Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten - Christoph Gassmann - E-Book

Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten E-Book

Christoph Gassmann

0,0

Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Die Berufsbildung steht mehr als auch schon im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. In einigen Branchen droht ein Fachkräftemangel - oder er ist schon Tatsache. Nach Jahren der Lehrstellenknappheit kommen den Betrieben vor allem leistungsstarke Jugendliche abhanden. Viele entscheiden sich für den gymnasialen Weg. Dabei wird das duale System der Schweiz oft über allen Klee gelobt: Ihm verdanke das Land seine tiefe Jugendarbeitslosigkeit. Einige vermuten darin sogar ein Rezept, das weltweit wirtschaftliche Probleme lösen könnte, und möchten es deshalb exportieren. In all den Debatten kommen die eigentlichen Helden der Berufsbildung, die das System in erster Linie tragen, kaum zu Wort: die Lehrpersonen und Ausbildner/-innen. Insofern betritt die Publikation unbekanntes Territorium: 16 Berufsbildungs- Profis reden im persönlichen Gespräch über ihren Werdegang, ihren Ausbildungsalltag, ihre Positionen, Visionen und Träume. Vertreten sind alle drei Lernorte: die Betriebe, vom Kleingewerbe bis zum internationalen Konzern, der schulische Bereich, von der Berufsfachschule bis zur Fachhochschule, aber auch der "dritte Lernort", die Ausbildungs- und Kurszentren. Das Spektrum der angesprochenen Berufe reicht vom Kaufmännischen und Verkauf über die Maler/-in oder Gipser/-in, die Berufe der Maschinen-, Elektronik- und Metallindustrie und der Pharmabranche bis zur Pflegefachperson und Hebamme.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 500

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Herausgeberschaft der Reihe praxis

im hep verlag

Prof. Dr. Jürg Arpagaus

Mitglied der Hochschulleitung der Pädagogischen Hochschule Luzern (  PH Luzern  )

Prorektor Weiterbildung und Leiter Abteilung Sek II und Tertiär ( i. Pu.) an der PH Luzern

Prof. Dr. Esther Kamm

Abteilungsleiterin Sekundarstufe I

Pädagogische Hochschule Zürich ( PH Zürich  )

Willy Obrist

Vorsteher der Abteilung für Gewerbe-, Dienstleistungs- und Laborberufe ( gdl )

Gewerblich-Industrielle Berufsschule Bern ( gibb )

Prof. Dr. Manfred Pfiffner

Studienleiter Allgemeinbildender Unterricht an Berufsfachschulen an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen (  PHSG  )

Dozent und Modulleiter in Erziehungswissenschaften an der PHSG

Prof. Dr. Heinz Rhyn

Leiter Institut für Forschung, Entwicklung und Evaluation der Pädagogischen Hochschule Bern (  PHBern  )

Präsident der Kommission für Forschung und Entwicklung an der PHBern

Dr.  phil. Andreas Schubiger

Mitglied der Schulleitung, Leitung Abteilung Berufspädagogik

Zentrum für berufliche Weiterbildung (  ZbW  ), St. Gallen

Prof.  Dr. Christoph Städeli

Abteilungsleiter Sekundarstufe II/Berufsbildung

Pädagogische Hochschule Zürich (  PH Zürich  )

Diese Publikation erscheint im Rahmen der Lehre und Entwicklung von Mitarbeitenden der Abteilung Sekundarstufe II/Berufsbildung der PH Zürich und setzt Schwerpunkte für die unterrichtliche Praxis auf der Sekundarstufe II.

Christoph Gassmann

Berufsbildung in der Schweiz

Gesichter und Geschichten

16 Interviews mit Profis aus Schule, Kurszentrum und Betrieb

ISBN Print: 978-3-03905-578-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-0276-3

Coverbild «Stifte»: Christoph Gassmann, Zürich

Fotos, wo nicht anders vermerkt: Christoph Gassmann, Zürich

Gestaltung: pooldesign, Zürich

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

BerufsbildungsgetränktAndreas Grassi

«Ein nährender Beruf»Mine Dal

«Immer auf Kontrolle bedacht»  – Perfektionismus als Last und PflichtYvonne Steiner

Die Passion für das AndereStephan Leiser

Selber lernen macht schlauAndreas Sägesser

«Ein Glück, dass in der Lehrlingsausbildung Routine wenig Chancen hat»Melanie Edelmann

«Sie sagten, meine Sprache sei wie ein warmer Regen»Kitty Kreienbühl-Lotz

«Ich muss nicht ständig zeigen, dass ich der Chef bin»Hanspeter Scheu

«Bei uns können sie auch mal modernstes Gerät ans Limit bringen»Hans Ihasz

HerzblutprobenSandra Jungo

«Wir produzieren Waren, die glücklich machen»  – Wie Lernende in eine Firmenkultur hineinwachsenAndreas Bischof

«Ich will von jedem lernen – auch von den Schnupperstiften»Roger Hehli

«Ich will gesellschaftlich etwas bewirken – hier und jetzt»Elisabeth Gusdek Petersen

«Unterrichten ist lehrreich – auch für einen selbst»Chantal Galladé

«Mich haben vor allem die Leistungsstarken interessiert»Ueli Künzi

«Am wichtigsten ist die Praxis»Marianne Haueter

Anhang

Nützliche Begriffe und Kürzel

Weiterführende Literatur

Bildnachweise

Vorwort

Vorwort

Seit fast dreissig Jahren beschäftige ich mich pädagogisch, wissenschaftlich und politisch mit Berufsbildung im In- und Ausland. Bis zur Lektüre dieses Buches glaubte ich, dass ich weiss, wie die Schweizer Berufsbildung funktioniert und welche Rolle die Berufsbildungsverantwortlichen einnehmen. Ich kenne das Berufsbildungsgesetz, die Minimalanforderungen an Berufsbildungsverantwortliche und vieles mehr. Ich leitete eine Zeit lang das Schweizerische Institut für Berufspädagogik und habe mich als Direktorin des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie an unzähligen Tagungen mit Lehrpersonen, Berufsbildnern und Bildungspolitikern unterhalten. Doch dieses Buch hat meinen Horizont erweitert. Es bringt Facetten zum Ausdruck, die verständlich machen, warum die Schweizer Berufsbildung vielen anderen Systemen dieser Welt weit überlegen ist.

Anhand von sechzehn Geschichten über Persönlichkeiten in der Berufsbildung wird anschaulich erzählt, welchen Stellenwert Berufsbildungsverantwortliche in der Entwicklung junger Nachwuchstalente haben und was sie motiviert. Darüber hinaus wird gezeigt, was sie neben dem eigentlichen Vermitteln des Fachunterrichts, der Berufskunde oder der Einsatzplanung im Betrieb zugunsten des Berufsnachwuchses tun und wie sie selbst den Weg in ihre Funktion gefunden haben. Es werden Menschen mit Fähigkeiten und Fertigkeiten porträtiert, die sie nicht nur im Unterricht erlernt haben, Menschen mit charakteristischen Wahrnehmungen, Werten, Haltungen und Leidenschaften . Durch die Linse dieser Profis der Berufsbildung werden beispielhaft Wirkungszusammenhänge sichtbar, die bisher wenig thematisiert wurden. Dabei wird deutlich, dass ihr Aktionsraum nicht einfach das Klassenzimmer oder der Betrieb ist. Sie erschliessen über die Berufslernenden auch Beziehungsstrukturen ausserhalb ihrer Arbeitsstätte, z. B. das Elternhaus, Peers, Betriebsvertreter. Sie leisten oft mehr als im Pflichtenheft ihres Arbeitsvertrages steht. Sie begleiten Jugendliche in der dualen Bildung auf dem Weg zum erwachsenen Menschen in vielfältigen Veränderungsprozessen. Dass dies nicht immer reibungslos und einfach verläuft und wie Profis selbst mit solchen Situationen umgehen, erfahren wir in diesem Buch.

Vieles, was Fachleute an Kompetenz zeigen oder von Jugendlichen einfordern, hängt von den sogenannten weichen Faktoren ab, beispielsweise von der Empathie, welche in ganz bestimmten kritischen Situationen den Lernenden, deren Eltern oder Betriebsvertretern entgegengebracht wird. Durch ihre Kompetenz, unangenehme Aspekte anzusprechen und Jugendlichen auf der ganzen Breite der Begabtenskala dabei zu helfen, kritische Situationen zu überwinden und eigenverantwortlich zu handeln, helfen sie, Schlüsselereignisse im Leben eines Jugendlichen nachhaltig zu beeinflussen. Oft sind es vermeintlich unscheinbare Momente im Leben eines Lernenden, die durch geeignete Massnahmen und mit einer gewissen Hartnäckigkeit seitens der Profis zum Positiven gewendet werden können. Die resultierenden Erfolgserlebnisse bilden sich selten in Notenausweisen ab. Nur wenige Beteiligte wissen, warum es zum Erfolg kam und wer ihn wem zu verdanken hat. Das Erfolgserlebnis wirkt hingegen auf alle. Solche Persönlichkeiten machen die Schweizer Berufsbildung stark, auch wenn sie meist unscheinbar wirken.

Dem Interview mit der aus der Türkei gebürtigen Mine Dal können wir entnehmen, dass andere Länder den Bildungsverantwortlichen und insbesondere den Lehrpersonen mehr Wertschätzung entgegenbringen, als wir es tun. Das hat in mir in Erinnerung gerufen, dass für uns vieles einfach zu selbstverständlich ist. Wenige wissen, wie anspruchsvoll die Arbeit von Berufsschullehrpersonen aufgrund der Heterogenität der Klassen heute ist und wie oft sie sich über ihre eigentliche Aufgabe hinaus zugunsten der jungen Nachwuchstalente engagieren, weil ihnen die Jugendlichen wichtig sind. Ebenso wenig weiss eine breite Öffentlichkeit, was die Managerinnen und Manager von Berufsbildung in Betrieben leisten. Dieses Buch mit seinen Gesichtern und Geschichten hilft zu verstehen, warum die Berufsbildung in der Schweiz so erfolgreich ist. Es zeigt, dass es sich auch für die kommenden Generationen lohnt, sich zu engagieren, seine Stärken zu stärken und immer wieder den neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Wer heute dank einer tollen Berufsbildnerin oder einem engagierten Lehrer einen guten Berufsabschluss erworben hat, der steht vielleicht bald auch in der Verantwortung, seine Erfahrung und sein Können an die nächste Generation weiterzugeben. Berufsbildung Schweiz ist für engagierte Berufsbildungsverantwortliche wie für die Berufslernenden eine Bildung fürs Leben.

