Der Postbote stieg aus und schaute mich so irritiert wie belustigt an.
«Entschuldigen Sie bitte mein Outfit», sagte ich. «Geburtstagsparty.»
Der Postbote lächelte.
«Mein fünfjähriger Sohn wollte mir eine Freude machen und hat meinen Umschlag hier reingeworfen, aber ich hatte noch gar keine Adresse draufgeschrieben. Und auch keinen Absender.» Ich schaute den Postboten so zerknirscht an, wie eine vorschriftsmässig entsorgte PET-Flasche. «Es ist ein brauner Luftpolsterumschlag.»
Der Postbote nickte und schloss den Briefkasten auf.
«Da ist er», sagte ich.
«Na, da haben Sie ja Glück gehabt.» Der Postbote reichte mir den Umschlag.
«Was heisst Glück?», fragte ich. «Die Schweizer Post ist eben die beste der Welt.»
Ich verabschiedete mich von dem Postboten, fuhr mit dem Velo zurück und steckte den Wallet an meinen Computer. «Ich bin wieder da», sagte ich zu Wolf, der mich erleichtert anschaute.
«Jetzt werden wir gleich sehen, ob Sie so ehrlich waren wie ich.»
Ich gab das Passwort ein und überprüfte das Konto.
100 Bitcoins, 5,4 Millionen Franken.
«Ihre Tochter ist in der Schule», sagte ich.
«Was?»
«Die Fotos habe ich vor einiger Zeit heimlich geschossen und mit Photoshop bearbeitet, das ist billiger als den Keller mit Süssigkeiten zu dekorieren. Ausserdem schlagen die bei mir immer gleich an.» Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern. «Los, fahren Sie schon zur Schule. Keine Angst, ich schaue nicht zu, Wiedersehensszenen machen mich immer so emotional.»
Ich beendete die Verbindung.
Jetzt konnte ich die Bitcoins vernichten.
Es war ein Anfang, mehr nicht.
Ich ging in mein Bad, klappte den WC-Deckel hoch und hielt den Stick über die Schüssel.
Ich musste ihn nur fallen lassen und die Spülung betätigen.
Dann landeten über fünf Millionen Schweizer Franken dort, wo sie hingehörten.
Ich spürte den Stick zwischen meinen Fingern und völlig unvermittelt trat ich in Phase sechs ein, die Gewöhnung.
Wenn ich den Stick behalte …
Anmerkung des Autors: Nachdem ich diese Kurzgeschichte verfasst habe, ist der Kurs des Bitcoins rasant abgestürzt. Woran das wohl liegt?
Thomas Kowa An seinem Schreibtisch hat Thomas Kowa schon unzählige Morde verübt, nie wurde er erwischt. Zur Tarnung schreibt er absurd-komische Romane, doch auch hier kommen immer wieder Gerüchte auf, es hätten sich schon Leser*innen totgelacht.
Doch Kowa kann auch anders. Er organisiert den Zürcher Krimitag, ist Juryvorsitzender des Kurt-Marti-Preises des BSV und hat den Schweizer Krimipreis initiiert.
Ältere Damen an Bushaltestellen
Susy Schmid
Mein Gehstock heisst Krücki und macht mich zehn Jahre älter. Seit ich vor einiger Zeit auf dem Eis ausrutschte und mir mein rechtes Knie ruinierte, fühle ich mich mit meinem soliden Stock aus Aluminium und blauem Plastik einfach sicherer. Natürlich hinken und schlurfen unzählige Leute durch die Stadt, die eine Gehhilfe wesentlich nötiger hätten als ich, die aber aus Eitelkeit darauf verzichten. Ich bekenne mich zu Krücki.
Und seit wir jeweils gemeinsam an der Bushaltestelle warten, Krücki und ich, haben die älteren Damen angefangen, mit mir zu sprechen.
Schweizerinnen und Schweizer gelten ja als eher reserviert, daher fand ich es schon immer interessant, wie unbefangen und selbstverständlich bei uns Frauen ab etwa 60 eine Unterhaltung miteinander beginnen. Und obwohl ich erst 49 bin, seit zwei, drei Jahren, macht mich Krücki zum Ehrenmitglied dieser Schwesternschaft. Ich muss nur einigermassen freundlich dreinschauen, mein Smartphone in der Tasche lassen und ein Schwatz mit der Lady, die schon auf dem Bänkchen beim Gemeindehaus Windisch auf den Bus wartet, ist beinahe garantiert.
