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Mariya kehrt als zukünftige Winterkönigin in ihre Heimat zurück. Zusammen mit der Weißen Armee will sie das Reich des Winters aus der Herrschaft der Nihilisten befreien. Ein langer Weg liegt vor ihr, den sie mit neuen Verbündeten und alten Bekannten bestreitet. Sie handelt nicht nur zum Wohl des Volkes, auch ihr eigener Wunsch nach Rache treibt sie an. Die Geister ihrer Vorfahren unterstützen sie bei ihrem Vorhaben und verleihen ihr die Kraft, sich gegen ihre Feinde zu behaupten. Magie verlangt jedoch immer einen Preis – ist Mariya bereit, ihn zu zahlen?
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Berstendes Kupfer
Hinweise zu sensiblen Inhalten:
Die Trilogie »Die Erben des Winters« sollte nicht von Personen unter 14 Jahren gelesen werden. In einigen der Kapitel sind Szenen mit folgenden Inhalten zu finden:
- Krieg
- körperliche, seelische oder sexualisierte Gewalt
- Suizid
- Erwähnungen, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern könnten
- Blut
- Tod
Personen, die solche Inhalte beunruhigend finden könnten, lesen »Die Erben des Winters« auf eigene Verantwortung.
Copyright © 2022 Maya Shepherd
Marion Schäfer, c/o SP-Day.de Impressum-Service, Dr. Lutz Kreutzer, Putzbrunner Straße 9c, 81737 München
Coverdesign: Jaqueline Kropmanns
Illustration »Schneekugel«: Laura Battisti – The Artsy Fox
Korrektorat: Julie Roth
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
www.mayashepherd.de
Instagram: maya.shepherd
Für alle Winterkinder,
die jedes Jahr sehnsüchtig
Ausschau nach den ersten Schneeflocken halten.
Personenregister
WAS IM ZWEITEN BUCH GESCHAH
Lang lebe die Winterkönigin
Ein Licht in der Dunkelheit
Der Zweitgeborene
Adeline, die Kaufmannstochter
Willkommen in Gulag
Gefangene 2323
Tanz, Bär! Tanz!
Ein Menschenleben
Still wie Schnee
Die Weiße Armee
Der unbekannte Spion
Kostbare Momente
Leere Versprechen
Kontrollverlust
Gnade
Nazar, der Koloss
Ruhet in Frieden
Hass und Liebe
Die Bürde des Schweigens
Die Baronin von Stein
Die kopflose Schlange
Das Kaninchen
Ein gebrochenes Mädchen
Die Last der Krone
Molotow und Butan
In Ketten
Haus zur Goldenen Hand
Der Gesang der Ahnen
Ein Wunder
Die falsche Schwester
Goldenes Blut
Sonnenstrahlen im Winter
Das Ende der Blutlinie
Ein letztes Mal
Morgenrot
Das Herz des Winters
Epilog –10 Jahre später
Nachwort
Danksagung
Familie Wintera
Nicolaj †
Winterkönig,
Sohn von Nazar Wintera und Theodora von März,
Ehemann von Katyn von April,
Vater von Odessa, Tanaya, Mariya, Anastasia und Alexander
Katyn †
Tochter von Albert von April und Eulalia,
Ehefrau von Nicolaj,
Mutter von Odessa, Tanaya, Mariya, Anastasia und Alexander
Odessa †
Eisprinzessin,
Erste Tochter von Nicolaj und Katyn,
Schwester von Tanaya, Mariya, Anastasia und Alexander
Tanaya †
Eisprinzessin,
Zweite Tochter von Nicolaj und Katyn,
Schwester von Odessa, Mariya, Anastasia und Alexander
Mariya
Eisprinzessin,
Dritte Tochter von Nicolaj und Katyn,
Schwester von Odessa, Tanaya, Anastasia und Alexander
Anastasia †?
Eisprinzessin,
Vierte Tochter von Nicolaj und Katyn,
Schwester von Odessa, Tanaya, Mariya und Alexander
Alexander, Lexi †
Thronfolger von Winter,
Fünftes Kind, erster Sohn von Nicolaj und Katyn,
Bruder von Odessa, Tanaya, Mariya und Anastasia
Vorfahren der Familie Wintera
Adeline †
Erste Wintera auf dem Eisigen Thron,
Ehefrau von Taras, dem Folterkönig,
Mutter von Eduard
Taras †
Winterkönig, Der Folterkönig,
Ehemann von Adeline,
Vater von Eduard
Eduard †
Winterkönig,
Sohn von Taras und Adeline,
Ehemann von Gilda,
Vater von Jakow und Sofia
Gilda †
Ehefrau von Eduard,
Mutter von Jakow und Sofia
Sofia †
Winterkönigin,
Tochter von Eduard und Gilda,
Schwester von Jakow
Jakow †
Sohn von Eduard und Gilda,
Bruder von Sofia,
Ehemann von Helene,
Vater von Arthur
Helene †
Ehefrau von Jakow,
Mutter von Arthur
Arthur †
Winterkönig, Der Heilige
Sohn von Jakow und Helene,
Ehemann von Amelia und Oksana,
Vater von Marika und Kirill
Amelia †
Erste Ehefrau von Arthur,
Mutter von Marika
Oksana †
Zweite Ehefrau von Arthur,
Mutter von Kirill
Marika †
Winterkönigin, Die Kriegerin
Tochter von Arthur und Amelia,
Halbschwester von Kirill,
Mutter von Gedeon und Nazar
Kirill †
Der Verborgene
Sohn von Arthur und Oksana,
Halbbruder von Marika
Gedeon †
Erster Sohn von Marika,
Bruder von Nazar
Nazar †
Winterkönig,
Zweiter Sohn von Marika,
Bruder von Gedeon,
Ehemann von Theodora von März,
Vater von Nicolaj
März
Theodora
Ehefrau von Winterkönig Nazar Wintera,
Mutter von Nicolaj Wintera
Elizaveta
Königin von März,
Nichte von Theodora
April
Albert
König von April,
Ehemann von Eulalia,
Vater von Katyn
Eulalia
Ehefrau von Albert,
Mutter von Katyn
Mai
Linh-Sun †
Herrscher von Mai zu Zeiten Marika Wintera
Die Juli-Inseln
Juli
Der Zehnte
König der Juli-Inseln,
Ehemann von Helia,
Vater von Juli, der Elfte
Juli
Der Elfte
Thronfolger der Juli-Inseln,
Sohn von Juli, der Zehnte
Helia
Dritte Ehefrau von Juli, der Zehnte
Cyana
Zofe
Bedienstete/Höflinge des Winterpalasts
Doktor Botkin †
Königlicher Leibarzt
Vater von Koray
Koray
Sohn des Leibarztes Doktor Botkin
Offizier der Goldenen Armee
Scargard †
Wunderheiler
Ella
Zofe von Odessa und Tanaya
Liliana †
Zofe von Mariya und Anastasia
Polina
Ehemalige Zofe
Fatin
Leibwächter des Winterkönigs
Gorim
Erster Berater des Winterkönigs
Madame Igor
Chimäre
Darija
Freundin der Königin Katyn,
Schwarze Dame
Yuri
Schiffskapitän der Amelia
Timur †
Ehemaliger Offizier der Goldenen Armee
Nihilist
Ruza
Anführerin der Amazonen-Kavallerie
Die Baronin von Stein
Ehemalige Hofdame von Theodora
Anführerin des Widerstands in Winterburg
Visha
Eine Kanya-Frau
Mitglied des Widerstands
Hildegard
Ehemalige Gouvernante
Nihilisten
Walerian
Der Mann in Grau
Der Rote König
Anführer der Nihilisten,
älterer Bruder von Miron
Miron †
Soldat,
jüngerer Bruder von Walerian
Georgi
Leibwächter von Walerian
Pauker
Leibwächter von Walerian
Molotow
Rechte Hand von Walerian,
Zwillingsbruder von Butan,
Wärter der Familie Wintera
Butan
Zwillingsbruder von Molotow
Wera †
Das Schreckensweib,
Wärterin der Familie Wintera
Sergo
Der Lüstling,
Wärter der Familie Wintera
Dima †
Wärter der Familie Wintera
Berian
Wärter der Familie Wintera
Lasar
Eiserner Lasar,
Wärter der Familie Wintera
Blochin
Hauptmann von Gulag
Emil
Das Kaninchen
Vorkoster von Walerian
Loderndes Silber
Nach der Machtergreifung durch die Nihilisten muss die Königsfamilie den Winterpalast verlassen. Ihre Feinde halten sie in einem abgelegenen Haus gefangen, während die Weiße Armee den Kampf gegen die Nihilisten aufnimmt.