Ursula Renold

März 2015

Einleitung

Einleitung

« Il a le geste vif et appuyé, un peu trop précis, un peu trop rapide, il vient vers les consommateurs d’un pas un peu trop vif, il s’incline avec un peu trop d’empressement, sa voix, ses yeux expriment un intérêt un peu trop plein de sollicitude pour la commande du client, enfin le voilà qui revient, en essayant d’imiter dans sa démarche la rigueur inflexible d’on ne sait quel automate, tout en portant son plateau avec une sorte de témérité de funambule en le mettant dans un équilibre perpétuellement instable et perpétuellement rompu, qu’il rétablit d’un mouvement léger du bras et de la main. Toute sa conduite nous semble un jeu. (…) Il joue, il s’amuse. Mais à quoi joue-t-il ? Il ne faut pas l’observer longtemps pour s’en rendre compte : il joue à être garçon de café. »

Jean-Paul Sartre, L’être et le néant

Das Spiel, das Sartre hier mit distanziertem Blick seziert, ist nichts anderes als die Professionalität des Kellners, des garçon de café, der in seiner Aufgabe aufgeht und seinen Beruf verkörpert – wenigstens für die Dauer des Spiels.

Aber dieses Kellnerhandeln ist nicht bloss Rollenspiel, es ist durchaus Daseinsform. Und ausserdem verdunkelt Sartres kühle Skizze, dass jede Bewegung des Kellners mehr ist als eingeübte Fertigkeit, mehr und anderes als perfekter Ausdruck von Selbstverleugnung: In jeder Geste steckt Haltung, steckt in mühevoller Arbeit angeeignetes  Wissen, das sich auch keineswegs nur auf die typischen Abläufe und Bewegungen beim Servieren bezieht, sondern ebenso auf die Karte der Getränke und Mahlzeiten, die Kaffeesorten oder die Zubereitung der angebotenen Speisen, den Charakter der Weine, auf die Traubensorten und Aromen, Struktur, Bukett und Abgang jedes Weins, auf die Eigenheiten der Kundschaft, ihre Gewohnheiten, die Behandlung, die sie von einer Bedienung erwarten. Der Kellner realisiert seine Vorstellung von perfekter Kellnerarbeit, er ist dabei nicht nur Tänzer und Akrobat, er ist auch Gedächtniskünstler, Menschenkenner, selbstverständlich Gastronom und vieles mehr.   Analog ist die Coiffeuse nicht einfach eine, die Haare wäscht, schneidet oder färbt, als die wir sie uns vielleicht denken möchten, sondern auch Lebensberaterin und Laborantin, Gestalterin und Gesellschaftsdame, Kauffrau, Hautspezialistin, Psychologin und vieles mehr. Und der Lehrer wird irgendwo pendeln zwischen Einpeitscher und Entertainer, Löwenbändiger, Lerncoach und Lebensbegleiter – kein Wunder, dass Unterrichten als «unmöglicher Beruf» gehandelt wird.

Wir bewundern die Kunstfertigkeit der alten Schreiner, die ohne Schrauben, Leim und Nägel die wunderbarsten Schränke und Truhen herstellten: früher ein gewöhnlicher Bauernkasten, heute ein Sammlerstück, das vom erlesenen Geschmack des Besitzers zeugt.

Wir liegen alle gern bequem. Und wir wissen, was wir von einer Matratze oder einem Bettgestell erwarten: Komfort, genau nach unserem persönlichen Bedürfnis. Hochwertige, gesunde, dauerhafte, sorgfältig verarbeitete Materialien.   Aber auch ästhetische Qualitäten.

Wir lassen uns auf die Wartelisten der Sterneköche setzen – eigentlich auch nicht mehr als «simple Köche», die aber die eingeschliffenen Routinen der unpersönlichen Qualitätsarbeit verlassen und sich auf das ungewisse, individuelle Terrain der Kunst vorgewagt haben.

Wir wünschen uns die beste Pflege, wenn wir krank sind, die beste Beratung in der Apotheke. Und die beste Pflege, die beste Beratung, das ist immer mehr als bloss das richtige Medikament gegen ein diagnostiziertes Leiden.

Die Chirurgin soll eine ruhige Hand und gute Nerven haben, aber auch akkurate Kenntnisse der menschlichen Anatomie.  Was noch? Und was macht die professionelle Gipserin aus, den Tramführer, die Politikerin, den Verkäufer im Elektronikmarkt? Was dürfen wir von einer «professionellen Grabpflege» erwarten, die uns ein Friedhofgärtner auf seiner  Website verspricht?

Es ist schwer, wenn nicht gar unmöglich, alle Eigenschaften zu benennen und zu beschreiben, an die wir in all diesen Fällen denken, wenn wir das Wort «professionell» verwenden. Und doch wissen wir oder haben es zumindest im Gefühl, was wir von kompetenten Berufsleuten erwarten.

Auf der andern Seite: Hingeschustert! Liederliches Gestümper, Schlamperei, Pfusch, Murks! Geschluder! Geschmiere! Flickschusterei! Einfach unprofessionell!

Wir haben für unsachgemäss ausgeführte Arbeit eine ganze Palette von Begriffen und können «Pfusch» ohne Weiteres erkennen, selbst wenn wir vom guten Handwerk vielleicht wenig Ahnung haben.

Wir schätzen die Qualität von Produkten und die Professionalität gelieferter Arbeit.  Aber der  Weg dahin, die Berufsbildung – jedenfalls die Grundbildung in den handwerklichen, den gewerblichen, den industriellen und Dienstleistungsberufen – geniesst nicht mehr das Ansehen, das solcher Wertschätzung entspricht. Eltern, zumindest aus der Mittelschicht, fallen fast in Ohnmacht, wenn es ihre Kinder nicht an die Maturitätsschule schaffen (oder es nicht dahin schaffen wollen). Und ihre  Vertreter, die gerne unterstellen, eine Erhöhung der Maturandenzahlen könnte die Bildungssegregation und Chancenungerechtigkeit beseitigen (berechtigte Anliegen), bringen die Berufslehre unterschwellig mit Illettrismus in  Verbindung: «Die grosse Mehrheit der Jugendlichen, die mit ihrer Berufsbildung und Berufsarbeit zum Teil schon weit vor dem zwanzigsten Lebensjahr beginnt, bezahlt dafür nicht selten den Preis einer bloss rudimentären Bildung», behauptet Philipp Sarasin von der Uni Zürich. Da werden, möchten wir behaupten, die Ansprüche und Anforderungen unterschätzt, die viele Berufslehren an die Jugendlichen stellen, nicht erst seit jüngst (ein Bekannter von mir, ein bekannter Strafverteidiger, erzählt, dass er in seinen Prüfungsträumen, aus denen er heute noch schweissgebadet erwacht, noch einmal die LAP als Hochbauzeichner absolviert, nicht etwa die Anwaltsprüfung). Und es werden die Möglichkeiten unterschlagen, die eine Berufslehre heute bietet, zumal wenn man sie mit einer Berufsmaturität verbindet.

Es gab und gibt auch die anderen Stimmen. Die von Rudolf Strahm, nach dem die Schweiz dem dualen System seine tiefe Jugendarbeitslosigkeitsquoten verdankt, aber auch ganz allgemein ihren hohen Lebensstandard. Der darin ein Rezept vermutet, das in anderen Staaten weltweit wirtschaftliche Probleme lösen könnte, und der das System deshalb exportieren möchte. Der 2014 wieder eindringlich vor der Akademisierungsfalle warnt, in die unser Bildungssystem geraten könnte.

Oder auch die des Philosophen und Publizisten Ludwig Hasler: «Jugendlichen kann vielleicht nichts Besseres passieren als eine ordentliche Berufslehre.   Als Polymechaniker, als Landschaftsgärtnerin, als Bäcker-Konditor sind sie garantiert gefragte Leute. Fachkräfte braucht das Land, und wer gebraucht wird, kippt nicht so schnell ins Burnout. Und falls sie die Lust auf Bildung packt: Wir leben in der Schweiz, dem Land mit der sensationellen Berufsbildung.» Derselbe Hasler, an anderer Stelle: «Berufsbildung ist Bildung mit Hand und Fuss», wobei er leider den Kopf vergisst, der an einer Berufsausbildung durchaus beteiligt ist.

Im Jahr 2014 war allerdings ohnehin alles etwas anders: Zum zehnjährigen Jubiläum des Berufsbildungsgesetzes dekretierte der Bund ein Jahr der Berufsbildung, mit vielerlei Initiativen und  Veranstaltungen. Erstmals wurden die schweizerischen Berufsmeisterschaften am selben Ort durchgeführt: fünf Tage, siebzig Meisterschaften, tausend Wettkämpferinnen und Wettkämpfer und hundertfünfzigtausend begeisterte Besucherinnen und Besucher auf dem Bernexpo-Areal. Das Schweizer Farbfernsehen strahlte die Doku-Reihe «Mini Lehr und ich» aus, deren fünf Protagonistinnen und Protagonisten, die Lehrlinge Giuliano Casini, Pferdesportsattler,  Tobias Schubiger, Gleisbauer, Dentalassistentin Sophie Wiedmer, Detailhandelsfachfrau Luanda Krasniqi und Bäcker-Konditor Norman Hunziker, fast ein wenig zu Kultfiguren wurden: Freizeit-Model Luanda Krasniqi verdankt der Reihe eine Schlagzeile im «Blick», einen Platz unter den «Maxim Hot 100» und einen Auftritt vor tausend Berufsfachschullehrerinnen und -lehrern im Albisgüetli. Und der Geleisebauer Schubiger eine junge Liebe.