Heute ist es Käthi Frischknecht, die da sitzt. An diesem kühlen Donnerstagmittag im Frühsommer ist sie noch ein wenig sonntäglicher gekleidet als sonst: eleganter, schwarzer Mantel mit Brosche am Aufschlag, Seidenfoulard, schicke, schwarze Schuhe mit mittelhohem Absatz. All das registriere ich, während ich auf dem Trottoir auf die Haltestelle zugehe. Bei Käthi angekommen, fühle ich mich trotzdem veranlasst, zu sagen: «Ui, Käthi, du siehst aber gar nicht gut aus!»
Sie schaut aus roten Augen zu mir auf und schüttelt den Kopf. Sie greift nach meinem Arm, ich helfe ihr beim Aufstehen. Zwischen den Bäumen beim Amphitheater kommt der Bus in Sicht.
«Ich muss ins Kantonsspital», sagt Käthi, der jetzt das helle Wasser aus den Augen rinnt. «Zu meiner Tochter, Jasmin. Vielleicht … vielleicht stirbt sie.»
«Jesses Gott! Was ist denn passiert?»
Als wir im Bus nebeneinandersitzen, erzählt mir Käthi, ihre Tochter, die in Villnachern lebe, sei bewusstlos auf dem Boden ihres Badezimmers aufgefunden und mit der Ambulanz ins Spital gebracht worden. Sie habe eine Schädelfraktur und mehrere gebrochene Rippen, von denen eine die Lunge schwer verletzt habe.
«Sicher war sie am Putzen. Ich habe ihr immer gesagt, sie solle nicht auf den Badewannenrand stägern! Und das Mäxli hat sie gefunden.»
«Dein Enkel?»
«Meine Enkelin. Maximiliane Rubina. Ihr Vater ist Deutscher, der Name war seine Idee.»
«Kommt er auch ins Spital?»
«Nein. Er und Jasmin sind schon lange geschieden.»
Am Bahnhof eilt Käthi davon, um ihren Zug zu erwischen. Ich schaue ihr nach. Sie tut mir so leid.
Ich erledige meine Besorgungen. Auf dem Heimweg treffe ich Irmi Kunz, eine andere Haltestellenbekanntschaft. Ich erzähle ihr von meiner Begegnung mit Käthi.
«Sie hat geweint?», fragt Irmi erstaunt. «Dabei hatten die beiden ständig Streit. Jasmin ist auch nicht Käthis leibliche Tochter. Sie stammt aus der ersten Ehe von Käthis Mann. Das war der, der damals beim Baden in der Reuss ertrunken ist. Er und Käthi waren erst ein paar Jahre verheiratet.»
Wie immer ist Frau Kunz, pensionierte Lokalreporterin, bestens informiert.
Am nächsten Morgen steht die muntere Dame mit dem Bündner Akzent, die am Fliederweg wohnt, an der Haltestelle. Bevor ich «Allegra» sagen kann, streckt sie mir schon ihre Zeitung entgegen.
«Haben Sie gesehen? Frau Frischknecht! Mit Bild!»
Das nationale Revolverblatt handelt den Fall auf einer ganzen Seite ausführlich ab. Demnach ist Jasmin nicht beim Putzen, sondern während eines ausgedehnten Schaumbads, aufs Brutalste zusammengeschlagen worden. Und zwar mit einem fast lebensgrossen, schwarzen Panther aus Porzellan, der seit Jahrzehnten in der Diele gestanden hatte. Sie liegt im Koma. An einem Kellerfenster hat die Polizei Einbruchsspuren entdeckt.
Käthi, die man interviewt und fotografiert hat, weiss nur Gutes über ihre Stieftochter zu sagen. Natürlich habe der Tod von Jasmins Vater sie beide enorm zusammengeschweisst.
«Hat diese Jasmin denn keinen Job?», fragt die Bündnerin. «Am Donnerstagmorgen habe ich jedenfalls keine Zeit für stundenlange Schaumbäder! Und ich bin pensioniert!»
