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Robert Kviby

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Beschreibung

Keiner hört ihre Schreie. Doch diese Frau gibt den Opfern eine Stimme: Annie Lander. Acht Jahre ist es her, dass Polizeireporterin Annie Lander und ihr Mann aus Schweden fliehen mussten. Inkognito leben sie in Patras, wo Annie den amerikanischen Kriegsreporter Thurston Richards kennenlernt. Er recherchiert im Fall eines muslimischen Mädchens, das während des Jugoslawienkrieges in Bosnien vergewaltigt wurde. Annie berührt die Geschichte. Gemeinsam mit Thurston stößt sie auf eine Spur, die ein dramatisches Ausmaß erahnen lässt: Die Verwicklung schwedischer Unternehmen in den Krieg …

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Robert Kviby

Bestraft

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Keiner hört ihre Schreie. Doch diese Frau gibt den Opfern eine Stimme: Annie Lander.

 

Über Robert Kviby

Inhaltsübersicht

WidmungZitateEinsPatras, griechische WestküsteDer TorwächterSchlaflosigkeitRückkehrUnerwarteter BesuchZweiHeimsuchungenHotel Prins Hendrik, AmsterdamEingeholt und weiterDreiZurückJenseits des GewissensDer Tod des TischlersDurchbruchBeweiseVierGesprächeFestnahmenFünfRequiem

Für L.

Die Regierungsgremien müssen den gezielten oder zufälligen Erwerb unbefugten Einflusses des militärindustriellen Komplexes abwehren. Die Gefahr ungerechtfertigter Machterweiterung ist gegeben und wird fortdauern. Unter keinerlei Umständen darf diese mächtige Koalition unsere Freiheiten oder demokratischen Prozesse gefährden.

 

Dwight D. Eisenhower,

Abschiedsrede am 17. Januar 1961

Vielleicht sind wir es ja, die Schreihälse, die angesichts der Wirklichkeit, die uns umgibt, auf diese gesunde und frische Weise reagieren, während ihr die Neurotiker seid, die in ihrer abgeschiedenen Phantasiewelt herumeiern, weil euch die Fähigkeit fehlt, den Tatsachen in die Augen zu sehen. Wäre es nicht so, dann hätte sich dieser Krieg vermeiden lassen, und diejenigen, die vor euren tagträumenden Augen ermordet wurden, wären immer noch am Leben.

 

Arthur Koestler,

The Yogi and the Commissar and other Essays, 1945

(Der Yogi und der Kommissar. Auseinandersetzungen)

Eins

Donnerstag, 4. Dezember 1997

«Er drehte mich auf den Bauch und vergewaltigte mich.

Ich konnte nicht fassen, dass mir das passierte,

dass so was Ende des 20. Jahrhunderts geschehen konnte.»

 

Prozess IT-96-21,

Staatsanwaltschaft gegen Mucić et al. («Čelebići»)

Patras, griechische Westküste

1

«Ich glaube, das waren zehn Bier zu viel.» Thurston Richards lachte. Er bemühte sich, ebenso betrunken zu wirken wie sein Gegenüber, ohne dass es auffiel.

«Ihr Amerikaner seid echte Komiker», sagte Mikael Storm, schüttelte bedächtig den Kopf und sah sich dabei um.

Thurston folgte seinem Blick. Das Restaurant war spärlich besucht. Bunte Lämpchen blinkten traurig an der Decke des Gewölbes und spiegelten sich auf leeren Tischen. Bald war Sperrstunde, aber als neue Stammgäste durften sie sitzen bleiben, bis das Licht ausging. Hier trafen sie sich. Wie sie ihr Leben sonst verbrachten, war beiderseits ein gut gehütetes Geheimnis.

Thurston hatte Mikael Storms Worten aufmerksam gelauscht, aber es fehlten ihm noch immer entscheidende Details. Vor allem Namen. Sich einfältig zu geben schien die beste Methode, mehr in Erfahrung zu bringen, als der andere preisgeben wollte.

«Hab Geduld mit einem alten Mann, Mikael», sagte er und hoffte, Storm damit nicht zu verärgern. Obwohl seit ihrer ersten Begegnung kaum ein Monat vergangen war, wusste Thurston, dass Mikael Storm empfindlich wie ein Kind reagieren konnte. Und er hatte drei Wochen auf das gewartet, was jetzt kommen sollte. Das wollte er unter keinen Umständen aufs Spiel setzen.

«Okay, die Sache ist die …» Storm trommelte mit dem Zeigefinger rhythmisch auf die fettige Tischplatte, als könne er so die Informationen hinter seinen halb geschlossenen Lidern ordnen. «Nach dem Typen wird in Schweden wegen zwei Morden gesucht. Ist aber unschuldig. Der hat nur zwei psychopathische Polizisten davon abgehalten, seine Frau zu Tode zu ficken.»

«Polizistenmord also. Und die Frau?»

Storm nickte nervös. «Eine Journalistin, die einen ziemlich noblen Stockholmer Verein auffliegen lassen wollte. Weil die gelegentlich Nutten angeheuert haben, um ihren Festen eine gewisse Würze zu verleihen. Nur gingen die Weiber dabei öfter mal hops.»

«Und die Mitglieder dieses Vereins, sind das so eine Art Freimaurer?»

«Vielleicht.»

«Und da kommt dann der Bruder der Journalistin ins Spiel?»

«Der Halbbruder», berichtigte ihn Storm. «Die Frau war – wie sagt man noch? Die war ein uneheliches Kind, die wusste also gar nicht, dass sie ihrer eigenen Sippe auf den Fersen war.» Storm grinste. «Ihr Bruder war so etwas wie der Vorsitzende dieser Vereinigung … Der ist steinreich, dem gehören jede Menge Firmen. Die Leute, für die ich arbeite, munkeln, dass er die beiden Polizisten damit beauftragt hat, seine herumschnüffelnde Schwester zu bremsen. Nur ist das wohl ziemlich aus dem Ruder gelaufen.» Storm lächelte ironisch. «Und das mussten die Bullen dann ziemlich schnell büßen.» Er hielt seinen Zeigefinger an die Schläfe, deutete zwei Schüsse an und blies den imaginären Pulverdampf weg.

«Eine unglaubliche Geschichte», schmeichelte ihm Thurston. «Und du bist jetzt also in Patras, um das Paar zu überwachen?»

«Genau.» Storm sah aus, als würde er gleich einschlafen.

«Und die Leute, für die du arbeitest?»

«Eine Gang in Schweden. Eiskalt. Die arbeiten für Božko Magaš, das behaupten jedenfalls die Zeitungen. Und ich glaube, das stimmt. Avram, der Typ, mit dem ich immer zu tun habe, gehört ganz klar zur alten Schule.»

Derselbe Magaš, der angeblich einige der widerlichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten hatte, die Thurston während seiner Korrespondentenzeit in Bosnien Anfang der Neunziger zu Ohren gekommen waren. Derselbe Magaš, der ausländische Söldnerunternehmen angeheuert hatte, um seine Miliz zu vergrößern.

Ohne sich etwas anmerken zu lassen, fragte Thurston weiter nach: «Und die Leute, für die du arbeitest – die können diesen Halbbruder also auch nicht leiden? Wie hieß er noch gleich?»

«Droth. Buster Droth. Nein, vermutlich nicht.»

«Heißt die Schwester auch Droth?» Thurston wusste, dass die Frage im Grunde schwachsinnig war, aber er wollte ihren Namen herausbekommen, ohne direkt nachzufragen. Das war das letzte Puzzleteilchen, was ihm noch fehlte.

