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Ausgerechnet als die Pandemie ausbricht, beschließt Kristófer, sich auf eine Reise um die halbe Welt zu begeben. Sein erfolgreiches Restaurant in Reykjavík macht er einfach zu und nimmt eines der letzten Flugzeuge, die Island verlassen dürfen. Denn Kristófer hat eine Nachricht von seiner lang verschollenen großen Liebe bekommen, von Miko Nakamura aus Japan. Auch wenn die Umstände die Welt gerade auf den Kopf stellen, Kristófer muss erfahren, was damals, Ende der Sechzigerjahre, geschah, als Takahashi-san sein Restaurant über Nacht schloss und mit Tochter Miko London ohne Abschied verließ.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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Übersetzung aus dem Isländischen von Gisa Marehn
Dieses Buch ist Fiktion. Die Figuren und Begebenheiten darin unterliegen allein ihren Gesetzen. – ÓJÓ
© Double O Investment Corp 2022; Olaf Olafsson, Berührung, Roman
Titel der isländischen Originalausgabe: »Snerting«, Veröld, Rejkjavík 2020
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2024
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Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Ragnar Helgi Ólafsson
Covermotiv: Oana Stoian / Trevillion Images
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Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Ich werde mir Mühe geben, alles ordentlich zu hinterlassen, wenn ich für immer schließe. Ich habe schon begonnen, die Dinge zu ordnen, denn es bringt ja nichts, noch auf irgendetwas zu warten. Nachdem das Personal gestern Abend nach Hause gegangen war, setzte ich mich ins Büro und schrieb eine Aufgabenliste, die ich heute früh nach dem Aufstehen überarbeitet habe. Ich schlief nicht gut, wurde von einem Sturm vor dem Fenster geweckt und von den Böen, die draußen die Eschenzweige in einem Rhythmus gegen das Haus peitschten, der zeitweise wundersam regelmäßig und keineswegs unangenehm klang. Während ich wach lag, nutzte ich die Zeit und ging im Geiste meine Liste durch, schälte mich aber nicht aus dem Bett, um sie zu ergänzen. Und trotzdem hatte ich nicht alles vergessen, als ich sie nach dem Frühstück erneut zur Hand nahm.
Es ist ein sonderbarer Gedanke, dass hier vor nicht einmal drei Wochen achtzig Gäste eine Hochzeit feierten. Der Bräutigam war Isländer und die Braut aus Dänemark, das Menü entsprechend zusammengestellt, Stjerneskud zur Vorspeise und Lammkarree als Hauptgang. Ich habe nicht wenige Hochzeitsfeste ausgerichtet und kann ohne Weiteres behaupten, in dieser Hinsicht ziemlich alles erlebt zu haben. Manchmal meine ich, die Risse schon zu sehen, bevor sich die Ärmsten trauen lassen, manchmal würde ich sie am liebsten warnen. Nicht aber diesen isländischen Jungen und das dänische Mädchen. Selten habe ich zwei so ineinander verliebte Menschen erlebt.
Dies werde ich als meine letzte Erinnerung an diesen Ort bewahren. Zumindest will ich es versuchen. Das Fest und diese leise, genügsame Liebe, die sich im Lächeln und im Auftreten der jungen Leute spiegelte, in ihrer aufmerksamen und sanftmütigen Art, in den Worten, die nicht ausgesprochen werden mussten, in ihrer Hingabe, die den Saal erhellte, sobald sie ihn betraten. Heute Morgen musste ich an die beiden denken. Ich hoffe, sie sind von einer Coronainfektion verschont geblieben und dass es ihnen gut geht, wo auch immer auf der Welt sie sich gerade aufhalten. Die beiden brauchen nichts außer einander.
Wir machten weiter, solange es ging, wahrscheinlich sogar länger, als es sinnvoll war. Die Gäste waren größtenteils schon vor Inkrafttreten des Versammlungsverbots ausgeblieben, ein paar Tische wurden reserviert, vor allem von Touristen. Dann blieben auch die weg, und wir versuchten es mit einem Lieferservice, um uns über Wasser zu halten – gute Küche zum guten Preis, so warben wir auf unserer Homepage. Einige Tage lang lief das, doch dann verloren die Leute das Interesse oder hatten noch mehr Angst, sich anzustecken. Sie kamen nicht mehr, um ihre Speisen abzuholen, und ließen sich auch nichts mehr nach Hause liefern. Mir war es gelungen, Behälter zu kaufen, Einwegschalen und -boxen, für das, was wir auslieferten, und jetzt kommt mich dieser Optimismus teuer zu stehen, denn nicht mal ein Bruchteil davon wurde genutzt. Auf meiner Liste steht, dass ich die übrigen Behälter den beiden Restaurantinhabern überlassen will, die noch weitermachen. Sie können wahrscheinlich jede noch so kleine Unterstützung gebrauchen. Ich werde diese Gefäße selbst nicht mehr benötigen, denn ich werde mein Restaurant nicht wieder öffnen.