Ich will sie auf das Recht jeder Frau auf ein bisschen Me-Time hinweisen, einzuziehen notfalls auch am Donnerstagmorgen, da fährt neben uns der Bus heran.
Am Samstagvormittag ist immer viel Betrieb an der Haltestelle. Zeit für den Wochenendeinkauf.
Irmi Kunz hat ihr Wägeli dabei, ein stabiles Modell aus Rattangeflecht. Ich wünsche ihr einen guten Morgen. Gemeinsam begrüssen wir die Bündnerin und dann kommt noch Lydia dazu, eine weitere Quartierbewohnerin, die ich von einem Strassenfest her kenne.
Das Gesprächsthema läge eigentlich auf der Hand, aber wir sind alles wohlerzogene Damen und tasten uns über das heutige Wetter, das gestrige Wetter und das mutmassliche Wetter in Villnachern zur Tatzeit langsam an den Gegenstand heran. Der Bus hat samstags oft erheblich Verspätung.
Lydia, die Psychologie studiert hat, erzählt von einer Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Barometerstand und Aggressivität im Strassenverkehr. Über ihre Schulter sehe ich Käthi Frischknecht aus einer Quartierstrasse kommen und auf uns zuhalten. Ich mache eine warnende Handbewegung. Lydia versteht und beginnt, vom neuen Auto ihres Schwiegersohns zu schwärmen.
Ich trete zwei Schritt zur Seite, öffne den Kreis, damit sich Käthi zu uns stellen und mitreden kann.
Sie schaut mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde, hebt das Kinn, schreitet an uns vorbei und setzt sich auf die leere Bank.
Ich gehe zu ihr hinüber. Die anderen Frauen ziehen mit und arrangieren sich neu, rechts und links von mir.
«Guten Morgen, Käthi. Wie geht es deiner Tochter?», frage ich.
Ihr Gesicht verzieht sich zu einer tragischen Maske und sie zupft ein Papiernastuch aus dem Ärmel.
«Du musst jetzt nicht weinen, Käthi», sagt Lydia, und sie klingt nicht tröstend, eher resigniert. «Ich weiss, dass du das jederzeit kannst», fährt sie fort, «wie auf Knopfdruck. Eine Freundin von mir war jahrelang mit dir im Dramatischen Verein.»
Käthi ist so baff, dass sie ihr Taschentuch folgsam wieder zurückschiebt.
«Ich habe auch ein bisschen Mühe», schaltet sich jetzt die Bündnerin ein, «Ihnen Ihre Bestürztheit abzunehmen, Frau Frischknecht. Als wir das letzte Mal zusammen auf den Bus gewartet haben, konnten Sie gar nicht mehr aufhören, über Jasmin zu wettern. Haben Sie nicht gesagt, Sie wären nicht überrascht, wenn ihr einmal jemand so richtig die Knöpfe eintun würde?»
Käthi bemüht sich sichtlich um Haltung und es gelingt ihr sogar, einen Ton rechtschaffener Entrüstung anzuschlagen, als sie beginnt: «Aber ich hätte doch nie im Leben …»
«… Jasmin etwas angetan?» unterbricht sie Irmi. «Das glaube ich dir sogar. Du bist weniger der handgreifliche Typ. Aber vielleicht hast du jemand anderen engagiert?»
«Was? Ich soll meiner Tochter einen Killer geschickt haben?»
Aus irgendeinem Grund schauen nun alle mich an. Ich spüre einen gewissen Gruppendruck und räuspere mich. «Einen Killer nicht gerade. Aber einen Einbrecher. Ein Killer hätte eine Waffe mitgebracht. Der Einbrecher benutzte zum Dreinschlagen das, was gerade zur Hand war. Den Panther.»
«Ich habe übrigens gehört», übernimmt Irmi Kunz wieder, «sie hätten an einer Pantherscherbe DNA-Spuren gefunden.»
Käthi macht eine Bewegung, als wolle sie aufstehen. Ihr Kopf zuckt nach rechts und nach links. Rechts stehen Irmi und ihr Wägelchen. Links die Bündnerin und Lydia. Geradeaus stehe ich, mit Krücki.