Nur wenige Nachrichten von außen dringen bis zu Mariya und ihrer Familie vor. Sie sind der Willkür ihrer Wärter ausgeliefert, trotzdem versuchen sie, nicht die Hoffnung aufzugeben. Mariya sieht vor allem in Koray eine Stütze, der sich vermeintlich den Nihilisten angeschlossen hat, um in ihrer Nähe bleiben zu können.
Eines Nachts werden sie alle geweckt und in den Keller des Gebäudes geführt. Dort erfahren sie, dass Walerian, der Anführer der Nihilisten, den Befehl erteilt hat, die gesamte Familie zu erschießen. Ihnen bleibt keine Zeit, Protest einzulegen oder auch nur den Versuch zur Flucht zu wagen, denn das Feuer auf sie wird direkt eröffnet. Unter den Schützen befindet sich, zu Mariyas großem Entsetzen, auch Koray. Sie muss dabei zusehen, wie ihre gesamte Familie ermordet wird, bis auch sie ein Schuss trifft und sie das Bewusstsein verliert.
Später kommt sie in einem Waldstück wieder zu sich, in dem die Nihilisten die Leichen vergraben. Ihr jüngerer Bruder Lexi hat ebenfalls das Attentat überlebt. Unerwartet bietet Koray ihnen seine Unterstützung an. Während er Lexi zur Flucht verhilft, bleibt Mariya zurück, um die Wärter abzulenken. Die Verbindung zu ihren Vorfahren lässt sie einen magischen Schrei ausstoßen, der zwei ihrer Feinde tötet und es ihr ermöglicht zu fliehen.
Mit Korays Hilfe gelingt es den Geschwistern, den Hafen zu erreichen, von wo aus sie ein Schiff zu den Juli-Inseln besteigen. Koray bleibt zurück, da Mariya ihm seine Beteiligung an dem Atten-tat auf ihre Familie nicht verzeihen kann.
Auf Julles werden sie von ihrer Großmutter Theodora erwartet, die für Mariya eine Heirat mit dem Julischen Thronfolger arrangiert hat. Im Gegenzug verspricht der König seine Truppen zur Unterstützung der Weißen Armee nach Winter zu entsenden.
Während ihrer Zeit auf den Juli-Inseln findet Mariya in Prinz Juli einen guten Freund, der ihr nicht nur dabei hilft, den Verlust ihrer Familie zu verkraften, sondern auch die magische Verbindung zu ihren Vorfahren besser einzusetzen zu lernen. Sie schöpft gerade wieder Hoffnung für die Zukunft, als Lexi einen Unfall erleidet und die Krankheit der Könige erneut bei ihm ausbricht. Er erliegt seinem Leiden und stirbt.
Daraufhin besteht der Julische König auf einer Änderung des Ehevertrages, die seinen Sohn zum Alleinherrscher von Winter machen würde. Mariya weiß, dass ihr Volk einen Fremden nicht als seinen Winterkönig akzeptieren würde, und lehnt deshalb die Hochzeit, auf Anraten ihrer Großmutter Theodora, ab. Als letzte Überlebende der Familie Wintera kehrt sie allein als Winterkönigin in ihre Heimat zurück, um sich zusammen mit der Weißen Armee den Nihilisten zu stellen.
E
s brauchte nur eine Nacht, um die Juli-Inseln zurückzulassen. Schon am nächsten Morgen war von der Wärme des Sommers nichts mehr zu spüren. Graue Wolken überzogen den Himmel und ein rauer Wind schlug mir entgegen. Das Schiff schaukelte so wild über die Wellen, dass ich es nur mit Mühe schaffte, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Als ich Winter verlassen hatte, hatte die Kälte im ehemaligen Oktober noch keinen Einzug gehalten. Durch das milde Klima des Schwarzmeeres blieb es dort warm, wenn der Rest des Reiches unter einer dicken Schneedecke verschwand. Seitdem waren Monate verstrichen und der Frost hatte auch diesen Teil erobert – zusammen mit den Nihilisten.
Die Hafenstadt Livia, wo Lexi und ich die Amelia bestiegen hatten, stand nun unter der roten Flagge. Kapitän Yuri lehnte es deshalb ab, mich dort an Land gehen zu lassen. Stattdessen steuerte er weiter die Küste entlang, bis zur Grenze von September. Erst dort warf er, vor einer einsamen Bucht, Anker. In einem Beiboot würde er mich mit einigen wenigen Mitgliedern seiner Mannschaft ans Ufer bringen.
Danach musste ich mich allein ins Landesinnere vorkämpfen. Zum ersten Mal wäre ich wirklich auf mich gestellt. Nicht nur mir bereitete der Gedanke Unbehagen, sondern auch dem alten Kapitän. Er bedauerte, dass er mich nicht begleiten konnte, und bot mir sogar einige Männer zur Unterstützung an, aber ich wusste, dass ihr Platz nicht an Land, sondern auf dem Meer war. Wenn die Amelia nicht gerade eine Eisprinzessin und den Thronfolger transportierte, verhalf sie anderen Menschen aus Winter zur Flucht. Jeder hatte seine Aufgabe zu erfüllen – Yuri und seine Männer ebenso wie ich.
Bevor ich das Schiff verließ, stand mir die gesamte Mannschaft Spalier. Mit geradem Rücken, erhobenem Kopf und der Faust über dem Herzen zollten sie mir ihren Respekt, wie es früher die Menschen bei meinem Vater getan hatten. Die Situation war für mich so ungewohnt, dass es mir leichtfiel, mir vorzustellen, er wäre bei mir. Wenn ich mich umdrehte, wäre er da. Er würde die Entscheidungen fällen, nicht ich. Er würde die Verantwortung tragen, nicht ich. Er würde scheitern, nicht ich.
Ich hätte eine bewegende Rede halten sollen, um den Seeleuten meine Anerkennung auszudrücken, aber ich brachte nicht mehr als ein »Danke« und eine Verneigung zustande. Beides kam von tiefstem Herzen. Sie hatten meinem Bruder und mir das Leben gerettet, als sie uns an Bord nahmen. Nun brachten sie mich in unsere Heimat zurück und überließen mich vielleicht dem Tod. Die Schuld lag nicht bei ihnen. Sie folgten nur meinem Befehl, dem Befehl ihrer Winterkönigin.
Sobald ich in dem kleinen Boot Platz genommen hatte, ruderten die Männer gegen die stürmischen Wellen an. Die übrige Mannschaft versammelte sich an der Reling und schaute mir nach. Würde ich sie je wiedersehen?
Das Wasser schlug so hoch, dass es meinen Umhang tränkte und mir ins Gesicht spritzte. Obwohl es nur eine kurze Strecke bis zum Strand war, kam es mir wie eine Ewigkeit vor und zugleich nicht lang genug.
Auf Julles hatte ich mich nach meiner Heimat gesehnt. Nun war sie in Sichtweite und mir fremd. Ich kannte Oktober nur von Urlauben in den warmen Monaten des Jahres. Die hellen Steilklippen, die in meiner Erinnerung wie Edelsteine in der Sonne glitzerten, ragten nun wie Messerspitzen empor. Der Himmel hätte blau und wolkenlos sein sollen, war aber so grau und schwer, dass es jeden Augenblick zu regnen beginnen würde. Hatte ich mir zu viel zugemutet? Wie sollte es mir gelingen, die Weiße Armee zu finden? Wie sollte ich es schaffen, auch nur die nächsten Tage zu überleben?
Kapitän Yuri las mir meine Sorgen vom Gesicht ab, als er mir seine Hand reichte, um mir aus dem Boot zu helfen. Meine Finger zitterten zwischen seinen vor Kälte.
»Geht ins Landesinnere und haltet nach Schienen Ausschau«, schärfte er mir zum wiederholten Mal ein. »Die Weiße Armee besetzt ehemalige Güterzüge, mit denen sie sich durch das Reich bewegt.«
Sicher auf der Amelia war mir mein Vorhaben möglich erschienen. Nun kam ich mir wie eine Närrin vor. Ein Teil von mir wollte zurück in das Boot klettern und der Mannschaft befehlen, mich wieder mit auf das Schiff zu nehmen. Ich könnte bei ihnen bleiben und anderen zur Flucht verhelfen, so wie sie mir geholfen hatten.
Mein Blick war starr vor Angst und meine Lippen wie zugeschnürt. Ich presste mir den Beutel mit Proviant und der Urne meines Bruders an die Brust, um meinen pochenden Herzschlag zu bändigen.
Der Kapitän und seine Männer bemerkten meine Furcht. Ich war nicht diejenige, auf die sie gehofft hatten. Wie groß musste ihre Enttäuschung sein?
»Lang lebe die Winterkönigin«, verkündete Yuri inbrünstig, all meiner Zweifel zum Trotz. Und genauso ehrerbietig wiederholten die Männer seinen Ausruf. »Lang lebe die Winterkönigin! Lang lebe die Winterkönigin! Lang lebe die Winterkönigin!«
Ihre Stimmen verschmolzen zu einem Chor, der sich über das Rauschen des Meeres und das Heulen des Windes hinwegsetzte.