Meine Schritte hallen von den Wänden wider. Im Gastraum bleibe ich stehen, sehe mich um, so wie damals, vor gut zwanzig Jahren, als ich zum ersten Mal hier war, die gespannte Erwartung von damals ist allerdings einem Gefühl der Dankbarkeit gewichen. Ich musste damals nicht lange überlegen, bevor ich mich entschied, die Räume zu mieten, ich fühlte mich von dem Moment an, als ich durch die Tür trat, hier zu Hause. Renovierung und Reparaturen kosteten nicht viel, denn das Steakhaus, das hier vorher gewesen war, hatte nie richtig Fuß gefasst und musste schon nach kurzer Zeit wieder aufgeben. Allerdings hatte ich einen besseren Herd angeschafft, die Wände in wärmeren Farben gestrichen, schöne Bilder aufgehängt und neue Lampen angebracht. Mehr nicht. Und so öffneten wir, schon gut einen Monat nachdem ich bei Frissi den Mietvertrag unterschrieben hatte, für sechs Jahre mit der Option auf Verlängerung. Wir haben ihn inzwischen dreimal verlängert, und ich kann nichts anderes behaupten, als dass Friðþjófur ein fairer und guter Vermieter gewesen ist. So senkte er die Miete nach dem Bankencrash, ohne dass ich darum gebeten hätte. Er rief mich am Montagmorgen an und verkündete mit seiner rauen Stimme: »Muss nicht sein, dass du pleitegehst. Du zahlst einfach die Hälfte, bis es wieder bergauf geht. Wir bekommen dafür bei dir was zu essen, wenn Bogga keine Lust zum Kochen hat.« Frissi steht auf meiner Liste, weil ich ihn so wie die anderen bezahlen möchte, am besten die ganzen vierzehn Monate, die der Mietvertrag noch läuft.
Das ist kein normaler Hall, so wenig normal wie die Stille, die auf der Stadt lastet. Es scheint, als hätte sich der Hall bereits hier niedergelassen und als wüsste er, dass ihn in der näheren Zukunft nichts bedrohen könnte. Auch wenn ich reglos dastehe, habe ich das Gefühl, ihn hören zu können. Dann jedoch nehme ich mich zusammen und räuspere mich etwas lauter als nötig, denn es ist immerhin besser, ein anderes Echo zu hören als jenes, das bloß in meinem Kopf widerhallt.
Gestern Abend erhob sich Bárður mitten beim Essen und erklärte, er wolle etwas sagen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn er es auf sich hätte beruhen lassen, aber es war ihm wohl ein Bedürfnis. Als ich ihn vor bald vierzehn Jahren eingestellt hatte, war er gerade mal zwanzig, inzwischen ist er verheiratet und Vater zweier Kinder. Er begann als stellvertretender Küchenchef, zeigte jedoch schnell, was in ihm steckt, und seit fast zehn Jahren hat er die Küche geleitet.
Am Ende seiner Rede überreichte er mir eine handgeschriebene Menükarte: »Das letzte Abendmahl«, sagte er, auch wenn das nicht auf der Karte stand, »das letzte Abendmahl, Kristófer.«
Wir saßen zu acht um den runden Tisch am Fenster, das gesamte Team außer Gunnar und Fjóla, die in Quarantäne sind. Bárður war vermutlich der Einzige, der noch keinen Schwips hatte. Ich hatte ein paar Flaschen Wein geöffnet, die ich schon lange im Keller hatte, einige über zwei, drei Jahrzehnte. Es konnte nicht schaden, uns etwas aufzumuntern. Bárður ist nicht der Typ für solche Reden wie die von gestern Abend, doch er ist nicht der Einzige, der in diesen Tagen etwas emotionaler ist als sonst. Ich versuchte, einen fröhlicheren Ton anzuschlagen, und kramte alte Anekdoten hervor, und so gelang es uns allen, die Gegenwart zu vergessen, jedenfalls für den Moment, glaube ich.
Heute will ich Löhne auszahlen und Rechnungen begleichen. Morgen werde ich aufräumen. Und im Verlauf der Woche gründlich putzen. Ich habe mir ausgerechnet, dass ich meine Angestellten noch bis zum Herbst weiterbezahlen kann, mindestens bis Ende September, womöglich auch länger. Das wird sich heute zeigen, wenn ich mich der Buchhaltung genauer gewidmet habe, den Rechnungen, die schon eingegangen sind, und jenen, die ich noch anfordern werde. Am liebsten würde ich Bárður und Steinunn bis Jahresende weiterbezahlen, sie sind am längsten dabei und haben es wahrlich verdient.
Ich koche Kaffee, schalte den Computer ein, überfliege meinen Aufgabenzettel. Bevor ich mich diesem widme, werfe ich einen Blick auf die neuesten Onlinenachrichten, die sich fast ausnahmslos um die Ausbreitung der Epidemie drehen, hier und andernorts, und beschließe daher, zur Beruhigung kurz auf Facebook zu gehen. Ich lese ein paar Witze, die sogar lustig sind, beantworte Nachrichten, obwohl keine von ihnen dringlich ist, und entdecke Reaktionen auf unsere Ankündigung, dass wir schließen, warmherzige Danksagungen. Als ich Facebook beenden und mich meiner Liste zuwenden will, bemerke ich eine Freundschaftsanfrage. Ich erhalte häufig Freundschaftsanfragen von Leuten, die ich nicht kenne oder die nicht einmal existieren, aber wie auch sonst klicke ich sie trotzdem an.
Und da springt mir der Name entgegen, da ist es, als ob sich die Jahrzehnte auflösten und ich wieder bei sanftem Regen vor verschlossener Tür stünde, an jenem Morgen, als ich feststellte, dass sie verschwunden waren.
Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich den Teebecher mitnehmen soll. Wenn ich nur mit Handgepäck reise, was meiner Meinung nach am praktischsten wäre, ist es unvernünftig, und außerdem frage ich mich, ob ich überhaupt Gelegenheit haben werde, mir selbst einen Tee zu machen. Allerdings habe ich meine Gewohnheiten, und der Becher ist wie zu einem Teil meiner Hand geworden, ich trinke aus ihm sowohl meinen Kaffee als auch meinen Tee, auch wenn dies genau genommen gegen die Regeln verstößt. Es ist ein japanischer Yunomi-Becher aus Keramik. Kein besonderer, sondern ein henkelloser Teebecher für den täglichen Gebrauch, wahrscheinlich aus dem Dorf Mashiko, das für seine Töpferwaren bekannt ist. Ihn ziert ein kleines Bild von einem Vogel auf einem Zweig, oder vielleicht ist es ein Eichhörnchen, da konnte ich mich nie endgültig entscheiden.
Ich hatte die Freundschaftsanfrage angenommen, sobald die Kräfte in meine Finger zurückgekehrt waren. Und wartete dann vor dem Computer auf Nachricht, saß reglos da und starrte fast eine Stunde auf den Monitor, bevor mir klar wurde, dass die Antwort auch lange auf sich warten lassen könnte und ich mich lieber um das kümmern sollte, was zu tun war. Doch ich konnte mich schlecht konzentrieren, und es fiel mir schwer, die Löhne auszurechnen und die Rechnungen zu bezahlen, ich kämpfte mit dem Onlinebanking, das mir normalerweise leicht von der Hand geht. Irgendwann gab ich auf und machte lieber ein paar Atemübungen, um mich endlich wieder zu beruhigen.
Ich fragte mich, ob es nicht ein Zeichen sei, dass ich den Becher in der Hand gehalten hatte, als ich die Freundschaftsanfrage erhielt. Ein Hinweis auf etwas Bedeutsames, meine ich, etwas, das sich jenseits dessen abspielt, was wir wahrzunehmen vermögen, gar eine Art Fingerzeig einer höheren Macht. Doch als ich mich wieder gefasst hatte, machte ich mir klar, dass kaum etwas Übersinnliches daran war, weil ich ständig Kaffee oder Tee trinke, während ich am Computer sitze. Wieder versuchte ich, tief durchzuatmen.
Doch mir flatterten die Nerven weiterhin, und ich beschloss, an die frische Luft zu gehen. Ich rief die Inhaber der beiden Restaurants an, die dankbar meine überzähligen Menübehälter übernehmen wollten, da so etwas sicher knapp werden würde, wenn die Restaurants weiterhin nach Hause liefern mussten. Ich lud die Kartons mit den Behältern ins Auto und hörte während der Fahrt die Mittagsnachrichten – nur mit halbem Ohr, bis das Thema zu den Linienflügen wechselte.
»Eine Icelandair-Maschine startete heute Morgen vom Flughafen Keflavík nach London«, las die Sprecherin vor. »Alle anderen Starts der Fluggesellschaft wurden gestrichen, einunddreißig Flüge.« Danach wurden die neuen Infektionszahlen genannt, die Anzahl der Patienten auf der Intensivstation und der wachsende Mangel an Coronatests.
Das eine Restaurant liegt in der Hverfisgata. Der Inhaber kam heraus und nahm die Kartons entgegen. Er heißt Viðar, ist in Bárðurs Alter, ein Koch mit großem Talent. Wir achteten auf einen Abstand von zwei Metern zwischen uns. Vor einer Woche hätten wir das kommentiert. Heute erschien es uns einfach als normal.
Viðar meinte, er habe gehört, dass ich endgültig schließen würde.
Ich nickte. »Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist«, erwiderte ich und wünschte ihm alles Gute.
Dieses Jahr werde ich fünfundsiebzig. Ich finde, das ist kein Alter, schließlich bin ich gut in Form, bis auf ein bisschen Rheuma im rechten Knie und kleine Herzrhythmusstörungen, die sich zwar manchmal bemerkbar machen, aber den Ärzten nach keine große Gefahr darstellen und mich nicht daran hindern, Berge zu besteigen und zu Hause im Wohnzimmer Liegestütze zu machen. Daher zähle ich mich zu keiner der Risikogruppen, versuche aber trotzdem, mich vorsichtig zu verhalten, denn das Virus scheint zu Leuten meines Alters nicht nett zu sein. Wenn es hart auf hart kommt, ist es vielleicht Glück im Unglück, dass niemand auf mich angewiesen ist.
Ich sollte wohl besser sagen: noch. Noch bin ich gut in Form. Und dabei bleibe ich, denn es ist zwecklos, sich über die ungesicherten Mutmaßungen eines Spezialisten den Kopf zu zerbrechen. Ich bin nicht mal sicher, ob er weiß, wovon er redet.
Das andere Restaurant liegt auf dem Laugavegur, gleich unterhalb des Brötchen-Bistros, das ich geführt hatte, bevor ich das Torgið eröffnete. Ich stellte die Kartons am Seiteneingang ab, denn der Gastwirt würde erst am Nachmittag hier eintreffen. Ich blickte die Straße hinauf und hinab, bevor ich mich wieder in den Wagen setzte. Sie war menschenleer.
Als ich zurück war, setzte ich mich an den Computer, doch auf dem Bildschirm gab es nichts zu sehen. Auf der Fahrt durch die Stadt hatte ich Facebook auf dem Handy aufgerufen, aber irgendwie vertraue ich meinem Computer mehr. In Japan ging es auf elf Uhr zu. Elf Uhr abends. Ich redete mir ein, dass es wahrscheinlicher sei, erst am nächsten Morgen etwas zu hören.