Käthi sinkt auf ihre Bank zurück.
Lydia sagt: «Ich habe mich auch gefragt, ob das Ganze nur per Zufall am Donnerstag passiert ist. An Fronleichnam. Bei uns, im Bezirk Brugg, haben alle Läden geöffnet. Aber ennet der Reuss, im Bezirk Baden, ist Fronleichnam ein Feiertag, alles ist geschlossen, viele Leute machen sogar ein Brüggli und nehmen am Freitag frei, wie am Auffahrtswochenende.»
«Jasmin arbeitet in Baden», ergänzt Irmi. «Sie hatte also frei. Ihre Tochter Mäxli hingegen musste in Villnachern zur Schule. Zeit für ein schönes Schaumbad, sagte sich Jasmin.»
«Während der Killer – Entschuldigung, der Einbrecher – und seine Auftraggeberin wahrscheinlich in einem Bezirk wohnen, wo Fronleichnam ein gewöhnlicher Werktag ist. Sie dachten, Jasmin sei an der Arbeit», sage ich, ganz begeistert von meiner eigenen Logik.
Dann nehme ich zwei Dinge gleichzeitig wahr: Ich höre den Bus vor dem mintgrün gestrichenen Haus um die Kurve seufzen und sehe, wie Käthi in Ohnmacht fällt und von der Bank zu Boden rutscht.
So herzlos, dass wir nun allesamt in den Bus gestiegen wären und Käthi hätten liegenlassen, sind wir dann doch nicht.
Irmi hebt sorgfältig Käthis Kopf an und Lydia schiebt Käthis Handtasche darunter, während die Bündnerin auf dem Asphalt kniet und die Hand an Käthis Hals legt, um ihr den Puls zu fühlen. Ich habe mein Telefon gezückt und wähle 144. Der Buschauffeur ist ausgestiegen und fragt, ob er helfen könne.
«Danke, ich glaube, wir haben das im Griff», antwortet die Bündnerin. «Ich bin Ärztin.»
«Die Ambulanz ist unterwegs», melde ich.
«Ja, dann», sagt der Busfahrer und steigt wieder ein.
Der Krankenwagen kommt fast sofort. Käthi wird kurz untersucht, in ein Leintuch geschlagen, auf eine Bahre geschnallt, eingeladen und abtransportiert.
Nach einer kurzen Diskussion einigen wir uns darauf, den nächsten Bus in die Stadt zu nehmen und gemeinsam bei Lydias Nichte vorbeizuschauen, die auf dem Polizeiposten arbeitet.
Es dauert ein paar Wochen, bis wir einander wieder zu viert an der Haltestelle treffen. Erst lächeln wir uns nur verlegen an, aber dann beginnen wir darüber zu reden, woher und wie gut Käthi Frischknecht wohl den Schlägertypen kennt, den man zur gleichen Zeit wie sie festgenommen hat. Und dass Jasmin, obwohl nicht blutsverwandt mit Käthi, ebenfalls ein beträchtliches Mass an krimineller Energie bewiesen und ihre Stiefmutter jahrelang erpresst hat. «Mit der handschriftlichen und signierten Erklärung eines Zeugen», weiss Irmi, «der damals von der anderen Seite des Flusses her beobachtet hat, wie Käthis Mann wirklich ums Leben gekommen ist. Der Zuschauer hat auch Fotos gemacht.»
Wir sitzen zu viert, eng aneinandergedrängt, auf dem Bänkchen und sagen: «Ja, ja.»
Wir sagen: «Soihäfeli – Soiteckeli.»
Die Bündnerin sagt: «Ist das nicht der alte Herr Wernli, da drüben?»
Lydia fragt: «Der mit dem jungen Mädchen am Arm?»
Ich frage: «Ist seine Frau nicht erst vor zwei, drei Monaten gestorben?»
Irmi lächelt. «Den habe ich auch schon an der Bushaltestelle gesehen.»