Winterkönigin.
Ich war nicht hier, weil ich mir dieses Schicksal selbst ausgesucht hatte, sondern weil ich die Einzige war, die Winter Frieden bringen konnte. Meine Angst mochte gerechtfertigt sein, aber ich würde mich von ihr nicht lähmen lassen – das schuldete ich dem Volk. Ich hatte Großmutter Theodora ein Versprechen gegeben, ebenso Lexi und nicht zuletzt mir selbst: Lieber würde ich bei dem Versuch, die Nihilisten zu besiegen, sterben, als aufzugeben.
Kahle Äste warfen bizarre Schatten auf den Boden, die an Monster erinnerten, welche ihre Arme nach mir ausstreckten, während ich über Felsen kletterte und mich zwischen Bäumen durchwand. Meine Stiefel quietschten so laut in dem klebrigen Matsch, dass ich das Gefühl hatte, nichts anderes hören zu können. Immer wieder blieb ich stehen und lauschte auf näher kommende Stimmen. Ich wusste nicht einmal, ob ich mich davor fürchtete, welche zu hören, oder mich insgeheim sogar danach sehnte, um der Einsamkeit entfliehen zu können. Jedes Mal blieb es still und ich sah mich gezwungen, meinen Weg fortzusetzen.
Als es mir gelang, die Eisenbahnschienen zu finden, euphorisierte mich das derart, dass ich die ganze Nacht in Richtung Nordosten lief, ohne eine Pause einzulegen. Ich war mir sicher, dass es nur Stunden dauern konnte, bis ich auf die Weiße Armee stoßen würde.
Diese Zuversicht flachte am nächsten Tag ab, genau wie meine Energie, als mich die Schienen aus den Wäldern auf eine Ebene führten, deren Eintönigkeit nur von vereinzelten Bäumen unterbrochen wurde. Dort blies mir der eisige Wind ungehindert ins Gesicht und ich musste meinen ganzen Willen aufbringen, um mich gegen die Böen zu stemmen. Meine Beine schmerzten vor Anstrengung.
Bei der nächsten blattlosen Birke machte ich Halt und ließ mich an dem rauen Stamm zu Boden sinken. Trotz der Lederhandschuhe fühlten sich meine Finger beinahe taub an, als ich in meinem Beutel nach einem Kanten Brot und etwas Speck tastete. Beides war so hart, dass ich nur daran knabbern konnte, anstatt mir einen großen Bissen zu genehmigen. Für eine warme Suppe hätte ich fast alles getan. Meine letzte richtige Mahlzeit lag nur etwas mehr als einen Tag zurück und trotzdem empfand ich meinen Hunger als gewaltig. Wie musste es erst den armen Menschen ergehen, die seit Monaten nichts Nahrhaftes zu essen bekamen?
Mein Blick schweifte zu den reifüberzogenen Ästen, in denen funkelnde Eiszapfen hingen. Das trübe Licht erzeugte funkelnde Prismen, deren leuchtende Farben seltsam deplatziert in dieser eisigen Weite wirkten. Meine Müdigkeit und Erschöpfung machten es mir schwer, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Aber hier konnte ich auch nicht bleiben, wenn ich nicht erfrieren wollte.
Ich dachte an meine Mutter, die immer, wenn sie nicht weiterwusste, zu den Heiligen betete. Meine Verzweiflung war groß genug, um ihrem Beispiel zu folgen. Ächzend zwang ich mich auf die Knie und legte meine Hände aneinander. In meiner Kindheit waren die täglichen Gebete fester Bestandteil eines jeden Tagesablaufs gewesen. Ich hatte mir die Heiligen als gütige Geschöpfe vorgestellt, die über alle guten Menschen wachten.
Später wurde daraus nur noch eine lästige Routine, die ich vernachlässigte, wann immer sich mir die Gelegenheit bot. Die Ermordung meiner Familie nahm mir jeden Glauben. Ich brauchte keine Heiligen, die so eine Gräueltat zuließen.
Trotzdem kniete ich nun auf der feuchten Erde und hoffte auf ein Wunder, weil ich aus eigener Kraft nicht weitergehen konnte.
»Ihr Heiligen«, wisperte ich mit spröden Lippen in die Kälte. »Ihr stellt mich auf eine harte Probe. Erbarmt euch meiner und helft mir einen Weg aus dieser Einöde zu finden.«
Ich harrte aus und wartete auf ein Zeichen, dass mein Gebet erhört wurde. Mehrere Sekunden lang bewahrte ich Geduld, ehe ich verächtlich den Kopf schüttelte. Wie dumm von mir zu hoffen, dass mir eine göttliche Macht zur Seite stehen würde, nachdem sie mich zuvor wiederholt im Stich gelassen hatte.
Mit steifen Beinen kämpfte ich mich vom Boden hoch, als die ersten Flocken herabrieselten. Erstaunt hielt ich inne, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in den weißen Himmel. Weich wie Puderzucker bestäubte der Schnee mein Gesicht. Ich schloss die Augen und nahm die allumfassende Stille in mir auf. Es war diese Ruhe, die ich auf den Juli-Inseln am meisten vermisst hatte. Die Kälte ließ mich nicht länger frösteln und der Sturm fühlte sich nicht mehr erbarmungslos, sondern leidenschaftlich an. Tief sog ich die frische Luft in meine Lungen und ließ mich ganz und gar von ihr erfüllen.
Jetzt war ich wirklich zu Hause.
I
ch kämpfte nicht länger gegen den Wind an, sondern ließ mich von ihm treiben. Wie eine Schneeflocke wehte er mich fort von den Bahnschienen, über das weite Feld. Die Dämmerung setzte ein, als ich am Horizont ein rotes Leuchten bemerkte. Es war winzig, kaum sichtbar, und ich fürchtete, dass meine Wahrnehmung mir einen Streich spielte. Trotzdem folgte ich dem Licht. Der Schnee peitschte mir ins Gesicht und raubte mir immer wieder die Orientierung, aber schließlich erreichte ich ein Dorf.
In der zunehmenden Dunkelheit fiel es mir schwer, etwas zu erkennen. Es gab ein paar verfallene Häuser mit Löchern in den Dächern, welche die Vermutung nahelegten, dass niemand mehr darin wohnte. Aus keinem Schornstein stieg Rauch und in keiner Stube brannte ein Feuer. Ich begegnete keiner Menschenseele, nicht einmal einem Hund oder einem aufgescheuchten Huhn. Über allem lag eine unheimliche Totenstille.
Nur auf einem Hügel, der sich über die Siedlung erhob, thronte eine kleine Kapelle, deren Fenster erleuchtet waren. Von ihnen ging das rote Glühen aus, welches mich hierhergeführt hatte. Vielleicht gab es dort einen Priester, der tapfer die Stellung hielt für all jene einsamen Wanderer, die es in diese eisigen Weiten verschlug.
Ich hatte die Tür beinahe erreicht, meine Hand schwebte bereits über der Klinke, als ich einen leisen Gesang aus dem Inneren vernahm. Es war nicht nur eine einzelne Stimme, sondern mehrere. Hatten sich alle Dorfbewohner zusammen an diesen heiligen Ort zurückgezogen? Würden sie mich überhaupt in ihrer Mitte willkommen heißen? Nahrung war knapp und ich war eine Fremde.
Ich konnte nicht noch eine Nacht durchlaufen. Diese Kapelle war meine einzige Option.
Zögerlich drückte ich die Klinke runter und spähte durch einen Spalt in das Innere. Augenblicklich verstummten die Stimmen und ich sah nichts als leere Bänke. Verwirrt öffnete ich die Tür etwas weiter. Der Luftzug brachte die Kerzen, welche auf dem Altar brannten, zum Flackern. Irgendjemand musste sie entzündet haben.
Schnell trat ich ein und schloss die Tür hinter mir. Es blieb still, nur der Wind zerrte von außen an der Fassade.
Hatte ich mir den Gesang eingebildet? Meine Schritte erzeugten einen Hall, als ich langsam über den Steinboden ging.
»Hallo?« Die hohen Wände verstärkten meine Stimme und ließen sie unerhört laut klingen. »Ist hier jemand?«
Eine blöde Frage angesichts der brennenden Kerzen, aber eine Antwort erhielt ich dennoch nicht.
Sobald ich den Altar erreichte, drehte ich mich noch einmal um und hielt Ausschau nach einem Anzeichen für die Anwesenheit einer anderen Person. Vielleicht fürchtete sich derjenige vor mir und versteckte sich. Es herrschten schlimme Zeiten in Winter und selbst gute Menschen waren nicht gefeit vor räuberischen Banden. Aber so genau ich auch hinsah, konnte ich nirgendwo jemanden entdecken.