Ich schloss die Lohnbuchungen ab und bezahlte alle offenen Rechnungen, danach rief ich die Lieferanten an, von denen ich noch Rechnungen erwartete, und bat sie darum, sie rasch zu schicken. Sie boten mir alle eine verlängerte Zahlungsfrist an, es gebe keinen Grund zur Eile, sie wollten uns unterstützen. Ich bedankte mich für ihre Rücksichtnahme, erklärte indes, dass ich die Entscheidung getroffen hätte aufzuhören. Die endgültige Entscheidung.
Da ich noch nicht nach Hause wollte, wärmte ich mir zum Abendessen etwas von den Resten auf. Ich gewöhnte mich langsam an den Hall, und auch wenn ich die Erinnerungen nicht heraufbeschwor, so ließen sie nicht auf sich warten. Die allermeisten waren guter Natur, denn ich denke, hier haben sich alle überwiegend wohlgefühlt, Gäste wie auch Mitarbeiter.
Es war schon fast neun, als ich langsam abschließen und nach Hause gehen wollte. Ich hatte für heute alles erledigt, musste nur noch einmal mit Frissi reden, denn ich konnte schlecht einfach etwas auf sein Konto überweisen, ohne ihm diese Zahlung zu erklären.
Als ich auf Facebook nachsah, erwartete ich keine Neuigkeiten. Ich wollte den Computer herunterfahren und guckte nur aus einem Impuls kurz darauf.
Doch da entdeckte ich ihre Antwort, sie hatte sie vor zwanzig Minuten geschrieben.
Ich bin Miko Nakamura, geb. Takahashi. Sind Sie der Kristófer Hannesson, der 1969 in London gelebt hat?
Blasses Morgenlicht dringt durch die Gardinen. Im Halbschlaf habe ich den Eindruck, fernes Rauschen von Meereswellen zu vernehmen, die heranrollen und sich zurückziehen. Am frühen Morgen kommt es manchmal vor, dass ich Schwierigkeiten habe, mich zurechtzufinden, doch heute nicht, denn ich bin mir dessen voll bewusst, dass das Meer nur in meiner Vorstellung rauscht. Und ich empfinde dies Rauschen als angenehm, es klingt wie ruhige Atemzüge, so deutlich, dass ich mir einbilden könnte, jemand läge hier und schliefe an meiner Seite.
Ich habe beschlossen, den Teebecher mitzunehmen, obwohl es an und für sich eher unvernünftig ist. Mein Koffer ist nicht groß, denn ich habe, als ich heute Nacht die Reise buchte, überprüft, ob er in beiden Flugzeugen ins Handgepäckfach passt. In der Maschine nach Japan hat er ein, zwei Zentimeter mehr Platz als in der von Reykjavík nach London.
Es ging auf zwei Uhr zu, als ich endlich zu Bett ging. Wir hatten uns eine gute halbe Stunde lang geschrieben, bevor sie erklärte, sie müsse sich ausruhen. Da hatte sie mir schon mitgeteilt, dass sie sich mit dem Coronavirus infiziert und im Krankenhaus gelegen hatte. Im nächsten Satz räumte sie ein, dass sie ansonsten nicht nach mir gesucht hätte. Erzählte es mir völlig unverblümt. Wie auch ein paar andere Sachen, an denen ich noch zu knabbern habe.
Ich war kurz davor, sie zu fragen, ob ich sie nicht anrufen könnte, ließ es dann aber. Und bereue es nicht. So wie ich sie kenne, hätte sie Ausflüchte gefunden.
So wie ich sie kenne … wie seltsam dieser Satz klingt. Und dennoch hatte ich nicht das Gefühl – und noch weniger, nachdem wir die kleinen, vorsichtigen, höflichen Fragen hinter uns gebracht hatten, und ebenso die Antworten, welche genauso wenig von Bedeutung waren –, als wäre beinahe ein halbes Jahrhundert vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Sie war es, die diese Art von Small Talk beendete, sie war es, die die Initiative ergriff. Ihr lag daran, mir rasch mitzuteilen, was sie auf dem Herzen hatte.
Als ich sie fragte, wie es ihr gehe, antwortete sie jedoch nicht ganz so freimütig.
Meine Nachbarin geht für mich einkaufen, schrieb sie, und stellt mir die Einkäufe vor die Tür. Aber ich habe kaum Appetit.
Inzwischen wusste ich, dass sie allein lebte. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Ich habe meine Frau Ásta vor sieben Jahren verloren, erwiderte ich. Wir hatten auch keine Kinder.
Sie bat mich nicht zu kommen. Nicht einmal durch die Blume. Und ich erwähnte nicht, dass ich es in Erwägung zog. Ich gelangte auch erst später, nachdem wir unsere Unterhaltung beendet hatten und ich wieder zu Hause war, die Bäume im Garten betrachtete, zu der Überzeugung, dass ich keinen Frieden fände, wenn ich nicht zu ihr führe.
Es stellte sich heraus, dass ich recht hatte, denn sofort, als ich die Buchung des Fluges abgeschlossen hatte, wurde ich ganz ruhig. Auch der Wind draußen, der den Abend über geweht hatte, legte sich kurz darauf, es begann zu schneien. Die ganze Woche lang war es stürmisch gewesen, doch jetzt schwebten Flocken so groß wie auf den hübschesten Weihnachtskarten zur Erde herab und legten sich auf die welke Grasfläche und die nackten Zweige der Bäume, bedeckten sie so sorgfältig, als wären sie weiß angemalt worden. Ich überflog mit den Augen meine Aufgabenliste, hakte die Punkte ab, die ich erledigt hatte, und fügte ein paar neue Aufgaben hinzu, bevor ich mich ins Bett legte.