Susy Schmid, 1964 in Gebenstorf im Aargau geboren, veröffentlichte 1999 «Die Bergwanderung und andere Grausamkeiten» (Cosmos Verlag, Muri bei Bern). Zuvor hatte sie ein «Schreckmümpfeli» für Schweizer Radio DRS und garstige Geschichten für verschiedene Zeitschriften verfasst. Im Kriminalroman «Himmelskönigin» (Cosmos 2003, Ullstein 2005) wurde Evi Gygax vorgestellt, die seither in regelmässigen Abständen «Leichen quer über ihrem Lebensweg» vorfindet, so in «Das Wüste lebt» (Cosmos 2007) und «Oktoberblau» (Cosmos 2011). Susy Schmid ist Privatlehrerin für Englisch und lebt in Wettingen.
Wie kommt man in sinnlos kurzer Zeit zu extrem viel Geld?
Christoph Simon
Wie kommt man in sinnlos kurzer Zeit zu extrem viel Geld? Als junger Mann kam mir diese Frage nicht nur wichtig vor, sondern auch dringend.
Ich klapperte alle Kreditinstitute ab. Angefangen bei den seriösen, dann immer weiter runter.
Bundesplatz, Eigerplatz, Bümpliz.
Krawatte, Goldkette, Menschenzahnkette.
Aber niemand wollte einem Möchtegernschriftsteller Geld leihen, damit er endlich seinen Beitrag zur Weltliteratur leisten konnte.
Ich machte mir eine Liste mit meinen Möglichkeiten. Als ich die Liste dem Hund meines Mitbewohners vorlas, zog er den Schwanz ein. «Fremde Portemonnaies ausweiden, Drogenhandel, Menschenhandel, Kidnapping? Was hältst du davon, Napoleon?»
Am nächsten Morgen klopfte es an der Tür.
Es war Frau Schmutz, und ich entführte sie.
Frau Schmutz wohnte im Stock unter uns. Sie hatte weisse Haare, trug eine Bluse aus dem Manor und orthopädische Schuhe, sie ging auf die neunzig zu und konnte nicht mehr lesen. Manchmal machte ich ihr ein Verveinetee und las ihr aus der Zeitung vor. Heute nicht. Heute hatte ich keine Zeit. «Frau Schmutz», fragte ich, «würde es Ihnen etwas ausmachen, einen Moment auf Napoleon aufzupassen? Dort drüben liegt das Frolic, nun, Sie wissen ja Bescheid.»
Zur Sicherheit schloss ich die Tür hinter mir ab.
Zehn Minuten später stand ich in der behindertengerechten Telefonkabine auf der Grossen Schanze. Ich legte ein Taschentuch über die Sprechmuschel, wie man es beim Tatort gelernt hatte, und rief den Sohn von Frau Schmutz an.
«Freddy Schmutz?», sagte ich. «Wir haben deine Mutter entführt. Wir wollen 25'000 Franken. Du hast zwei Stunden. Die Übergabe findet in der Kornhausbibliothek statt. Schieb das Geld hinter die Robert Walser Gesamtausgabe. Ein einziges Wort von dir zur Polizei, und wir bearbeiten das Gesicht deiner Mutter mit Hammer und Meissel. Mal sehen, ob du an Familienfesten dann noch beliebt bist.»
Als ich zurückkam, wollte Frau Schmutz gehen.
«Aber ich habe Ihnen ja noch gar nichts vorgelesen!», rief ich. «Setzen Sie sich, Frau Schmutz.»
Aus dem Stand erzählte ich ihr die herzzerreissende Geschichte von diesem talentierten Schriftsteller, der keine anderen Wünsche hatte, als 25'000 Franken bar auf die Hand, um so richtig loszulegen.
Ob alles in der Ordnung sei mit mir, fragte Frau Schmutz, meine Stimme zittere, «vielleicht sollten Sie es mal jemandem zeigen?»
«Ein Mann geht nicht zum Arzt», sagte ich.
Wir schauten Napoleon zu wie er Frolic frass und Chappi und Pedigree light, und irgendwann schlief Frau Schmutz auf dem Sofa ein. Ich konnte in aller Ruhe nachsehen, wer da den Finger nicht von der Klingel nahm.
Ein sehr angespannter und tief besorgt wirkender Freddy Schmutz stand vor der Tür.
Ob ich seine Mutter heute gesehen hätte.
