BEUTEZEIT - Manche Legenden sind wahr - Lee Murray - E-Book

BEUTEZEIT - Manche Legenden sind wahr E-Book

Lee Murray

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Beschreibung

In Neuseeland werden der Armeesergeant Taine McKenna und sein Trupp damit beauftragt, eine Gruppe Wissenschaftler in den Te-Urewera-Nationalpark zu begleiten. Eine ungewöhnliche Aufgabe für das Militär, obwohl die Wälder mit ihrem dichten Nebel und steilen Hängen tückisch sein können und zudem militante Separatisten in der Gegend ihr Unwesen treiben. Doch nichts konnte Taine und seine Männer auf die tatsächliche Gefahr vorbereiten, die sie dort erwartet. Ein Monstrum aus vergangener Zeit … oder ein real gewordener Dämon aus den Mythen der Maori? Panisch tritt die kleine Gruppe ihre Flucht zurück in die Zivilisation an, verfolgt von einer prähistorischen Kreatur, die einen nach dem anderen ausschaltet. Mit Waffen, die sich gegen diese Bestie wirkungslos zeigen, wird der anfängliche Babysitter-Job zu einem erbitterten Kampf ums Überleben … "Filmisch und atmosphärisch … BEUTEZEIT ist eine spannungsgeladene Expedition in eine Welt prähistorischen Terrors." - Adrian Shotbolt, The Ginger Nuts Horror

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BEUTEZEIT

Manche Legenden sind wahr

von Lee Murray

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: INTO THE MIST. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2018. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: INTO THE MIST Copyright Gesamtausgabe © 2020 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Peter Mehler Lektorat: Astrid Pfister

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-534-7

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

BEUTEZEIT
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Über die Autorin
Glossar

Kapitel 1

Te Urewera, Ende März

»Wie wäre es mit einer Pause?«, rief Terry hoffnungsvoll, schob sich seinen Hut in den Nacken und wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn. An seinem Fußballen hatte sich bereits eine wunde Stelle gebildet, die sich in eine beschissen große Blase verwandeln würde, wenn er sich nicht bald darum kümmerte. Vor ihm, und teilweise von dem Dickicht verdeckt, kämpfte Cam gegen einen besonders aggressiven Baumfarn an. Er drehte sich nicht um.

»Cam!«, rief Terry, dieses Mal lauter. »Gönn‘ uns eine Verschnaufpause!«

Cam zögerte und hielt mit einem Arm die fächerförmigen Äste zurück. »Was sagtest du?«

»Pause!«

»Ach was. Ich denke, wir sollten uns noch etwas weiter vorarbeiten. Die Hütte kann nicht mehr weit sein. Wenn wir sie gefunden haben, schlagen wir unser Lager auf.«

Cam ließ den Ast los und duckte sich darunter hindurch. Wieder frei, schwang der Zweig in seine ursprüngliche Position zurück und peitschte in Terrys Gesicht.

»Au!«

»‘tschuldigung.«

Cam war bereits wieder in Bewegung. Die Art, mit der er sich durch das Unterholz bewegte, erinnerte an den Schwanz einer Schlange. Ächzend griff Terry nach den Trageriemen seines Rucksacks und warf ihn sich wieder auf die Schultern.

Vielleicht hätte er es sich zweimal überlegen sollen, bevor er wieder in einen von Cams verrückten Plänen einwilligte. Aber Cam und er waren schon seit Schulzeiten beste Freunde – und in Cams Gegenwart fühlte sich Terry immer erst so richtig lebendig. Eine Wildwanderung war die neueste Herausforderung auf Cams Liste der Dinge, die sie unbedingt unternehmen wollten. Wenigstens hatten sie dieses Mal dabei festen Boden unter den Füßen. Bei ihrem Tandemsprung hatte sich Terry beinahe bepisst. Und beim Wildwasser-Rafting hatte er sich tatsächlich bepisst, doch das Wasser und der Neoprenanzug hatten ihm glücklicherweise dabei geholfen, seine Würde zu wahren.

Ihr erster Wanderausflug war ein Tagesmarsch im Abel-Tasman-Nationalpark gewesen, ein hügeliger Küstenpfad aus sandigen Stränden, hölzernen Stegen und Buschwegen. Terry und Cam waren zeitig aufgebrochen und hatten den vierunddreißig Kilometer langen Weg in unter sechs Stunden zurückgelegt. Ihr zweiter Ausflug hatte länger gedauert – die berühmte viertägige Kepler-Rundwanderung in der Nähe der Stadt Te Anau. Nach einem halben Tag hatten sie bereits den 1490m hohen Mount Luxmore über ihnen aufragen sehen, was die ausländischen Touristen in ihrer Gruppe zu andächtigen »Oohs« und »Aahs« animiert hatte. Cam aber hatte sich jedes Mal beschwert, wenn er eines der gelben Hinweisschilder erblickte. Für ihn war die Route selbst vollbepackt noch viel zu verdammt einfach gewesen. Immer wieder murrte er, dass selbst eine Pfadfinderin diesen Ausflug gemeistert hätte … in einem Doppelstockbus.

Das war ihr letzter Urlaub gewesen, vor einem halben Jahr. Seither hatte Cam Terry in den Ohren gelegen, den Schwierigkeitsgrad anzuziehen. Sich aus ihrer Komfortzone zu wagen. Und dann war ihm die Idee mit der zweiwöchigen Wanderung durch die Te-Urewera-Wälder gekommen.

»Das wird großartig«, hatte Cam gesagt. »Mal was Anspruchsvolles. Nicht dieser verweichlichte Touristenkram.«

Terry hatte sofort eingewilligt. Hatte darüber keine Sekunde nachdenken müssen. In seiner Firma wurde gerade umstrukturiert und die Stimmung im Büro war ohnehin miserabel. Drauf geschissen, wenn sein Job bei seiner Rückkehr nicht mehr auf ihn wartete, dachte Terry. Dann würde er eben eine Weile von der Stütze leben und sich nach etwas anderem umschauen. Terrys Eltern hatten sich darüber natürlich ausgelassen, aber das ging ihm am Arsch vorbei.

Er war achtundzwanzig.

Und ultrahammermäßig verantwortungsbewusst.

Für diesen Trip hatten er und Cam die Langzeitwettervorhersagen geprüft, sich mit geborgter Ausrüstung versorgt und sogar Cams Schwester ihre geplante Route übergeben. Und bislang war alles auch nach Plan verlaufen, bis heute, als Cam beschloss, vom Wanderweg abzuweichen – nicht zu weit, vielleicht nur einen oder zwei Kilometer, und sich ein wenig durchs Dickicht zu wagen. Das hatte Spaß gemacht, ein echter Adrenalinkick. Cam verhielt sich wie ein Hund, der an seiner Leine zerrte und es nicht erwarten konnte, den nächsten Hügel zu erklimmen, das nächste Tal zu erreichen und um die nächste Ecke zu biegen. Er hatte sie durch den dicht bewachsenen Wald vorangetrieben, durch das Dickicht und durch tiefe, mit Farnen bewachsene Täler, die nicht danach aussahen, als ob sich je ein Mensch hindurchgewagt hätte. Terry liebte es. Zu Anfang. Doch jetzt ließen seine Geduld und die Belastbarkeit seiner Füße zusehends nach.

»Hey, sieh dir das an!«, rief Cam. Er deutete auf ein paar seltsam kugelförmige Felsen, die aus einer lehmigen Böschung ragten. »Könnte sich vielleicht um versteinerte Moa-Eier handeln, die freigelegt wurden, als ein Teil der Böschung absackte. Sieht frisch aus. Vielleicht ist es während des großen Erdbebens im letzten August passiert. Stell dir nur mal vor Terry, wir sind vielleicht die einzigen Menschen der Welt, die diese Eier zu Gesicht bekommen.«

»Wenn es Eier sind«, antwortete Terry unsicher. Er lief zu der Böschung, um sie näher in Augenschein zu nehmen.

»Natürlich sind es Eier. Was sollte es denn sonst sein?«

»Felsen?«

Cam lachte und hieb ihm auf den Rücken. »Du hast einfach keine verdammte Fantasie, Terry. Das ist dein Problem.«

Terry zuckte mit den Schultern. Eingegraben im lehmigen Boden sahen die Felsen tatsächlich wie das Gelege von Vögeln aus. Cams Mutmaßung war also so gut wie jede andere, wenn man sich vor Augen führte, dass die Region in grauer Vorzeit einmal ein Sumpfgebiet gewesen war. Vielleicht hatte ein Moa vor Ewigkeiten tatsächlich einmal hier seine Eier abgelegt. »Sollten wir den Fundort markieren und die Parkranger informieren?«, fragte Terry, der sich langsam für die Moa-Eier-Theorie zu erwärmen begann.