Mikael Storm schüttelte den Kopf.

Und Thurston Richards schwieg, während er das gerade Gehörte noch einmal zusammenfasste: Die Frau war also Journalistin und hatte mit ihrem Mann zusammen vor dem wohlhabenden Halbbruder fliehen müssen, dem sie eine Verbindung zu jenem Bund hatte nachweisen wollen, der Prostituierte tötete. Und wenn die Gerüchte stimmten, besaß dieser Halbbruder ein Unternehmen, das sich von einem serbischen Warlord damit hatte beauftragen lassen, einige der schlimmsten Kriegsverbrechen in jüngster Zeit zu begehen. Kriegsverbrechen, für die Thurston schon lange die Schuldigen suchte. Bislang ohne Erfolg.

«Lander», murmelte Mikael Storm vor sich hin. «Sie heißt Annie Lander.»

2

Das Haus war nicht sonderlich alt, ohne Liebe und Sorgfalt gebaut und wie viele Häuser am Mittelmeer von jenem Schimmel befallen, an den sich Thurston Richards nun schon gewöhnt hatte. Hier befand sich die bescheidene Wohnung, die Annie und Max jetzt bereits seit einem Jahr als Zuhause diente. Seit sie über Bergamo, Triest und Venedig mit einer Fähre der Minoan Lines in Patras eingetroffen waren.

In den letzten Wochen hatte Thurston Richards mit Mikael Storm nur aus einem einzigen Grund gesoffen: Er wollte mehr über das Paar und über die Personen, die Mikael Storm beauftragt hatten, erfahren. Jetzt besaß er alle Informationen, die er benötigte. Als Mikael Storm also erklärt hatte, Patras für eine Woche verlassen zu wollen, fasste Thurston seinen Beschluss und stand jetzt, bereit zum Anklopfen, vor der Tür des Paares.

Thurston Richards hatte diesen typischen Cowboylook. Gestutzter Bart. Längeres, fast weißes Haar, das er gelegentlich in einem Pferdeschwanz sammelte. Jeans und klobige Stiefel. Krähenfüße um die hellblauen Augen. Hätte er etwas ungepflegter ausgesehen, hätte man ihn für einen Obdachlosen halten können. Er hatte sich jedoch ein sauberes Hemd angezogen und seinen Bart etwas gestutzt. Er wollte nicht riskieren, allein seines Aussehens wegen abgewiesen zu werden. Es gab so schon genug Gründe.

Er beschloss, erst noch eine Zigarette zu rauchen, kehrte wieder auf die Straße zurück und zog eine Schachtel aus der Tasche. Eigentlich war er Nichtraucher, hatte aber mit Storm angefangen und es sich angewöhnt. Er würde wieder aufhören müssen. Rauchen war idiotisch, und sein Leben bestand schon aus genügend anderen idiotischen Sachen.

Er inhalierte tief, warf die Kippe dann auf die Straße und trat sie mit dem Absatz aus. Dann holte er ein paarmal tief Luft, nahm ein Kaugummi aus der Hosentasche und redete sich ein, dass er das Richtige tat.

Dann ging er hinauf.

Der Torwächter

1

Buster Droth und Morgan Nätterquist hatten sich ein Vier-Gänge-Menü mit fünf verschiedenen Champagnersorten in ihrem Stammlokal in der Gamla Stan schmecken lassen. In ihrem Chambre séparée blieben sie sowohl von neugierigen Blicken als auch allzu eifrigem Personal verschont.

Buster Droth hatte seine Bekanntschaft mit Morgan Nätterquist schon gepflegt, lange bevor dieser Staatssekretär im Justizministerium geworden war. Man durfte sogar behaupten, dass Nätterquist ohne Buster Droth nie Staatssekretär geworden wäre. Die «Verdienste und das Geschick», die Morgan Nätterquist im Laufe der Jahre angehäuft und erworben hatte, waren nicht unbedeutend, hätten aber für seine jetzige Stellung nicht ausgereicht. Außerdem fehlte ihm jegliche politische Erfahrung. Einige Jahre im Jugendverband einer Partei waren schon alles. Ohne das Imperium würde er noch immer für die Anwaltskanzlei arbeiten, an die man sich in heiklen Fällen wandte.

Nätterquists Arbeit als Anwalt war sicherlich erfüllend gewesen, hatte ihm aber nicht den Einfluss beschert, den er so heiß begehrte. Jener Einfluss, der es ihm ermöglichte, mit Buster Droth zu dinieren, der ständig nach neuen Kontakten in Politik und Staatsverwaltung verlangte.

Auch nach Morgans Wechsel von der Kanzlei in die Welt der Politik tauschten sie sich aus und griffen einander sozusagen unter die Arme. Das Imperium strebte keine gesellschaftlichen Veränderungen an, sondern hatte es sich zum Ziel gesetzt, Einfluss auf die Tagesordnung zu nehmen und so Entscheidungen zu manipulieren. Eine Zielsetzung war, gewisse Fragen «wegzuorganisieren», und Morgan war dabei eines ihrer Werkzeuge. Obwohl das Gehalt eines Staatssekretärs durchaus angemessen war, brachte der Posten nicht annähernd jene Summen ein, die sich Nätterquist immer erträumt hatte und die ihm Buster Droth lockend in Aussicht stellte. Jetzt wollte man ihn verstärkt unter Druck setzen. Daher das Vier-Gänge-Menü.

«Ich hoffe, es hat dir geschmeckt?», sagte Buster Droth.

«Es war wie immer köstlich.»

«Ich fand das geröstete Brot zur Ententrüffelpastete etwas zu kross, aber die Geschmäcker sind ja verschieden.» Er lächelte. «Wie ist das Leben in der Politik, Morgan?»

«Einer meiner Beamten hat Alkoholprobleme, ein anderer will, dass wir den Pausenraum umbauen.» Morgan Nätterquist lachte. «Spaß beiseite. Eines ist sicher, ich habe noch nie so hart gearbeitet wie in den letzten Jahren. Nicht einmal als Referendar.»

«Und die Familie?»

«Bekommt natürlich viel zu wenig Zeit ab. Ich habe eine liebevolle, tolerante Frau, aber alles hat seine Grenzen.»

«Manche Leute sagen, es gäbe Wichtigeres als nur Arbeit. Vielleicht haben sie recht.»

«Das bleibt abzuwarten.»

Buster Droth nickte, murmelte etwas Unverständliches und legte die Leinenserviette auf den Tisch. «Heute habe ich ein Anliegen, Morgan.»

«Mir schwante bereits, dass du nicht nur Gesellschaft brauchst oder dir den neuesten Klatsch aus Regierungskreisen anhören möchtest.»

«Mir wird alles Mögliche zugetragen», sagte Buster Droth und musterte Morgan mit einem Lächeln. «Nicht nur über dich und deine Leute und eure Vergnügungen in der Bommersviker Sauna, sondern auch anderes, Unerfreulicheres, aber weitaus Wichtigeres.» Buster Droth sah Morgan an und lachte, ohne den Blick von ihm abzuwenden.

«Was?», fragte Morgan mit einem leichten Lächeln.