Der Schnee, der sich auf meinen Umhang gelegt hatte, schmolz und hinterließ eine feuchte Spur. Obwohl lediglich die winzigen Feuer der Kerzen die Kapelle erhellten, herrschte eine angenehme Wärme. Meine Finger kribbelten, als ich die Handschuhe abstreifte. Ich ließ mich auf einer der Holzbänke nieder und holte meinen Proviant hervor.
Erstaunlicherweise kam mir das Brot nicht mehr ganz so hart wie noch vor wenigen Stunden vor. Es ließ sich brechen und ich konnte einige Bissen davon essen, ehe ich innehielt. Auch wenn ich niemanden angetroffen hatte, so musste es jemanden geben, der sich um diese Kapelle kümmerte. Derjenige zeigte sich mir nicht, dennoch gewährte er mir Obdach. Dafür sollte ich mich erkenntlich zeigen. Ich nahm das, was von dem Brot noch übrig war, und legte es auf den Altar, ehe ich mich zurück auf die Bank setzte.
Mit dem Schnee schmolz auch meine Vorsicht und die Müdigkeit übermannte mich. Erschöpft sank ich immer tiefer, bis mir die Augen zufielen und ich einnickte.
Es war früher Morgen, als ich wieder zu mir kam. Trübes Licht fiel durch die Buntglasfenster in das Innere. Die Kerzen, welche auf dem Altar standen, hätten heruntergebrannt sein müssen, doch sie waren durch frische ersetzt worden. Auch das Brot war verschwunden.
Irgendjemand war hier gewesen, während ich geschlafen hatte. Schnell griff ich nach meinem Beutel und überprüfte, ob sich darin noch die Urne meines Bruders befand. Sie war unangerührt, ebenso wie der Rest meines Proviants. Wer immer über diese Kapelle wachte, hatte sich mit dem begnügt, was ich bereit gewesen war zu geben.
»Danke«, flüsterte ich in die Stille, ehe ich mich erhob und auf den Ausgang zuschritt.
Bei Tag bot sich mir ein klareres, aber dadurch nicht weniger verstörendes Bild als in der vergangenen Nacht. Von der Anhöhe, auf der sich die Kapelle befand, blickte ich auf die verwahrlosten Häuser hinab. Gezackte Glasscherben ragten wie Zähne aus den Öffnungen, die einst Fenster gewesen waren. Viele Türen waren aus den Angeln gerissen worden, als hätte sich jemand gewaltsam Zutritt verschafft. Manche Fassaden wiesen Brandflecke auf. Zerschlagene Möbel säumten die Straße. Neben den Gebäuden gab es kleine Hügel, die von frischem Schnee bedeckt waren. Ich machte mir wenige Hoffnungen, noch etwas Nützliches in all dem Schutt zu finden, dennoch wollte ich nichts unversucht lassen.
Zögerlich ging ich auf das mir nächstgelegene Haus zu und blickte auf die Anhäufung daneben. Einige Sekunden lang konnte ich nicht realisieren, was ich vor mir sah. Mit der Erkenntnis löste sich ein Wimmern aus meiner Kehle und ich taumelte rückwärts. Schockiert presste ich mir die Hand vor den Mund.
Das, was ich für Überbleibsel von Möbeln gehalten hatte, waren Leichen. Die aschfahle Haut ließ sich kaum von dem Schnee unterscheiden. Zerschlissene Stofffetzen bedeckten abgemagerte Leiber mit nackten Füßen. Der Tod hatte keinen Unterschied zwischen Alt und Jung gemacht. Männer lagen gleichermaßen wie Frauen zwischen den Fragmenten ihres einstigen Lebens. Am schwersten war der Anblick der toten Kinder zu ertragen.
Ich hatte die Nihilisten einst unterstützt, weil ich wollte, dass es dem Volk besser ging, doch alles hatte sich zum Schlimmeren verändert. Die Revolution sollte all jenen armen Seelen, die hier erfroren und verhungert waren, Gerechtigkeit bringen, stattdessen machte sie jene zu Opfern. Ich war nicht nur aus persönlicher Rache zurückgekehrt, sondern auch weil Winter mich brauchte. Das Volk brauchte mich.
»Es ist nur eines von vielen«, vernahm ich eine leise Stimme hinter mir.
Erschrocken fuhr ich herum und suchte vergeblich nach einem Körper zu den Worten. Hatte ich mir auch sie eingebildet, wie den Gesang in der Kapelle?
»Wie bitte?«, fragte ich dennoch und blickte den Hügel zu dem Ort der Heiligen empor. Ein schwacher Schein ging von den Buntglasfenstern aus, der bei Tag nicht so sehr auffiel wie in der Dunkelheit.
»Das Dorf«, erwiderte die dünne Stimme. »Es ist nur eines von vielen. Wenn du der Straße weiter folgst, wirst du an vielen Häusern vorbeikommen, in denen niemand mehr lebt.«
Keine drei Meter von mir hockte auf der Fensterbank des Hauses eine winzige zusammengesunkene Gestalt. Mir war sie zuvor nicht aufgefallen, weil sie beinahe gänzlich mit der Fassade verschmolz. Große blassgraue Augen starrten mir aus einem hohlwangigen Gesicht entgegen, das mit einem langen verfilzten Bart versehen war. Stofffetzen bedeckten den mageren Körper, dessen Haut so schlammverkrustet war, dass er kaum vom Boden zu unterscheiden war. Schneeflocken glänzten auf dem kahlen Kopf des Männleins. Es trug keine Schuhe und schien dennoch nicht zu frieren.
Ich glaubte zu wissen, was für ein Geschöpf ich da vor mir hatte, auch wenn ich nie zuvor einem solchen begegnet war und von seiner Existenz nur in Geschichten gehört hatte: Ein Domovoy.
Früher, als die alte Magie Winter noch erfüllte, waren sie zahlreich gewesen. Jede Hüte, mochte sie noch so klein sein, beherbergte einen solchen Hausgeist. Sie hielten das Feuer am Brennen und beschützten das Heim vor bösen Seelen. Im Gegenzug stellten die Bewohner ihnen kleine Speisen hin. Wer seinen Domovoy gut behandelte, hatte nichts zu befürchten. Brachten die Menschen ihnen jedoch nicht genügend Respekt entgegen oder waren zu geizig für eine milde Gabe, spielte der Hausgeist ihnen Streiche. Mit Beginn des Krieges verloren die Leute nicht nur den Glauben an die Heiligen, sondern auch an die alte Magie. Sie hatten selbst immer weniger zu essen und vernachlässigten die alten Bräuche. Die Domovoy verschwanden aus den Haushalten und wurden zu nicht mehr als einer Legende.
Es war nicht anders als mit den Rusalken, den Leshy oder den Sirin. Im Winterpalast war ich keinem dieser Geschöpfe je begegnet, aber seitdem die Nihilisten über Winter herrschten, wurden sie aus ihren Verstecken vertrieben.
»Was ist mit den Bewohnern geschehen?«, fragte ich den Domovoy, obwohl die ausgezehrten Körper für sich sprachen.
»Erfroren, verhungert«, entgegnete der Hausgeist betrübt. »Manche setzten dem Leid ein Ende, bevor es die Kälte für sie tun konnte.«
Die Verzweiflung der Menschen war noch größer, als ich sie mir je hätte vorstellen können. Wenn der Tod erstrebenswerter erschien als das Leben, war jede Hoffnung verloren.
»Was hält dich noch an diesem verlassenen Ort?« Ich hatte Mitleid mit dem armen Hausgeist, der so viel Leid hatte mitansehen müssen.
Er deutete mit seinem dürren Arm zu der Kapelle. »Irgendjemand muss sich um die Seelen der Verstorbenen kümmern und ihnen ein Heim geben.«
Schaudernd dachte ich an den Gesang, welchen ich in der letzten Nacht vernommen und für bloße Einbildung gehalten hatte. »Entzündest du die Kerzen auf dem Altar?«
Der Domovoy nickte. »Es ist lange her, dass mich jemand mit einer Gabe bedacht hat.«
Als ich das Brot ablegte, dachte ich nicht an einen Hausgeist, sondern an einen Menschen, aber das machte keinen Unterschied. »Du hast mich in deine Kapelle eingelassen, als ich eine Zuflucht brauchte.«
Nachdrücklich starrte mich das Geschöpf mit seinen großen Augen an. »Ein steiniger Pfad liegt vor dir, Mariya Wintera. Bewahre dir deinen Glauben, sonst verlierst du dich selbst.«
Ich hatte nicht erwartet, dass der Domovoy wüsste, wer ich war. Staunend blinzelte ich und wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber da war er bereits verschwunden und ich blickte auf nichts als eine leere Fensterbank. Verunsichert schaute ich zu der leuchtenden Kapelle empor. Wenn ich hierbliebe, würde sich der Hausgeist mir vielleicht ein zweites Mal zeigen. Die Verlockung, in die Wärme der Heiligen zurückzukehren, war groß, aber mein Weg führte mich weiter – zurück zu den Schienen der Eisenbahn.