Cam schüttelte den Kopf. »Die lagen all die Jahre hier versteckt, was machen da noch ein paar tausend Jahre mehr? Lassen wir sie einfach in Ruhe.«

Sie wanderten weiter, und die wunde Stelle an Terry Fuß meldete sich immer lautstarker, während der Nachmittag verging. Aber noch unangenehmer als sein Fuß nagte der Verdacht an Terry, dass sie sich womöglich verlaufen hatten. Diese kleine Lichtung sah genau wie jene aus, an der sie vorhin vorbeigekommen waren. Sie hätten die Hütte längst erreicht haben müssen. Wahrscheinlich hatten sie diese nur um wenige Meter verfehlt, ohne es bemerkt zu haben. Was leicht passieren konnte. Stellenweise war der Wald so dicht wie Schaumstoff. Und es wimmelte auch nicht gerade von Menschen. Terry und Cam waren bislang nur zwei weiteren Wanderern begegnet – einem alten Mann und möglicherweise seinem Sohn – und das war vor zwei Tagen gewesen.

Die Nachmittagssonne verlor bereits an Intensität, als Cam schließlich stehenblieb und die Karte aus der Seitentasche seines Rucksacks zog. Mit seinem Fuß gegen einen flachen Felsen gestemmt, studierte er sie.

»Wo zur Hölle sind wir?«, fragte Terry und spähte über Cams Schulter.

»Weiß der Geier«, antwortete Cam. Mit seinem schmutzigen Zeigefinger deutete er auf ein Gebiet in der Größe eines kleinen Geldstückes. »Irgendwo hier. Wir müssen die Hütte verpasst haben. Wahrscheinlich sind wir vom Weg abgekommen, als wir diese Schlucht passierten.«

Oder vielmehr, als du den Wanderweg links liegen gelassen hast.

»Hast du es mal mit deinem Handy versucht? Vielleicht haben wir noch ein Signal.« Terry bemühte sich, ruhig und gefasst zu klingen.

»Um was zu sagen? Wäähhh, bitte holt uns hier raus? Wir haben noch genug zu essen für ein paar Tage, und jede Menge warmer Kleidung. Vielleicht versuchen wir erst einmal, uns selbst aus diesem Schlamassel zu retten, bevor wir gleich um Hilfe rufen, okay?«

»Was schlägst du vor?«, fragte Terry.

»Für heute«, sagte Cam und faltete die Karte mehr oder weniger gut zusammen, »würde ich vorschlagen, wir suchen uns einen Platz zum Zelten, essen etwas und ruhen uns aus. Morgen erkundigen wir ein wenig die Umgebung und ziehen weiter, wenn wir wissen, wo genau wir uns befinden. Ich wette, dass wir bis zum Mittag wieder unseren Weg gefunden haben.«

Sie schlugen ihr Zelt auf einer Anhöhe über einem kleinen Bach auf, und wenig später loderte auch schon ein pyramidenförmiges Lagerfeuer auf der kleinen Lichtung. Während Cam den Tee kochte, setzte sich Terry auf einen flachen Stein, zog seinen Stiefel aus und untersuchte die geschwollene Blase an seinem Fußballen.

Mist, die wird morgen wehtun.

Das Licht wurde schwächer, und er kramte in seinem Rucksack nach dem Verbandskasten, um damit seine Wunde zu versorgen. Als er das Erste-Hilfe-Set wieder verstaute, reichte ihm Cam eine Tasse mit heißem Tee.

»Runter damit, Kumpel.«

Terry legte seine Hände um die warme Tasse und blies über die dampfende Flüssigkeit. Das Feuer knackte, ein Geräusch wie das Öffnen einer Limonadendose, und die Fanta-farbenen Flammen erhellten den Zeltplatz. Fasziniert nippte Terry an dem heißen Getränk und kam zu dem Schluss, dass alles halb so wild war. Sie hatten sich nicht wirklich verirrt, sondern wussten im Moment nur nicht so genau, wo sie sich befanden. Cam hatte recht. Alles, was sie brauchten, war eine Mütze voll Schlaf. Morgen würden sie weitersehen.

***

Als Terry erwachte, bemerkte er, dass der Platz neben ihm leer war. Er tastete nach seiner Uhr und sah nach der Zeit. 00:23 Uhr. Cam musste pinkeln gegangen sein. Terry hörte, wie er vor dem Zelt herumstapfte. Meine Güte, Cam, wie schwer kann es sein, einen Platz zum Pissen zu finden? Terry stemmte sich auf den Ellbogen und gab seinem Kissen – oder vielmehr dem Haufen aus schmutziger Wäsche – einen Klaps, um ihn in eine komfortablere Form zu bringen, und rutschte ein wenig zur Seite, um das lästige Piesacken loszuwerden, dass sich durch die Unterlegplane in seine Hüfte bohrte. Danach grub er sich tief in seinen Schlafsack ein und zog sich den Stoff bis übers Kinn. Er war beinahe wieder im Land der Träume angelangt, als Cams Schrei durch die Nacht hallte.

»Herrgott, Camp!« Terry kroch aus seinem Schlafsack und stürmte aus dem Zelt. Dann blieb er stehen. Der Zeltplatz war ein Flickenteppich aus Schatten, das Lagerfeuer längst erloschen.

»Cam?«

Nichts. Meilenweit von jeglicher Zivilisation entfernt, erschien ihm die Stille gespenstisch, so als würde der Wald selbst den Atem anhalten.

»Cam?«, rief Terry erneut. »Hör mit dem Quatsch auf, okay? Du machst mir eine Scheißangst.«

Die Luft wog seltsam schwer. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.

»Cam, geht es dir gut?«, fragte er und griff hinter sich, unter die Zeltplane, nach seinen Stiefeln. Er lauschte angestrengt und vernahm ein entferntes Rascheln. Ohne sich mit den Schnürsenkeln aufzuhalten, schlüpfte er in die Stiefel und zuckte kurz zusammen, als er sich seine Blase anstieß. Danach durchquerte er den Zeltplatz in Richtung des Geräusches. Dabei tastete er sich vorsichtig voran, prüfte zuerst die Beschaffenheit des Untergrundes, bevor er den Fuß absetzte. Camp hatte vorhin ziemlichen Krach geschlagen, als er hier draußen herumgestapft war. War er vielleicht über ein Erdloch gestolpert und hatte sich dabei selbst ausgeknockt? Oder hatte er sich vielleicht zu weit von ihrem Zeltplatz entfernt und fand nun nicht mehr zurück? Wobei, wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er sicherlich nach ihm gerufen. Terry kam zu dem Schluss, dass Cam sich verletzt haben musste. Was aber musste in Cam gefahren sein, um im Dunkeln auf Tiki-Tour zu gehen? Man musste schließlich nicht aus allem gleich ein verdammtes Querfeldein-Abenteuer machen. Wieso konnte er nicht einfach in die Büsche hinter dem Zelt pinkeln? Terry stieß sich das Knie an einem Felsen an.

»Fuck!«

Moment. Da war noch ein Geräusch zu hören. Ein Wimmern …

»Cam? Kannst du mich hören?« Terry blieb wie angewurzelt stehen, lauschte nach seinem Freund und versuchte die Panik zu unterdrücken, die sich in seinen Eingeweiden ausbreitete. Totenstille. Cam muss bewusstlos sein. Terry hoffte, dass es nichts Ernstes sein würde. Er beschleunigte sein Tempo, versuchte sich seinen Weg durch die Finsternis zu bahnen, aber in Gedanken war er bereits woanders. Wie sollten sie wieder aus dem Busch kommen, wenn Cam verletzt war? Wahrscheinlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Köpfe einzuziehen und ein Such- und Rettungsteam anzufordern. Vorausgesetzt, dass sie hier draußen Empfang haben würden. Aber selbst wenn sie durchkämen und jemanden erreichten, hatte Terry keine Ahnung, wo sie sich gerade befanden. Der Waldpark erstreckte sich über mehr als zweitausend Quadratkilometer. Es würde Tage dauern, bis man sie fand.

Terry schüttelte den Kopf, verärgert darüber, dass seine Fantasie mit ihm durchging. Zuerst einmal musste er Cam finden. Darüber, wie er ihn aus dem Wald schaffen konnte, würde er später nachdenken.

Am Rand ihres Lagers stolperte Terry über einen umgestürzten Baumstamm, schrammte sich das Kinn auf und landete mit dem Kopf voran in einem schwammigen Farngestrüpp. Benommen und verwirrt rappelte er sich wieder auf und tastete im Dunkeln nach dem Hindernis, um nicht ein zweites Mal darüberzufallen. Seine Finger berührten einen Stiefel. Terry spürte einen Anfall von Erleichterung. Cam war offenbar über den gleichen Stamm gestolpert.