«Ihr Politiker», sagte Buster Droth und schüttelte den Kopf. Er trank einen Schluck Wasser. «Am Ende des Regenbogens gibt es ein Glas Marmelade für euch alle.» Er sah, wie Morgan Nätterquist blasser wurde. «Aber wie gesagt», fuhr Buster Droth fort, «erhalte ich glücklicherweise auch Informationen darüber, wer in der schwedischen Spitzenpolitik mit wem ins Bett steigt. Und diesen Informationen schenke ich ganz besondere Aufmerksamkeit. Da ich ein großzügiger Mensch bin, dachte ich, dass ich meinen Freunden, dir und deinen Kollegen, im Hinblick auf die kommende Wahl einen Teil dieser Information anbiete.»

«Wir sind dankbar für jede Hilfe», sagte Morgan Nätterquist, dachte an den Parteikongress in Sundsvall und schien einen Augenblick lang seine Fassung wiederzugewinnen. «Worum geht’s denn?»

«Um einen Polizistenmörder, nach dem international gefahndet wird», sagte Buster Droth.

Momentan befanden sich zwei Polizistenmörder auf freiem Fuß. Die ermordeten Polizisten waren Leif Widengren, der 1992 bei einem Raubüberfall auf ein Postamt in Högdalen erschossen worden war, sowie Kay Orha und Göran Theorin, die 1989 auf dem Gut Töversta unter seltsamen Umständen ums Leben gekommen waren. Was den ersten Fall betraf, so würde früher oder später ein Bankräuber ins Netz gehen und in der Hoffnung auf Strafmilderung seinen ehemaligen Kumpanen verpfeifen. Im zweiten Fall gab es einen Verdächtigen: Max Lander. Zeugenaussagen, DNA-Spuren und alles Übrige genügten für eine Verurteilung. Ermittlung abgeschlossen, wie man zu sagen pflegte. Mit einem Resultat würden sich politisch Punkte gewinnen, das «Moderne Rechtswesen» lancieren lassen. Ein Rechtswesen, das sich nicht, wie bei der Opposition, nur auf das Strafmaß konzentrierte, sondern auf eine grenzübergreifende Zusammenarbeit abzielte, durch die Informationen eingeholt werden konnten, bis man den Schuldigen dingfest gemacht hatte. Unermüdlicher Einsatz für das Volk.

«Interessant», sagte Nätterquist und nickte.

«Mehr als das, lieber Morgan», sagte Buster Droth und strich das Tischtuch glatt. «Die Opposition wird versuchen, euch unter Druck zu setzen. Man wird eine härtere Linie von Seiten des Justizministeriums einfordern. Sie werden darauf hinweisen, dass ihr nur einen kleinen Teil der Straftaten aufklärt. Sie werden euch mit den Dänen vergleichen und darauf hinweisen, dass ihr der schwedischen Polizei zu sehr freie Hand gelassen habt. Dass die schwedische Regierung schlussendlich an der Krise des schwedischen Polizeiwesens schuld ist.»

«Gut möglich», meinte Nätterquist.

«Nein, ganz gewiss», berichtigte ihn Buster Droth. «Ich weiß, warum ich hin und wieder auch mit der Opposition essen gehe.»

Nätterquist wurde rot.

«Aber jetzt verhält es sich zufälligerweise so», fuhr Buster Droth fort, «dass es mir recht wäre, wenn ihr noch ein wenig länger an der Macht bleiben würdet. An unserer Zusammenarbeit war bislang nichts auszusetzen. Deswegen bin ich auch bereit, euch Informationen zu überlassen, die, wenn ihr eure Karten richtig ausspielt, zu einer Festnahme eines schwedischen Polizistenmörders führen können. Das würde euch einiges an positiver Presse bescheren und, clever genutzt, der Opposition das Maul stopfen in Bezug auf die Inkompetenz des Justizministeriums.»

«Darf ich fragen, woher du diese Informationen hast?»

«Das würde jetzt zu viel Zeit kosten.»

Nätterquist nickte resigniert. «Und was stellst du dir als Gegenleistung vor, denn ich gehe davon aus, dass wir das nicht umsonst bekommen?»

Droth lächelte ironisch. «Dasselbe, was ich dir zu bieten habe. Informationen. Dieses Mal allerdings aus dem Außenministerium.»

Nätterquist runzelte die Stirn und trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch. «Ich stehe natürlich mit dem Staatssekretär in Verbindung, da es viele gemeinsame Fragen gibt. Er, der Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, und ich bezeichnen uns als den nationalen Sicherheitsrat.» Er sah Buster Droth an, aber die erwünschte Reaktion blieb aus. «Aber der Staatssekretär des Außenministeriums gibt nichts preis, was nicht den Justizbereich betrifft. Ich muss erst darüber nachdenken, wie sich das lösen ließe.»

«Ich hatte gehofft, dass du deine Politikerrolle im Büro lassen und nicht zum Essen mitbringen würdest.»

«Was soll das heißen? Glaubst du, es sei so simpel, einfach nur …»

«Jetzt stell dich doch nicht gleich quer, Morgan», fiel ihm Buster Droth ins Wort. «Ich weiß, dass du eine junge Frau aus Norrland flachlegst, die als Referentin im Außenministerium arbeitet. Da musst du ansetzen.»

Morgan Nätterquist blickte auf, und Buster Droth betrachtete ihn amüsiert. «Jetzt schau nicht so erstaunt drein. Das steht dir gar nicht.»

«Verdammt, Buster», flüsterte Nätterquist. «Ich habe Frau und Kinder.»

«Und ein Haus in Lännersta, wenn ich mich recht erinnere. Und mir müssen Frau und Kinder weiß Gott nicht in Erinnerung gerufen werden, Morgan.»

Eine Kellnerin trat an den Tisch und sah die Herren abwartend an. Buster Droth nickte, und sie ersetzte die halbleere Wasserflasche durch eine volle.

«Noch etwas zu trinken, Morgan?», fragte Buster Droth und legte der Kellnerin eine Hand auf den Unterarm.

Dieser schüttelte den Kopf. «Nein danke.»

«Noch einen für mich», sagte Buster Droth und deutete auf sein leeres Whiskyglas.

Morgan Nätterquist betrachtete den Rücken der Kellnerin, bis diese um eine Ecke verschwand.

«Du bist ja plötzlich ganz blass, Morgan.»

«Die Sache gefällt mir gar nicht.»

Buster beugte sich über den Tisch. «Und mir gefällt nicht, dass du dich von mir zu einem feudalen Essen einladen lässt und dich dann zierst, um den Preis für deine Dienste in die Höhe zu treiben. Wenn ich nicht wüsste, dass du einen richtig guten Draht zum Außenministerium hast, dann hätte ich verdammt noch mal jemand anderen zum Essen gebeten.»

Die Kellnerin erschien mit Buster Droths Glas und verschwand ebenso leise, wie sie gekommen war.

«Um welche Informationen geht es?», erkundigte sich Nätterquist resigniert.

«Die üblichen», erwiderte Buster Droth lächelnd. «Die entscheidenden.»

Schlaflosigkeit

1

Tom Martinsson war eigentlich zu müde gewesen, um sich zur Arbeit zu quälen. Seine Rückenschmerzen strahlten in den rechten Arm bis zum Ellbogen aus. In seinem unbeholfenen, benommenen Zustand ging ihm alles nur in Zeitlupe von der Hand. Trotzdem saß er im Präsidium auf Kungsholmen an seinem Schreibtisch. Aus Pflichtgefühl, wie er sich einredete.

Die Müdigkeit hatte zwei Gründe. Zum einen war er die halbe Nacht aufgeblieben, hatte geschrieben und ein paar Gläser Whisky-Soda getrunken. Zum anderen war da die Arbeit.