Zwar ist der Böllerlärm inzwischen verstummt, die Berufsbildung wird wieder etwas in den Hintergrund rücken.   Aber sie wird weiter Thema bleiben, nicht zuletzt, weil in einigen Branchen, darunter wichtigen, auch zukunftsmächtigen Wirtschaftszweigen wie Technik, Informatik, Pflege, in naher Zukunft ein Fachkräftemangel droht – oder schon Tatsache ist. Nach Jahren der Lehrstellenknappheit können nicht mehr alle Lehrstellen mit geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten besetzt werden.  Vor allem die leistungsstarken Jugendlichen kommen den Betrieben zunehmend abhanden, in der Tat entscheiden sich viele heute für den gymnasialen Weg.

So stehen Bildungspolitik und -forschung vor neuen Herausforderungen: Welche Reformen sind unabdingbar, damit das schweizerische Berufsbildungssystem auch die Aufgaben der Zukunft meistern kann?  Wie lassen sich zum Beispiel die Übergänge zwischen obligatorischer Schule und Berufsbildung, wie liesse sich der Einstieg in die Arbeitswelt noch besser gestalten? Welche Möglichkeiten gibt es für Erwachsene, die ohne Sekundarstufe-II-Abschluss im Arbeitsleben stehen, eine solche Qualifikation nachträglich zu erwerben? Das Thema ist auch aus sozialpolitischer Perspektive von einiger Brisanz: Fehlende Bildung ist nachweislich ein Armutsrisiko, vor allem vor dem Hintergrund steigender Anforderungen in der Arbeitswelt.

In all den Debatten – und soweit ich sehe, auch in der Forschung – kommt eine Seite bisher kaum angemessen zu Wort – neben den Auszubildenden die eigentlichen Helden des Berufsbildungsalltags, die das System tragen und prägen: die Lehrpersonen und Ausbildner/innen an allen drei Lernorten.

Insofern betritt diese Publikation nahezu unbekanntes Territorium: Sechzehn Berufsbildungsprofis geben im persönlichen Gespräch Auskunft über ihren Werdegang, ihren Ausbildungsalltag, ihre Ziele, Positionen,  Visionen und Träume.

Das erste Gespräch, das mit Mine Dal, fand im Dezember 2010 statt, das letzte, mit Sandra Jungo, im Februar 2014. Die Gespräche dauerten zwischen anderthalb und dreieinhalb Stunden; die Abschriften durchliefen einen Prozess mehrfacher  Verdichtung und «Rekomposition». Einzelne Interviewpartnerinnen und -partner kenne ich seit Jahren, was das vertraute Du erklärt, andere habe ich auf Anregung von Kolleginnen und Kollegen extra für dieses Projekt kontaktiert.

Ziel war von Anfang an eine möglichst bunte Mischung: Berufsfachschullehrpersonen, haupt- und nebenamtliche betriebliche Ausbildnerinnen und Ausbildner aus verschiedenen Berufen und Branchen und unterschiedlichen Alters, üK-Leiterinnen und -Leiter; Menschen mit einer etwas ungewöhnlichen Geschichte oder einem speziellen Hintergrund, einem ungewöhnlichen Zugang, Affinität zu Jugendfragen und zur Berufsbildung, kritischem Blick, Begeisterung und Lebenserfahrung. Männer und Frauen. Schweizerinnen und Schweizer,  Ausländerinnen und Ausländer.

Ausgangspunkt war jeweils derselbe lockere Fragenkatalog, aber die Gespräche sollten jederzeit offen bleiben, sollten abschweifen dürfen. Die Interviewpartnerinnen und -partner sollen ihre eigenen Akzente setzen können. Uniformität war nicht angestrebt, weder der Form noch der Inhalte. Auch Queres,  Abweichendes, auch Scheitern sollte seinen Platz haben – im Zentrum stand immer die Persönlichkeit der interviewten Person.

Vier Jahre sind eine lange Zeit, in der sich vieles verändern kann. Zum grössten Teil waren die Gespräche aber kaum an der unmittelbaren Aktualität ausgerichtet, die Protokolle liefern so zwar nur Momentaufnahmen, die aber über den Augenblick des Gesprächs hinaus Aussagekraft behalten. Das hat auch die Überprüfung gezeigt: Mit fast allen Interviewten habe ich mich im Sommer 2014 noch einmal getroffen, alle haben die Protokolle aus der Distanz noch einmal gelesen, kommentiert und berichtigt, zum kleinen Teil ergänzt. Bei den Nachfolgetreffen sind auch die meisten Bilder entstanden.

Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner war zwar nicht willkürlich, aber auch nicht repräsentativ. Wichtige Branchen fehlen, die Banken zum Beispiel oder die Tourismusindustrie. Das Bauhauptgewerbe ist nur am Rande Thema. Die Metallindustrie hingegen ist deutlich übervertreten, was sich insofern gut trifft, als in den Berufen der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie die Nachwuchsprobleme heute besonders ausgeprägt sind.

Vertreten sind aber alle drei Lernorte: die Betriebe, vom Kleingewerbe bis zum internationalen Konzern; der schulische Bereich, von der Berufsfachschule bis zur Fachhochschule; aber auch der «dritte Lernort», die Ausbildungs- und Kurszentren. Das Spektrum der Berufe, die zur Sprache kommen, reicht vom Kaufmännischen und  Verkauf über das Baugewerbe, die Berufe der Maschinen-, Elektronik- und Metallindustrie und der Pharmabranche bis zur Pflegefachperson und zur Hebamme. Trotz mangelnder Repräsentativität ergibt sich so vielleicht doch ein guter Querschnitt durch die  Welt der schweizerischen Berufsbildung.   Auch die eingeschränkte Auswahl liess zu, dass wichtige Fragen des schweizerischen Berufsbildungssystems im Gespräch zumindest gestreift wurden.

Ohnehin ist das System ja viel komplexer, als die Rede von der dualen Berufsbildung unterstellt. Er habe viele Jahre gebraucht, um sich in dieser Welt einigermassen orientieren zu können, meinte Emil  Wettstein, einer der Doyens der schweizerischen Berufsbildung, bei seiner  Verabschiedung als Dozent an der Universität Zürich vor einigen Jahren. Und dass das System so komplex ist, leuchtet unmittelbar ein:  Auch die Arbeitswelt ist schliesslich komplex: Es gibt zum Beispiel rund 230 vom Bund anerkannte Lehrberufe – von Agrarpraktiker/in EBA bis Zweiradmechaniker/in EFZ der Fachrichtungen Fahrräder oder Kleinmotorräder. Und die betriebliche Grundbildung, die «Betriebslehre» ist bekanntlich nur eine Form von beruflicher Bildung, es gibt eine lange Reihe anderer Formen: Lehrwerkstätten, Lehren mit Basisjahr, mit degressivem Schulanteil, von der «höheren Berufsbildung», der «akademischen Berufsbildung» zu schweigen.

Mehr als punktuelle Einblicke in dieses komplexe System sind aus Gesprächsprotokollen nicht zu erwarten.  Wer sich genauer informieren will, sei hier deshalb auf die systematische Literatur verwiesen, etwa auf die hep-Publikation von Emil  Wettstein, Evi Schmid und Philipp Gonon («Berufsbildung in der Schweiz») oder auf die Bücher von Rudolf Strahm.

Einige Begriffe und Kürzel werden aber in einem Glossar im Anhang erklärt, soweit es für ein Verständnis bestimmter Passagen in den Gesprächen nützlich schien. Dort finden sich auch ein paar weitere Literaturhinweise.

Ohne Hilfe und Unterstützung hätte ich diese Publikation niemals zu Ende gebracht. Besonderer Dank gebührt:

-Andreas Schubiger und Christoph Städeli fürs Knüpfen von Erstkontakten;

-der PH Zürich, namentlich Claudio Caduff, Markus Maurer und Christoph Städeli für Ermunterung, sanften Druck, Feedback auf eine frühere Fassung der Texte und zahlreiche Anregungen;

-Brigitt Thambiah und Sunanda Mathis für die Hilfe beim Erfassen der Gesprächsprotokolle;

-Susanne Gentsch vom hep verlag und Ilka Mathis dafür, dass sie ihren Finger auf wunde Punkte und heikle Stellen gelegt haben;

-Laura Dal Ben und Christoph Settele von pooldesign und dem hep-Team für die sorgfältige Gestaltung;

-aber vor allem meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern für die Zeit, die sie für dieses Projekt geopfert haben, und ihre unendliche Geduld.

Christoph Gassmann

März 2015

Berufsbildungsgetränkt – Andreas Grassi

Berufsbildungsgetränkt

Andreas Grassi, ehemaliger Berufsfachschullehrer, Projektverantwortlicher für pädagogische Fördermassnahmen am EHB Zollikofen, selbstständiger Berater in Berufsbildungsfragen

Andreas Grassi hat den Geruch der Arbeitswelt seit der Kindheit eingeatmet. Sein Vater führte ein Malergeschäft im Emmental und unterrichtete angehende Gipser und Maler. Da schien die Laufbahn vorgezeichnet: Grassi würde dereinst das väterliche Geschäft übernehmen. Aber er war Allergiker; und damit war ihm dieser Weg versperrt. Erst einmal wurde er Primarlehrer. Schon mit vierundzwanzig fand er aber als Lehrer für allgemeinbildende Fächer in die Welt der Berufsbildung, und die hat ihn seither nicht mehr losgelassen. Mit der Zeit galt sein Engagement immer mehr den schwächeren Lernenden. Wie Lernen funktioniert, wie es gelingen kann, auch wenn die Voraussetzungen nicht günstig sind, das sind die Fragen, die ihn seither am meisten umtreiben. Seit Anfang der Neunzigerjahre übernahm Grassi immer mehr Funktionen im Bereich der Lehreraus- und Weiterbildung, er begleitete Berufsreformen und andere Projekte im Berufsbildungsbereich und publizierte Artikel und Bücher zu Fragen der beruflichen Bildung. Seit 2011 ist Andreas Grassi offiziell im Ruhestand. Kaum pensioniert, gründete er seine eigene Firma und ist seither als Selbstständiger mit ganz unterschiedlichen Projekten in Weiterbildung und Beratung zu Berufsbildungsfragen unterwegs.