»Cam«, rief er erleichtert. »Is‘ schon okay, Kumpel, ich hab dich gefunden. Alles wird gut.«

Cam antwortete ihm nicht und bestätigte damit Terrys Vermutung. Der Trottel war herumgelaufen und hatte sich selbst an einem Felsbrocken oder einem Baumstumpf oder so die Lichter ausgeschossen, eine Gehirnerschütterung geholt. Terry tastete Cams Beine nach oben ab und stellte dabei erleichtert fest, dass zumindest keine Knochen gebrochen waren.

Was zum Teufel?

Terry begann zu schlottern, als sein Körper bereits erkannte, was sein Geist noch zu verstehen versuchte. Er hob seine Finger an sein Gesicht und schnüffelte an dem feuchten Film, der dort kleben geblieben war. Metallisch. Das war kein Tau. Entsetzt riss Terry seine Hände zurück. Cams Oberkörper fehlte.

»Heilige Jungfrau Maria!«

Cam war in der Mitte halbiert worden. Terry, der nach Luft rang, sprang auf die Füße, taumelte zurück, taste mit seinen blutigen Händen um sich, während ein leises Wimmern in ihm aufstieg. Wie konnte das passieren? Aber er würde nicht darauf warten, es herauszufinden. Er musste so schnell wie möglich von hier verschwinden.

Terry kehrte dem Rest von dem, was von Cam noch übrig war, den Rücken zu und stürmte zu dem Zelt zurück, stürzte sich kopfüber in die Dunkelheit und ignorierte dabei die Zweige, die ihm ins Gesicht und gegen seine Arme stachen. Er hatte die Hälfte der Lichtung überquert, als der Mond durch das Laubdach des Waldes lugte, den Zeltplatz erhellte und Terry klar wurde, dass der Weg aus dem Urwald seine geringste Sorge sein würde.

Kapitel 2

Maungapōhatu, Te Urewera, Ende März

Rawiri Temera saß in einem zusammenklappbaren Strandkorb auf der hinteren Veranda des Farmhauses, rauchte eine Zigarette und lauschte dem vertrauten Geschnatter der Kuckuckskäuze und der Wekarallen. In manchen Nächten konnte Temera von diesem Punkt aus die zerklüftete Silhouette des Te Maunga vor dem dunklen Nachthimmel erkennen, den äußersten Gipfel der Huiarau-Gebirgskette der Urewera-Region. Heute Nacht aber hatte Hinepūkohurangi, die Jungfrau des Nebels, das Bergmassiv mit ihrem grauen Schleier eingehüllt, und der Geruch von Temeras Tabak überdeckte ihr erdiges Parfüm.

Wie viele Nächte er wohl noch auf dieser Veranda verbringen würde? Nicht mehr viele – so die Überzeugung seines Großneffen Wayne – wenn Temera nicht mit dem Rauchen aufhören würde. Er aber ignorierte den Rat seines Neffen. Zumindest ein Laster sollte einem Mann vergönnt sein. Und mit dreiundachtzig Jahren waren ihm nicht mehr sehr viele Freuden im Leben geblieben. Selbst die Fahrt ins Tal und zurück erschien ihm mittlerweile als eine Qual, denn das Holpern des Lasters rüttelte ihn stets bis auf die Knochen durch und ließ ihn mit den Zähnen klappern. Vielleicht würde dies der letzte Besuch seines kāinga tipu sein, des abgeschiedenen Familiensitzes.

Temera schnippte etwas Asche in den Garten, schürzte die Lippen wie ein Klarinettenspieler, atmete geräuschvoll aus und streckte dabei seine Beine. In der Ferne hörte er etwas, das sich nach einem Motorengeräusch anhörte, aber er erwartete niemanden. Maungapōhatu lag viel zu weit abseits der ausgetretenen Touristenpfade, als dass hier Besucher für eine Tasse Tee und Ingwerplätzchen aufgetaucht wären. Es war alles andere als eine Touristenattraktion, nur eine Handvoll zäher Farmer, hauptsächlich raue Tūhoe-Männer und noch weniger Frauen. Die Verlorenen und die Einsamen. Vor zwei Jahren kreiste einmal ein Rettungshubschrauber beinahe eine Stunde lang über ihrer Siedlung und suchte nach einem dämlichen Jäger, der sich von seiner Gruppe getrennt hatte, um einem verwundeten Hirsch nachzujagen. Das war das größte Tamtam gewesen, dass sie in dieser Gegend erlebt hatten, seit sich der alte Kriegshäuptling Murakareke im Schlaf auf die Seite gewälzt und dabei seine Kronjuwelen im Feuer versengt hatte. Temera drückte seine Zigarette in einer alten Muschelschale aus, lehnte sich in seinem Strandkorb zurück und schloss die Augen …

Der Kuckuckskauz schrie. Der Ruf der Eule drang melancholisch aus der Ferne heran. Aus der dunklen Masse des Waldes tauchte ein Umriss auf, wurde immer größer, als hätte sich der Berg selbst losgerissen und würde nun ins Tal stürzen. Seine wechselhafte Form kam näher, bis sie nur noch wenige Meter von seinem Haus trennten und ihr Schatten über den Garten fiel.

Ein Taniwha, ein Monster aus den Legenden.

Temera wusste, dass die Anwesenheit des Taniwha bedeuten musste, dass er träumte. Noch nie zuvor hatte er einen Taniwha gesehen, aber er hatte genug von ihnen gehört, um ihn zu erkennen, wenn er ihn vor sich sah, Dunkelheit hin oder her. Hier in Kupes Wahlheimat kannte jedes Kind die Geschichten über die Taniwha – rachsüchtige Monster, die Krieger abschlachteten, Jungfrauen entführten und Babys mit Haut und Haaren verspeisten. Schauergeschichten, die Großmütter ihren Kindern immer und immer wieder erzählten. Aber Taniwhas waren nicht nur räuberisch – sie konnten auch Beschützer sein, wachten über Flüsse und Berge und bewahrten die Stammesangehörigen vor Schaden, indem sie sie vor drohenden Gefahren warnten.

Und dieser Taniwha? War er ein Freund oder ein Feind?

Zumindest erinnerte sich Temera noch, was er zu tun hatte. Leise atmete er aus und murmelte dabei einige Worte der Ehrfurcht. Ein Karakia-Gebet, zu Ehren seines Besuchers.

Kapitel 3

Landsafe Laboratories, Hamilton, Anfang Juni

Das dumpfe Knallen der Türen war zu hören. Jules schob sich von ihrem Computer zurück und sah den Gang des Labors hinunter. Es war Richard, ihr Boss. Die schwere Doppeltür schwang hinter ihm zu, während er mit zwei Kaffeebechern in der Hand auf sie zukam. Graubraune Haare fielen ihm übers Gesicht, er lächelte. Mit seinen Gummisohlen, die über das polierte Linoleum quietschten, hätte man Richard nur schwerlich für den CEO des Crown Research Institutes gehalten. Er war eher der Typ Versicherungsvertreter oder Verwaltungsangestellter, oder vielleicht sogar Comedian, obwohl seine einzigen Stand-ups während wissenschaftlicher Symposien stattfanden, etwa viermal im Jahr. Er war ein wirklich guter Wissenschaftler, mit einem Doktortitel aus Canterbury, Post-Doktorandenstellen an den Universitäten von Texas und Cambridge, Mitgliedschaften in einigen der angesehensten wissenschaftlichen Komitees und ökologischer praktischer Erfahrung auf drei Kontinenten.

Und er war in sie verliebt.

Nicht, dass Jules irgendetwas getan hätte, um ihn dazu zu ermutigen – nun, außer den üblichen Neckereien im Büro eben. Sie fühlte nur nicht dasselbe für ihn. Wobei, wenn sie ganz ehrlich zu sich war, hätte sie es bedeutend schlechter treffen können. Er war ein guter Freund. Aber diese Filme mit Jake Gyllenhaal, die Hollywood am laufenden Band produzierte, gaben ihr das Gefühl, dass da noch jemand anderes auf sie wartete. Jemand Besonderes.

Richard reichte ihr einen Kaffee. »Milch, ohne Zucker, nicht wahr?«

Jules nahm den Kaffee entgegen und bedachte ihn mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es rein professionell wirkte. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck. Der Inhalt war noch heiß. Richard musste den ganzen Weg von der Kantine zurückgerannt sein.

»Okay, was gibt‘s?«, wollte sie wissen, eine Hand in die Hüfte gestemmt.

Richard strich sich seinen Pony mit den Fingern aus dem Gesicht. »Was es gibt? Wieso sollte es etwas geben?«

Jules hob vielsagend ihren Kaffeebecher, gefolgt von ihren Augenbrauen.