S
ogar im Angesicht des Todes trug meine Mutter noch die Eisige Krone. Die dunklen Saphire hoben sich von der weißen Bettwäsche und ihrer fahlen Haut ab. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Noch immer kämpfte sie um jede weitere Sekunde ihres ruhmreichen Lebens.
Marika, die Kriegerin, war zu einer Legende geworden, vom Volk verehrt und von ihren Feinden gefürchtet. Aber nicht einmal sie konnte den Lauf der Zeit stoppen. Ihr Alter forderte ihren Tribut. Sie musste loslassen und ihren Platz auf dem Thron einem anderen räumen, ob sie nun wollte oder nicht.
Dabei hätte sie es guten Gewissens tun können, schon vor Jahren. Mein älterer Bruder Gedeon war das Paradebeispiel eines Thronfolgers: intelligent, charmant, gut aussehend, mutig und treu.
Mitfühlend hielt er unserer Mutter die Hand und kühlte ihr die fiebrige Stirn mit einem nassen Tuch. Er erzeugte den Eindruck eines Sohns, der Liebe und Fürsorge erfahren hatte. Es war nicht mehr als Schein.
Marika war vieles gewesen, aber keine Mutter. Ich machte es ihr nicht zum Vorwurf, denn sie hatte dafür gesorgt, dass andere sich um uns kümmerten und uns all das entgegenbrachten, wozu sie nicht in der Lage war. Es war nicht ihre Schuld, dass wir in einer engstirnigen Welt lebten. Wäre sie als Mann geboren worden, hätte niemand Anstoß daran genommen, dass sie ihre Kinder nicht öfter als einmal die Woche zu Gesicht bekam.
Zeit ihres Lebens musste sie sich mit Vorurteilen gegen das weibliche Geschlecht herumplagen. Von ihr wurde mütterliche Zuneigung erwartet, dabei galt ihre ganze Aufmerksamkeit stets dem Reich. Sie war eine großartige Winterkönigin, besser als jeder unserer männlichen Vorfahren. Ich empfand für sie keine Liebe, aber Bewunderung.
Röchelnd holte sie Luft, bevor ihr gebrechlicher Körper unter einem weiteren Hustenanfall erbebte. Geduldig harrten Gedeon und ich rechts und links von ihr aus, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Im Gegensatz zu meinem Bruder wäre ich nicht hier, wenn der Arzt mich nicht mit der Nachricht hätte holen lassen, dass ihre letzte Stunde angebrochen sei. So wie ich unsere Mutter kannte, würde sie alle überraschen und noch tagelang um ihr Leben kämpfen, entgegen jeder Prognose.
Weiß traten ihre Fingerknöchel hervor, als sie erstaunlich fest die Hand meines Bruders drückte.
»Mai«, krächzte sie heiser und ich musste mir ein Augenrollen verkneifen. Selbst auf dem Sterbebett interessierte sie nichts mehr als unser Reich. »Du darfst ihnen nicht nachgeben!«
Unsere Mutter war hartnäckig, aber nicht naiv. Auch sie musste einsehen, dass sie den Krieg, den sie seit ihrer Machtergreifung führte, nicht zu Ende bringen konnte. Aus Stolz und Eitelkeit heraus hatte sie allen beweisen wollen, dass sie selbst Taras, dem Folterkönig, überlegen war. Er einte die fünf Länder, welche das Reich des Winters ausmachten: Oktober, November, Dezember, Januar und Februar.
Marika, die Kriegerin, wollte es ihm gleichtun und überschritt Stück für Stück die Grenze zu Mai. Der dortige Herrscher Linh-Sun ließ sich das nicht bieten und erklärte Winter den Krieg. Seit Jahrzehnten war es ein Hin und Her, ein ewiges Sterben, ohne Sieger.
Mein gutmütiger Bruder Gedeon sehnt sich nach Harmonie. Deshalb war die größte Befürchtung unserer Mutter, dass er einen Friedensvertrag anstreben und bereit sein könnte, Teile von Winter den Maien zu überlassen. Das wäre das Letzte, was sie wollen würde. Sie hätte das Gefühl, dass er dadurch ihr Lebenswerk zerstöre.
Gedeon machte einen gequälten Eindruck, als er sich das Haar raufte.
»Es sind schon so viele Soldaten gestorben«, klagte er. »So wird es immer weitergehen, wenn wir nicht einen Schlussstrich ziehen. Weder Mai noch Winter kann gewinnen.«
Es kostet unsere Mutter ihre letzte Kraft, sich aufzubäumen und ihn mit ihren saphirblauen Augen zornig anzufunkeln. »Im Krieg geht es nur darum, die eigene Angst so lange wie möglich zu verbergen«, fauchte sie. »Du musst den Feind einschüchtern, dann ist der Erfolg außer Zweifel.«
Wenn sie in etwas gut war, dann darin, andere einzuschüchtern. Trotzdem hielt der Krieg schon lange an, vermutlich weil sie in Linh-Sun auf einen ebenbürtigen Gegner gestoßen war. Aber so wie die Zeit unserer Mutter beinahe vorbei war, würde auch seine bald enden. Wenn sie beide tot wären, könnten Winter und Mai andere Wege beschreiten. Es lag nicht mehr in ihrer Hand und das quälte unsere Mutter am meisten.
»Ach, Mutter«, klagte Gedeon. »Du hast dein ganzes Leben diesem Krieg gewidmet, anstatt es zu genießen. Bereust du nicht, dass du nicht mehr an dich gedacht hast?«
Sie schnaubte wütend auf und ließ sich entkräftet zurück in ihre Kissen sinken.
»Ich bin nicht irgendeine Frau, sondern die Winterkönigin. Meine Zeit gehört nicht mir, sondern dem Reich. Ich habe meine Pflicht erfüllt.«
»Das hast du«, stimmte ich ihr zu, weil ich fand, dass sie sich nicht rechtfertigen musste. »Besser als jeder andere.«
Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf ihre angespannten Gesichtszüge. Wir hatten sie nur selten so gesehen, da ihr nie etwas genug gewesen war. Sie stellte nicht nur an andere hohe Ansprüche, sondern auch an sich selbst.
»Steh deinem Bruder bei, Nazar«, bat sie mich nun. »Sei der Fels in seinem Rücken!«
Mit meiner enormen Körpergröße und Breite war ich für alle nicht mehr als ein Fels. Koloss nannten sie mich, weil ich so stark war. Ich hatte weder Gedeons Schönheit noch seine Intelligenz oder Redegewandtheit, aber nichts davon neidete ich ihm. Er sollte sich ruhig mit den ganzen Beratern, Bittstellern und Speichelleckern herumplagen, während ich meine Freiheit genießen konnte.
»Das werde ich«, versicherte ich ihr und legte meinem älteren Bruder eine Hand auf die Schulter. Wir kamen gut miteinander zurecht, weil wir beide akzeptierten, wer wir waren, und nicht jemand anderes sein wollten.
Gedeon schaute dankbar zu mir auf und legte seine Finger über meine. Als wir noch Kinder gewesen waren, hatte er mir einmal gesagt, dass ich das Beste wäre, was unsere Mutter ihm je geschenkt hatte. Dadurch, dass sie sich weder um ihn noch um mich kümmerte, entstand keine Eifersucht zwischen uns und wir waren immer froh gewesen, einander zu haben.
Vielleicht erkannte das auch unsere Mutter und die Gewissheit, nicht alles falsch gemacht zu haben, schenkte ihrem Herzen Frieden, denn als wir unsere Blicke wieder auf sie lenkten, waren ihren Augen erstarrt. Sie hatte ihren letzten Atemzug getan, ohne dass wir es bemerkt hatten. Winterkönigin Marika, die Kriegerin, war tot.
Gedeon stieß ein Seufzen aus, das tief aus seiner Brust kam, als er sich von seinem Stuhl erhob und ihr die Augen schloss. Ein Arzt trat aus dem Hintergrund hinzu und bestätigte ihr Verscheiden. Die Flügeltüren des Gemachs wurden geöffnet und die Nachricht den davor wartenden Beratern mitgeteilt. Das ganze Reich des Winters würde in Trauer versinken.
Aus der Schar von Männern löste sich eine einzelne Frau, die mit ausgebreiteten Armen zu Gedeon trat und ihn an sich zog. Sie trug ihr weißblondes Haar in einer aufwendigen Hochsteckfrisur, die ihren schlanken Schwanenhals betonte. Ihre strahlend blauen Augen waren von Kummer getrübt, als sie ihm einen Kuss auf die Wange hauchte.
Theodora von März war die Verlobte meines Bruders und würde bald Winterkönigin sein. Ich konnte die beiden schon vor mir auf dem Thron sehen: Sie gaben ein ideales Bild ab.