Wenn du an unsere Berufsbildung denkst – an den schulischen Teil –, wo siehst du derzeit die wichtigsten Brandherde?

Eines der grössten Probleme liegt für mich darin, dass ein fast ausschliesslich schweizerisches Lehrerkollegium kulturell sehr heterogene Klassen unterrichtet.

Wenn du vor einem Schulhaus stehst, siehst du auf einen Blick, was ich meine: Eine  Vielzahl der Jugendlichen haben einen Migrationshintergrund – die unterschiedlichsten Migrationshintergründe.  Aber das ist, aus welchem Grund auch immer, in der Berufsbildung heute nach wie vor ein vernachlässigtes Thema.

Weiterbildungen zu dieser Thematik finden kaum Resonanz. Der einzige Aspekt, der jeweils ein breiteres Publikum anspricht, ist derjenige der Sprachkompetenz. Die Lehrpersonen sind sich bewusst, dass viele Jugendliche sprachliche Schwierigkeiten haben – mit den Lehrmitteln, den Arbeitsblättern. Dass da Probleme auftauchen müssen, leuchtet allen ein.

Aber die kulturellen Hintergründe, die unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen von Spätmigrierten, die aus anderen Zusammenhängen und Schulsystemen zu uns kommen – all das, was dazu führt, dass sich die Jungen hier nicht zurechtfinden, wird erstaunlich wenig zur Kenntnis genommen.

In einem Deutschkurs in Bern bin ich vor einiger Zeit einer zwanzigjährigen Chinesin begegnet, einer blitzgescheiten jungen Frau. Sie erklärte mir, sie habe in der Schweiz viel Zeit verloren, bis sie verstanden habe, dass man hier fragen müsse. Sie stamme aus einer Kultur, in der «der andere» merken müsse, dass man ein Bedürfnis hat. Und sie habe zusätzlich die Schwierigkeit gehabt, als Frau Männer fragen zu müssen; das sei in ihrer Kultur nicht üblich. Es habe eine ganze Weile gedauert, bis sie sich dazu überwinden konnte.

Die Jugendlichen haben vielleicht auch ein bestimmtes Bild von Schule, wenn sie zu uns kommen, eines, das sich stark von der Realität unterscheiden kann, die sie hier antreffen.

Ich hatte einmal einen Schüler aus Mazedonien, Mentor hiess er, er kam als Spätmigrierter in die Schweiz, ein Riesenkerl, einszweiundneunzig gross. In der Schule arbeitete er nur, wenn man neben ihm stand und ihm auf die Finger sah. Irgendwann sagte ich zu ihm: Mentor, so geht das hier bei uns nicht, da meinte er nur: Sie müssen mich eben mal anfluchen. Lehrer, die so unterrichteten wie ich, würden in seiner Heimat nicht ernst genommen, den Lehrer respektiere man, wenn er laut sei – und wenn er strafen könne. Auf die Frage, wie es denn im Betrieb sei (er machte eine zweijährige Malerlehre), sagte Mentor, er arbeite ja immer mit einem  Vorarbeiter zusammen. Wie es denn sei, wenn er mit zwei Kesseln Dispersionsfarbe in einer Zivilschutzanlage stehe und die streichen müsse, was er dann, völlig auf sich gestellt, anfange?

Ich hatte auch mit der Familie Kontakt. Der  Vater lebte schon seit zehn Jahren in der Schweiz und wusste durchaus, wie hier der Töff läuft. Dennoch war der tiefe Graben zwischen dem mazedonischen Dorf, aus dem die Familie stammte, und der Schweiz noch immer spürbar.

Erstaunlich, dass in einer so multikulturellen Gesellschaft wie der unseren solchen Fragen derart wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Erstaunlich, ja. Nicht nur weil es so viele betrifft, auch weil es so komplex ist. Eine Chinesin und ein Mazedonier, das lässt sich wohl kaum vergleichen.

Das ist tatsächlich nicht zu vergleichen.  Als Berufsfachschullehrer müsste man tiefen Einblick in andere Kulturen haben. Dabei geht es eben nicht nur um die Sprache, sondern zum Beispiel auch um die nonverbale Kommunikation, da gibt es riesige Unterschiede und Nuancen.

Res, offiziell bist du ja jetzt im Ruhestand ... erzähl doch mal, womit du dich derzeit beschäftigst.

Ja, jetzt bin ich pensioniert ... bis 2010 hatte ich neben meiner Tätigkeit fürs EHB noch meinen Schultag an der Berufsfachschule und meine Stützkurse. Dieses Kapitel ist nun schon eine Weile abgeschlossen. Der ganz gewöhnliche Regelunterricht hat mich allerdings schon seit einiger Zeit nicht mehr sonderlich interessiert. Wahrscheinlich hätte ich schon früher den Job gewechselt, wenn ich nicht irgendwann mit lernschwächeren, schwierigeren Schülern zu tun gehabt hätte.  Attest-Klassen habe ich bis zum Schluss unterrichtet, das hat mich gefesselt. Ich war selbst an der Entwicklung der zweijährigen Grundbildung beteiligt.

Aber in der Lehrerweiterbildung bin ich nach wie vor aktiv. Und ich bin jetzt auch selbstständiger Unternehmer, habe eine GmbH gegründet, übernehme Aufträge und Mandate, biete Weiterbildungen an, entwickle Projekte mit Schulleitungen, solche Dinge.

Nächstens bin ich zum Beispiel am BBZ Biel. Dort will der Rektor zusammen mit einem Verantwortlichen erreichen, dass die Schule während der Ausbildung weniger Lernende verliert, dass es weniger Lehrabbrüche, weniger Unterbrüche gibt; es geht darum, sich über die Früherfassung von Problemfällen schon im ersten Lehrjahr Gedanken zu machen:  Wie unterstützt man die, die es brauchen? Damit sind wir wieder beim Thema der Migranten und Fremdsprachigen. Das ist etwas, was die Lehrer kaum wahrnehmen, dass sie fremdsprachige Lernende besser unterstützen müssen. In der Regel können sich diese Jugendlichen auf Deutsch mündlich sehr viel besser ausdrücken als schriftlich – das Handicap ist also nicht ohne  Weiteres ersichtlich.

Nehmen wir die Hausaufgaben:  Vielen dieser Lernenden kann in der Familie niemand dabei helfen; vor allem die Frauen haben oft gar nicht die Zeit, sich mit Hausaufgaben zu beschäftigen, weil sie zum Beispiel auf die Kinder der Schwester aufpassen oder mit der Mutter zusammen putzen gehen müssen.

Solche Zusammenhänge sind vielen Lehrern nicht bewusst. Berufsschullehrer stammen häufig aus der Mittelschicht und wissen nicht, wie es in der Unterschicht aussieht. Sie kümmern sich auch kaum darum und sind dann erstaunt, wenn ein Teil der Lernenden die Aufgaben nicht gemacht haben – sie fragen aber auch nicht nach, was die Gründe sind. Das sind Themen, die man in Biel aufzunehmen beginnt.

Wie läuft ein solches Projekt ab?

Die Lehrer sensibilisieren, das ist der erste Schritt: Ich frage sie also:  Wenn ihr im Sommer eine neue Klasse übernehmt, wie vermeidet ihr, einfach mit eurem Stoff anzufangen, ohne darauf zu achten, was das für Schüler sind, die in eurer Klasse sitzen? Wie erfasst ihr ihre Lernvoraussetzungen?

Dann stellt sich die Frage, wie man Früherfassung systematisieren kann. Was macht der ABU-Lehrer, was der Fachkundelehrer? Wo machen sie dasselbe, wissen aber nicht, was jeder tut? Anschliessend geht es darum, sich auszutauschen und zu organisieren, aufzuteilen, zu schauen, was noch fehlt.

Das, worum sich Lehrer häufig nicht kümmern, sind die überfachlichen Kompetenzen.  Verbreitet sind Sprachstandsanalysen, die Fachlehrer erheben häufig auch die Mathekenntnisse; aber die überfachlichen Kompetenzen werden nicht systematisch erfasst. Zuverlässigkeit zum Beispiel kommt oft erst zur Sprache, wenn die Lernenden in dieser Hinsicht negativ auffallen. Dann ist es aber häufig zu spät.  Aus wissenschaftlichen Studien, etwa von Evi Schmid oder Barbara Stalder, wissen wir, dass es zu Lehrabbrüchen meist nicht wegen mangelnder Leistung kommt, sondern wegen fehlender Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenzen, wie man früher sagte; wegen überfachlicher Kompetenzen, sehr häufig wegen mangelnder Selbstkompetenz.

Da müssten die Lehrer gründlicher hinschauen. Und wenn sie sich ein Bild gemacht haben, müssten sie die anderen Ausbildungspartner fragen:  Wie zeigt sich der Schüler im überbetrieblichen Kurs, wie im Lehrbetrieb? Das wäre der nächste Schritt.  Alle diese Schritte gehen wir nun in Biel miteinander an.

Anschliessend setze ich mich mit der Schulleitung zusammen, und wir überlegen aufgrund der Rückmeldungen, welche Art von Weiterbildung es als Nächstes braucht. In dieser Phase habe ich hauptsächlich eine beraterische Funktion. Meine Firma heisst Beruf-Bildung-Entwicklung GmbH. Manchmal braucht es alle drei Komponenten. Und manchmal werde ich aus einem ganz bestimmten Grund angefragt, und im Gespräch stellt sich dann heraus, dass etwas anderes gebraucht wird, manchmal gehe ich also mit einem ganz anderen Auftrag aus dem Raum, als ursprünglich geplant war.

Dann habe ich auch noch ein Hobby, das Projekt «Stopp Lehrabbruch» im Berner Oberland.  Wenn wir einen Anruf bekommen, rufen wir innert vierundzwanzig Stunden zurück. Und innert achtundvierzig Stunden führen wir dann ein Gespräch mit den Beteiligten, wenn es gewünscht wird.

