Bevor die Sonne untergeht - Bernd Reutler - E-Book

Bevor die Sonne untergeht E-Book

Bernd Reutler

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Beschreibung

Der alte Herr will's noch einmal wissen. Dann mutig eines dieser Seniorenportale durchschritten, die passende Partnerin zu finden. Gar nicht so einfach, nicht als unwürdiger Greis zu enden bei all dem Hin und Her, dem On und Off - zumal wenn eine Pandemie die Szene beherrscht. Ein spektakulärer Sonnenuntergang braucht einen bewölkten Himmel; so ist es auch hier: Mal ist es Boulevardkomödie,mal Satyrspiel, mal echtes Drama. Auch kurz vor Sonnenuntergang hält das Leben noch so manche Überraschung bereit... Ein mutiger, in jeder Hinsicht aktueller Gesellschaftsroman.

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Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2025

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„Wir tragen in uns Keime aller Götter,

das Gen des Todes und das Gen der Lust“

(Gottfried Benn)

BEVOR DIE SONNE UNTERGEHT

PROLOG. AUFTRITTSMONOLOG ANDREAS

AUF DER DATING - PLATTFORM

DAS ERSTE DATE

DIE DAME MIT DEM RING

DAS ZWEIGESTIRN

HERRIN UND HUND

DIE VAMPIRIN

DRAUSSEN VOR DER TÜR

DAS LANDEI

ON OFF

DIE GEISTHEILERIN

INVENTUR

MASKERADE

GRENZERFAHRUNGEN

EPILOG. GERDAS TRAUERREDE

PROLOG AUFTRITTSMONOLOG ANDREAS

Am Anfang war die Nacht, und ihr entstieg mit goldenen Flügeln Eros, der verdammte, die Menschen narrende Liebesgott, der nicht nur nachts mir keine Ruhe läßt.

Ich will endlich Ruhe vor mir haben. Ich weiß, das ist unlogisch, denn ich das bin ja ich. Aber in mir ist ein Drängler, der nach Abenteuern giert, die mir doch längst nicht mehr gemäß sind in meinem Alter. Da reckt und streckt sich etwas ganz und gar vergeblich - ähnlich den Tulpen, die sich sehnsuchtsvoll nach den letzten Sonnenstrahlen recken und strecken, als wollten sie der Vase entkommen. Aber die Sonne ist weiter gezogen ihrem täglichen Untergang entgegen, gleichgültig gegenüber den ermatteten Blüten.

Was will mir, dem Mittsiebziger, dieses Minidrama sagen, zu welcher Katharsis mich führen? Ach, ich bin ein Gewächs der Natur, und ich bin welk geworden. Und was mich noch einmal beleben könnte, zieht achtlos an mir vorüber. So kurz vor Sonnenuntergang kein letzter Strahl mehr, der mich noch einmal erwärmen könnte… Ich war diesem obszönen Seitensprung-Revier, das mich eine Weile gefangen hielt und fasziniert hatte, doch gerade mit einem entschlossenen Sprung zurück aufs gut bürgerliche Terrain entkommen. Ja, in diesem dubiosen Revier hatte es eine hinreißende Erscheinung gegeben, in die ich mich verguckt und die mir den Kopf unordentlich verdreht hatte. So eine dumme Tulpe war ich! Auch mich hatte das Recken und Strecken schließlich nur ermattet, und die hinreißende Erscheinung war einfach weiter gezogen. Ach, das alles hatte kein Niveau, war höchst zweifelhaft und meiner doch nicht würdig! Nein, ich hatte mich mit dem Alleinsein endgültig abgefunden, keine schlüpfrigen Experimente mehr! Ich hatte mich darauf besonnen, doch kein unwürdiger Greis zu sein!

Aber was mache ich denn jetzt schon wieder? Sitze abermals vor meinem Laptop, klicke mich durch die Programme und stehe einmal mehr unversehens und ganz zufällig vor einem Portal, durch das ich doch nie und nimmer hindurch gehen werde - so geläutert wie ich bin! Mein Gott, man wird doch einmal kurz einen ganz klitzekleinen Spalt öffnen dürfen, nur um hinein zu schauen, was es da zu sehen gibt! Andreas, Andreas, du wirst rückfällig! Ja, ja, aber wir leben nun einmal in einer schwierigen Zeit, in der uns allerlei Ungemach droht: Da sind diese durchgeknallten Potentaten, die sich gegenseitig unflätig antwittern und damit womöglich einen begrenzten Atomkrieg anzetteln oder gar den dritten Weltenbrand entfachen! Zudem droht eine Pandemie, deren Bedeutung für unser Leben wir noch gar nicht abzuschätzen vermögen. Da sucht man Sicherheit in der Zweisamkeit, das ist doch ganz normal! Sei ehrlich, du willst einfach nur weiterleben und erleben! Und wenn du dabei zum Darsteller in einem Satyrspiel wirst? Gib acht, dass du nicht zu einem Bocksprünge vollführenden Trottel mutierst!