Das Volk würde sie lieben und dabei seine Trauer vergessen. Das Leben gehörte den Lebenden.
Ich nickte Theodora freundlich zu, als ich an ihr vorbeiging und hastig den Korridor hinuntereilte, bevor mich jemand aufhalten konnte. Das war einer der Vorzüge des Zweitgeborenen. Während Gedeon sich nun mit Plänen für seine Krönung herumschlagen musste, obwohl unsere Mutter noch nicht einmal kalt war, konnte ich einfach in den Gassen Winterburgs untertauchen.
Mein Ziel war die Oper, in der ich hoffte, der berühmten Ballerina Matilda Baptiste zu begegnen. Sie verfügte weder über Theodoras königliche Herkunft noch ihre erhabene Schönheit, dafür verstand sie es, mich abzulenken, wie keine andere. Es lag an meinem Bruder, in die Zukunft zu schauen, mir genügte die Gegenwart.
Ich zuckte zusammen und riss die Augen auf. Angestrengt und mit heftig pochendem Herzen lauschte ich in die Nacht. Es kam mir vor, als wären erst wenige Minuten vergangen, seitdem ich in dem alten Eisenbahnwaggon eingeschlafen war.
Die Dunkelheit war bereits heraufgezogen, als ich ihn auf den Schienen entdeckt hatte. Zuerst hegte ich die Hoffnung, dass ich endlich die Weiße Armee gefunden hätte, doch es stellte sich sehr schnell heraus, dass der Wagen verlassen war. Nur Ratten huschten zwischen den Holzlatten hin und her. Trotzdem hatte ich die Tür aufgeschoben und war ins Innere gestiegen – zu müde und hungrig, um weiterzugehen. In einer Ecke hatte ich mich fest in meinen Umhang gewickelt und mit der Hand den Griff des Dolches umklammert, den ich zu meinem Schutz bei mir trug, ehe mir die Augen zufielen. Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf, und seine Gefährten antworteten. Schaudernd dachte ich an meinen Traum zurück. Seitdem ich nicht mehr im Winterpalast war, fiel es mir leichter, die Realität zu erkennen. Es war das erste Mal gewesen, dass ich von einer Person träumte, die ich kannte: Theodora, meine Großmutter.
Auch wenn sie damals um viele Jahrzehnte jünger gewesen war, hatte ich sie auf Anhieb erkannt. Bis heute besaß sie dieselbe elegante Ausstrahlung wie damals. Allerdings war es nicht Gedeon gewesen, den sie heiratete, sondern Nazar, aus dessen Sicht ich alles erlebt hatte – mein Großvater.
Genau wie ich hatte er nie nach der Krone gestrebt. Er war nicht als Winterkönig geboren worden, sondern durch Umwege des Schicksals auf dem Thron gelandet.
Ein leises dumpfes Stöhnen erklang in der Finsternis. Es war das Geräusch, das mich hatte aufschrecken lassen.
Meine Finger schlossen sich fester um den Dolch, von dem ich gehofft hatte ihn nicht so bald zu brauchen. Mit meinen Augen suchte ich den Waggon ab, bis es mir gelang, die Umrisse eines Mannes auszumachen, der in einer Ecke zusammengerollt auf dem Boden lag.
Er war noch nicht da gewesen, als ich einstieg, dessen war ich mir sicher. Lautlos stand ich auf, die Waffe dicht bei mir, und schlich zu der Gestalt.
Die morschen Dielen des Holzbodens verrieten mich mit einem leisen Knarzen. Ich hielt den Atem an, als der Mann leicht den Kopf in meine Richtung wandte. Mehrere angespannte Sekunden verstrichen, ohne dass er sich rührte.
Ein herzzerreißendes Wimmern löste sich aus seiner Kehle.
»Wasser.«
Erleichtert atmete ich auf. Wer immer dieser Fremde war, schien mir nichts Böses zu wollen. Er war nur ein einsamer, verzweifelter Wanderer. Beherzt griff ich nach der Feldflasche aus meinem Beutel und trat näher an ihn heran. Ich erstarrte in der Bewegung, als ich seine Uniform bemerkte.
Sie war blutrot.
Er war ein Nihilist.
»Wasser«, flehte der Mann erneut, als spüre er meine Gegenwart.
In meiner rechten Hand hielt ich den Dolch, in der linken die Flasche.
Er war keiner jener Männer, die meine Familie ermordet hatten. Dennoch gehörte er einer Gruppierung an, die nicht nur meinen Tod, sondern auch den eines jeden Menschen, der mir etwas bedeutete, wollte. Wenn ich ihm half, könnte ein Messer in meinem Rücken stecken, sobald ich mich umdrehte.
Ich kannte diesen Mann nicht. Ich wusste nicht, welcher Verbrechen er sich bereits schuldig gemacht hatte. Als ich Winter verließ, hatte ich mir Rache geschworen und als ich von den Juli-Inseln wieder aufbrach, war ich fest entschlossen gewesen sie mir zu nehmen.
Jetzt war meine Gelegenheit gekommen. Ich sollte ihm den Dolch zwischen die Rippen rammen, anstatt zu zögern.
Tu es, meinte ich irgendwo in meinem Inneren eine drängende Stimme zu hören. Eduards?
»Bitte.«
Der Atem des Fremden ging stoßweise. In der Nacht war die Farbe seiner Uniform nicht leuchtend, sondern dunkel. In der Nacht war er nur ein hilfloser Mann. In der Nacht waren alle Menschen gleich.
Ich kniete mich neben ihn und hielt ihm die Feldflasche an die Lippen. Während das Wasser über seinen Mund tropfte, trübten sich seine Augen und eine Leere breitete sich in ihnen aus.
Hatte ich zu lang gewartet? Hätte ich ihn retten können?
Nein, das Leben des Mannes war bereits verwirkt, als er in diesen Waggon kletterte, vernahm ich eine sanfte Stimme in meinen Gedanken. Dieses Mal fiel es mir nicht schwer, sie zuzuordnen.Es war Adeline, die zu mir sprach. Dein Zögern verrät mehr über dich als ihn. Wie weit bist du bereit zu gehen, um deine Familie zu rächen und Winter zu retten?
Ich hatte Großmutter Theodora Skrupellosigkeit versprochen. Ich hatte ihr versprochen, alles zu tun und jedes Opfer zu bringen, das es mich kostete, um mein Ziel zu erreichen. Aber war ich dazu wirklich fähig? Konnte ich einen Menschen töten, den ich nicht persönlich kannte, nur weil er Nihilist war? Hatte nicht auch ich mich einst auf die Seite des Feindes gestellt?
Kehre um, bevor es zu spät ist. Nun richtete Arthur das Wort an mich. Nimm das Angebot des Julischen Prinzen an und lauf mit ihm weg. Sei glücklich!
Meine Hand ballte sich um den Griff des Dolches und ich bereute ihn nicht zum Einsatz gebracht zu haben. Ganz sicher würde ich keine Ratschläge von einem Feigling annehmen, der sein Reich im Stich gelassen hatte und abgehauen war.
Entschlossen stieg ich aus dem Waggon und setzte meinen Weg im Mondschein fort. Adeline hatte recht: Mein Zögern verriet viel über mich. Es würde mir eine Lehre sein, denselben Fehler nicht noch einmal zu begehen.
D
ie Nacht wich der Dämmerung. Ich lenkte meine Schritte durch den hohen Schnee, ohne zu wissen, wo ich mich befand oder ob ich überhaupt in die richtige Richtung lief. Wichtig war nur, dass ich nicht stehen blieb. Solange ich in Bewegung blieb, würde ich irgendwann irgendwo ankommen.
Ich musste schnell irgendwo ankommen, denn mein Proviant war aufgebraucht. Ich hatte ihn mir in der Erwartung eingeteilt, dass ich nicht mehr als ein paar Tage brauchen würde, um die Weiße Armee zu finden. Ich aß wenig, zumindest glaubte ich, dass es wenig wäre. Denn die Wahrheit war, dass ich keine Ahnung davon hatte, wie viel Nahrung ausreichte, um einen Menschen am Leben zu erhalten.
Meine Kleidung hatte sich mit Feuchtigkeit vollgesogen, sodass sie mir schwer am Körper hing. Die Kälte war bis in meine Stiefel vorgedrungen. Ich spürte meine Füße nicht mehr, aber zwang sie dennoch unentwegt vorwärts.
Der Tag blieb diesig grau und ließ nicht erahnen, wie viele Stunden verstrichen waren, als ich in der Ferne das Flackern eines Lagerfeuers bemerkte. Die Umrisse von Personen hoben sich dagegen ab. Sie waren zu weit entfernt, um sagen zu können, ob es sich bei ihnen um Nihilisten handelte. Ein deftiger Geruch zog über die eisige Weite, der meinen Magen vor Hunger zusammenzog. Diese Leute, wer immer sie waren, hatten etwas zu essen.