Miko Nakamura … geborene Takahashi. Die Frau, von der ich nie jemandem erzählt hatte. Nicht meinen Freunden oder langjährigen Mitarbeitern, weder meinen Eltern noch meinem Bruder. Auch nicht, als ich aus London wieder nach Hause kam und sie nicht verstanden, warum ich so am Boden zerstört war. Ásta selbstverständlich genauso wenig. Ihr am allerwenigsten.
Ich erkenne an der Helligkeit, dass der Schnee in der Nacht nicht getaut ist. Das Licht ist grell, und das bedeutet, es hat aufgeklart und die Sonne kommt heraus. Ich gehe im Geiste die Aufgaben durch, die mich am heutigen Tag erwarten, überlege mir, wie ich sie am besten erledige, frage mich, ob ich nicht irgendetwas vergessen habe.
Bevor ich die Augen gänzlich öffne, absolviere ich meine Übungen, die ich mir in den vergangenen Wochen zur Routine gemacht habe. Zuerst rufe ich mir meine Personalausweisnummer ins Gedächtnis, dann meine Kontonummer, die Geburts- und Sterbedaten meiner Eltern, die Namen sämtlicher Präsidenten der Republik Island, die Gerichte, die bei uns in den letzten Monaten auf der Speisekarte standen, und schließlich alles, was ich auf meiner Aufgabenliste notiert habe, bevor ich schlafen ging.
Als ich mit meiner Leistung einigermaßen zufrieden bin, erhebe ich mich und ziehe die Gardinen auf. Die Sonne scheint auf den Schnee. In der Fichte singt eine Drossel aus voller Kehle. Ich spüre die Erwartung in der Brust, glühende Erwartung, die mich unversehens trifft und daran erinnert, dass ich vor nicht allzu langer Zeit noch ein junger Mann war.
Ich hätte eventuell morgen früh schon abreisen können, doch ich fürchte, etwas Wichtiges dann nicht mehr zu schaffen, denn ich bin nicht besonders schnell. Das ist auch gar nichts Neues, ich habe schon immer Muße und Ruhe gebraucht, um meine Angelegenheiten ordentlich zu erledigen, und gelernt, Hetze weitestgehend zu vermeiden. Zudem habe ich zu der Einsicht gefunden, dass ich nicht weiß, ob ich zurückkomme, und deshalb muss ich noch mehr bedenken als sonst. Ich sage das nicht, um mich in irgendeiner Art bedauernswert darzustellen, ganz und gar nicht, und selbstverständlich wird meiner Rückkehr wahrscheinlich nichts entgegenstehen. Dennoch kann man sich in der heutigen Zeit nie sicher sein, und ich will die Dinge nicht in einem Zustand hinterlassen, für den ich mich schämen müsste.
Selbstredend habe ich Hallmundur nichts von alldem gesagt, als ich ihn gerade anrief. Mundi ist mein älterer Bruder und wohnt in einer betreuten Wohnung für Senioren im Hlíðar-Viertel. Vor gut einer Woche habe ich bei ihm vorbeigeschaut, jetzt aber sind Besuche im Haus nicht mehr gestattet.
Ich musste die Stimme heben, damit er mich verstand.
»Hast du dein Hörgerät nicht drin?«
»Was?«
»Dein Hörgerät, Mundi. Hast du es denn nicht eingesetzt?«
Er ist ein eitler Schnösel, sogar wenn er allein ist.
»Ich will nicht wie ein verdammter Tattergreis aussehen.«
»Du bist dreiundachtzig Jahre alt, Mundi.«
Ich sagte ihm, dass ich einen Flug nach Japan gebucht hätte.
»Na endlich. Du hast immer davon geredet.«
Ich korrigierte ihn und erklärte, es sei lange her, seit ich das letzte Mal eine Reise nach Japan erwähnt hätte.
»Wie lange wirst du weg sein?«
Ich antwortete, dass es noch nicht feststehe.
Ich habe einen Rückflug für in drei Wochen gebucht, aber das könnte sich ändern.
»Meinst du, deine Leute können mir Essen vorbeibringen, solange du weg bist?«
Mundi ist schon immer wählerisch gewesen, was sein Essen angeht, und er klagt gern über die Verpflegung in seinem Seniorenheim, obwohl ich nichts Schlimmes daran feststellen kann, denn es handelt sich um ganz normale Hausmannskost. Es hat allerdings keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren, und ich habe nachgegeben und ihm regelmäßig Essen geschickt, seit er dort eingezogen ist, manchmal drei-, viermal die Woche. Nun stand mir bevor, ihm mitteilen zu müssen, dass es mit den Lieferungen ein für alle Mal vorbei sei.
»Ich habe zugemacht, Mundi, für immer.«
»Was?«
»Es rechnet sich nicht mehr, das Restaurant weiter zu betreiben. Außerdem ist es jetzt auch mal gut.«
»Du hättest den Fisch sehen sollen, den dieser Blödmann gestern aufgetischt hat«, erwiderte er. »Der wär über Bord geworfen worden, wenn er sich erlaubt hätte, den auf meinem Schiff zu servieren.«
Hallmundur war mehr als drei Jahrzehnte Kapitän auf einem Frachter und behandelt die Menschen in seinem Umfeld so, als wären sie Teil seiner Besatzung.
»Wie willst du dir eigentlich die Zeit vertreiben, wenn du den Laden zumachst?«
Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht, oder vielmehr hatte ich sie bisher von mir geschoben.
»Zuerst mal werde ich diese Reise antreten«, antwortete ich.