AUF DER DATING-PLATTFORM

Passwort eingeben, Pseudonym wählen, Angaben zur Kreditkarte...Andreas kennt all diese Schritte von seinem Gang ins Seitensprung-Revier. Und so klickt er sich folgsam Schritt für Schritt auf diese neue Plattform und erhält sekundenschnell die Bestätigung seiner Mitgliedschaft. Jetzt geht es an die Gestaltung seines Profils. Sein Lebensstil? Sein Aussehen? Seine Erwartungen bezüglich einer Partnerin? Aha, nun ist er gefordert, sich selbst zu inszenieren, da heißt es Realist zu bleiben, besonders in seinem fortgeschrittenen Alter. Was nützten Lug und Selbstbetrug, wenn der Schritt aus dieser virtuellen Welt in die analoge fällig würde, um eine reale Begegnung zu arrangieren? Dann würden die geschönten Bilder hinter der fleischgewordenen Erscheinung sang- und klanglos untergehen. Vielleicht würde es überhaupt zu keiner Begegnung kommen, weil die Dame vor dieser fragwürdigen Erscheinung unerkannt längst Reißaus genommen hätte. Würde er es nicht genau so machen und sich über die Potemkinsche Manier einer Bewerberin gründlich aufregen? Solchen Ärger kann man sich durch Ehrlichkeit ersparen. Nein, er wird sich nicht als Fassadentechniker selbst belügen, nein, er wird sich so darstellen und zeigen, wie er ist! Aber wie ist das mit seinem Selbstbild? Seine Stärken, seine Schwächen? Sein größter Erfolg, seine empfindlichste Niederlage? Seine Seele, sein Charakter -? Zum Teufel, er liegt hier nicht auf der Couch, sondern sitzt vor seinem Computer! Zeigt eure Wunden! Na, das fehlte noch! Sein Credo: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“. Diesen philosophischen Dreisatz hat er verinnerlicht. Er gesteht jedem Menschen zumindest eine gute Eigenschaft zu, und so wird man auch ihm, wenn nicht Zuneigung entgegen bringen, so doch Respekt zollen; darauf vertraut er. Aber etwas Zurückhaltung kann nicht schaden. Am besten, er wird nicht allzu konkret, begnügt sich mit einigen Klischees, die die Plattform gottseidank hilfreich offeriert: Sind Sie romantisch? Ein bißchen. Ihr Aussehen? Attraktiv. Das ist jedenfalls das Lieblingsadjektiv, das er in den Profilen der Damen findet, ganz gleich, wie sie tatsächlich wirken. Attraktiv? Wie haben ihn die Frauen eingeschätzt, die seine Partnerinnen waren? Das ist schon zu lange her, als dass es noch Geltung beanspruchen dürfte, mit deren Komplimenten läßt sich nicht mehr hausieren. Ein altes, ergrautes Haus ist er, ein bißchen morsch, hier und da knarzt und knirscht es schon; der Anstrich noch ganz passabel, da von Altersflecken verschont. Also was soll er schreiben? Ja keinen Hinweis auf seine inneren Werte! Wenn ein Sänger als abgesungen gilt, dann lobt man seine vorzügliche Diktion. Was für ein billiger Trost! Nein, der Glanz ist dahin, da helfen keine Ersatzkomplimente. Keine Chance für ein Ausweichmanöver - von wegen: „Auch ich war ein Jüngling in lockigem Haar!“ Papperlapapp. Hic Rhodus, hic salta! Mit atrophierter Muskulatur wirst du nichts mehr stemmen. Bekenne dich zu deinen schwachen Überresten! Er muß einen Ausdruck finden, der zwischen halb vollem und halb leerem Glas vermittelt. Wie wäre es mit „rüstig“? Damit gibt er zu erkennen, dass er ein älterer Herr ist, nicht mehr so ganz bei Kräften, aber doch noch kräftig und vital genug, um in ein neues Leben eintreten zu können. O Gott, nein, nein, damit wird er nur ganz alte Schachteln anzulocken vermögen - nein, so ein alter Hut ist er nun doch nicht! Da findet er eine Formulierung, die fast alle Damen in ihrem Profil verwenden, wenn es um ihre Vorzüge geht: „Das Beste steht nicht hier“. Also gibt es etwas ganz Tolles. Darauf wird auch er sich berufen: Das Beste, das ich zu bieten habe, verrate ich hier nicht… Lassen Sie sich überraschen, meine Dame!