Er hatte gehört, Bewegung sei schlaffördernd und dass es Leute gebe, die zu diesem Zwecke nachts spazieren gingen. Das lag ihm nicht. Andere lasen. Doch er wusste nicht, was, alles Wesentliche hatte er durch. Außerdem befanden sich alle seine Bücher außer Reichweite, weil er sie zusammen mit seiner Lieblingsmusik, seinem Wein und seinen Winterkleidern eingelagert hatte. Er hatte sich angewöhnt, ein oder zwei ordentliche Whiskys zu trinken und dann den Fernseher einzuschalten. Aber das hatte Albträume verursacht. Und Selbstverachtung.

Deswegen hatte er mit Spoken Word begonnen. Nach fast drei Jahrzehnten bei der Polizei und den letzten Jahren, in denen er sich mit Völkerrechtsfragen beschäftigte, hatte er einiges zu erzählen. Was er nicht gesehen hatte, war nicht zu sehen gewesen. Er war den Anzugträgern im Fernsehen überlegen, wenn es darum ging zu beschreiben, wie sich ein Mann in Ruanda fühlte, der nicht nur seine Familie verloren, sondern auch noch mit angehört hatte, wie sie vorher vergewaltigt und geschlachtet wurde. Derartiges in geeignete Worte zu fassen, hatte seine Nächte beansprucht. Er hatte eine Reihe von Gedichten geschrieben, die er jetzt einüben wollte, um sie bei einem Festival vorzutragen, das in drei Monaten irgendwo im Norden stattfinden würde. Einmal im Leben musste er Mut beweisen. Seine Kollegen hänselten ihn natürlich, aber sie nahmen ohnehin nichts ernst, was außerhalb der Arbeit stattfand, außer vielleicht Billard, Autos oder Frauen. Ihm war das egal. Sie hatten mit seinem Leben nichts zu tun.

Er war spät und angetrunken zu Bett gegangen und hatte dann auch noch schlecht geschlafen.

Er wohnte auf seinem Boot, das über den Winter in der Pampas Marina lag. Er war einundfünfzig Jahre alt. Ein Glück, dass seine Mutter nicht mehr lebte. Sie hätte sich über die miserablen Lebensumstände ihres jüngsten Sohnes zu Tode gesorgt. Frühmorgens hatte er sich im Toilettenspiegel des Fitnessraums betrachtet und den Eindruck gehabt, dass seine Haare mit jeder Woche schütterer wurden. Dass sein Gesicht runder und seine Nase breiter wurde. Bald würden sich Äderchen wie ein Spinnennetz über ihr ausbreiten. Verdammt noch mal, wahrscheinlich bin ich auch noch kleiner geworden, dachte er. Das Einzige, was ihm an seinem Gesicht gefiel und was immer noch unverändert war, waren seine leuchtend blauen Augen sowie seine geschwungene Oberlippe. Diese Dinge hatte seine Frau früher einmal an ihm geliebt. Jetzt liebte sie das Gesicht eines anderen, und deswegen wohnte er auf einem Boot.

Tom Martinsson leitete seit zwei Jahren die Kommission für Völkerrecht und Kriegsverbrechen der Staatskriminalpolizei. Dies war auch der Hauptgrund für seine Schlafstörungen, obwohl auch der mangelnde Komfort des Bootes dazu beigetragen hatte. Er hatte nicht so sehr über die Arbeit an sich nachgegrübelt wie über eine Person, die ihm vor einiger Zeit auf einer der vielen Konferenzen begegnet war. Er sann darüber nach, wozu diese Begegnung geführt hatte. Oder eher, wozu sie nicht geführt hatte.

Er öffnete den obersten Knopf seines karierten Hemds. Es war zerknittert. Bügeln war auf einem Segelboot, wie es sich ein Polizist leisten konnte, schwierig.

Der Mann, der seine Gedanken umtrieb, war ein serbischer Politiker. Er hatte berichtet, dass sich eine Sicherheitsfirma mit schwedischen Verbindungen Anfang der neunziger Jahre während des Krieges in Bosnien schwerer Verbrechen schuldig gemacht hatte. Offenbar waren diese Verbrechen im Auftrag einer Gruppierung der serbischen Miliz begangen und von der serbischen Führung sanktioniert worden. Eine der ersten Fragen, die sich Martinsson gestellt hatte, war natürlich die nach dem Ursprung dieser Informationen gewesen, woraufhin er erfuhr, dass diese aus der Machtzentrale in Belgrad stammen sollten. Da der Informant eine gehobene Stellung in der demokratischen Partei bekleidete, war dies durchaus denkbar.

Seit der Tagung waren fast vier Monate verstrichen, in denen es Tom Martinsson nicht gelungen war, die Informationen zu verifizieren. Immerhin hatte er gewisse Erkenntnisse gewonnen, die ihn ermutigten, weiter zu forschen. Da die Frage äußerst heikel war, hatte er seinen Chef, den Chef der Staatskriminalpolizei, Bo Nathansson, informiert. Er hatte die Ergebnisse mit Nachdruck vorgetragen und Nathansson erläutert, dass ein rascher Beschluss vonnöten sei und Mittel bereitgestellt werden müssten, um diese Sache weiterzuverfolgen. Doch danach hatten sich seltsame Dinge ereignet.

Denn eine Woche später hatte er sich, wie vereinbart, wieder bei Nathansson eingefunden und sich nach dessen Entscheidung erkundigt, und Nathansson hatte erklärt, die Sache – weil sie so heikel sei – an eine «höhere Instanz» weitergeleitet zu haben. Aus genau diesem Grund fiele die Angelegenheit jetzt auch nicht mehr in Martinssons Zuständigkeit.

«In wessen dann?», hatte er gefragt.

Nathansson hatte ihm mit seinem typischen Lächeln geantwortet, die Sache wäre in guten Händen und man würde auf ihn zurückkommen, sofern seine Expertise gefragt sei.

«Man?»

Erneutes Lächeln. «Vergiss die Sache einfach, Tom.» Dann wandte er ihm den Rücken zu. «Befehl.»

Seither hatte er nichts mehr gehört. Eine Woche war vergangen, und er konnte nichts vergessen.

Martinsson war sich ziemlich sicher, dass Nathansson mit «höherer Instanz» nicht den Staatspolizeichef Sten Rohde meinte. Nathansson verachtete Rohde und hielt ihn für einen Pfennigfuchser, der die Polizei nur dann für erfolgreich erachtete, wenn sie ihr Budget nicht sprengte. Musste zu diesem Zweck an der Fortbildung leitender Beamter und am Personenschutz für schwedische Politiker gespart werden, dann war das eben so.

Auch die Sicherheitspolizei wirkte eher unwahrscheinlich, daher nahm Martinsson an, dass es sich um politische Kontakte im Justiz- oder im Außenministerium handelte. Sicherlich hatte Nathansson Rohde bei der Kontaktaufnahme übergangen, da er sich von diesem nicht bevormunden lassen wollte.

Die Situation war nicht unkompliziert. Auch nicht für Nathansson. Rohde war zuvor Beamter im Justizministerium gewesen und besaß daher viele Kontakte in der politischen Sphäre. Falls also Nathansson zu dem Schluss gekommen war, aus politischen Gründen jemanden im Ministerium informieren zu müssen, dann musste er jemanden gewählt haben, der ihm loyaler gesinnt war als Rohde.