»Wenn du glaubst, es sei ein Vergnügen, nichts zu tun zu haben, dann irrst du dich. Wenn du glaubst, man könnte unendlich lange Radio hören oder Patiencen legen, dann überleg es dir gut. Geirmundur in der Etage unter mir ist neulich an Langeweile gestorben. Wortwörtlich, Kristófer. Fiel einfach tot um.«
Ich ließ mich nicht von meinem Bruder verunsichern, auch wenn er daherredete, als trüge ich die Verantwortung für den Tod seines Nachbarn. So ist er nun mal, mein Bruder Mundi, so war er schon immer. Dennoch wollte ich ihm zum Abschied noch etwas Essenzielles sagen, etwas, an das er sich erinnern kann, denn ich bezweifle, dass ich ihn aus Asien anrufen werde.
»Wir haben beide ein gutes Leben gehabt«, begann ich, ohne genau zu wissen, wie ich den Satz fortsetzen wollte.
Allerdings nahm er mir ohnehin die Mühe ab.
»Heute gibt es Fischfrikadellen«, erzählte er. »Und was glaubst du wohl, was sie da reintun?«
Er verabschiedete sich ziemlich gereizt, aber ich versuchte, es an mir abperlen zu lassen. Früher fiel es mir schwer, mich von ihm nicht aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen, aber inzwischen sieht die Sache zum Glück anders aus. Schön, dass ich mich in all den Jahren wenigstens in mancher Hinsicht weiterentwickelt habe.
Allein zu sterben. Das ist es, was Miko am meisten fürchtet. Nicht den Tod an sich, sondern niemanden an ihrer Seite zu haben.
Es gibt dafür sogar einen Begriff, schrieb sie. Kodokushi. Und dahinter setzte sie einen Smiley – ganz genau so, wie ich es von dem Mädchen erwartet hätte, das ich vor einem halben Jahrhundert gekannt habe.
Die Beerdigung habe ich nicht auf meine Aufgabenliste gesetzt. Ich brachte es einfach nicht über mich. Tatsächlich war ich schon kurz davor gewesen, besann mich aber eines Besseren, ehe mein Stift das Papier berührte. Löhne auszahlen, mit Gerður sprechen, Herd reinigen, zum Recyclinghof fahren, Jói Steinsson zu Grabe … Nein, das wäre unpassend gewesen. Trotzdem befürchtete ich, dass ich es vergessen könnte, und überlegte, die Notiz zu seiner Beerdigung auf einen separaten Zettel zu schreiben, aber da hatte ich im Grunde schon beschlossen, dass ich von allein daran denken müsste. Also ließ ich es sein.
Die Beerdigung ist um zwei. Ich habe vorgestern mit Aldís, seiner Witwe, telefoniert und ihr mein Beileid bekundet. Sie war noch nicht auf den Plan getreten, als Jói und ich in London studierten, und ich kenne sie nicht gut, denn ich hatte nach unserer Rückkehr nach Island nicht mehr viel Kontakt mit Jói. Ich war vor ihm wieder zu Hause, schließlich gab es für mich nichts mehr in London zu tun, nachdem ich es aufgegeben hatte, Miko und Takahashi-san zu suchen. Als Jói sein Studium abgeschlossen hatte, nahm er in Island eine Stelle im nationalen Amt für Statistik an, und kurz darauf heiratete er.
Jói und ich kamen ganz gut miteinander klar, wenn wir uns gelegentlich zufällig trafen. Dann holten wir Erinnerungen an unsere Jahre in London hervor, vor allem Jói, denn er schien sie zu vermissen.
»Das waren gute Zeiten, Kristófer«, sagte er jedes Mal, und ich sah keinen Grund, ihm nicht zuzustimmen.
Er wird von der Fríkirkja aus beerdigt, der Freikirche in Reykjavík. Das ist nicht weit für mich, und ich werde zu Fuß hingehen. Während ich den Anzug anziehe, überlege ich, ob ich nicht versuchen sollte, ihn auch noch in den Koffer zu kriegen. Ich stelle mir sogar vor, bei welcher Gelegenheit ich ihn benötigen würde, setze diesen Überlegungen dann jedoch ein Ende und beschließe, den Anzug hierzulassen. Der Koffer ist nicht groß. Ich muss meine Kleidung mit Verstand auswählen und ihn sorgfältig packen.
Ich treffe frühzeitig ein, denn die Kirchen des Landes sind nicht vom Versammlungsverbot ausgenommen. Aldís erinnerte mich daran, als ich sie anrief.
»Man kann davon ausgehen, dass nicht alle Platz finden, die gern möchten«, erklärte sie.
Eine Kirchenmitarbeiterin führt mich zu einem Sitzplatz.
Nur in jeder zweiten Bank sind Plätze ausgewiesen, und zwischen den Trauergästen wird ein Abstand von zwei Metern gewahrt. Während sie nach und nach eintreffen, spielt der Organist Bach und Schubert, aber auch die Beatles – Michelle, ma belle … Unwillkürlich muss ich an den Abend denken, als Jói und ich uns in Piccadilly volllaufen ließen und er mich den ganzen Weg bis zum Trafalgar Square huckepack schleppte, mit Pausen selbstverständlich. Unterwegs sang er einen Beatles-Hit nach dem anderen, darunter Michelle, und er weigerte sich strikt, vor Ende des Weges aufzugeben.
Ich erinnere mich, wie er sagte: »Ich stehe zu meinem Wort«, als wir auf der Whitcomb Street waren – vielleicht mehr zu sich selbst als zu mir, denn zweifellos benötigte er den Ansporn. Der Ritt, besonders das letzte Stück, zog sich in die Länge, und ich zuckte mehrmals zusammen, wenn ich dachte, jetzt stolpert er. Der Alkohol wiederum dämpfte meine Besorgnis, und als ich die Statue von George IV. und seinem Pferd erahnen konnte, atmete ich auf und sang mit Jói zusammen von Michelle, oder vielleicht vom Norwegian Wood, ich weiß nicht mehr, welchen Song von beiden.