Nur ein Beispiel, um zu zeigen, wie das ablaufen kann: Eine Mutter ruft an, am ersten oder zweiten Dezember, und sagt: Jetzt hat doch der Lehrmeister meinem Sohn erklärt, wenn er sich nicht ändere, brauche er im Januar überhaupt nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Ich dachte zunächst, es gehe um einen Lernenden im ersten Jahr; der Lehrmeister wollte ihm vielleicht einen Zwick mit der Geissel geben, damit er sich endlich in Bewegung setzte.  Aber nein, es ging um einen Lehrling im letzten Lehrjahr, bei dem im Frühjahr die Prüfung bevorstand.

Die Mutter war eine Bauersfrau, alleinerziehend – der  Vater war gestorben. Sie wusste schlicht nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Ich rief also den Lehrmeister an ...

… worum ging es denn?

Der junge Mann arbeite recht, hiess es, auch in Berufskunde stehe er bei einer  Vierkommafünf – und könnte vermutlich sogar deutlich mehr leisten. Landschaftsgärtner würden aber in Pflanzenkunde geprüft, und Ädu habe nie Pflanzen gelernt, in diesem Fach stehe er bei einer Zwei. Manchmal kenne er zufällig eine Pflanze, mit der er schon praktisch zu tun hatte; die Lernenden müssten aber vierhundert Pflanzen kennen, mit lateinischem Namen. Pflanzenkunde sei ein Selektionsfach, mit einer ungenügenden Note falle Ädu durch die Prüfung. – Das also war das Problem: Der junge Mann hatte in einem bestimmten Bereich Mühe mit dem Lernen.

Ädu müsse nun halt jeden Samstag in die Bude kommen und lernen, meinte der Lehrmeister erst. Er selbst konnte ihn allerdings in keiner  Weise unterstützen, Ädu wäre einfach morgens um acht angetrabt und hätte sich an den Tisch gesetzt, wo sie Kaffee trinken, wenn es kalt ist, und hätte da bis um drei gesessen und «gelernt». Dabei wusste der junge Mann überhaupt nicht, wie er das anpacken sollte.

Ich wollte also versuchen, Ädu beim Lernen zu unterstützen. Zunächst einmal ging es aber darum, ihm klar zu machen, was ihm als Düregheite blühen würde. Erst als er das einsah, konnten wir zusammen eine Lernstrategie entwickeln – vierhundert Pflanzen mit Namen, lateinischer Bezeichnung einfach auswendig zu lernen, das geht ja nicht.  Also sammelte Ädu nun für jede Pflanze die wichtigsten Informationen zusammen, schrieb für jede einen Steckbrief und versuchte, die Pflanzen so zu gruppieren, dass er sie sich leichter merken konnte.

Ich habe die Familie auch zu Hause besucht. In der Stube konnte man unmöglich lernen, dort war alles überstellt mit  Wäsche und was es in einem Bauernhaus halt so braucht. In der Küche konnte man ebenfalls nicht lernen. Also blieb nur das eigene Zimmer, das Ädu mit dem Bruder teilte. Da stand nun aber eine Spielkonsole. Ädu sagte mir:  Wenn ich in mein Zimmer gehe, stelle ich den Computer an, und dann ist es eigentlich schon gelaufen.  Also habe ich mit ihm einen  Vertrag abgeschlossen: Er durfte jeden Abend gamen, aber er musste auch jeden Abend zwanzig Minuten lang Pflanzen lernen, nicht nur schnell-schnell für die Prüfung, wie bisher, sondern kontinuierlich. Jeden Abend, bevor er den Rechner anstellte, schickte er mir eine SMS, er habe jetzt zwanzig Minuten gelernt, und ich quittierte und machte einen Spruch in der Art: Magst nicht noch mal zwanzig Minuten ...

Ädu ist inzwischen Landschaftsgärtner mit EFZ.

Wie findet man euer Projekt?

Wir haben bisher an den Berufsfachschulen der Region Werbung gemacht, sonst aber wenig Öffentlichkeitsarbeit. Die Schüler bekommen einen Flyer und ein Kärtchen, aber in der Presse war bisher noch nichts zu lesen. Wir wollen erst einmal sehen, wie es läuft.

Das also ist mein Hobby. So etwas wollte ich immer schon machen – ich habe so viel vom Berufsbildungssystem profitiert, das ist sozusagen meine Rückzahlung.

Nach einigen Jahren Erfahrung kann ich sagen: Meist ruft man uns, wenn es schon fast zu spät ist. Wenn jemand frühzeitig anruft, ist es meist eine Mutter – nicht die Lehrer, nicht die Lehrmeister.   Auch die Stifte meist erst, wenn sie die Lehrstelle schon verloren haben: Jetzt hat der mich heute Morgen weggejagt. Und ich sage: Heute ist doch Samstag? Und die Antwort: Ja, ich habe in der letzten Zeit glaueret, und der Lehrmeister hat mir gesagt, so geht es nicht, wir treffen uns am Samstagmorgen um neun in der Bude, ich zeige dir ein paar Sachen noch einmal, bei denen es in der letzten Zeit nicht geklappt hat, und wir üben. Es ging um einen Zimmereimitarbeiter, zweijährige Lehre. Natürlich verschlief er an dem fraglichen Samstag, und als er um zwanzig vor zehn erschien, sagt der Lehrmeister, weisst du was, du kannst die Kleider abgeben, brauchst sie gar nicht anzuziehen. Der Stift war völlig verdattert.

Wie gesagt: Nicht selten hapert’s bei den überfachlichen Kompetenzen. Bei der Zuverlässigkeit, der Pünktlichkeit.

Im Baugewerbe wird häufig in Equipen gearbeitet –  Vorarbeiter,  Arbeiter und Stifte –, ähnlich bei den Gärtnern, den Zimmerleuten, den Schreinern, ab sieben Uhr morgens laufen die Löhne, auch wenn nun die Equipe im Winter um halb acht oder um acht noch auf den Stift warten muss. Das geht einmal, zweimal, aber beim dritten Mal hat der Stift ein ernsthaftes Gespräch mit dem Lehrmeister. Der sagt ihm: Einmal noch, dann musst du gehen, so was läuft hier nicht.   Aber je nach sozialem Hintergrund ist es nicht so einfach umzustellen. Es gibt Stifte, die sich mutterseelenallein durchs Leben schlagen. Ich erinnere mich an einen Fall: Die Mutter war geschieden und hatte einen neuen Freund. Sie mietete für den Jungen also eine Einzimmerwohnung; der  Vater konnte sich das leisten. So hatten Mutter und Freund ihre Ruhe – aber er war allein und stürzte ab, er kam mit der Freiheit nicht klar. Die Mutter sagte bloss: Einmal muss er ja selbstständig werden ... Erst überbehütet, dann plötzlich in die Selbstständigkeit geworfen, im Grunde nur, weil die Mutter diesen neuen Freund hatte ...

Du spürst vielleicht, am Beruf des Berufsschullehrers hat mich nicht so sehr der Stoff interessiert, viel mehr die Menschen, die dahinterstehen.

Wie bist du überhaupt in die Berufsbildung geraten? Du warst ja erst Primarlehrer.

Mein  Vater führte zusammen mit einem Onkel ein Maler- und Gipsergeschäft im innersten Emmental und erteilte selbst auch Unterricht, jeweils am Samstagmorgen, die Malermeister im Ort hatten drei Bundesordner mit dem Unterrichtsstoff gesammelt, und alle zwei, drei Jahre übernahm ein anderer Kollege die Ordner und das Schulehalten.

In dieser Welt des Gewerbes und in der Berufsbildung bin ich aufgewachsen, ich habe ihren Geruch seit der Kindheit eingeatmet, habe sie gerochen, im wahrsten Sinne des Wortes ...  Aber ich war Allergiker; und damit war klar, dass ich nicht Gipser oder Maler werden konnte. Was war also mit dem Jungen anzufangen? Ein Studium? Schliesslich besuchte ich das Lehrerseminar und wurde Primarlehrer.

Die ersten beiden Stellen hatte ich in Mehrklassenschulen, fünfte bis neunte Klasse im damaligen bernischen Schulsystem.  Als  Vierundzwanzigjähriger übernahm ich dann erstmals eine Stellvertretung an einer Berufsschule. Ein älterer Kollege musste ins Militär, und ich vertrat ihn in seinen Mittwochslektionen. Das war in Spiez, in einer Schreinerklasse, alle Lehrjahre in einer Klasse. Der Kollege erklärte mir, ich solle als Erstes fragen, wer zur Prüfung müsse, die Schreiner lernten damals noch dreieinhalb Jahre, und alle sechs Monate musste jemand zur Prüfung. Mit den Prüflingen sollte ich noch ein wenig Staatskunde machen. Ich ging also hin, Mehrklassenschulen waren mir ja vertraut.

Es gefiel mir gut, frag mich nicht, warum. Ich verdiente zehn Franken fünfzig pro Stunde. Die Lernenden waren kaum jünger als ich, einige sogar älter.

Als ich sechsundzwanzig war, begann ich nebenamtlich an der Berufsschule zu unterrichten. Dann wurden Ausbildungskurse angeboten. Diese BIGA-Kurse dauerten nur ein Jahr, siebenunddreissig Stunden pro Woche, dann war man Lehrer für allgemeinbildende Fächer. Das war im Herbst 71, in Bern ... damals begannen sich die Berufsschulen erst zu professionalisieren.

So also fand ich selbst in die Berufsbildung.   Als Sechsundzwanzigjähriger ging ich nach Thun und übernahm ein Vollpensum Allgemeinbildung – das hiess damals Deutsch und Geschäftskunde (eine Mischung aus Rechtskunde, Buchhaltung, Staats- und Wirtschaftskunde).