Vielleicht zog Nathansson einfach nur vor, dass sich ein anderer als Martinsson mit der Sache befasste, aber das wirkte eher unwahrscheinlich. Kurz gesagt, an der Sache war etwas faul, und das irritierte Martinsson. Das Gewicht der Informationen, die er Nathansson hatte zukommen lassen, erforderte Weiterleitung nach ganz oben, es sei denn, man hatte etwas zu verbergen. Tom Martinsson war zwar nie der durchsetzungsfähigste und intelligenteste Polizist im Lande gewesen, aber sein gesunder Menschenverstand war mehr als ausreichend, und damit hatte er bislang viele Rätsel gelöst.

Die Frage, die ihm den Schlaf raubte und seine Nächte in Anspruch nahm, die er sonst mit Grübeleien darüber verbrachte, was seine Frau und ihr neuer Freund wohl gerade trieben, war, ob er Nathanssons Befehl befolgen oder seine Ermittlung fortsetzen sollte, ohne es zu erzählen.

Rückkehr

1

Der Mann an ihrem Küchentisch hatte ihnen ein paar Tage zuvor eine unglaubliche Geschichte erzählt. Was daran nachprüfbar war, entsprach der Wahrheit. Annie und Max hatten also keinen Grund zum Misstrauen. Positiv war, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Negativ war, dass sie überwacht wurden.

Annie hatte verifiziert, dass Thurston Richards 1941 in Honolulu geboren und in Connecticut aufgewachsen war. In New Haven hatte er das College besucht und dann 1963 in Harvard einen B.A. gemacht. Für die Presseagentur United Press war er zwei Jahre in Vietnam gewesen. Im Jahr 1964 heiratete er Katie Levey und bekam mit ihr einen Sohn, Jack, um sich vier Jahre später wieder von ihr zu trennen. Annie hatte Artikel von Thurston Richards in der New York Times, der Detroit Free Press und im Boston Globe gefunden. Der jüngste war vor drei Jahren erschienen und handelte vom Krieg in Jugoslawien.

Ein Detail, das Thurston Richards ausgelassen hatte, als er sich am ersten Abend vorgestellt und ihnen eine Liste mit Namen und Telefonnummern gegeben hatte, die sie anrufen konnten, um seine Story zu überprüfen, war der Tod seines Sohnes gewesen. Annie hatte herausgefunden, dass Jack nach Boston gezogen war und dort an der University of Massachusetts studiert hatte. Mit zweiundzwanzig hatte er sich in Boston aus Protest gegen den Irak-Krieg mit Benzin übergossen und angezündet. Offenbar hatte sich Thurston Richards zu diesem Zeitpunkt im Irak aufgehalten. Auf der Beerdigung war er gar nicht gewesen.

Thurston Richards informierte Annie und Max, dass ein Mann, der Mikael Storm heiße oder sich zumindest so nenne, sie überwache. Laut eigener Aussage arbeite er für einen gewissen Avram, einen Verbündeten Božko Magaš’. Also für Vitomir Jozak.

Storm befand sich offenbar selbst auf der Flucht vor der schwedischen Justiz, und ihr guter Freund Patrik hatte für sie herausgefunden, dass ihn das Amtsgericht Malmö in seiner Abwesenheit wegen umfassenden Betrugs verurteilt hatte. Storm war entkommen, hatte seinen Komplizen jedoch ins Messer laufen lassen. Er hatte sich mit dem Geld davongemacht, während sein Komplize in Malmö zu sechs Jahren verurteilt worden war und sich jetzt im Kumlaer Gefängnis die Zeit vertrieb. Laut Patrik waren die Anführer einiger bekannter Rockerbanden in die Betrügereien verwickelt gewesen und suchten nun mit größter Wahrscheinlichkeit nach Storm. Das legte aber auch nahe, dass sich Storm mit jemandem verbündet hatte, der brutal genug war, um ihm die Rocker vom Hals zu halten. Also Jozak.

Thurston Richards hatte ihnen außerdem reichlich an Beweisen dafür geliefert, dass ihnen Storm im letzten Jahr tatsächlich auf den Fersen gewesen war. Er beschrieb das Haus, in dem sie an der Ecke Via Azzano San Paolo und Via Roma nur ein paar hundert Meter vom Flughafen Bergamo Orio al Serio entfernt gewohnt hatten. Er erzählte, Storm habe sie danach mittels ihrer Bestellung englischer Bücher bei einem der größeren Internetbuchhändler aufgespürt. Offenbar hatte er den Kundendienst recht mühelos davon überzeugen können, dass er seine Bestellungen kontrollieren wolle. Dafür waren nur eine phonetisch korrekte Version des Namens und ein guter Vorwand vonnöten gewesen.

Max und Annie hatten nicht lange unter falschen Namen gelebt. Sie waren zwar untergetaucht, logen aber so wenig wie möglich. Die falschen Pässe, die sie von Vitomir Jozak erhalten hatten, lagen für Notfälle zuunterst in einer Tasche. Sie hielten es für das Beste, gefälschte Papiere gar nicht erst Teil ihres Alltags werden zu lassen. Stattdessen gaben sie Namen an, die ihren richtigen sehr ähnlich waren. Aus Max wurde Mats. Annie wurde zu Anna. Lander wurde Lundberg.

 

Es war ihre dritte Begegnung. Laut Thurston Richards würde Mikael Storm in ein paar Tagen nach Patras zurückkehren. Vorher mussten einige Entscheidungen getroffen werden.

«Wir glauben dir», begann Annie. «Ich habe mich umgehört und mit einigen der Leute gesprochen, die du mir genannt hast. Wir haben auch Storm überprüft. Wie du auch bereits angedeutet hast, wirkt es, als habe er seinen Kompagnon betrogen.»

«Und dann hat er sich mit der Kohle aus dem Staub gemacht», sagte Richards und schüttelte den Kopf.

«Wir verstehen allerdings nicht so recht, was dich zu uns führt», sagte Max.

«Genügt es nicht, dass ich euch helfen will?», fragte Thurston und lächelte.

«Nein», antwortete Annie.

«Da habe ich ja Glück, dass es noch eine bessere Erklärung gibt», sagte Thurston. «Aber die ist etwas umständlicher. Ich habe eine ganze Weile nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mit dem Anfang beginnen muss.»

«Und der wäre?», wollte Max wissen.

«Was wisst ihr über die Situation im ehemaligen Jugoslawien?» Thurston sah erst Annie an, dann Max.

«Nur das, was ich im Fernsehen darüber gesehen habe», meinte Max. «Mehr nicht.»

«Zu wenig», ergänzte Annie. «Ich gebe das nicht gerne zu, aber wir waren mit anderen Dingen beschäftigt.»

Thurston nickte. «Das ging vielen so, in Europa und auch in meiner Heimat.»

«Aber von einer Journalistin sollte man mehr erwarten können», meinte Annie.

«Da gebe ich dir an und für sich recht», erwiderte Thurston, «aber auch ein Journalist darf gelegentlich geweckt werden, ohne gleich ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil er eingeschlafen ist.» Er rieb sich die Hände und streckte den Rücken durch. «Eine der ersten Geschichten aus Bosnien, die mir zu Ohren kam, handelte von einer Neunjährigen. Das muss irgendwann Mitte 1992 gewesen sein, und ich hatte keinerlei Pläne, noch einmal über einen Konfliktherd zu schreiben. Aber die Geschichte des Mädchens erinnerte mich daran, dass wir hinsichtlich des Bösen zu wenig Phantasie besitzen. Die Geschichte öffnete mir die Augen und schärfte mit einem Mal meinen Blick.»

Er goss sich ein Glas Wasser ein und trank einen Schluck.