«Nein, wieso fragst du? Ist etwas passiert?»
«Sie ist entführt worden.»
«Entführt? Das ist ja schrecklich! Das will man sich ja gar nicht vorstellen! Die gute Frau Schmutz in einem kalten, dunklen Kellerloch, angekettet, einsam, hungrig, hilflos. Du musst das Lösegeld bezahlen! Sofort! Deine arme Mutter!»
Freddy nickte verzweifelt. Ich nahm ihn in die Arme.
«Alles kommt gut», beruhigte ich ihn, und wurde selber ganz euphorisch. Ich bereute schon, dass ich nicht hunderttausend gefordert hatte.
Dann tauchten hinter Freddy Schmutz zwei Polizisten auf. Mein Reichtum löste sich in Luft auf.
«Tut mir leid», sagte ich. «Ich habe nichts gehört, nichts gesehen. Haben Sie denn schon irgendeine Vermutung zur Täterschaft?»
Die Polizisten schüttelten den Kopf. Ich schüttelte auch den Kopf. «Diese Sauhunde!», rief ich. «Eine wehrlose Dame kaltblütig kidnappen! Ich hoffe, der Gefängniswärter wird die Zellentür nicht einfach abschliessen. Ich hoffe, er wird die Gefängnistür zuschweissen.»
Als die Luft rein war, weckte ich Frau Schmutz und brachte sie in ihre Wohnung.
«Frau Schmutz, wenn Sie jemand fragen sollte – Ihr Sohn etwa, oder, nun, die Polizei – wenn Sie jemand fragen sollte, wo Sie heute Morgen gewesen sind, dann bitte sagen Sie nichts davon, dass Sie bei mir oben gewesen sind. Wir sind doch alte Freunde, nicht? Und Freunde sind Menschen, die einem helfen, ohne dass man ihnen drohen muss.»
Später erzählte Frau Schmutz der Polizei tatsächlich, sie habe einen langen Spaziergang an der Aare gemacht.
Sie tat das nicht nur mir zuliebe. Wer läse ihr aus der Zeitung vor, wenn ich hinter Schloss und Riegel versauern würde?
Man glaubte ihr bestimmt nicht, aber Frau Schmutz wird ein Gesicht gemacht haben wie jemand, der schwer von Begriff ist und den man besser in Ruhe lässt.
Christoph Simon, geboren in Langnau im Emmental, aufgewachsen im Berner Oberland, lebt in Bern. Immatrikulationshintergrund. Diverse berufliche Sackgassen und Reisen. Seit 2001 freier Schriftsteller, Slam Poet und Kabarettist. Zuletzt erschienen sind «Und das nach vier Milliarden Jahren Evolution» (Gedichte) und «Die Dinge daheim» (Kurzprosa).
Eine ganz gewöhnliche Geschichte
Barbara Traber
Die Vier fuhr heran, hielt an, die Türen öffneten sich, Passagiere stiegen aus, andere ein, im letzten Moment auch Bogdan. Das Tram fuhr Richtung Central. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Limmat.
Zürich ist keine richtige Metropole, stellte er einmal mehr fest. Er verglich sie mit Warschau, und in seinem Kopf stieg eine Melodie auf: Chopin, nicht die Songs und Evergreens, die er jeden Abend spielen musste, oberflächliches Geklimper, passend zum Klirren der Eiswürfel in Whiskygläsern. Er spielte, spielte perfekt, hatte sich ein breites Repertoire zugelegt, konnte fast jeden musikalischen Wunsch der Gäste in der Bar erfüllen, aber das Herz war nicht dabei, und insgeheim verachtete er sein Publikum.
Als Junge hatte er von einer Karriere als Pianist geträumt, doch das Glück und die Nerven hatten ihn im entscheidenden Moment im Stich gelassen. Beim ersten internationalen Klavier-Wettbewerb hatte er beim Vorspielen versagt; seine Finger waren plötzlich wie gelähmt gewesen.
Bogdan versuchte, die schmerzhaften Erinnerungen, die ihn immer wieder überfielen, zu verdrängen. Er blieb bis zur Haltestelle Central bei der Tür stehen. Dann kämpfte er sich, die Schultern eingezogen, als müsste er sich vor einer unsichtbaren Gefahr schützen, durch die Menge der Wartenden über den Platz und verschwand in Richtung Dunkelheit.