»Es ist doch nicht verboten, einem Mitarbeiter einen Kaffee zu bringen, Dr. Asher.«

Jules trommelte mit ihren Fingern auf den Tisch. »Hast du Mal auch einen gebracht?«

»Hey, ich habe schließlich nur zwei Hände«, protestierte Richard.

Jules warf ihm über den Rand ihres Bechers einen durchdringenden Blick zu und nahm einen weiteren Schluck.

Die Rollen eines Drehstuhls klapperten über das Linoleum, dann setzte sich Richard neben sie, seinen Kaffee in der Hand, die Ellbogen auf den abgewetzten Knien seiner Cordhose. »Okay, um die Wahrheit zu sagen, komme ich gerade von einem Telefonat mit dem Minister für Naturschutz.«

»Der Minister.« Jules lehnte sich zurück. »Sollte ich jetzt erschrocken oder neugierig sein?«

»Keine Panik. Soweit ich das sagen kann, gibt es keine Pläne, Landsafe zu verkaufen.« Er warf ihr ein ironisches Lächeln zu. »Zumindest nicht diese Woche. Nein, es geht um das Gold, das man im Te-Urewera-Nationalpark gefunden hat. Hast du die Nachrichtenmeldung gesehen?«

»Die beiden Aussiee-Geologen, die im Urlaub hier waren?«, fragte Jules.

Richard nickte.

»Ich hab online darüber gelesen. Kommt es dir nicht seltsam vor, dass sie diesen Goldklumpen mitten auf dem Wanderweg gefunden haben wollen?«

Richard verlagerte sein Gewicht und rollte etwas näher heran. »Das ist eigentlich gar nicht so ungewöhnlich. Die Aussies durchquerten ein Flussbett, als sie den Klumpen fanden. In den Flüssen taucht oft Gold auf. Was mir seltsam erscheint, ist, dass sie ihn den Behörden übergeben haben.«

»Sie durften ihn nicht behalten«, antwortete Jules mit einem Schulterzucken. »Wusstest du, dass eine Silberader, selbst wenn du sie in deinem Gemüsebeet entdeckst, automatisch dem Staat gehört? Wahrscheinlich darf die Regierung dann sogar deine Karotten beschlagnahmen.«

»Schon, aber der Goldklumpen besaß die Größe eines iPhones; eintausendsechshundert Gramm nahezu puren Goldes. Vierundfünfzig Feinunzen, wie der Minister mir verriet. Beim aktuellen Kurs etwa einhunderttausend US-Dollar wert. Stell dir doch nur mal vor, was man mit so viel Geld alles anfangen könnte.«

»Für ein Nugget? Wow. Aber ich glaube kaum, dass der Minister dich anrief, um mit uns zu teilen.«

Richard verzog das Gesicht. »Ich wünschte! Nein. Vielmehr wollte er wissen, ob es dort noch mehr geben könnte.«

Jules biss auf den Rand des Pappbechers und wartete darauf, dass Richard fortfuhr.

»Also haben die Minister den Artikel 4 zum Schutz von Naturschutzgebieten für nichtig erklärt und eine spezielle Schürflizenz erteilt. Sie beabsichtigen, eine Spezialeinheit auszusenden, um zu püfen, ob dort möglicherweise Gold abgebaut werden kann. Und wir wurden damit beauftragt, die möglichen Auswirkungen auf die Umwelt abzuschätzen.«

Jules Puls beschleunigte sich. Natürlich musste Landsafe zurate gezogen werden. Jede mögliche Gewinnung musste mit den Naturschutzbestimmungen in Einklang gebracht werden.

»Allerdings hat mich die Einstellung der Tūhoe überrascht«, sagte Richard und schnipste die Haarsträhnen weg, die ihm immer wieder ins Gesicht fielen. »Ich hätte gedacht, dass sie als Nebenvormund Einwände erheben würden, wenn plötzlich eine Gruppe von Fremden durch ihr Stammesgebiet latscht und Löcher bohrt. Aber die Stammesältesten gaben ihre Zustimmung.«

Jules klammerte ihre Finger fester um ihren Becher. »Ich schätze, sie haben die wirtschaftlichen Vorteile erkannt«, antwortete sie und versuchte unbeeindruckt zu klingen.

»Wahrscheinlich«, stimmte Richard ihr zu. »Da oben gibt es nicht viel Arbeit. Aber wie du schon sagtest – die Regierung müsste die Landeigentümer gar nicht erst um Erlaubnis bitten.«

Jetzt kommt‘s.

Jules hielt den Atem an.

»Diese Spezialeinheit … ich will, dass du sie begleitest, Jules.«

Das hatte sie befürchtet.

»Ach komm schon, Richard«, sagte sie und hasste sich sofort für den jammernden Ton in ihrer Stimme. »Ich stecke bis zum Hals in diesem Projekt.« Mit der Hand deutete sie auf ihren Monitor. »Was ist mit Mal? Kann er nicht mitgehen?«

»Nein, kann er nicht, Jules. Seine Frau bekommt in zwei Wochen ihr Kind, und ich will Gabby auf keinen Fall in die Quere kommen – die Frau macht mir eine Heidenangst.« Er verzog das Gesicht zu einem unbehaglichen Grinsen.

»Ich kann auch angsteinflößend sein«, flüsterte Jules.

Richard lachte.

Jules ließ ihr Kinn sinken und sah Richard unter ihren langen Wimpern hinweg an. »Und wenn ich dir verspreche, eine Woche lang die Reagenzgläser im Labor zu reinigen? Jeden einzelnen Erlenmeyerkolben?«

Richard beugte sich nach vorn und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Jules, ich habe mein Bestes getan, um dich von dem Park fernzuhalten, aber es ist jetzt zwei Jahre her.«

»Ich kann nicht gehen. Ich muss nach Sarah sehen.«

»Es sind nur ein paar Tage. Und es gibt genügend andere, die sich um Sarah kümmern können.«

»Ja, aber ich bin ihre beste Freundin.«

»Sie wird es verstehen.«

»Und wenn nicht?«

»Jules …«

»Richard, ich kann nicht. Es ist noch zu früh.«

Richards Gesicht blieb ungerührt. »Jules … es gibt sonst niemanden.«

Jules ließ den zerdrückten Pappbecher in den Mülleimer fallen und rieb sich mit der Hand übers Gesicht, versuchte die Tränen zurückzuhalten. Es war also soweit. Früher oder später musste es passieren. Richard konnte sie nicht ewig beschützen.

Sie ließ ihre Unterarme auf den Tisch sinken. »Wann soll die Expedition starten?«

»Du wirst morgen aufbrechen. Von Rotorua.«

»Morgen schon! Du sagtest, es sei nur ein Vorschlag.«

»Das ist die offizielle Darstellung.«

»Aber es ist das Gebirge. Ich werde mir den Hintern abfrieren.«

Richard strich sich wieder die Haare aus den Augen. »Stimmt, könnte frisch werden«, sagte er und warf seinen Kaffeebecher in den Papierkorb.

Dinsdale, Hamilton, am selben Tag

Jules betrat durch die Hintertür die Küche. Eine Frau um die fünfzig trat von einem Haufen geschnittenen Gemüses auf der Küchentheke zurück, und ihr gewaltiger Busen wabbelte dabei.

»Hallo, Dr. Asher.«

Jules hob eine Augenbraue und legte den Kopf schief.

»Ich meine, Jules.«

Jules schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Hallo, Carol-Ann. Wie lief es heute?«

Die Pflegerin wischte ihre Hände an einem karierten Geschirrtuch ab. »Nicht übel, insgesamt. Wir hatten ein großartiges Mittagessen. Sind mit dem Wagen durch Rotorua und bis zum Blue Lake gefahren und haben ein Picknick am Strand gemacht.«

»War es dafür nicht zu kalt?« Jules stellte ihre Handtasche auf einem Stuhl ab.

»Wir haben uns warm eingepackt. Sarah ist gern dort, nah am Wasser und den Wäldern.« Carol-Ann senkte ihre Stimme zu einem Flüstern herab. »Allerdings ist sie heute Abend ein wenig melancholisch.«

»Ihre Eltern?«

Carol-Anne nickte. »Sie sind vor einer halben Stunde gegangen. Haben Sie durcheinandergebracht, wie üblich. Gehen Sie nur zu ihr, Liebes. Sie wird sich freuen, Sie zu sehen. Ich setze schnell das Abendessen auf, dann bringe ich Ihnen eine Tasse Tee.«

Jules lief ins Wohnzimmer, wo sie der Fernseher begrüßte.