«Das Mädchen ist also neun Jahre alt und Muslimin. Sie wohnt in Brčko im Norden Bosniens. Sie wird von serbischer Miliz vergewaltigt. Sie lassen sie vor einem Zaun liegen, damit sie dort verblutet. Auf der anderen Seite des Zauns haben sie ihre Eltern eingesperrt. Diese müssen ihrer Tochter zwei Tage lang beim Verbluten zusehen.»

Er sah Annie an und fuhr fort: «Ich fand, dass es eine der schlimmsten Geschichten war, die ich je gehört hatte. Ich glaubte sie und versuchte, sie zu veröffentlichen, aber niemand wollte sie drucken. Also beschloss ich, weiter zu recherchieren. Recht schnell stieß ich auf ähnliche Geschichten, und mit der Zeit verstand ich, dass Milošević diese Übergriffe zu einem Teil seiner Taktik gemacht hatte. Es begann immer damit, dass die Artillerie ein Dorf unter Beschuss nahm. Dann kam die Infanterie und nahm den Männern ihre Waffen ab. Frauen und Kinder mussten fliehen. Wenn das Militär weiterzog, blieben die Miliz und andere zurück und steckten alles in Brand, vergewaltigten Frauen und plünderten, was noch übrig war. Nach ein paar Stunden war von einem Dorf nicht mehr übrig als ein Haufen Asche voller Leichen und schrecklicher Erinnerungen.»

«Und die Gegenseite?», fragte Annie. «Hatte sie dieselbe Taktik?»

«Das ist eine gute Frage, die sich mit Ja und Nein beantworten lässt. Milošević war der größte Schurke. Ohne ihn hätte es dieses Begräbnis Jugoslawiens nicht gegeben. Ich berufe mich zwar nur ungern auf die CIA als Informationsquelle, aber laut dieser gehen neunzig Prozent der Grausamkeiten auf das Konto der Serben. Ihr könnt ja selber entscheiden, ob ihr diesen Angaben Glauben schenken wollt oder nicht. Ich weiß nur, dass viele Journalisten anfänglich zögerten, sich auf eine bestimmte Seite zu schlagen. Ich allerdings nicht. Viele suchten Belege, dass auf beiden Seiten Grausamkeiten verübt wurden, und stellten zu diesem Zwecke aufwendige Recherchen an. Damit hatte es ein Ende, als wir Zugang zu den Konzentrationslagern der Serben erhielten und die ersten Fotos und Zeugenaussagen publizierten. Damals erfuhren wir auch zum ersten Mal von den Vergewaltigungshäusern.»

«Vergewaltigungshäusern?» Max wurde sichtlich blass.

«Häuser, Lager, in denen die Miliz bosnische Mädchen gefangen hielt und sie vergewaltigte. Ich erinnere mich noch, dass ich mich mit einem Kollegen eines Abends darüber unterhielt, ob das wirklich stimmen könne.»

«Und? Stimmte es?»

«Wir fuhren in die entsprechende Gegend, in der es mehrere solcher Lager geben sollte. Omarska, Trnopolje, Karaterm. Wohin wir auch kamen, erfuhren wir von immer schlimmeren Vorkommnissen. Dass die Grausamkeiten gleichmäßig verteilt seien, darauf beharrte nach wie vor nur die amerikanische Regierung. Das wirkte schon damals lächerlich. Anfänglich behaupteten Bush und sein Pack, dass sich Serben und Bosnier bereits seit fünfhundert Jahren hassten und dass niemand außer ihnen selber den Konflikt lösen könne, dann übernahm Clinton diese idiotische Doktrin. Er und Gore erdreisteten sich sogar, bei Larry King zu behaupten, Serben und Bosnier stritten bereits seit tausend Jahren.»

«Und aus welchem Grund?», fragte Max.

«Weil sie keine jungen Amerikaner nach Bosnien schicken wollten, denn dieses Land war den USA vollkommen egal. Erste Vergleiche mit Vietnam wurden laut, die amerikanische Bevölkerung blieb gleichgültig. Die betroffene Region war für die USA wirtschaftlich nicht von Interesse, und der Krieg wurde auf unwegsamem Terrain ausgetragen. Die Vergleiche mit Vietnam ließen jeden amerikanischen Politiker erschauern, dann ging er zum nächsten Punkt der Tagesordnung über. Um entsprechende Kritik zu vermeiden, schickten die USA Truppen nach Somalia, um der Welt zu demonstrieren, dass sie keineswegs davor zurückschreckten einzugreifen und dass der Beschluss, sich aus Bosnien rauszuhalten, nichts mit dem Umstand zu tun habe, dass die Bosnier Moslems seien. Das war natürlich Blödsinn. Der Einsatz in Somalia hatte jedoch zur Folge, dass Milošević nun kein Eingreifen der USA mehr befürchten musste, da diese anderweitig ausreichend beschäftigt waren. Er erhielt also im Großen und Ganzen grünes Licht, wie gehabt weiterzumachen. Miloševićs Scharfschützen schossen gezielt auf UNO-Soldaten und bewegten sie damit zur Heimkehr. Weiter würde nichts passieren. Dann nahmen sie Srebrenica ein. Das folgende Entsetzen entsprach jenem nach My Lai. Die Umwelt wusste, dass die Serben zu den abscheulichsten Taten fähig waren, aber ihrer Phantasie waren Grenzen gesetzt. Nach Srebrenica hielten selbst die Quäker und Human Rights Watch ein militärisches Eingreifen für richtig, um alldem ein Ende zu bereiten.»

«Und welche Entdeckung führte dich hierher?», wollte Annie wissen.

«Im Jahr 1995 geschah etwas: Ganz unerwartet gelang es der kroatischen Seite, die serbischen Truppen zurückzutreiben, die daraufhin von der Nato drei Wochen lang bombardiert wurden. Plötzlich hatte Milošević schlechtere Karten, und im Nu saßen alle in Dayton, um über einen Frieden zu verhandeln. Kurz darauf stellte sich heraus, dass die kroatische Seite von einem amerikanischen Unternehmen Hilfe erhalten hatte.»

Thurston sah Max und Annie an.

«Einem amerikanischen Unternehmen?», fragte Max.

Thurston nickte.

«Das den Kroaten auf welche Weise half?», fragte Annie.

«Mit militärischer Ausbildung, personeller Unterstützung und sicherlich, trotz Embargo, auch mit Waffen. Die Beteiligung an dem Einsatz steht außer Zweifel, obwohl sich das fragliche Unternehmen nicht dazu bekannt hat, denn die Kroaten haben sich anschließend für die Unterstützung bedankt. Außerdem versuchte dann auch die bosnische Seite, dieses Unternehmen anzuheuern.»

«Söldner?»

Thurston beugte sich über den Tisch. «Söldner hat es ja schon immer gegeben. Aber in diesem Fall handelte es sich nicht nur um verrückte französische Fremdenlegionäre, die den Krieg erleben wollten, sondern um richtige Unternehmen, die Teil größerer Konzerne sind und die ihre Leute an alle Seiten des Konflikts vermieteten. Derartige Unternehmen aus Nato-Ländern kämpften also bei den Serben, den Bosniern und den Kroaten mit, und neunzig Prozent ihrer Angestellten waren ehemalige Berufssoldaten. Als die Nato schließlich eingriff, lief sie Gefahr, eigenen Leute, die man selbst ausgebildet hatte, gegenüberzustehen.»

«Die an allen Grausamkeiten beteiligt waren», sagte Annie.

Thurston nickte.