***
Aus ihrem Kind müsse eine Primaballerina werden, hatte sich Sophie zum Ziel gesetzt. Vera war in ihren Augen hochbegabt für den klassischen Tanz und besass die Voraussetzungen dafür: gutes Rhythmusgefühl, lange Beine, schlanker, biegsamer Körper, hübsches Gesicht, selbst das «En-dehors» brachte sie hin … Die Mutter, auf dem Land aufgewachsen, hatte nicht die Gelegenheit gehabt, Ballettunterricht zu nehmen, und ihre Tochter sollte das nun nachholen. Von klein an kam nur die beste Ballettschule in Frage samt Ostertanztagen, Sommertanzwochen, Privatstunden, gesunde Ernährung. Zur Genugtuung der Mutter machte Vera rasch Fortschritte. Bis sie eines Tages im Training zusammenbrach und unter Schmerzen klagte. Der Orthopäde, der die Jugendliche untersuchte, machte ein ernstes Gesicht, sprach von Abnutzung des Gelenkknorpels des Oberschenkelknochens, einer so genannten Epiphysenlösung, vermutlich durch eine Wachstumsstörung oder durch Überbeanspruchung hervorgerufen. Er müsse Vera leider abraten, weiterhin derart intensiv zu trainieren, das könnte zu schweren Gelenkschäden führen. Oder wolle sie etwa im Rollstuhl landen? Teilnahme am Prix de Lausanne? Auf keinen Fall! Er hatte an die Vernunft der Eltern appelliert, die für die noch Minderjährige verantwortlich seien.
Für Sophie war dies eine persönliche Katastrophe! Sie hatte einen krankhaften Ehrgeiz für ihre Tochter entwickelt, und eine Welt brach für sie zusammen. Vera hingegen hatte sich nach der anfänglichen Enttäuschung, nicht am Tanzwettbewerb in Lausanne mitmachen zu dürfen, gut in die neue Situation geschickt. Insgeheim war sie erleichtert, vom Erwartungsdruck seitens der Mutter befreit.
Niemand ahnte, dass Sophie seither über der Frage brütete: Wer war schuld, dass ihr Töchterchen nicht Balletttänzerin werden konnte? Sie hatte den Orthopäden mit der Forderung konfrontiert: «Die Lehrerin hat keine Rücksicht auf Veras Wachstum genommen. Wir sollten gegen sie vorgehen, damit Ähnliches nicht mehr geschieht! Zumindest eine Verwarnung wäre angebracht.» Er war ausgewichen, solche körperlichen Veränderungen in der Pubertät seien schwer voraussehbar, das Mädchen habe vermutlich die Schmerzen lange unterdrückt. «Seien Sie froh, dass wir Vera früh genug von einer professionellen Tanzausbildung haben abraten können.»
Sophie sah das anders. Madame Elena hatte ihrer Meinung nach mit dem Körper ihrer Tochter Raubbau betrieben, obwohl Vera das bestritt. Man brauche die ehemalige Startänzerin nur anzuschauen, meinte die Mutter. Nichts als Drill und eiserne Disziplin, und immer noch trug sie das nun grau-weisse Haar zu einem Chignon hochgesteckt, und ihre Stimme tönte herrisch, wenn sie ihre Korrekturen in den Saal schrie. Sophie begann die Ballettlehrerin zu hassen und passte auf eine Gelegenheit, ihr mitten ins Gesicht zu schleudern: «Sie haben die Träume und Zukunft meiner Tochter zerstört, das verzeihe ich Ihnen nie! Sie werden es büssen!» Tag und Nacht grübelte sie darüber nach, wie sie sich an ihr rächen könnte. Sophie wusste zu wenig über die Polin. In zwei, drei Kritiken wurden ihre «bravouröse Technik und starke Bühnenpräsenz» erwähnt. Ausbildung in Warschau und St. Petersburg. Engagements in Warschau, Paris, London und Zürich als Erste Solotänzerin … Sie musste mehr herausfinden, vielleicht eine Detektei damit beauftragen.