»… Archie. Chris Tarrant hier. Neben mir im Studio sitzt gerade Phil. Er macht sich richtig gut, aber jetzt benötigt er ihre Hilfe bei der 16.000 Pfund-Frage …«

Auf dem abgenutzten Sofa sitzend und mit einem Speichelfaden am Kinn, war Sarahs Gesicht das Bild absoluter Konzentration. Jules spürte einen Stich in ihrem Herzen, erinnerte sie ihr Anblick doch an einen anderen Abend, als ihre Freundin auf diesem Sofa saß. Sarah trug damals abgeschnittene Levis, hatte ihre langen Beine unter ihren Körper gezogen und aß indisches Essen aus einer Assiette, während sie mit vollem Mund davon plapperte, wie sie beide in der Karaoke-Nacht ein Team bilden sollten.

»Hey Süße.« Jules gab Sarah einen Kuss auf die Stirn. Ihre Freundin sah auf, blaue Augen voller Wärme. Als das Rettungsteam sie noch lebend aus der Schlucht bergen konnte, war Jules vor Erleichterung überwältigt gewesen. Sarah, die immer schon eine Kämpfernatur gewesen war, hatte sieben Monate im Burwood-Krankenhaus verbringen müssen, um sich von dem schweren Schädeltrauma an ihrem Frontallappen zu erholen.

»Kann ich das abschalten?«, fragte Jules und deutete auf den Fernseher.

Sarah blickte sie verwirrt an, also nahm Jules die Fernbedienung zur Hand und schaltete den Fernseher aus. Arme Sarah. Während sie früher Marathons lief und Touch Rugby spielte, hatte Sarah nun Mühe, selbst die einfachsten alltäglichen Dinge zu verarbeiten: erst die Socken, dann die Schuhe und so weiter. Hin und wieder wurde sie aggressiv, offenbar eine Folge des Traumas, aber jeder wäre frustriert, gedemütigt und verdammt angepisst, wenn man sich nicht einmal mehr die eigenen Zähne putzen konnte.

Manchmal wachte Jules schweißgebadet auf, weil sie den Unfall erneut in ihren Träumen durchlebte. Um ein Haar hätte sie an diesem Tag das Team durch die Wälder geführt. Es hätte sie sein können, die am Boden des Canyons lag und nun damit zu kämpfen hatte, die Fragen einer dämlichen Quizshow zu beantworten.

»Carol-Ann sagte, dass ihr beide zum Blue Lake gefahren seid?«, erkundigte sich Jules freundlich.

»Ha.« Jules versuchte, bei der einsilbigen Antwort nicht zusammenzuzucken. Eine Folge der Broca-Aphasie – das Gefängnis, in dem ihre Freundin gefangen war.

»Freut mich, dass du etwas unternimmst. Ich werde auch für ein paar Tage weg sein. Ich fahre in die Ureweras.«

Sarah antwortete ihr nicht.

»Ich konnte mich dieses Mal nicht mehr drücken, Sarah«, sagte Jules leise. »Ich kann Richard nicht hängen lassen – er hat mich schon oft genug unterstützt.«

»Charrd.«

»Hey, fang bloß nicht damit an!«, lachte Jules. »Du bist ja noch schlimmer als meine Eltern. Richard ist ein Freund, das ist alles!« Sie ignorierte Sarahs Stirnrunzeln und fuhr fort. »Wie auch immer, es ist ein Bergbau-Explorationsteam im Naturschutzgebiet, und daher ein wenig geheimnisumwittert. Ich soll die Einhaltung der Vorschriften überwachen und für das Wohl der Ureinwohner sorgen.«

Sarah verzog das Gesicht. Sie hob eine Hand und wackelte mit ihren Fingern.

»Wie viele wir sein werden?«, fragte Jules, die versuchte, die Frage hinter Sarahs Geste zu erraten. »Ich weiß nicht. Morgen treffe ich die anderen. Wie stehen die Chancen, dass vielleicht ein toller Hecht darunter ist?«, witzelte sie.

Sarah aber hatte bereits die Fernbedienung wiedergefunden, hieb auf die Tasten und schaltete den Fernseher wieder an. Chris Tarrants Stimme donnerte: »Oder D – keines davon. Wie lautet Ihre Antwort?«

Die Kleinstadt Rotorua

Temera erwachte und setzte sich kerzengerade in seinem Bett auf.

War das ein Albtraum gewesen! Hatte ihm eine Heidenangst eingejagt. Wieder einmal. In letzter Zeit träumte er beinahe jede Nacht. Schreckliche Träume. Er legte sich wieder hin und zog sich die Bettdecke bis zum Hals hinauf, aber er wusste, dass er wahrscheinlich nicht wieder in den Schlaf finden würde. Er sah auf seinen Wecker. 4:18 Uhr. Dann kann ich auch gleich aufstehen, mir einen Tee machen und etwas fernsehen. Außerdem musste er sowieso auf die Toilette. Temera schlug die Bettdecke zurück und schwang seine Beine aus dem Bett.

Die Büroräume der GeoTech International, Sydney, Australien

Caren Murphy studierte die Berichte; Diagramme, Tabellen und Scherzoneninformationen geophysikalischer Beobachtungen. Die Resultate enthielten noch nicht die Luftbilddaten – das verhinderten erschwerte atmosphärische Bedingungen – und außerdem waren ja ihre zwei australischen geologischen Touristen vor Ort. Es bestand kein Grund, die Regierung eines Landes in Alarmbereitschaft zu versetzen, weil man im Grünen nach Schürfplätzen recherchierte. Besser, man sammelte seine Informationen unauffällig. Sie steckte sich eine blonde Haarsträhne in ihren Haarknoten zurück. Wenigstens sahen die Resultate vielversprechend aus. Gut genug, um darin zu investieren. Angesichts der Wirtschaftskrise und der schlechten Presse, die sich negativ auf GeoTechs Aktienkurse auswirkten, käme ein lukrativer Vertrag gerade recht. Womöglich ließen sich die Dinge ja sogar ein wenig beschleunigen?

Durch einen Anruf vielleicht …

Kapitel 4

Militärbasis der New Zealand Defence Force, Waiouru

James Arnold starrte aus dem staubigen Fenster des Büros und betrachtete die Trainingsbasis – ein weitläufiges, grasbewachsenes Ödland. Da war es wieder, das kurze Aufflackern von Sonnenlicht, das in der Ferne von irgendetwas reflektiert wurde. Ein Zielfernrohr? Wahrscheinlich eher irgendein Trottel mit einer Sonnenbrille auf der Nase. James knurrte. Er würde den Vorfall mit dem Ausbildungsleiter besprechen müssen. Vor nicht allzu langer Zeit und unter der grellen Mittagssonne in Afghanistan hätte eine solche Unachtsamkeit einem Soldaten und seiner gesamten Einheit einen All-inclusive-Flug nach Hause beschert – in Leichensäcken.

Ein Soldat und seine Einheit. In Leichensäcken.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn kurz zusammenzucken.

Private Karen Dawson und ihr perfekter Hintern. Die offizielle Bezeichnung dafür lautete wohl Knackarsch, überlegte James. Er nahm den Blick von dem Fenster.

»Sergeant McKenna vom One Battalion in Linton ist eingetroffen, Major«, verkündete Dawson mit einer Stimme wie schmelzende Schokolade. Wäre James an ihr interessiert gewesen … wäre er trotzdem noch pflichtbewusst genug gewesen, um eine professionelle Distanz zu wahren. Mit seinen sechzig Jahren war sich James darüber im Klaren, nicht unattraktiv zu sein, in seiner khakifarbenen Uniform und dem Regenbogen aus Abzeichen, den silbernen Strähnen an den Schläfen und selbst den Falten auf seiner Stirn, die ihm einen gewissen Sean-Connery-Look verliehen, den Frauen anziehend fanden. Doch er gab nur selten seinen Gelüsten nach. Als Brenda vor sechzehn Jahren an Brustkrebs gestorben war, hatte er nicht das Interesse an weiblicher Gesellschaft verloren, aber man kletterte auch nicht die Karriereleiter hinauf, ohne sich in Zurückhaltung zu üben.

Er lächelte. »Führen Sie den Sergeant doch bitte herein.«

»Natürlich, Sir«, sagte Dawson. Sie lief zur Tür und gestatte James, nochmals einen flüchtigen Blick auf ihr prachtvolles Fahrgestell zu werfen.

»Sie können hereinkommen, Sergeant McKenna«, sagte sie, trat beiseite und bedachte den Junior-Offzier, der das Büro betrat, mit einem hinreißenden Lächeln.

James konnte es ihr kaum übelnehmen. Mit vierunddreißig Jahren war Taine McKenna etwa in ihrem Alter, und mit seinen stählernen Augen väterlicherseits und einer Haut wie poliertes Rimu-Holz – die er seiner Māori-Mutter verdankte – war er ein verdammt gutaussehender Bastard. Außerdem besaß der Junge die Kraft und Geschicklichkeit eines Mittelfeldspielers der All Blacks, mit den dazu passenden Bauchmuskeln. James konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann er seine eigenen das letzte Mal gesehen hatte. Heute war McKennas Muskulatur jedoch unter einer Standarduniform verborgen.