Nach zehn Jahren hatte ich davon aber genug – das war 1982. Zufällig lernte ich damals in der Kantine jemanden kennen, einen Unbekannten an der Schule. Ich setzte mich zu ihm und fragte, wer er sei. Er unterrichte die erste Anlehr-Klasse, sagte der Mann. Was das denn sei, die Anlehre? Er erzählte mir, was er für Schüler hatte, und ich dachte bei mir, das klingt interessant. Bis dahin hatte ich Laboranten unterrichtet – begabte Lehrlinge, die sich nicht am Lernen hindern lassen, wie auch immer man sie unterrichtet. Ich klopfte beim Rektor an und meldete ihm mein Interesse für eine nächste Anlehr-Klasse.

Mit den Anlehrlingen funktionierte nun allerdings mein übliches Unterrichtskonzept nicht mehr. Da erst begann ich mich mit dem Thema Lernen ernsthaft zu befassen – als nichts mehr ging. Bei den Begabten spielte es kaum eine Rolle, wie ich Schule hielt. Die hätten auch von einem Holzklotz gelernt.

Seither hatte ich querbeet alle möglichen Lehrlinge: eine Berufsmaturitätsklasse, immer noch die Laboranten, dazu irgendeinen gewerblichen Beruf und die Anlehr-Klassen.

Das war aber letztlich ein zu grosser Spagat.  Als Erstes gab ich die BM auf. Dann dislozierten die Laboranten von Thun nach Bern. Eine Weile hatte ich je fünfzig Prozent Anlehrlinge und Polymechaniker, 1991 stieg ich schliesslich am damaligen SIBP, dem heutigen EHB, mit 40 Prozent in die Lehrerweiterbildung ein.

Schon Ende der Achtzigerjahre hatte ich die Gestalt-Ausbildung nach Fritz Perls gemacht, weil ich merkte, dass mein Handwerkszeug für den Umgang mit schwächeren Jugendlichen nicht reichte. Der Kollege, der Anlehrlinge unterrichtete, und ich beschlossen, uns um Zusatzausbildungen zu kümmern. Er beschäftigte sich mit Heilpädagogik, ich wollte mich eher mit der  Verhaltensseite befassen, so lernte ich Soziotherapeut am Perls-Institut.

Am Ende der Gestalt-Ausbildung begann ich am damaligen SIBP  Weiterbildungskurse anzubieten, zusammen mit einem Kollegen, 1991, das war die Zeit, als das Gefühl aufkam, die Schweiz habe technologisch den Anschluss verpasst. Das SIBP bekam Geld für neue Angebote, Intensivweiterbildung, die ein halbes Jahr dauerte, das konnte man damals mit Bundesgeldern aufbauen. Die Leiter waren Dozierende des SIBP, und sie suchten also Kollegen aus der Praxis. Das Modell war, im Tandem Wissenschaft/Praxis zu unterrichten. Ich bewarb mich und bekam den Job.  Von diesem Zeitpunkt an unterrichtete ich vierzig, später fünfzig Prozent am SIBP. Das war nicht immer einfach, beide Arbeitgeber hatten das Gefühl, ich arbeite voll für ihre Institution und müsse und könne bei jeder Sitzung dabei sein.

In den letzten Jahren lag das  Verhältnis dann bei siebzig zu dreissig, siebzig Prozent EHB, dreissig Prozent Unterricht an der Schule.

Seit 2004, als das neue Berufsbildungsgesetz in Kraft trat, fungierte ich auch als pädagogischer Begleiter bei den Berufsreformen im Auftrag des EHB. Seither machten solche Begleitungen zwanzig, manchmal auch dreissig Prozent meiner Arbeitszeit aus.

So war ich also immer in der Berufsbildung, in immer wieder neuen Rollen und Funktionen.

… ein breites Spektrum von Funktionen, die du da kennengelernt hast.

… ich kenne so viele Facetten der Berufsbildung, eben komme ich von einem Gespräch mit  Vertretern des Schweizer Plattenlegerverbandes, die ich bei der Bildungsplan-Revision begleitet habe. In diesem Beruf gibt es viele schwächere Lernende, der  Verband hat deshalb eine zwei- und eine dreijährige Grundbildung konzipiert. Jetzt stehen die Meister, die Lehrlinge einstellen, vor der Frage, nach welchen Kriterien sie die Kandidaten einstufen sollen, und wir haben versucht, ein Instrument zu entwerfen, mit dessen Hilfe die Lehrmeister einen Entscheid fällen können – mit Aufgaben, wie sie in der Grundbildung im ersten Lehrjahr tatsächlich vorkommen.  Wieder eine ganz neue Art, ein ganz neuer Zugang zur Berufsbildung – ich habe längst nicht mehr das Gefühl, ich sei «einfach Lehrer». Ich bin berufsbildungsgetränkt.

Dabei hast du nun einen ganz speziellen Bezug zu den Anlehren bzw. Attestlehren, den schwächeren Lernenden.

Ja, Lernende mit Schwierigkeiten, das interessiert mich ganz besonders.

Ich selbst war eigentlich ein guter Schüler, ich litt höchstens an bestimmten Lehrern, das heisst unter ihrer Pädagogik. Ich ging in eine Land-Sekundarschule, damals war es so, dass kein Tag verging, ohne dass ein Schüler eine Watsche bekam oder eins auf die Finger mit dem Lineal, oder der Lehrer warf ihm den Schlüsselbund an den Kopf, das war bei uns in Langnau noch üblich. Nie hätte sich ein Vater oder eine Mutter empört, dass ein Lehrer ihr Kind gchläpft hätte. Du brauchtest also zu Hause gar nicht erst zu erzählen, dass der Lehrer dir eine geschmiert hatte.

Ich selbst litt vor allem unter dem Klima – das war nicht die Art von Pädagogik, die ich mir vorstellte.

Und trotzdem bist du Lehrer geworden ... Ich kenne das aus eigener Erfahrung: Man empfindet Distanz zur Schule, manchmal sogar Hass, weil es Lehrer gab, die einen zwar nicht schlugen, aber sonst drangsalierten. Und trotzdem diese Faszination für den Beruf. Der Hass hielt einen nicht davon ab, das Lernen und die Institution Schule spannend zu finden.

Ich habe Kinder immer gemocht, habe immer gerne mit Jugendlichen gearbeitet ... aber das sagt jede und jeder, der Lehrer werden will. Eine deutsche Psychologin hat einmal die Meinung vertreten, jeder Beruf sei auch ein Stück weit Selbstheilung.  Alles, was man in der Jugend erlitten habe, versuche man mit dem Beruf geradezurücken. Bei mir war es wohl so, dass mein Selbstvertrauen mit sechzehn keineswegs gefestigt war. Die Verhältnisse daheim waren schwierig, ich war nicht so chäch, wie ich mich gab. Und der Lehrberuf, der verlieh mir nun Autorität. Es schauten täglich zwanzig Augenpaare auf dich, die Schüler gehorchten dir, damals war das noch so. Für ein angeknackstes Selbstvertrauen war der Lehrberuf wunderbar.  Allerdings, als Landgiel im städtischen Lehrerseminar, das ist auch bei Lukas Hartmann nachzulesen, einem Jahrgänger von mir, das war doch recht speziell. Man fragte dich: Spielen Sie ein Instrument? Klar, Handorgel ... Und darauf der Musiklehrer: Das ist doch kein Instrument!

Das Seminar war für mich unheimlich verunsichernd, neben vielem Schönem, ich las, ich lernte einiges über Literatur oder Musik, da habe ich viel profitiert.  Aber beide Beine auf den Boden gebracht habe ich erst, als ich zum ersten Mal vor einer Klasse stand. Da hatte ich das Gefühl, doch, das ist mein Beruf.   Als Lehrer hast du eine gewisse Macht, die man früher auch hemmungslos ausspielen konnte; erst die Achtundsechziger begannen das dann zu hinterfragen.

Und die Ausbildung, später auch die Arbeit gab mir klare Strukturen. Das hat mir geholfen, ich hätte nicht Schaufensterdekorateur werden oder die Kunstgewerbeschule besuchen können, wahrscheinlich wäre ich abgestürzt.

Das Lehrerseminar gab mir den Takt vor, zum Glück. Die ersten beiden Jahre verbrachte ich im Internat in Hofwil, Münchenbuchsee.  Wenn du am Abend weg wolltest, musstest du den Direktor um den Schlüssel bitten und genau begründen: Konzert oder Stadttheater, etwas anderes kam gar nicht infrage. Kino kam nicht in Betracht.

Das also sind die geheimen Gründen, warum man Lehrer wird: Macht, Selbstbewusstsein gewinnen durch die Position, die man hat? Aber das andere, Umgang mit Kindern, mit Jugendlichen, das ist ja auch nicht immer eitel Sonnenschein, heute offenbar sowieso nicht? Oft scheinen Lehrpersonen doch gerade daran zu scheitern. Die Kinder seien frech, fordernd, schlecht erzogen, wollten nicht lernen. Das sei doch bei vielen der Grund für ihr Burn-out?  Was gefällt dir denn nun am Umgang mit Jugendlichen?  Was interessiert dich daran?

Heutige Sechzehnjährige haben völlig andere Lebensbedingungen, als wir sie damals hatten, auch ihre Lebenskonzeptionen sind vielgestaltiger. Die Gesellschaft war früher normierter, die Strukturen waren klarer.

Aber dieses andere, das ist etwas, was mich fasziniert:  Was kommt mir da alles entgegen? Und das Zweite: die Auseinandersetzung. Zum Teil leben die Jugendlichen heute ja in einer entgrenzten Zeit: anything goes. Und je älter ich bin, desto mehr bin ich nicht mehr ihr «Vater», sondern eher eine Art Grossvater, ich kann es mir leisten, mit ihnen über Grenzen zu reden. In meiner letzten Autoassistenten-Klasse gab es einen Lehrling, das war der, der alleine in einer Einzimmerwohnung hauste, der kam unregelmässig zur Schule. Bis ich merkte, was mit ihm los war – ganz allmählich hat er mir sein ganzes Leid erzählt, es war ja viel Leid dabei. Er kam also nur zur Schule, wenn er gerade in Stimmung war.