***
Vor Monaten hatte Bogdan es endlich gewagt, hinter der Oper auf sie zu warten und ihr zu folgen. Er konnte das Bild der Frau, die Mitte sechzig sein musste, nicht mit jenem, das ihm aus der frühen Kindheit geblieben war, zusammenbringen. Weiche Arme, blondes Haar, ein blumiger Duft, eine sanfte Stimme, die ihm Koseworte zugeflüstert und Lieder vorgesungen hatte. Mama! Von einem Tag zum andern hatte sie Kind und Mann und Warschau verlassen, hatte ein Engagement in Paris angenommen. Nur für eine Saison! Bogdan hatte nichts von diesem Plan und von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern mitbekommen. Seine Mutter war eines Tages wie vom Erdboden verschluckt, und niemand erklärte ihm, wann sie zurück sein werde. Etwas Unheimliches tat sich im Leben des sensiblen Jungen auf, ein tiefes Loch wie ein Krater, in den er hineinzustürzen drohte. Wochenlang hatte Bogdan jeden Abend nach Mama gerufen und bis zur Erschöpfung geweint. Die Befürchtung, sie könnte nie mehr zurückkommen, überschattete seine Kindheit.
Später hatte er versucht, seine Mutter aus dem Gedächtnis zu streichen; er gab ihr an allem die Schuld: an seiner Verlorenheit und Gehemmtheit, an der Krankheit des verbitterten Vaters, der früh starb, an seiner missglückten Pianistenlaufbahn, an seinen Ängsten, die wie Pech an ihm klebten, ja an seinem ganzen unglücklichen Leben. Er war wie besessen von der Idee, von seiner Mutter Rechenschaft zu verlangen. Die Suche nach ihr hatte ihn nach Zürich geführt, aber dort brauchte er monatelang seine ganze Kraft, Deutsch zu lernen und sich mit Aushilfsjobs über Wasser zu halten, bis ihm eine Stelle als Barpianist angeboten wurde.
Warum nannte sie sich Elena Rzewuska und nicht Wisawa Dabrowska? Führte sie ein Doppelleben? Bogdan wusste fast nichts über sie. Sein Vater hatte nie mehr von ihr gesprochen und alles vernichtet, was ihn an seine Frau erinnerte. Und jetzt sass sie zwei Meter vor ihm im Tram, eine ihm fremd erscheinende Person, klischee-polnisch, dachte er zynisch, blond, blauäugig, hellhäutig, eine Frau, die seine Mutter sein musste und ihn vor vierzig Jahren als Hindernis für ihre Karriere empfunden hatte: Er war unerwünscht! Wie oft stieg ein starker Schmerz in ihm auf. Er rang nach Atem und konnte den Blick nicht von der schmalen Gestalt wenden. «Mama, hilf mir!», schrie etwas in ihm, aber kein Ton kam aus seinem Mund. Er wartete, dass sie endlich ausstiege. Die Fahrt schien quälende Stunden, Jahre, Jahrzehnte zu dauern.
Rämistrasse – Universitätsstrasse – Winterthurerstrasse. Eine unheimliche Spannung baute sich in ihm auf, und alte, verdrängte Ängste würgten ihn. Endlich drückte sie den Halteknopf, stand auf, und er folgte ihr, überquerte hinter ihr den Fussgängerstreifen. Röslistrasse – hier wohnte sie also, in einem Mehrfamilienhaus. Sie nahm die Post aus dem Briefkasten, schloss die Haustür auf und verschwand im Eingang. Bogdan stand halb hinter einem Baum versteckt. Das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen, und einen Moment wurde er von Panik erfasst. Sollte er läuten, sie überfallen mit dem Satz: «Ich bin dein Sohn.» Wie würde sie reagieren?
Er stand da, machte die Faust, und aus Selbstmitleid, Hass und Furcht vor einer Begegnung mit der eigenen Mutter wurde ihm übel. Er beugte sich vornüber und kotzte das Mittagessen ins Gras, einen ekelerregenden bräunlichen Brei, wischte den Mund mit einem Taschentuch, fluchte auf Polnisch und sah sich um. Niemand. Dann ging er, ein geschlagener Hund, zurück zur Tramhaltestelle.
***