Selbst wenn es Nihilisten waren, konnte ich nicht an ihnen vorbeigehen. Ich war zu erschöpft und erfroren, um noch einen längeren Marsch durchzustehen. Zur Not würde ich lügen.
Wankend näherte ich mich der Gruppe. Erst vorsichtig, dann immer schneller, sobald ich erkennen konnte, dass sie keine roten Uniformen trugen. Von Kopf bis Fuß steckten sie in Rentierfellen, wie sie typisch für die Hirten Februars waren. Rentiere standen etwas abseits des Feuers.
Ich erinnerte mich daran, wie Lexi unseren Vater gefragt hatte, nachdem wir den Winterpalast hatten verlassen müssen, ob wir in Januar Rentierhirten zu sehen bekommen würden. Papa hatte es ihm versichert, aber es war nie dazu gekommen. Würden sie jetzt meine Rettung in der Not sein?
Sie hoben ihre wettergegerbten Gesichter, als sie mich entdeckten. Misstrauen war in ihren Mienen zu lesen. Es waren vier Männer und eine Frau.
Ich schenkte ihnen kaum Beachtung, denn das Fleisch, welches in den Flammen brutzelte, lenkte mich zu sehr ab.
Mein Bauch knurrte so laut, dass ich glaubte, die Hirten müssten es ebenfalls hören, doch sie starrten mich nur ausdruckslos an.
»Guten Tag«, sagte ich nervös. Mir fielen die spitzen Speere auf, die sie griffbereit bei sich liegen hatten. »Seid Ihr so gütig und gewährt einer einsamen Seele einen Platz an Eurem Feuer?«
Die Febrischen Rentierhirten waren bekannt für ihre genügsame Haltung. Sie lebten in Harmonie mit ihren Tieren und zogen von einem Ort zum nächsten. Das waren keine Menschen, die ich fürchten musste.
Die Frau lud mich mit einer Handbewegung dazu ein, mich zu setzen. »Die Flammen brennen nicht kälter, weil wir sie mit dir teilen.«
»Danke«, stieß ich erleichtert aus und ließ mich ihnen gegenüber nieder. In diesem Augenblick musste ich keine Winterkönigin sein, sondern es genügte, ich zu sein: ein hungriges Mädchen, das sich nach Wärme und Gesellschaft sehnte.
Niemand sagte etwas, deshalb blieb auch ich still. Ich hoffte, dass sie mir etwas von ihrem Essen anbieten würden, sobald es gar war. Auch wenn ich mir Mühe gab, es zu vermeiden, fiel mein Blick immer wieder auf das vor Fett glänzende Fleisch in dem Feuer. Es zischte jedes Mal, wenn ein Tropfen die Holzscheite traf. Um was für ein Tier mochte es sich handeln? Ohne Fell ließ sich das für mich nur schwer erahnen. Für ein Schwein hatte es zu lange Beine, aber für eine Kuh kam es mir zu mager vor.
Ich war kurz davor, die Hirten danach zu fragen, als ich hinter einem von ihnen ein Geweih aufragen sah. Der Mann verdeckte es beinahe mit seinem Körper, weshalb es mir zuvor nicht aufgefallen war. Der Schnee zu seinen Füßen war blutgetränkt.
Mir schnürte sich die Kehle zu. Briet dort im Feuer etwa ein Rentier?
Das konnte nicht sein! Diese Tiere waren den Hirten heilig. Sie töteten sie nicht. Niemals! Nicht einmal zum Eigenverzehr.
Die Zeiten sind hart, raunte eine leise Stimme in meinem Inneren. Seitdem ich wieder in Winter war, erklangen in meinem Kopf häufiger Worte, die nicht von mir stammten. Ich konnte sie nicht immer zuordnen, aber ich wusste, dass sie von meinen Vorfahren stammen mussten, die sich nicht mehr damit begnügten, mich nur in meinen Träumen aufzusuchen. In der Heimat war ihre Magie stärker.
Wenn die Rentierhirten verzweifelt genug waren, um ihren Glauben zu brechen, wozu waren sie dann noch bereit? Plötzlich kam mir der Geruch des Fleisches nicht mehr verlockend, sondern ekelerregend vor. Bemerkten die Fremden meinen Stimmungsumschwung? Einer von ihnen erhob sich und schöpfte mit einer Kelle etwas Flüssigkeit aus einem Kessel, der unter dem Fleisch stand. Er nahm die dampfende Schale, kam damit um das Lagerfeuer und streckte sie mir entgegen.
Es war eine freundliche Geste, für die ich Dankbarkeit aufbringen sollte. Welches Recht hatte ich, über diese Leute zu urteilen? Es war mein Vater, der dem Volk jede Nahrungsquelle genommen hatte, als er immer mehr Männer in den Krieg schickte, anstatt dafür zu sorgen, dass die Bauern ihre Felder bestellten.
Ich schloss meine Hände um das warme Gefäß und nickte dem Mann anerkennend zu. In der Brühe schwamm etwas, das nach Kartoffeln und vielleicht Baumrinde aussah. Ich war froh, dass es kein Fleisch war.
Langsam führte ich die Suppe an meine Lippen und nippte daran. Die Hitze verbrannte mir den Gaumen. Trotzdem zwang ich mich weitere kleine Schlucke davon zu trinken. Dabei ließen mich die Hirten nicht aus den Augen, als erwarteten sie mein Urteil.
»Das schmeckt sehr gut«, verkündete ich höflich, aber sie senkten ihre Blicke nicht.
Die Wärme erfüllte meinen Bauch und breitete sich weiter in meinem Körper aus, bis sie mir zu Kopf stieg. Zuerst hielt ich es für ein Anzeichen meiner Erschöpfung, aber mir wurde immer komischer zumute. Es fiel mir schwer, die einzelnen Personen der Gruppe zu fokussieren. Ich konnte mich kaum noch aufrecht halten, weil mir so schwindelig war. Die Schale glitt mir aus den Händen und die restliche Flüssigkeit verteilte sich über den Schnee.
Irgendetwas stimmte nicht.
Verwirrt schaute ich zu meinen Gastgebern, die mich reglos musterten. Keiner von ihnen kam mir zu Hilfe. Sie mussten mit solch einer Reaktion gerechnet haben, weil sie mir etwas ins Essen gemischt hatten. Aber warum? Was wollten sie von mir? Mein Bewusstsein hing an einem seidenen Faden. Nur ein Blinzeln und er würde reißen. Ich durfte nicht die Kontrolle über meinen Körper verlieren.
Angst bemächtigte sich meiner, trieb meinen Puls in die Höhe und zwang mich nach dem Dolch an meiner Hüfte zu greifen.
Du hättest ihnen nicht vertrauen dürfen, zischte Eduard in meinem Kopf. Er klang nicht selbstgefällig, sondern resigniert. Menschen sind verräterisch.
Hilf mir, flehte ich ihn stumm an. Ich war verzweifelt genug, um die Hilfe meiner Vorfahren anzunehmen.
Wir können sie töten, entschied Eduard. Es braucht nur einen vereinten Schrei.
Nein, widersprach ihm Arthur. Diese Menschen sind verzweifelt. Es ist nicht ihre Schuld, dass ihr Leben so hart geworden ist. Sie verdienen den Tod nicht.
Meine Vorfahren waren sich nicht einig. In meinem benebelten Kopf kam es mir nicht einmal sonderbar vor, einer Diskussion zu lauschen, die ausschließlich in meinen Gedanken stattfand.
Mittlerweile bemerkten die Hirten, dass die Wirkung dessen, was sie mir verabreicht hatten, nicht einsetzte. Vermutlich hätte ich längst ohnmächtig oder tot sein müssen. Zwei von ihnen erhoben sich und griffen nach ihren Speeren. Sie kamen auf mich zu.
Sag ihnen, wer du bist, forderte Sofia mich auf. Die Rentierhirten gehören der alten Zeit an. Sie werden dich respektieren!
Über mir ragten die dunklen Gesichter der beiden Männer auf. Die Spitzen ihrer Waffen funkelten, als sie diese auf mich richteten.
»Halt«, stieß ich hervor und hob meine schwankenden Arme, in dem Versuch, sie abzuwehren. »Tötet mich nicht.« Meine Stimme klang wie von weit her. Verstanden sie mich überhaupt?
Sie verzogen ihre Münder, als bedauerten sie, was als Nächstes geschehen würde.
Ich wollte es nicht erfahren.
»Ich bin Ma-ma-mariya … Wintera, die … die letzte Über-üüüü-überlebende meiner Fa-fa-familie und Wi-winterkönigin«, würgte ich stotternd hervor.
Irritiert hielten beide Hirten inne und betrachteten mich argwöhnisch.