Vor dem polierten Kauri-Holztisch nahm er Haltung an. »Major Arnold.«

Dawson schloss die Tür und James winkte bei dem Ehrensalut des jungen Mannes ab. »Rühren, McKenna. Setzen Sie sich.«

»Boss«, erwiderte McKenna, der die Kurzform des SAS für seinen befehlshabenden Offizier verwendete. Mit überraschender Anmut ließ er seinen Zwei-Meter-Körper auf einen Stuhl sinken.

James setzte sich ebenfalls. »Ich habe einen Job für Sie, McKenna. Direkt aus der Aitkens Street«, erklärte er, womit er sich auf den Hauptsitz der Verteidigungsstreitkräfte bezog. Nicht, dass es in diesen Tagen noch viel zu verwalten gab, wo die Streitkräfte auf ein Minimum reduziert worden waren. Das Werk kurzsichtiger Anzugträger in der Regierung – jene Alles-Wird-Gut-Typen, die glaubten, dass dem Land schon nicht passieren würde, nur weil es am Arsch der Welt lag …

James räusperte sich und fuhr fort. »Eine ministeriale Spezialeinheit wird sich in die Ureweras begeben, um dort Erkundungen zur Mineralgewinnung anzustellen. Sie und Ihre Jungs werden sie begleiten.«

»Eine Spezialeinheit, Boss?«

James schnaubte. »Das ist die Formulierung der Minister, nicht meine«, sagte er kopfschüttelnd. »Die haben als Kind wahrscheinlich zu viel Thunderbirds gesehen.«

McKenna lächelte.

»Sie wird hauptsächlich aus Regierungswissenschaftlern und ein paar Zivilisten bestehen und von Dr. Christian de Haas der New Zealand Petroleum and Minerals geleitet werden … zumindest offiziell.«

»Ein Babysitter-Job.«

»So in etwa.«

McKennas Gesicht verfinsterte sich. »Und die Befehlskette?«

»Dr. de Haas besitzt absolute Vollmacht.«

»Ein Zivilist.« Sein Kiefer zuckte.

James fuhr mit seinen Fingern über die Akte auf seinem Tisch. Die Armee verfügte über allen Schnickschnack, was digitale Technologien anbelangte, doch solange eine gewisse Verschwiegenheit gewahrt blieb, zog James eine gedruckte Version vor. Brenda hatte immer ihre Witze darüber gemacht, dass er zwischen den Zeilen lesen könne. Vielleicht hatte sie damit gar nicht so unrecht.

»Ich weiß, es ist nicht ideal, aber wie es aussieht, könnte diese zivile Expedition uns eine nötige Tarnung bieten.«

McKenna schwieg und wartete darauf, dass James ins Detail ging.

James ließ seine Ellbogen auf dem Tisch ruhen, legte die Fingerspitzen aneinander und holte langsam und tief Luft, bevor er begann. »In den letzten drei Monaten haben die Parkwächter der Urewera-Region vermehrt Berichte über Personen erhalten, die in den Wäldern vermisst werden. Sehr viele. Vierzehn«, erklärte er. »Und sie sind auch nicht nach ein paar Tagen wieder aufgetaucht.«

Er öffnete die Akte und blätterte ein paar Seiten um.

»Campbell Edwards, 29, und Terry Hubner, 28, beide aus Johnsonville«, las er laut vor. »Die beiden wurden als Erstes vermisst gemeldet. Sie brachen am 26. März von Ruatahuna aus auf. Aus den Unterlagen der Rasthütten lässt sich entnehmen, dass sie in den ersten drei Tage der Route folgten und dann plötzlich verschwanden. Edwards Schwester informierte die Polizei, nachdem die beiden nicht wie geplant wieder auftauchten. Sie wartete sogar eine Woche mit ihrem Anruf – nur für den Fall, dass die beiden es sich in den Kopf gesetzt hatten, ihren Urlaub in Queenstown zu verbringen.«

»Und einfach zu verschwinden ist untypisch für die beiden?«

James schüttelte den Kopf. »Nein. Aber die Schwester beteuert, dass es selbst für die beiden ungewöhnlich ist, sich so lange nicht zu melden.«

»Das muss nicht unbedingt etwas bedeuten, Sir. Den Fluss zu überqueren kann gefährlich sein, wenn man nicht weiß, was man tut.«

»Da stimme ich Ihnen zu, und ich würde auch dazu neigen, die beiden Jungs als unglückliche Abenteurer abzutun und der Familie eine florale Beileidskarte zu schicken. Aber sie sind nicht die einzigen Urlauber, die verschwunden sind.« Die hölzerne Armlehne knarzte, als James in seinem Stuhl herumrutschte. »Nur eine Woche, nachdem Edwards Schwester die Behörden informiert hatte, verirrte sich ein deutsches Pärchen in den Flitterwochen. Dieselbe Region. Parkschützer fanden ihre Rucksäcke, intakt und fein säuberlich am Rand des Weges abgestellt, aber von ihnen selbst fehlte jede Spur. Dann gibt es da eine vierköpfige Gruppe aus Otago, allesamt erfahrene Mitglieder eines Wandervereins. Ihr Wagen wurde auf dem Campingplatz am Waikaremoana-See gefunden. Und die letzte Person, die verschwand, war ein Farmer namens Samuel Waaka. Ihm gehört ein kleiner Laden im Park. Seine Frau meldete ihn als vermisst.«

»Wieso hört man davon nichts in den Nachrichten?«

»Die Stimmung unter den Einheimischen ist noch etwas angespannt, seit die Polizei vor einigen Jahren in den Ureweras Durchsuchungen im Zusammenhang mit Terroristen durchführte. Das ist Stammesgebiet der Tūhoe. Die Behörden halten die Informationen vorerst lieber geheim, besonders diese Vermisstenfälle, falls es sich dabei um das Werk separatistischer Tūhoes handeln sollte.«

McKenna nickte. »Ich zählte neun Vermisste, Sir, aber ich glaube, sie sprachen von vierzehn.«

»Der Rest sind Ihre Jungs. Im Einsatz vermisst.« James wischte sich mit den Händen über sein Gesicht. McKenna sagte nichts. »Wir haben sie vor zehn Tagen ausgesandt, nachdem der Job von der Polizei auf die Armee überging. Unsere Jungs folgten einer Spur des Ministeriums für Naturschutz – ein blutiger Handschuh, der einem der vermissten Wanderer gehörte. Am sechsten Tag ihres Einsatzes meldete Corporal Gavin Masterton, dass sie die Überreste einer etwa fünfundvierzig Jahre alten Frau gefunden hatten. Mastertons Beschreibung nach könnte es sich dabei um eine Frau aus der Otago-Gruppe gehandelt haben. Die Funkoffizierin, die den Ruf entgegennahm, sagte aus, dass Masterton sich aufgewühlt anhörte. Sie sagte … hier, lesen Sie selbst.« James schob McKenna die Akte über den Tisch zu und tippte auf die entsprechende Seite. »Das hier ist die Mitschrift.«

McKenna nahm die Akte zur Hand und las.

Masterton: 12. Mai, 17.00 Uhr. Hier spricht Corporal Gavin Masterton. Unsere gegenwärtige Position beträgt XXXX, etwa einen halben Tagesmarsch von der Mangatoatoa-Hütte entfernt, in einem dicht bewaldeten Gebiet. {bis zu diesem Zeitpunkt wirkt der Offizier gefasst}. Wir haben eine Leiche entdeckt … eine Frau. {die Stimme des Offiziers beginnt zu beben} Um die vierzig, fünfundvierzig vielleicht. Wir glauben, dass sie zu der Otago-Wandergruppe gehört, obwohl wir die restlichen ihrer Gefährten noch nicht lokalisieren konnten. Ihr Körper ist ausgezehrt und ihre Extremitäten weisen eine Vielzahl verheilter Kratzer und einige abgebrochene Nägel auf, was typisch dafür ist, wenn man wie sie für einige Zeit im Wald umherirrte. {seufzt schwer} Sie … ihr Körper … er ist … {unverständlich}

Funkerin: Könnten Sie den letzten Satz noch einmal wiederholen, Corporal?

Masterton: Sie wurde verstümmelt. Ermordet. Ihr Mageninhalt … {der Offizier bricht ab}

Funkerin: Corporal Masterton?