Annie fuhr fort: «Amerikanische Soldaten zogen also für Milošević in den Krieg und waren bei Kriegsverbrechen anwesend oder begingen sie sogar selbst.»

«Genau», erwiderte Thurston. «Dies ist auch der Grund dafür, dass ich mich nach wie vor mit diesem Konflikt befasse. Die USA verzichteten darauf, Menschen in Not beizustehen. Gleichzeitig schickten amerikanische Firmen Söldner in diesen Krieg, die die Lage nur noch verschärften. Genau wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und andere Länder. Dort war es genau dasselbe. Es gibt Zahlen, die besagen, dass die Truppen aller Seiten zu zehn Prozent aus Ausländern bestanden, aber schon da …»

«Rein hypothetisch», unterbrach ihn Annie und klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tisch, «könnte die von dir erwähnte Neunjährige von einem französischen oder amerikanischen Soldaten vergewaltigt und ermordet worden sein, dessen Arbeitgeber, ein Unternehmen, dafür bezahlt wurde?»

Thurston nickte bedächtig. «Diesem Mädchen, diesem Unternehmen und diesem Soldaten gilt meine Suche. Über diese Personen will ich berichten, bis die ganze Welt von ihnen weiß.»

«Worauf wartest du noch?», fragte Annie und breitete die Arme aus.

«Ich muss sie erst finden», antwortete Thurston Richards. «Darum bin ich hier.»

«Und?»

«Ich brauche eure Hilfe.»

2

Söldner waren nichts Neues. Schon in der Bibel wurde beschrieben, wie der Pharao die Israeliten mit Hilfe einer Armee, die zum Teil aus verdingten Ausländern bestand, aus Ägypten vertrieb. Mit der Zeit organisierten sie sich zu Gesellschaften. Es dauerte bis zur französischen Revolution und zu Napoleon, ehe die Rolle der Söldner jedenfalls vorübergehend ein Ende nahm. Aber die Zeit verging, und die Einzigen, die dann Lincoln bei seiner Amtseinführung beschützen wollten, kamen von der privaten Firma Pinkerton. Während der Kolonisierung in den 1950er und 1960er Jahren hatten die Söldner dann wieder sehr viel zu tun. Im Kongo beschäftigten die Grubenunternehmen Privatarmeen, die sogenannten Les Affreux.

Der globale Frieden, von dem man Ende der achziger Jahre geträumt hatte, blieb aus. Es kam im Gegenteil noch schlimmer. Wo man Licht erwartet hatte, senkte sich Finsternis. Nach Ende des Kalten Krieges verdoppelte sich die Zahl der Bürgerkriege. Die staatlichen Armeen reduzierten die Zahl ihrer Soldaten nach 1989 um sieben Millionen, sieben Millionen Menschen, die plötzlich ein Einkommen benötigten. Amerikaner, Russen, Südafrikaner. Fast siebzig Prozent der ehemaligen KGB-Agenten schlossen sich den Privatarmeen an. Wenn sie nur die Hand ausstreckten, erhielten sie eine Waffe. Und Waffen gab es viele. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde das Waffenarsenal der DDR auf dem Flohmarkt verhökert. Ein Maschinengewehr war schon für sechzig Dollar zu haben. Die Privatarmeen bewaffneten sich, die Kartelle in Kolumbien sogar bis zu den Zähnen. Bereitwillig zahlten sie vierzigtausend Dollar für einen T-55-Panzerwagen. Es wurden auch weiter Waffen produziert, und so fielen die Preise für Gebrauchtwaffen immer weiter. Eine halbe Milliarde Handfeuerwaffen waren auf dem Markt, und in Kenia war eine AK-47 zum Preis einer Ziege zu haben.

Nach Verschwinden der beiden Supermächte erhielten eine Menge Staaten keine Hilfe mehr. Somalier und Bosnier lernten, dass die USA nur sehr widerwillig eingriffen, von Europa ganz zu schweigen. Europa schaute nur mit den Händen in den Hosentaschen zu. Wie Kissinger einmal sagte: «Welche Telefonnummer hat überhaupt Europa?» Das Mandat der UNO wurde aufgeweicht. Anfang der neunziger Jahre hatte es noch über 80000 Blauhelme gegeben. Dann kamen Bosnien, Somalia und Ruanda, und die UNO rüstete ab.

Das war die Stunde der PMEs, der Private Military Enterprises. Diese waren wie alle anderen Unternehmen organisiert, mit dem Unterschied, dass ihr Tätigkeitsfeld in einem Bereich angesiedelt war, auf den früher die Staaten das Monopol gehabt hatten: den Krieg. Das Geschäft lief gut. Die Firmen, die Thurston kannte, bedienten Kunden im gesamten moralischen Spektrum – von Diktatoren über Rebellengruppen und Rauschgiftkartellen bis hin zu souveränen Staaten, geachteten Multis und humanitären Organisationen. Es gab sie auf der ganzen Welt, und mit London als inoffiziellem Zentrum waren sie auf der ganzen Welt tätig. Viele PMEs besaßen eine schöne Zentrale in London, hatten aber den Geschäftssitz auf den Bahamas oder den Cayman Islands. Diese Firmen hießen Omega Support, Panasac, White Plains, Bridge Resources oder Longreach PTY Ltd. Der Kurs der an der Börse notierten Firmen hatte bislang in den neunziger Jahren das Doppelte des Dow Jones zugelegt.

«Wie verdienen sie ihr Geld?», fragte Annie. Sie saßen immer noch, mitgenommen von dem, was Thurston ihnen erzählt hatte, am Tisch.

«Es liegt in der Natur der Sache, dass nicht alle Kunden liquide sind. Aber das heißt nicht, dass sie nicht bezahlen könnten. Nehmen wir einmal die englische Firma BH, die in Südafrika registriert ist, aber einer Holding mit einem Büro an einer noblen Adresse in London gehört. Diese Holding besitzt auch eine Reihe Gruben und Ölquellen in aller Welt. Gleichzeitig ist sie Mitbesitzerin einer Firma, der Diamond Group, die ihrerseits an der Börse in Kanada notiert ist. Wir stellen uns also vor, dass die erste Firma, BH, einen Auftrag in Sierra Leone oder in Bosnien übernimmt. Da es kein Geld zum Bezahlen gibt, erhält BH die Konzession für eine Erzgrube, ein Ölvorkommen oder etwas Ähnliches. Die Holding vermittelt das Geschäft zwischen BH und der Diamond Group, und diese kauft die Konzession. BH bekommt das Geld, der Kunde seine Privatarmee, und die Diamond Group kann ihren Aktionären eine Neuerwerbung präsentieren.»

«Funktioniert das so?»

«Leider. Viele der Größten gehören den Multis mit einer großen Produktpalette außerhalb der Branche. So kommt es wiederum zu interessanten Verbindungen.»

«Zum Beispiel?»

«Etwa Vinnell. Die fingen als Bauunternehmen an und bauten unter anderem das Dodger Stadium, sind aber jetzt fast ausschließlich eine Militärfirma. Das saudi-arabische Regime ist Vinnell-Kunde. Vinnell ist ein Tochterunternehmen von BDM. Besitzer von BDM ist die Carlyle Group, wo Frank Carlucci, der Verteidigungsminister unter Reagan, im Aufsichtsrat sitzt. Wahrscheinlich wird der ehemalige Präsident George H.W. Bush demnächst dort Senior Advisor. Das sind interessante Verbindungen.»