Ihn hat der Krebs dahingerafft, nicht die Pandemie. Er hatte wohl einige Jahre lang gegen ihn gekämpft. Der Pfarrer verwendet dieses Wort, kämpfen. Er spricht auch von stoischer Ruhe, Pflichtbewusstsein und Rechtschaffenheit, während er an Jói erinnert, sowie von seiner Familie, von Aldís, der Tochter und dem Sohn, den fünf Enkelkindern. Dem Reihenhaus in Fossvogur, in das man gern zu Besuch kam, von Jóis Tätigkeit als Vertrauensmann im Tourismusverband, seinem Vorsitz im Rotary Club, seiner Verlässlichkeit. Der Pfarrer spricht mehrfach von ausgesöhnt sein, das ist der eigentliche Schwerpunkt in der Traueransprache, und ich überlege, ob Jói sich damals, als wir in London studierten, sein Leben so vorgestellt hatte. Dort war er nämlich ein wilder Hund und hatte große Ziele. Er spielte Gitarre und hielt in den Seminaren der radikalen Professoren die Theorien des Wirtschaftswissenschaftlers Ludwig von Mises hoch, bei den Anhängern der unregulierten Marktwirtschaft hingegen die von Keynes. Zum Beispiel bei dem Professor aus Schweden, der stets seine Nerven strapazierte. Er zögerte nicht, sich mit ihm anzulegen, obwohl es noch nicht üblich war, dass Studierende den Mund aufmachten. Doch Jói war ein exzellenter Student und kam mit Dingen durch, die sich andere nicht erlauben durften. Als er die Stelle beim Amt für Statistik bekam, meinte er, dass er nicht lange dortbleiben werde, nur so lange, bis er Fuß gefasst habe, das Amt sei ein halbes Altersheim, und eine grundsätzliche Bedingung sei es, dass die Angestellten ihr Gehirn nicht zu stark beanspruchten.
Fünfundvierzig Jahre, sagt der Pfarrer, habe er zufrieden und fleißig seinen Teil zu unserer Gesellschaft beigetragen.
Wie er sich wohl das Leben ausgemalt hatte, als wir jung waren, frage ich mich abermals. Und wie hatte ich mir mein Leben ausgemalt? Nicht so, wie es sich entwickelt hat, so viel ist klar. Trotzdem bin ich zufrieden, zum größten Teil, zum weitaus größten Teil. Und dankbar für so vieles, wie ich zuvor schon sagte. Habe ich irgendeinen Grund anzunehmen, dass Jói es nicht auch gewesen ist?
Ich komme zu keinem Ergebnis, rufe mir aber in Erinnerung, dass ich Gerður kontaktieren muss, lieber früher als später, womöglich gleich nach der Beerdigung. Ich habe es mir auf meiner Liste notiert, und es besteht keine Gefahr, dass ich das vergessen könnte, doch irgendetwas in den Worten des Pfarrers bringt mich dazu, an sie und den kleinen Villi zu denken. Vielleicht das mit der Aussöhnung. Auf dem Weg nach draußen erklingen zwei andächtige Musikstücke. Ich kenne die Sargträger nicht, vermute aber, es sind teils Freunde und teils Familienmitglieder.
Es hat wieder aufgeklart, als ich ins Freie trete. Der Empfang wurde auf die Zeit nach der Pandemie verschoben, also kann ich nach Hause gehen, ohne Aldís oder ihre Angehörigen zu kränken.
Als ich auf dem Skothúsvegur ankomme, halte ich an und betrachte das Licht, das sich durch die Wolken bahnt und auf den Stadtteich fällt. Er ist noch zugefroren, und wenn die Sonne auf die Oberfläche scheint, wirkt es, als ob der Tjörnin-See sich ein wenig erheben würde. »Michelle, ma belle, sont les mots qui vont très bien ensemble, très bien ensemble …« – »Ich gebe nicht auf, Krissi, ich gebe nie auf!« Der Trafalgar Square kommt in Sicht. Leichter Nieselregen.
Ich muss lächeln, mache kehrt und setze meinen Weg fort, den Hügel hinauf.
Gerður ist Ástas Tochter aus erster Ehe. Gerður und ihr Ehemann Axel wohnen in Hafnarfjörður, sie haben einen Sohn, Villi beziehungsweise mit vollem Namen Vilhjálmur Friðrik. Gerður war sechs, als Ásta und ich zusammenzogen, und sie gewöhnte sich recht schnell an mich. Wir kamen meistens gut miteinander aus, schließlich war es Ástas Aufgabe, mit ihr zu schimpfen, wenn es nötig war. Oder zumindest behauptete Ásta das, und ich glaube es auch langsam, obwohl ich auch nicht wüsste, mich direkt davor gedrückt zu haben.