Masterton: Wer immer das getan hat … muss sie offenbar gefoltert haben. Wir glauben, dass das Opfer noch am Leben war, als das geschah. Ihre Augen … {es folgt eine fünfsekündige Pause. Ringt der Offizier nach Fassung?} Wir glauben nicht, dass sie schon lange tot ist. Einen Tag, vielleicht zwei, was bedeutet, dass wer immer dafür verantwortlich ist, sich noch in der Gegend befinden muss. Wir werden die Leiche vorerst hier zurücklassen – Pollock packt sie gerade in einen Leichensack – und unsere Suche ausweiten. Vor wenigen Tagen war diese Frau noch am Leben, also gibt es vielleicht noch weitere Überlebende.

Mit besorgter Miene blickte McKenna von der Mitschrift auf. »Das war kein Unfall.«

James atmete langsam aus. »Ich habe mir Mastertons Dienstakte angesehen, seine Versetzungen. Er war in einigen Gefechten und hat schon einiges an Gräueltaten erlebt. Wenn er also auf diese Weise reagiert …«

James stand auf, kehrte zu seinem Wachposten an dem Fenster zurück und nahm sich einen Moment Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Sein warmer Atem ließ das kalte Glas anlaufen, wo die Feuchtigkeit sich wie der Inhalt einer Lavalampe verformte und schließlich verschwand. Draußen vor dem Fenster ragte der schneebedeckte Gipfel des Ruahepus über dem Ozean aus Graslandschaft auf. »Mastertons Einheit hätte sich am darauffolgenden Morgen wieder über Funk melden sollen. Seither haben wir nichts mehr von ihnen gehört.«

Er drehte sich um, stemmte seine Hände auf die Tischplatte und musterte McKenna mit starrem Blick. »Das Problem ist, dass wir sie auch nicht lokalisieren können. Der Urwald in den Ureweras ist so dicht, dass man eine Kleinstadt darin verbergen könnte und niemand sie je zu Gesicht bekäme – und der verdammte Nebel, der über die Region zieht, stört unsere Satellitenüberwachung …«

»Wie lautet unser Auftrag, Boss?«, fragte McKenna rundheraus.

»Ich will, dass Sie herausfinden, was verdammt noch mal dort draußen vor sich geht! Das Forschungsteam sorgt für Ihre Tarnung, und im Gegenzug werden Sie und Ihre Jungs für die Sicherheit der Zivilisten sorgen.«

»Sir.« Das Stirnrunzeln des Sergeants war kaum wahrnehmbar.

James, der plötzlich eine enorme Last auf sich spürte, ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Er konnte dem Jungen nichts vormachen. Sie beide wussten nur zu gut, dass es nicht den Regularien der Armee entsprach, ein zweites Team auszusenden, wo ein erstes bereits gescheitert war.

James fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Die Entsendung der ersten Einheit wurde genehmigt. Soweit es die da oben betrifft, sind die Jungs noch immer da draußen und suchen nach den vermissten neun Personen, während Ihr Team die Eskorte für die Sondereinheit bildet. Aber sollten Sie und Ihre Jungs irgendetwas Ungewöhnliches in diesem gottverdammten Wald finden, irgendetwas, das die Sicherheit der Neuseeländer gefährdet, zu deren Schutz wir verpflichtet sind, dann wird die Sache zu einer Angelegenheit für das Militär. Und wenn das passieren sollte, dann befinden Sie sich rein zufällig bereits dort draußen, als Eskorte des Forschungsteams.«

»Verstanden, Sir«, sagte McKenna, schloss die Akte und erhob sich. »Und da der Platoon Lieutenant nicht hier ist …«

James warf ihm ein grimmiges Lächeln zu. Er hatte sich also den richtigen Mann ausgesucht. Als Veteran in Timor-Leste, Afghanistan und Ägypten wusste McKenna das eine oder andere über Geheimmissionen.

»Oh, und noch eine Sache, Sergeant«, sagte James leise.

»Boss?«

»Mein Großneffe Kevin gehörte der vermissten Einheit an.«

***

Vor dem Bürogebäude fand Taine seinen Corporal, einen in Neuseeland geborenen Chinesen namens Jack Liu, in einem der Pinzgauer, mit dem sie aus Linton gekommen waren, zusammen mit Private Matt Read, einem der zwei neunzehnjährigen Grünschnäbel in McKennas Zug. Liu, der auf dem Beifahrersitz saß, hatte seinen rechten Stiefel lässig auf den offenen Türrahmen gelegt, während sein linkes Bein aus dem Fahrzeug hing und er sich mit einem kleinen Messer die Fingernägel säuberte. Seinen Spitznamen Coolie trug er nicht etwa wegen seiner chinesischen Abstammung, sondern weil er in Krisensituationen einen kühlen Kopf zu bewahren wusste. Der Soldat wirkte ansonsten beinahe weibisch, und normalerweise hätte ihn das in der Armee zu einem leichten Opfer für Spott gemacht, aber Coolies Vorsicht und seine schnelle Reaktionsfähigkeit hatten ihm den Ruf eines lautlosen kleinen Bastards eingebracht. Kein Soldat mit Verstand hätte es gewagt, sich von hinten an Coolie heranzuschleichen, nicht einmal im Spaß. Es sei denn, man wollte sich unbedingt den Schädel wegpusten lassen.

Coolie nahm seinen Fuß von der Tür, als Taine sich näherte.

»Haben Sie Ihren Auftrag erhalten?«, erkundigte sich Read. Der Neuling hatte an dem Fahrzeug gelehnt und sich gesonnt. Jetzt trat er vor und nahm die Ohrstöpsel aus seinen Ohren. »Dann starten wir jetzt?«

»Trommeln Sie die anderen zusammen, Read. Wir brechen um 0800 auf. Es geht aufs Land, in die Urewera-Region.«

Der Junge stopfte sich das Kopfhörerkabel in seine Tasche. »Wow! Wir springen über den Wäldern ab, Boss?« Taine musste über den Enthusiasmus des Jungen lächeln. Für Read glich jeder Tag einer Episode aus einem Marvel-Comic.

»Keine Hubschrauber diesmal, Private.«

»Aber das ist doch keine Trainingsübung, oder? Es ist ein richtiger Einsatz. Suchen wir nach einer Separatistenzelle oder so was?« Read blickte ihn hoffnungsfroh an.

»Wir fahren so weit hinein, wie es möglich ist, und durchqueren den Wald dann zu Fuß. Es ist eine richtige Operation, ja. Wir begleiten ein Forschungsteam. Und die Sache muss einigermaßen geheim bleiben, also versuchen Sie, nicht ganz so viel Aufhebens zu machen, wenn Sie die anderen zusammenrufen.«

Read riss die Augen auf. »Wahnsinn!« Dann hastete er über den quadratischen Kasernenplatz davon, um den Rest ihrer Einheit zu suchen.

»Waren wir auch mal so?«, fragte Coolie. »So diensteifrig?« Er schüttelte den Kopf. »Nach allem, was ich hörte, ist das nichts weiter als ein neuer Babysitter-Auftrag, aber Read hier ist bereits ganz im Indiana-Jones-Modus – hurra, wir suchen nach der Bundeslade.«

Taine bedachte Coolie mit einem grimmigen Lächeln. »Die verlorene Bundeslade scheint mir ein passender Vergleich zu sein. Offenbar werden in der Region vierzehn Menschen vermisst.« Coolie hob eine Augenbraue, und Taine fuhr fort. »Und fünf davon sind unsere Jungs.«

Coolie pfiff leise vor sich hin. »Vierzehn! Dann nehme ich nicht an, dass sie sich einfach nur verlaufen haben?«

Taine schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Da ist noch mehr. Einer der Digger ist ein gewisser Kevin James Arnold, zwanzig Jahre alt.«

»Ein Verwandter des Majors?«

Taine nickte. »Und der Platoon Lieutenant war nicht zugegen, als ich meine Befehle erhielt.«

Coolie runzelte die Stirn. »Keine Befehlskette. Also ist es eine Geheimmission.«

»Oh, sie ist schon offiziell, Coolie«, sagte Taine. »Wir sollen ein Team von Wissenschaftlern in einem Gebiet beschützen, in dem sich die Einheimischen als feindlich entpuppen könnten.«

Coolie scharrte mit seinem Stiefel im Dreck. »Und die vierzehn vermissten Personen sind nur ein Nebenkriegsschauplatz?«

»So was in der Art.«

»Das würde erklären, wieso wir keinen Chopper bekommen.« Collie schnaubte. »Lass mich raten: Wenn wir mit dem Jungen nicht zurückkommen, können wir uns irgendwelche Medaillen abschminken?«

Taine grinste. Coolie, der vor langer Zeit über eine der glitzernden Werde-Soldat-entdecke-die-Welt-Rekrutierungsanzeigen zur Armee gekommen war, gab einen Scheißdreck auf irgendwelche Orden. Read war nicht der Einzige in ihrer Einheit, der süchtig nach dem Adrenalinkick war.