«Also», meinte Annie, «Firmen, die in Kriegsverbrechen verwickelt sind, Firmen, die sich auf zweifelhafte Art bezahlen lassen, Firmen, die Multis gehören. Du hast versucht, das aufzudröseln. Also noch einmal: Warum bist du hier? Inwiefern können wir dir helfen? Und wie kommst du auf die Idee, dass wir überhaupt daran interessiert sind?»

Thurston lächelte. «Eine dieser Firmen gehört deinem Bruder.»

3

Annie betrachtete die Schatten an der Decke. Sie dachte an ihren kleinen Jungen. Er fehlte ihr unglaublich, aber so wie sich die Situation in den letzten Jahren gestaltet hatte, hatten sie ihn nicht mitnehmen können, darüber waren Max und sie sich einig gewesen. Trotzdem fragte sie sich ständig, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Sie hatte sich auch tausend Mal gefragt, ob es damals richtig gewesen war, den Morden an den Mädchen nachzugehen. Die Antwort hatte jedoch immer Ja gelautet.

Man hatte sie auf dem Gut Töversta eingesperrt, bis Max sie gefunden hatte und Chaos ausgebrochen war. Drei Männer, die für Vitomir Jozak gearbeitet hatten, einer von ihnen sein Bruder, waren kurz nach Max in Töversta eingetroffen. Es war zu einer Schießerei gekommen, und Kay Orha und der zweite Polizist, von dem sie später erfahren hatte, dass er Göran Theorin hieß, hatten diese nicht überlebt. Jozaks Männer hatten Max und sie aus Töversta fortgebracht. Kurz darauf war ein Polizist auf das Gut gekommen und hatte die beiden Leichen der Polizisten dort gefunden. Er hatte ein Fahrzeug observiert. Ihres. Später war der Tod der beiden Polizisten nach Verwechslungen und Vertuschungen Max als Mord in die Schuhe geschoben worden, um zu verbergen, was die beiden Polizisten verbrochen hatten.

In diesem Augenblick war etwas in ihr gestorben, und während all der Jahre auf der Flucht hatte sie nie mehr den Ehrgeiz verspürt, der früher ihr Leben bestimmt hatte. Erst jetzt wieder. Thurstons Geschichte hatte wieder die Lust in ihr geweckt, der Wahrheit auf den Grund zu gehen und denjenigen, der die Schuld trug, bezahlen zu lassen.

Sie setzte sich im Bett auf.

Dein Bruder, dachte sie. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr je zuvor jemand in die Augen gesehen und diese Worte ausgesprochen hatte. Sie konnte der Sache allerdings weiterhin den Rücken zukehren und Buster Droth ohne ihre Einmischung ungestört seinen Machenschaften überlassen. Aber das gedachte sie nicht zu tun.

4

Martinsson saß in einem Pub in der Rörstrandsgatan und hatte bereits zwei Bier getrunken. Der Mann, den er treffen wollte, hatte ihm mitgeteilt, er würde sich verspäten, und es gab keinen Grund, einfach dazusitzen und in die Luft zu starren. Also hatte er den Barkeeper gebeten, ihm ein Bier zu servieren, das er noch nie probiert hatte. Ein Ale aus Schottland, das offenbar in einer der wenigen Brauereien gebraut wurde, die noch nicht an einen der Konzerne verkauft worden waren.

Martinsson wollte seinen ehemaligen Kollegen Engwall treffen. Dieser war vor ein paar Jahren in den privaten Sektor gewechselt und inzwischen im mittleren Management eines der größten schwedischen Sicherheitsunternehmen tätig. Zufälligerweise kümmerte sich diese Firma auch um die Bewachung der Regierungsgebäude. Man führte die Listen über die Besucher der verschiedenen Ministerien. Statt also offiziell anzufragen und so eine Menge Staub aufzuwirbeln, hatte Martinsson seinen ehemaligen Kollegen angerufen und ihn um einen Gefallen gebeten. Die Firma hatte ihre Zentrale im Norden Kungsholmens, und der Pub lag für Engwall mehr oder weniger auf dem Heimweg.

Soweit Martinsson wusste, existierte eine Besucherliste pro Gebäude. Eine Liste konnte also Besuche bei mehreren Ministerien umfassen. Wenn seine Theorie stimmte, dass Nathansson die Politik meinte, wenn er von «höherer Instanz» sprach, konnte es nur um das Außen- oder das Justizministerium gehen, und deswegen hatte Martinsson zu seinem ehemaligen Kollegen gesagt, er interessiere sich für das Objekt Rosenbad 4.

Engwall trat ein und sah sich um. Martinsson erhob sich und winkte.

«Raschen Schrittes wie immer», meinte er und streckte die Hand aus.

«Und du bist wie immer der Schmeichler», antwortete Engwall und schüttelte Martinsson die Hand.

«Nimm Platz», sagte Martinsson und setzte sich wieder. «Ich kann dir ein Bier empfehlen, das du sicher noch nicht kennst.»

«Leider kann ich nicht bleiben», erwiderte Engwall. «Krise zu Hause. Du weißt, wie das ist.»

Allerdings, dachte Martinsson. Das weiß ich. «Okay, dann eben beim nächsten Mal.»

Engwall zog einen Umschlag aus der Innentasche und legte ihn auf den Tisch. Dann beugte er sich zu Martinsson vor. «Nächstes Mal ist eine Einladung zum Essen fällig, Tom, allerdings etwas Edleres und kein Pub.»

5

«Ich bin dazu bereit», sagte Annie und berichtigte sich, noch ehe Thurston etwas entgegnen konnte. «Wir sind bereit.»

Thurston wirkte zufrieden. «Auf diese Antwort hatte ich gehofft, und ich muss wohl nicht extra darauf hinweisen, dass ihr euch auf eine ziemlich gefährliche Recherche einlasst.»

«Dir ist vielleicht noch nicht aufgefallen, wie wir leben», meinte Max.

«Doch, durchaus», sagte Thurston. «Aber wir befinden uns in Griechenland, und dort kann es gefährlich sein, die serbische Kriegsführung zu kritisieren. Ich habe serbische, bosnische und kroatische Freunde und mache keine Unterschiede. Aber meiner Meinung nach sollte die serbische Militärführung vorzugsweise so bald wie möglich vor Gericht gestellt werden. Aber in dieser Frage gehen meine Ansicht und die des alten Griechenland auseinander.»

«Und welcher Ansicht sind die Griechen?», wollte Annie wissen.

«Die Griechen halten zu Karadžić und Milošević und zwar nicht nur die Politiker, die Kirche und die Medien, sondern auch die Bevölkerung.»

«Warum das?», fragte Max.

«Gewohnheit, vermute ich. Sie haben Verständnis für Nationalismus. Die glauben doch selbst, dass sie direkt von den Göttern abstammen.» Er lachte.

Im Sommer 1993 hatte der Patriarch Serapheim Radovan Karadžić persönlich eingeladen und ihn im Fußballstadion von Piräus unter freiem Himmel geehrt. Nach Beginn der Beschießung von Sarajewo hatte kein einziger bekannter griechischer Politiker, Geschäftsmann, Entertainer, Geistlicher, Filmregisseur, Schriftsteller oder irgendeine andere öffentliche Person den Mut oder das Herz besessen, die Taten des serbischen Militärs zu verurteilen. Thurston Richards Traum von Griechenland war schon lange verlorengegangen. Sein Traum von Europa ebenfalls. Das Urteil über seine eigene Heimat hing noch in der Schwebe.

«Außerdem sind sie gegen die Nato und die USA.»

«Aber sie sind doch selbst in der Nato», wandte Annie ein.