Die Auseinandersetzung mit dem Jungen dauerte fast über die ganzen zwei Jahre der Ausbildung. Erst allmählich begriff ich, in welcher Situation er steckte: dass die Mutter ihn ausquartiert hatte, dass er mutterseelenallein wohnte, dass am Abend, wenn er von der Garage nach Hause kam, niemand da war, dass nicht gekocht wurde für ihn, dass er dann in die Beiz ging, sich zudröhnte.

Es ging und geht immer um Grenzen, ums Grenzensetzen, Grenzenaushandeln.  Aber aus einer solchen Auseinandersetzung entsteht auch Zuneigung, Beziehung. Das ist es, was mich am Beruf interessiert.

Wie kannst du das als Berufsschullehrer, Beziehungen aufbauen? Du verbringst ja nur eine sehr begrenzte Zeit mit den Jugendlichen? Was braucht es denn überhaupt, um eine solche Beziehung aufzubauen?

Interesse am Menschen. Die Frage ist letztlich, warum du Lehrer bist. Es gibt welche, die sich vor allem für ihren Stoff interessieren, die vor allem Inhalte vermitteln wollen. Ihnen ist es in einer gewissen Weise egal, wer auf der andern Seite sitzt.  Aber für mein Gefühl geht es nicht ohne das Interesse an den einzelnen Menschen.

Das spürt man auch aus deinen Texten, obwohl du dich ja als «Kognitivist» bezeichnest. Es gibt Autoren, die ähnliche Themen behandeln wie du, im Vergleich zu deinen wirken ihre Texte aber fast etwas bürokratisch, distanziert – viele Checklisten, was man alles abhaken muss. Bei dir ist anderes zu spüren, Emotionen. Du bist als Person in deinen Texten anwesend.

Ohne Emotionen geht es nicht.  Als Lehrer musst du immer auch als Person präsent sein, mit der ganzen Verletzlichkeit, mit deinen Sonn- und Schattenseiten. Ich hatte nie den Eindruck, ich müsse ausgeglichen sein. Das heisst nicht, dass ich cholerisch geworden wäre, aber ich konnte sehr konkret und direkt werden. Wie bei Ädu, als ich ihm klar machte, was er aufs Spiel setzte, wenn er nicht lernte: Bist du verrückt, durch die Prüfung zu fliegen und deinem Lehrmeister so viel Geld zu schenken?  Willst du das wirklich?

In der Auseinandersetzung mit dem Jugendlichen gehe ich auf den Menschen zu. Er muss spüren, dass es um ihn geht. So habe ich mich auch im Förderunterricht immer verhalten.  Wenn die Lernenden apathisch dasassen, sagte ich zum Beispiel: Ich glaube, ich muss gleich wieder gehen. – Warum? – Ich merke, dass ihr nicht wirklich dabei seid. Einer von uns muss nächste Woche zur Lehrabschlussprüfung, aber ich bin das nicht ...

Es hat auch mit Konfrontation, mit Begegnung zu tun. Ich mag das.  Wenn du das nicht magst oder wenn du es nicht kannst, dann kommt es zum Burn-out. Du kannst nicht einfach alles, was da läuft, draussenhalten und dein Züglein fahren. Das geht nicht.

Kann man so etwas in einer Ausbildung vermitteln? Hast du das in den siebenunddreissig Stunden Ausbildung pro Woche gelernt? Anders gefragt: Von dem, was du dort gelernt hast, was konntest du nachher brauchen?

Einiges. In all meinen Ausbildungen, durch meine ganze Schulzeit eigentlich, hatte ich Lehrer, bei denen ich dachte: So wie der! Einer von ihnen war der damalige Direktor der Gewerbeschule Bern. Er sagte uns, wir könnten jederzeit bei ihm im Unterricht vorbeischauen.  Also besuchten wir an einem Montag um acht seine Lektionen: die verletzlichste Zeit für einen Lehrer (am Freitag um fünf hielt er keinen Unterricht, das wäre auch so eine Zeit). Es war vor einer Abstimmung, und er arbeitete damals schon in einer Art mit seinen Jugendlichen, die heute noch top wäre. Er moderierte: Herr Soundso – er sprach seine Lernenden mit Nachnamen an, und immer respektvoll –, Sie leiten diese Diskussion, ich weiss, Sie können das. Es geht jetzt um die und die politische Frage, alle mit dieser Meinung setzen sich auf diese Seite, die mit der andern Meinung auf die andere Seite, die ohne Meinung nach hinten. So, Herr Soundso, ihr habt ja bei mir einiges über Gesprächsführung erfahren, Sie leiten jetzt dieses Streitgespräch. Es waren Hochbauzeichner, blitzgescheite Jugendliche.  Aber es ging gar nicht darum, sondern um die Art und  Weise, wie er mit der Klasse arbeitete. So muss man mit Jugendlichen umgehen. Man muss ihnen etwas zutrauen.

Als ich etwa fünfundfünfzig war, begann ich mir bei den jährlichen Pensionierungsfeiern immer zu überlegen: Will ich so in Pension gehen? Der muss gehen, weil er krank ist. Nein, so nicht! – Der, weil er mit den Schülern nicht mehr klarkommt. So schon gar nicht. – Alle drei Jahre war einer dabei, bei dem ich dachte: Okay, so wie der!

Vorbilder waren für mich immer wichtig, wie du siehst.  Wir lernen im sozialen Kontext ...

Gut, wenn man sagt, am meisten lernt man an Vorbildern, was kann dann eine Ausbildungsstätte wie unsere, die PH, bieten?

Was die Lehrerausbildung angeht, so bin ich, ich gebe es zu, etwas erschüttert. Inzwischen geschieht ja sehr viel im Selbststudium. Bei den einen Studierenden ist das fruchtbar, bei andern weniger: Im sozialen Kontext würden sie wesentlich mehr lernen. Und das Zweite: In allen meinen Praktika, in der Primarlehrerausbildung, aber auch später bei der Ausbildung zum Allgemeinbildungslehrer, habe ich sehr viel von erfahrenen Lehrpersonen gelernt. Und diese Praktika sind ja zurückgefahren worden.  Aber die Dinge, die ich bei älteren Lehrern gesehen habe, nicht nur das Gute, auch Fehler, davon habe ich profitiert. Die Lehrerausbildung ist heute wohl etwas zu kognitiv – obwohl bekannt ist, dass eine wichtige Basis des Lernens Emotionen sind.

An der PH Zürich sind die Praktika ja wichtig und machen rund ein Viertel der Ausbildung aus ...

Bei mir war es noch so: In diesem ganzen Ausbildungsjahr waren wir jeweils einen halben Tag pro Woche zu dritt bei einem erfahrenen Praktikumslehrer, erst sahen wir ihm beim Unterrichten zu, dann mussten wir selbst Unterricht erteilen. Du konntest also beobachten, wie der erfahrene Lehrer unterrichtete, aber jeder stand auch in Konkurrenz mit den Kollegen, mit denen man die Stunden vorbereitete. Das war das Laboratorium des Denkens und Handelns. Heute machen zwar viele Leute ihr Studium berufsbegleitend, aber nach meiner Auffassung werden sie dabei selbst zu wenig begleitet.

Das andere, was für mich nicht aufgeht, ist die Frage der Weiterbildung. Meine ganze Berufslaufbahn hindurch habe ich Weiterbildungen besucht, so ging meine Ausbildung ständig weiter. Die Weiterbildungspflicht ist heute aber, zum Teil aus finanzpolitischen Gründen, auf ein Minimum heruntergefahren worden.  Aber es kann doch nicht sein, dass jemand zwanzig, fünfundzwanzig  Jahre lange unterrichtet, höchstens da mal einen Kurs, dort mal einen besucht.  Auch da besteht die Gefahr eines Burn-outs: wenn man sich nicht weiterentwickelt.

Sind die Lernenden eigentlich anders als früher?

Sicher sind sie zum Teil anders, sie haben ja auch andere Lebensaufgaben zu lösen.  Aber als Jugendliche, als junge Menschen sind sie uns eigentlich sehr ähnlich. Sie beschäftigen sich nur mit anderem, es zeigt sich nicht mehr auf die gleiche Weise.

Als ich 1972 mit dem Unterrichten begann, waren wir mit dem Problem konfrontiert, dass einige Klassen in die Beiz zum Mittagessen gingen und dann mit drei, vier Bier im Kopf zurückkamen. Ganze Klassen kamen leicht alkoholisiert von der Mittagspause. Heute sind sie vielleicht bekifft.   Alkohol spielt zwar immer noch eine Rolle, aber in einem andern Mass und anderer Form. Heute geht es darum, dass sich einige am Wochenende oder auf Exkursionen sinnlos betrinken – die bekannten Vorfälle mit Klassen, die ausser Rand und Band geraten.

Es hat immer Wellen gegeben, Dinge, über die sich die Lehrer erregten. Einst war es das Kaugummikauen, dann kamen die langen Haare, jessestroscht, man verlangte von den Stiften, dass sie Haarnetze trugen, weil sich sonst ihre Haare in den Spindeln der Drehbank verfingen, dann kamen die Rollerblades, Stifte, die mit den Rollschuhen im Atrium rundherum fuhren, und die Lehrer drehten im roten Bereich. In der letzten Zeit waren es die Chäppi, die einen tragen sie links, die andern rechts, die dritten verkehrt rum, und das Allerletzte, worüber sich die Lehrer unheimlich aufregen, sind natürlich die Handys. Immer kam wieder etwas Neues, was zum Kristallisationspunkt der Empörung wurde.

Wie warst denn du als Jugendlicher?

Bei uns brauchte es nicht viel, um den  Vater in die Sätze zu bringen. Er hörte «Hoch- und Deutschmeisterkapelle» oder Wiener Walzer, ich hörte Louis Armstrong und Presley, das reichte schon.  Wenn ich Elvis hörte, rief der Vater, ich solle diese Negermusik abstellen.

Oder es kamen die ersten Jeans auf, und ich ging mit meinen in den Brunnentrog, damit sie eng wurden, auch das reichte schon. Oder wenn die Haare die Ohren noch halb bedeckten. Es brauchte wenig, um sich von der letzten Generation abzuheben.  Aber ich war eigentlich nicht sonderlich aufmüpfig, 1968 ging mehr oder weniger an mir vorbei. Ich musste zusehen, dass ich meinen Job machte, ich war schliesslich Lehrer.