McKenna kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen und spähte über den Platz. Der Neuankömmling war bereits in der Offiziersmesse verschwunden.

»Dann nehmen wir die Standardausrüstung mit?«, fragte Coolie.

»Ja. Aber ich hoffe, dass wir sie nicht brauchen werden. Wer immer für das Verschwinden dieser Leute verantwortlich ist, auf wen wir auch im Busch treffen werden – Ökos, separatistische Tūhoes oder angepisste Einheimische – es sind alle Kiwis, nicht wahr? Mir gefällt der Gedanke nicht, ein Maschinengewehr auf jemanden richten zu müssen, ganz besonders nicht auf unsere eigenen Leute. Sollten wir gezwungen sein, zu schießen, dann sollten wir uns auf Verwundete beschränken statt auf Leichen.«

»Und den Raketenwerfer verstecken wir dann unter den Lunchboxen?«

»Das ist der Plan.«

Coolie blickte ebenfalls zur Messe und neigte den Kopf zur Seite. »Weißt du, Trigger wird das nicht gefallen. Er hasst Babysitter-Jobs.«

Taine nickte. Coolie hatte recht. Etwas älter als er und wie ein Kühlschrank gebaut, hatte Trevor Gierson doppelt so viele Touren wie McKenna hinter sich gebracht. Ihr letzter Babysitter-Job war während einer Tour gewesen, an einem Morgen wie diesem, als die tiefstehende Sonne von den staubigen Gebäuden reflektiert wurde …

Sie waren in Afghanistan gewesen, als Teil der International Security Assistance Force, um den Afghanen beizubringen, sich selbst zu beschützen, als die Taliban ihre Absicht verkündeten, Kabul anzugreifen, und dies dann auch taten, mit gleichzeitigen Attacken auf den Wazir-Akbar-Khan-Distrikt sowie die östlichen Städte Jalalabad, Pul-e-Abam und Gardez.

Taines Einheit war damit beauftragt worden, einige Angestellte der britischen Botschaft zu evakuieren, aber in letzter Minute hatten sich ihre Befehle noch geändert: Die Botschaft war abgeriegelt worden, und stattdessen sollten sie die angrenzende französische Schule sichern. Taine und seine Jungs waren an der Schule eingetroffen, als die ersten Widerständler bereits die nahegelegene Baustelle stürmten. Von diesem taktisch günstigen Angriffspunkt aus überfielen die überraschend strategisch vorgehenden Fanatiker den Stadtteil. Über Stunden hinweg führten Maschinengewehrfeuer und einschlagende Granaten eine tödliche Oper auf, mit dem Heulen der Sirenen als Kopfstimme und dem periodischen Bass der dumpfen Explosionen der NATO-Luftunterstützung. Innerhalb des Schulgeländes sorgten die Schreie der Kinder dafür, dass die Nerven blank lagen.

Der Lärm selbst hatte Taine nicht sonderlich gestört, das kleine sechsjährige Mädchen mit der blassblauen Bluse hingegen schon, eines der drei Mädchen, die sich glücklich schätzen konnten, überhaupt eine Schule besuchen zu können. Sie litt Todesängste. Kleine Büschel glänzenden schwarzen Haars lugten unter ihrem Hijab hervor, während sie zusammengekauert unter einem Tisch saß, wimmernd an ihrem Daumen lutschte und vor und zurück wippte, um den Krach vergessen zu machen.

Eine Stunde verging. Dann eine weitere. Mehr als einmal trafen die Raketen der Angreifer das Schulgebäude. Taine bezweifelte, dass die Afghanen die Situation unter Kontrolle hatten. Deren Erfolgsbilanz sah bisher sehr trostlos aus. Vor etwas weniger als einem Jahr war die US-Botschaft das Zentrum einer neunzehn Stunden andauernden Belagerung durch die Taliban geworden. Schließlich machten Sprengstoffattentäter dem Warten ein Ende, attackierten das Anwesen und töteten neun Zivilisten. Für Taine war es ausgeschlossen gewesen, ein solches Debakel zu wiederholen und auf sein Gewissen zu laden. Davon abgesehen würde diese Gruppe eine ähnliche Situation nicht überstehen. Einer der Lehrer zeigte bereits erste Anzeichen dafür, auszuflippen. Wäre nicht das erste Mal gewesen. Das Letzte, was sie gebrauchen konnten, war, dass er in Panik auf die Straße rannte. Für einen Scharfschützen der Taliban würde ein hysterischer Lehrer genauso leicht zur Strecke zu bringen sein wie eine Fliege mit einem Sprühstoß Insektenspray.

Besser, die Kids hinauszuschaffen. Sie würden die Route an der Rückseite des Anwesens nehmen, während die Luftunterstützung der Alliierten die Fanatiker in Schach hielt.

Taine hatte den entsprechenden Befehl bereits gegeben, als Trigger ihn von den Zivilisten wegzog. »Was soll das, McKenna?«, zischte er. »Wir können hier nicht raus! Wir werden einfach warten und die Jungs vor Ort sich um die Sache kümmern lassen.«

»So wie letztes Jahr?«

»Mir gefällt das genauso wenig, aber wir müssen es riskieren. Hier sind kleine Kinder. Wie sollen wir sie unter Beschuss denn hier rausschaffen, Mann?«

»Aber das ist eine Schule, Trigger«, hatte Taine erwidert und seinen Arm von ihm losgerissen. »Wenn die Taliban erst merken, dass sie keine Delle in das Botschaftsviertel auf der anderen Straßenseite geschlagen kriegen, was glaubst du dann, wie lange es dauern wird, bis sie ihr Feuer auf das nächstbeste Ziel konzentrieren, eines, das die westliche Welt zur Kenntnis nehmen wird? Was, wenn sich da draußen bereits jemand eine Sprengweste anlegt, während wir uns hier unterhalten? Irgendso ein dschihadistischer Spinner, der bereit ist, hier reinzustürmen und sich und alles von hier bis Hawidscha in die Luft zu jagen? Verrate mir – welche Chance haben diese Kinder dann?«

Sie schafften es kaum zwei Häuserblocks weit, bis Taine klarwurde, dass es ein Fehler gewesen war. Die Straße war voller Rauchwolken und Trümmer. Leere ausgebrannte Autowracks standen in der Mitte der Straße, die Türen aufgerissen. Über ihnen bombardierten NATO-Blackhawks die Baustelle und wirbelten Schutt auf, um die Militanten in Schach zu halten. Taines Gruppe versuchte sich so klein und unscheinbar wie möglich zu machen und sich hastig vorwärtszubewegen. Es hätte vielleicht sogar funktioniert, doch am Ende tötete einen auch das Feuer der eigenen Leute.

Das Mädchen wurde an der Oberschenkelarterie getroffen. Trigger hatte sie aufgehoben und in Deckung getragen, doch zu dem Zeitpunkt war sie schon so gut wie verblutet gewesen. Mit einem letzten schwachen Seufzen verstarb sie in Triggers Armen. Ihr Blut tränkte seine Uniform und ihre weiße Haut und ihr gleichgültiger Gesichtsausdruck bildeten einen starken Kontrast zu dem Grauen um sie herum. In dem Gewühl war dem Mädchen der Hijab vom Kopf gerutscht. McKenna erinnerte sich noch an den kleinen Stofffetzen, der sich hartnäckig an eine ihrer Locken klammerte.

Später fiel die offizielle Version der Geschichte positiv aus: Dreiundzwanzig Zivilisten konnten gerettet werden, mit nur einem Todesopfer. Ausnahmsweise spielten die westlichen Medien den Vorfall herunter, wahrscheinlich aus Respekt vor der Familie des Mädchens, hauptsächlich aber, weil man vermeiden wollte, dass die Taliban die Sache für sich nutzten. Es gab eine Nachbesprechung. Berichte wurden geschrieben und abgeheftet. Das Leben ging weiter. Aber Taine hatte es nie vergessen können, genauso wenig wie Trigger – auch wenn der große Mann nur wenig über diesen Tag sprach. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Taine trug genug Schuld für sie beide auf seinen Schultern …

»McKenna«, rief Coolie und riss Taine aus seinem Albtraum. »Bevor Read mit den anderen zurückkommt, solltest du noch etwas wissen.«

Taines Gesicht blieb ausdruckslos. »Ich höre.«

»Lefty und Eriksen streiten sich mal wieder.«

Taine verschränkte die Arme vor seiner Brust und seufzte. Als erfahrene Kämpfer waren die meisten von ihnen befreundet, aber die beiden hatten sich gerade in der letzten Zeit wie Hund und Katze benommen.

»Worum geht es denn dieses Mal?«

Coolie zuckte mit den Schultern. »Sagen sie nicht, aber es wird immer brenzliger.«