Gerður sagte recht bald Papa zu mir. Ich hatte sie nicht darum gebeten, gestehe jedoch, dass es mich gefreut hat. Ich erinnere mich sogar noch daran, wann sie es zum ersten Mal tat, also bin ich vielleicht doch noch gar nicht so weich in der Birne. Es war im Frühling, an einem Sonnabend, ich war draußen in der Garage, um Harken, Schaufeln und andere Geräte zu holen, denn Ásta und ich wollten im Garten arbeiten. Ich dachte, Friðrik, Gerðurs Vater, sei gekommen, als ich sie durch die Haustür »Papa!« rufen hörte. Nicht ein Mal, nein, zwei Mal hintereinander. Ich erinnere mich daran, wie überrascht ich war, denn ich hatte nichts davon gewusst, dass Friðrik kommen wollte, daher begab ich mich zur Einfahrt, um nach ihm Ausschau zu halten. Er war nicht zu sehen, und als ich zur Haustür blickte und bemerkte, dass sie mich ansah, verstand ich, was die Uhr geschlagen hatte. Mein Herz tat einen Satz.
»Papa, könntest du das Fahrrad für mich aufpumpen?«
Manchmal habe ich überlegt, ob sie den Entschluss, mich Papa zu nennen, schon gefasst hatte, bevor sie zur Tür kam, oder ob es einfach unwillkürlich geschehen war. Selbstverständlich spielt es keine Rolle, doch so manches Mal habe ich in meinen Erinnerungen geforscht und versucht, mir vorzustellen, wie sie dort in der Türöffnung stand und mich ansah. Ich werde es nie genau wissen, tendiere aber dazu, dass es unwillkürlich geschehen war, denn sie sah ungeduldig aus, so als ob sie sich darüber wunderte, wie lange ich brauchte, um ihr zu antworten.
Sie nannte Friðrik ebenfalls Papa. Es störte mich kein bisschen, und ihn ebenso wenig, soviel ich weiß. Friðrik hätte sich mehr um sie kümmern sollen, doch es fiel ihm schwer, nachdem er wieder geheiratet hatte und er und Guðlaug Kinder bekamen. Ásta mochte seine neue Frau nicht, Guðlaug war definitiv ziemlich rechthaberisch und vielleicht auch etwas egoistisch, wie es eben in solchen Konstellationen manchmal vorkommt. Ásta unternahm einige Versuche, mit Friðrik zu reden, jedoch ohne Erfolg, sie hatten ja auch nicht mehr die beste Beziehung zueinander. Friðrik und ich hingegen kamen gut miteinander aus, und daher bat Ásta schließlich mich darum, mit ihm zu reden.
Er antwortete aufrichtig, erklärte, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, und fragte mich, ob ich ihn unterstützen könnte. »Es wird besser werden«, meinte er, »aber bis dahin wäre ich dir dankbar, wenn du dich vielleicht an meiner Stelle um Gerður kümmern würdest, noch mehr als bisher, und Ásta beruhigen, wenn sie einen Aufstand machen will.«
Ich nahm mich seines Anliegens gern an, warum auch nicht. Um ehrlich zu sein, womöglich kam es mir gerade recht, weniger Konkurrenz zu haben. Ich will damit nicht sagen, dass ich das Gefühl gehabt hätte, wir wetteiferten beide um Gerðurs Aufmerksamkeit, im Nachhinein allerdings kam ich nicht umhin, mich zu fragen, ob meine Reaktion auf seine Bitte ausschließlich von Hilfsbereitschaft und Fürsorge getrieben war. Das war jedoch viel später, nach Ástas Tod, und es bringt ja nichts, darüber jetzt noch einmal lang und breit zu spekulieren.
Meine Erfahrung erwies sich vorletztes Jahr als nützlich, als Gunnar und sein Partner in ein Dilemma gerieten. Zu Gunnar sollte ich außerdem erzählen, dass er fast ein Jahrzehnt bei mir gearbeitet hat, seit 2016 Chefkellner war und in seinem Metier überaus gut ist, ja einer der besten in seinem Fach. Er ist schwul, und korrekterweise müsste ich sagen sein Mann, und nicht sein Partner, denn im vergangenen Jahr haben sie geheiratet. Jedenfalls, mir war aufgefallen, dass Gunnar anders war, wortkarg und nachdenklich, also fragte ich ihn, was ihn bedrücke. Zuerst spielte er es herunter, dann jedoch vertraute er mir an, dass er und sein Mann (ich glaube, er heißt Svanur, auch wenn ich es nicht beschwören kann) Kinder haben wollten und eine Leihmutter gefunden hatten, von der sie beide begeistert waren. Zwei Kinder wollten sie, um genau zu sein, und sie hatten beschlossen, dass Gunnar der biologische Vater des ersten Babys und sein Mann der des zweiten Babys sein sollte. Mir erschien das ziemlich durchorganisiert, ich verkniff es mir aber, auch nur einen gutmütigen Scherz darüber zu machen. Sie hätten sich eigentlich freuen sollen, dass sie die Leihmutter gefunden hatten, doch stattdessen war zwischen ihnen ein Zwist aufgekommen, für den Gunnar keine Lösung fand. Sein Mann – ich verstehe nicht, warum mir sein Name nicht mehr einfällt – hatte vorgeschlagen, dass die Kinder ihn Papa nennen sollten, Gunnar hingegen bloß Gunnar. Sein Mann hatte das einfach so rundheraus gesagt, als wäre nichts selbstverständlicher, als spräche er nur davon, was sie kochen wollten oder wohin sie in den Sommerurlaub fahren sollten, und als rechnete er mit keinerlei Einwänden. Wie die meisten guten Servicekräfte ist Gunnar patent und anpassungsfähig und lässt sich durch nichts so leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Aber das hatte ihn sehr verletzt. Er sagte es seinem Mann und fragte, ob sie es nicht andersherum handhaben wollten, die Kinder sollten ihn, Gunnar, Papa nennen, seinen Mann jedoch beim Vornamen, von dem ich mir fast sicher bin, dass er Svanur lautet.