Als ich im Oberseminar war, besuchte ich in Bern diese Kellerlokale, wo Sergius Golowin oder Walter  Vogt ihre Lesungen hielten. Und im Junkernkeller diskutierten wir nächtelang über gesellschaftliche  Veränderungen, was für mein Leistungsvermögen nicht grade förderlich war.

Aber ich war eher angepasst. Mit vierundzwanzig habe ich geheiratet, wir hatten zwei Kinder.  Auch die Berufsschule hielt mich in Bahnen. Wenn ich allerdings zurück ins Dorf kam, fühlte ich mich schon ziemlich progressiv.

Und dann doch dein Engagement, zum Beispiel für die Attestlernenden, woher kam das?

Es gibt drei Gründe. Der eine ist, dass ich nicht aus einem behüteten Milieu stamme, ich weiss, wie es in einer Familie zu- und hergehen kann. Das Zweite: Ich interessiere mich für die Frage, warum es bei einem Einzelnen falsch läuft, warum er nicht versteht, nicht lernen kann. Das Dritte ist das Gesellschaftspolitische: Wir haben neunzig Prozent Sekundarstufe-II-Abschlüsse und sprechen von fünfundneunzig Prozent, die wir 2015 oder 2020 erreichen wollen. In der Schweiz haben wir zwar himmlische Zustände, verglichen mit Deutschland (von anderen Ländern gar nicht zu reden).  Aber wir müssen achtgeben, dass es so bleibt.

Die zweijährige Grundbildung hat einen eminent politischen Auftrag. Alles, was wir in diese Jugendlichen hineinstecken, ist gut investiertes Geld. Jugendarbeitslosigkeit wie in Griechenland, Italien, teilweise in Frankreich oder auch Deutschland – das führt zu gesellschaftspolitischen Problemen. Schon aus  Vernunftgründen muss man also viel in dieses Segment stecken.

Dazu braucht es auch sozialpolitische Einsicht ...

Bei uns zu Hause war oft ein solches Durcheinander, dass ich gar nicht lernen konnte. Und dass ich mich mit Migrationsfragen beschäftige, ist auch kein Zufall. Ich bin ja Migrant in dritter Generation, ich habe erlebt, was Migration bedeutet. Mein Grossvater ist über Mailand, Savoyen und die Westschweiz ins innere Emmental gekommen, hat dort eine Frau kennengelernt. In der Strasse, in der wir wohnten, waren alles Handwerker, Migranten der ersten oder zweiten Generation, Marazzi, Prato, Peverelli, Grassi ... Bauhandwerker aus Norditalien.  Wir wohnten alle dort an dieser schattigen Strasse. Mein Grossvater war noch ein Aussenseiter, mein Vater hat sich herangekämpft, und mein Bruder, der im Dorf geblieben ist, hat es schliesslich zum Gemeinderatspräsidenten gebracht. Drei Generationen hat es gebraucht, um sich zu integrieren. Mein  Vater wäre nie in den Gemeinderat gewählt worden, das wäre völlig undenkbar gewesen. Und mein Grossvater konnte noch zu wenig gut Deutsch, der hätte sich auch nicht einfach integrieren lassen.

Anderen fehlt dieser Hintergrund, sie sind nicht durch die eigene Geschichte sensibilisiert. Aber ein grosser Teil der Berufslernenden hat einen solchen Hintergrund, wir haben schon davon gesprochen – vielleicht liegt er nicht einmal so weit zurück wie bei dir. Vielleicht sind die Eltern Migranten ...

Leider ist das ein Thema, mit dem sich die Profis ungern beschäftigen, wie schon gesagt. Es ist eine Art «Unthema». Das ist wohl nicht berufsbildungsspezifisch, das hat auch mit den ganzen politischen Konstellationen zu tun.

Auf der andern Seite gibt es Migrationsthemen, bei denen alle diskutieren und sich ereifern, Minarette, Kopftücher ... Wir sind uns ja nicht einmal bewusst, wie viele «Migranten» wir in unserer eigenen Sprache haben, Tasse, Kaffee, Karaffe usw., alles Wörter aus dem Arabischen ...

Meine letzte Klasse hat mir erklärt, warum man die Minarett-Initiative annehmen müsse.  Aber sie essen am Mittag einen Döner, am Abend Pizza … Unter den Jugendlichen selbst gibt es auch Ausländerfeindlichkeit, nicht nur Schweizer gegen Immigranten, auch unter Migranten ... Portugiesen, die Jugos beschimpfen und umgekehrt. Manchmal gibt es wirklich schwierige Klassenkonstellationen, in denen auch Spannungen entstehen.  Wenn du es aber thematisierst und wenn es dir gelingt, das Thema auf eine menschliche Ebene zu holen, dass sich die Einzelnen begegnen, dann kann es klappen. Solange es auf einer ideologischen Ebene bleibt, ist es schwierig.

Es heisst ja oft, man müsse mit jeder Klasse Regeln aufstellen, möglichst kooperativ, weil es dann besser funktioniert. Aber was, wenn die Regeln nicht eingehalten werden? Wie sanktionierst du, welche Mittel hast du überhaupt?

Ich habe nie im  Voraus Regeln aufgestellt.  Wenn etwas vorfiel, sagte ich: Das geht hier nicht, begründete und fragte: Habt ihr einen Vorschlag, wie man das regeln kann? Dann wurde die Regel mit der Klasse diskutiert. Und das Ergebnis habe ich aufgeschrieben. Das musst du dann aber wirklich handhaben. Die Jugendlichen werden auf jeden Fall versuchen, die Regeln zu brechen. Das ist ihr gutes Recht: schauen, ob die Regel gilt. Dann musst du eben dafür sorgen, dass sie gilt. Du musst die Jugendlichen damit konfrontieren, dass sie eine Regel gebrochen haben. Meistens gab ich den Ball einfach zurück und fragte:  Was würden denn Sie nun tun?  Wie wollen Sie das nun wieder hinbiegen? Die meisten Jugendlichen sagen dann irgendwas mit Bestrafen.

Manchmal sagte ich ihnen auch, dass sie vom Lehrbetrieb bezahlt würden, in die Schule zu kommen, aber sie würden nicht das kalte Wasser verdienen – und schickte sie auch mal zurück in den Betrieb. Wenn einer ständig ohne seine Sachen, sein Material zur Schule kommt und du das als Lehrer akzeptierst, hast du schon verloren. Du sagst also zum Beispiel zu einem Maler: Hallo, wenn Sie zur Baustelle gehen, ohne Pinsel und Farbe, können Sie dann Ihre Arbeit machen? Genauso ist es in der Schule. Hier brauchen Sie die Bücher, Schreibzeug usw., wenn Sie das nicht dabei haben, können Sie hier nicht arbeiten, also gehen Sie zurück in den Betrieb. Das haben sie immer akzeptiert, ich musste nie jemanden handgreiflich aus dem Klassenzimmer bugsieren.

Es gibt wohl Lehrer, die Flexibilität mit Deformierbarkeit verwechseln. Du musst natürlich flexibel sein, es ist ein Tanz auf Messers Schneide, aber du darfst dich nicht deformieren lassen.

Was braucht es denn sonst noch, um ein guter Lehrer zu sein?

Organisatorische Zuverlässigkeit. Du kannst nicht Hausaufgaben erteilen, und beim nächsten Mal weisst du nicht mal mehr, dass du sie aufgegeben hast. Viele scheitern am Organisatorischen, das ist nicht banal, wenn du sieben oder acht Klassen unterrichtest. Du musst dich daran erinnern, was du wo schon erzählt hast, wo du in jeder Klasse stehen geblieben bist, und das heisst auch Nachbereitung,  Aufschreiben, Planung.

Die Schüler bemerken sehr genau, ob du vorbereitet bist. Ob du das Vorbereitete immer exakt so durchführen kannst wie geplant, ist eine andere Frage.

Ich hatte einen Kollegen, mit dem die Schüler buchstäblich machen konnten, was sie wollten, sie liessen ihn turnen. Er sagte zum Beispiel: Frau so und so, Sie schulden mir noch eine Arbeit; sie wusste zwar, dass sie die Arbeit nicht abgegeben hatte, aber sie wusste auch, dass der Lehrer turnte, also sagte sie: Oh, die Arbeit haben Sie längst, Sie müssen sie vernuscht haben. Der Kollege musste sich frühpensionieren lassen.

Bei uns galt die Regel: Einmal pro Semester darf einer zu spät kommen, man entschuldigt sich, verschlafen, den Zug verpasst usw., und dann ist gut. Aber die Lehrperson muss sich erinnern, dass es schon mal vorgekommen ist. Du brauchst ein System, das absolut zuverlässig ist, sonst bist du nicht glaubwürdig.  Auch das hat mit Organisation zu tun.

Dabei kannst du von Jugendlichen nichts verlangen, was du selbst nicht einhalten kannst. Wenn du selbst nicht zuverlässig bist, kannst du Zuverlässigkeit,  Termintreue usw. von ihnen genauso wenig verlangen.

Auch in solchen Dingen hat der Lehrer eine  Vorbildfunktion.

Was ist das Schwierigste, was man als Lehrer erlebt?

Wenn ein tödlicher Unfall passiert. Oder wenn man einer Klasse sagen muss, dass einer ihrer Kollegen Selbstmord begangen hat. Das habe ich dreimal erlebt. Beim einen hatte niemand vorher etwas geahnt. Der Lehrmeister fand ihn im Labor, er hatte sich mit Zyankali umgebracht. Eine junge Frau aus ländlichen  Verhältnissen, Bauerstochter, nahm Schwefelsäure, aus Liebeskummer, und einer brachte sich um, weil er eine unheilbare Krankheit hatte. – Das sind die wirklich schwierigen Dinge. Der Tod ist für Jugendliche ja kein Thema, wird es erst in solchen Momenten. Heute bekommen Lehrer professionelle Hilfe, das ist aber erst seit zehn oder fünfzehn Jahren so.