Aus dem Hintergrund erklang die Stimme der Frau: »Sie lügt!«
»Nein«, beteuerte ich verzweifelt und spürte, wie ich langsam wieder Macht über meine Stimme und meine Gliedmaßen erlangte. »Ich bin eure Winterkönigin!«
»Bringen wir es hinter uns«, knurrte ein dritter Mann. Mittlerweile hatte sich die gesamte Gruppe um mich versammelt. Sie starrten alle auf mich herab, aber keiner von ihnen schenkte mir Glauben.
Ich erkannte meinen Fehler: Ich war in der naiven Annahme nach Winter zurückgekehrt, dass ich die Weiße Armee finden würde und irgendjemand meine Identität bezeugen könnte.
Aber ich war ein Niemand in meiner Heimat. Für die Mehrheit der Menschen war ich nicht mehr als ein Name ohne Gesicht. Die meisten kannten nicht einmal Gemälde von mir und wenn es nach den Nihilisten ging, würde es bald kein Bild mehr von meinen Vorfahren, meiner Familie oder mir geben, da sie alle Porträts zerstören ließen. Wir würden nicht mehr als Geschichten sein, die irgendwann in Vergessenheit gerieten.
Alle, die mich einst persönlich gekannt hatten, waren vermutlich tot.
So wie ich es sein würde, wenn mir nicht irgendetwas einfiel, um mich zu retten.
Die Spitze eines Speeres berührte meine Kehle. Ein Stoß würde genügen, um mein Leben zu beenden. Verzweifelt schaute ich zu dem Mann auf, der die Waffe hielt. In seinen Augen stand nicht die kalte Entschlossenheit, die es brauchte, um einen Menschen zu töten. Ich konnte ihm ansehen, wie er mit sich rang, und schöpfte daraus Hoffnung.
»Warum?«, krächzte ich und spürte die Wärme meiner Tränen, als sie über meine Wangen liefen.
Er senkte den Blick. »Es gibt nichts mehr zu essen.«
Es fiel mir schwer, seine Antwort zu verstehen, weil das Gift nicht nur meinen Körper, sondern auch meinen Verstand lähmte. Ihr Hunger wäre noch genauso groß, wenn sie mich umbrachten.
Es sei denn …
Nein! Das war unmöglich! Menschen würden niemals so tief sinken einen anderen Menschen zu essen. Oder etwa doch?
Die Reue in der Miene des Mannes war mir Antwort genug! Er wollte mich nicht töten, aber er wollte auch nicht verhungern.
»Nein«, wimmerte ich schockiert und hilflos zugleich. »Bitte tut das nicht!«
»Es tut mir leid«, beteuerte der Rentierhirte, ohne mich anzusehen.
Ein anderer stieß ihn grob beiseite und richtete seinen eigenen Speer auf mich. »Du zögerst zu lange«, warf er seinem Kameraden vor. »Entschuldige dich nicht für etwas, das wir nicht verursacht haben.«
Dieser Mann würde tun, was getan werden musste, um das Überleben der Gruppe zu sichern. Skrupellosigkeit verzerrte seine Gesichtszüge.
Schrei, forderte Eduard mich unnachgiebig auf. Nachdem offensichtlich war, dass es für mich keine andere Lösung gab, widersprachen die anderen Ahnen ihm nicht länger.
Ich öffnete meine Lippen, als das Getrappel von Hufen sich näherte und das Brüllen eines Rentiers die angespannte Stille zerriss. Erschrocken schauten die Hirten sich nach ihren Tieren um. Über die Eisige Weite kam eine Truppe mit Pferden in unsere Richtung galoppiert. Rot hoben sich ihre Uniformen gegen den Schnee ab – Nihilisten.
Sie waren nicht nur mein Feind, sondern auch die Rentierhirten fürchteten sie. Ohne mich oder das Fleisch im Feuer zu beachten, rannten sie zu ihrer Herde. Sie saßen noch nicht alle auf den Rücken ihrer Tiere, als der erste Schuss die Luft zerriss. Das Gebrüll der Rentiere wurde panisch und sie ergriffen die Flucht.
Es knallte in ohrenbetäubender Lautstärke. Der Körper eines Hirten fiel zu Boden. Blut besprenkelte den weißen Schnee und mehrere Tiere ließen ihr Leben. Nur wenige kamen davon, bis die Nihilisten das Lagerfeuer erreichten.
Panisch versuchte ich mich aufzurappeln, aber meine Beine knickten immer wieder unter mir weg. Alles drehte sich und ich musste einsehen, dass ich ihnen nicht entkommen konnte. Selbst wenn ich in Besitz meiner vollen Kräfte gewesen wäre, hätte ich es zu Fuß wohl nicht weit geschafft.
In der Resignation fand ich eine unerwartete Stärke und blickte erhobenen Hauptes den fremden Männern entgegen, die mich umkreisten. Sie waren zu dritt, aber ihre Gewehre verliehen ihnen die Macht von zehn.
Skeptisch schauten sie zwischen den Rentierhirten und mir hin und her. Obwohl ich mich in einem jämmerlichen Zustand befand, verriet meine Kleidung, dass ich nicht zu der Gruppe gehörte und von wohlhabender Abstammung war.
Naserümpfend richtete einer der Männer sein Gewehr auf mich. »Bist du eine Ehemalige?«
Ich hatte nicht vergessen, was die Nihilisten mit den Ehemaligen Leuten anstellten, wie sie die einstigen Adligen nannten: Entweder erschossen sie jene oder sperrten sie in Lager, damit sie sich dort zu Tode schuften mussten. Ich hätte bestreiten können, was sie mir vorwarfen, aber in ihren Augen sah ich, dass jedes Leugnen zwecklos wäre. Sie hatten ihr Urteil über mich längst gefällt. Auch der magische Schrei meiner Vorfahren würde mich nicht retten, sondern nur zu Einsamkeit und Kälte verdammen. Ich konnte die Mörder meiner Familie nicht finden, indem ich durch die Eisigen Weiten wanderte. Je näher ich dem Feind war, umso näher war ich meinem Ziel.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, als ich den Nihilisten antwortete: »Mein Name ist Adeline. Ich bin die Tochter eines Kaufmannes!«
Sie hielten ihre Waffen im Anschlag und ich wartete nur auf den tödlichen Schuss, der meinem Leben ein Ende bereiten würde. Doch dann senkten sie ihre Gewehre und einer von ihnen sprang in den Schnee neben mir.
»Du kommst mit uns«, knurrte er höhnisch und machte sich daran, meine Handgelenke zu fesseln. »Wird Zeit, dass eine wie du sich auch mal die Hände schmutzig macht.«
W
ir erreichten das Gefangenenlager bei Einbruch der Dunkelheit. Es war mit Stacheldraht eingezäunt und von Wärtern umringt. Meine Handgelenke schmerzten fürchterlich, nachdem die Nihilisten mich den halben Tag an einem Strick hinter ihren Pferden hergezerrt hatten. Es bereitete ihnen Freude, das Tempo zu erhöhen und mir dabei zuzusehen, wie ich stürzte und über den Schnee schlitterte. Ich beklagte mich nicht, aber verfluchte sie unentwegt.
Über dem Tor baumelte ein Schild, welches den Ort als Gulag betitelte. Dahinter erstreckte sich eine Reihe von Holzbaracken. Schmutzige gestreifte Kleidung machte die Gefangenen kenntlich. Ich musterte im Vorübergehen ihre Gesichter, hielt nach einem Bekannten Ausschau, aber wurde zu schnell vorwärtsgestoßen und ihre Mienen verschwammen vor meinen Augen.
Vor einem großen Gebäude aus Beton hielten wir an. Davor türmte sich ein Haufen mit allerlei Gegenständen auf. Ich verstand erst dessen Bedeutung, als einer der Wachmänner mir meinen Beutel entriss und achtlos zu den anderen Sachen warf. Nein!
Entsetzen durchfuhr mich. Instinktiv versuchte ich, mich loszureißen und meine Tasche wieder an mich zu nehmen, aber mit meinen gefesselten Händen war es aussichtslos. Der Wärter riss mich rücksichtslos zurück. Ich stürzte auf meine Knie und er ragte bedrohlich über mir auf.
»Du bist ein Niemand«, spie er mir abfällig entgegen. »Du bist nichts und du hast nichts!«
Alles, was ich bei mir trug, hätte ich bereitwillig abgegeben, aber nicht die Urne mit Lexis Asche. Sie war das Einzige von Wert für mich und steckte noch in dem Beutel, der jetzt wie Abfall zwischen all den anderen Dingen lag, die ihren ehemaligen Besitzern entwendet worden waren. Es war sinnlos, mich den Nihilisten zu erklären und sie um Gnade anzuflehen. Sie würden eher die Asche vor meinen Augen ausschütten, mit ihren Füßen darauf stampfen und ausspucken.
Meine Vorfahren regten sich in meinem Inneren. Lexi war nicht nur mein Bruder, sondern auch einer der ihren – ein Wintera. Sie teilten meinen Schmerz und meine Wut.