Zu den weiteren Fragen. Familienstand ist unproblematisch: Verwitwet. Obwohl: Wie sieht es mit den Altlasten aus? Ist er wirklich schon ganz frei für eine neue Beziehung? Neigt er zum Vergleichen? Eine wie deine Lebensgefährtin bekommst du nicht noch mal gebacken! Ja, ja, das weiß er selbst nur zu gut. Nein, er wird keine Vergleiche anstellen. Er wird - gemäß seinem Credo - nur die guten Seiten zu entdecken suchen und das Kritisieren sein lassen. Mit voller Sympathie wird er die möglichen Kandidatinnen ins Auge fassen, vorbehaltlos und offen. Damit ist er bei der Frage nach seinem auffälligsten Charakterzug. Na, tolerant ist er! Keineswegs konfliktscheu, aber am Lack genüßlich herumkratzen, um das Gegenüber zu verletzen, gar bloßzustellen - nein, das ist nicht seine Art. Er muß andere nicht herunterziehen, um sich selbst auf solch miese Tour hochzuziehen! Die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der Religion? Er ist Agnostiker, aber mit dem Wissen: Das Universum ist seltsamer, als wir denken, seltsamer als wir zu denken vermögen. Also mag die Auserwählte glauben, was sie will.

Zuletzt die schwierigste, aber unbedingt zu leistende Aufgabe, ohne die man kaum Aufmerksamkeit erwarten darf: Das Foto zur Vervollständigung des Profils. Die lieben Damen präsentieren sich nur zu gern mit einem Portrait aus ihrer Jugendzeit, klickt man dann die Bilder an, so enthüllen diese peu à peu die aktuelle Realität. Wie in einem Zeitraffer erlebt man die Gewichtszunahmen, die Schrumpfungsprozesse, die Faltenbildungen. Deshalb von ihm nur zeitnahe Schnappschüsse in unterschiedlichen Situationen, die etwas von seinem gegenwärtigen Leben erzählen. Vielleicht könnte der gezeigte interessante Rahmen von der Person bewußt etwas ablenken, die Vedute ihn also zur bloßen Staffage schrumpfen lassen, wie man dies von alten Stichen kennt? Dann mal `ran an die Auswahl! Andreas vor den Tempeln in Paestum - das Land der Griechen in Italien suchend. Andreas im Foyer des Palais Garnier - große Oper, alte Pracht. Andreas im Garten am Flüßchen Ill, das Dessert genießend, das die Drei-Sterne-Küche hier serviert. Andreas beim Putten - Sportler der gehobenen Klasse. Und als Eycatcher das Portraitfoto, das ein Künstler von ihm gemacht hat: wirkungsvolle Ausleuchtung, Licht- und Schattenspiel, ein Clairobscure, das seinem Gesicht markante Züge verleiht. Was sendet er da für eine Botschaft, wie wird sie ankommen? Wird er damit Vorurteile hervorrufen? Sein soziales Umfeld zu anspruchsvoll, pompös, dünkelhaft, abschreckend? Machte er sich unnötig klein, würden sich prekäre Subjekte an ihn heranwagen, zeigt er sich medioker, werden anspruchsvolle Subjekte kein Interesse, keinen Geschmack an ihm finden. So oder so, er wird dem Urteil der Betrachterinnen ausgeliefert sein...Zu Beruf und Einkommen wird er keine Auskünfte geben („Das behalte ich für mich“), um nicht falsche Begehrlichkeiten zu wecken. Sollen die Damen doch anhand der Bilder diese Rätsel selbst lösen!

Kaum hat Andreas die Plattform betreten, da tummeln sich auch schon die weiblichen Ensemblemitglieder auf dem Bildschirm seines Laptops. Das beginnt üblicherweise am frühen Abend; gebannt verfolgt er, wie die Damen eintrudeln und vorstellig werden. Wieviele? Nun, am Anfang sind es gut zwei Dutzend, die sich auf das Profil des Neulings stürzen; durchaus schmeichelhaft, er kann gar nicht genug davon bekommen. Und so überprüft er im Stundentakt, wer sich alles für ihn interessiert. Was für Erfolgserlebnisse! Da wird ihm gerade ein Smile zugesendet, und da hat ihn eine Dame gar unter ihren Favoriten gespeichert. Und noch berührender: „Kathrinchen hat sich für Sie entschieden und möchte Sie gerne treffen.“ Dazu all die sensationellen Meldungen: „Sie sind sehr beliebt, hier mehr erfahren! - Sechs Frauen haben Sie angelächelt. - Vier Frauen hoffen, Sie lächeln zurück.“ - Und auf Andreas Gesicht macht sich ein glückseliges Lächeln breit. Der fortan tägliche Höhepunkt: „Trommelwirbel. Ihre personalisierte Auswahl des Tages: - Elke, Ilse, Inge, Karin... Sie müssen es sehen, um es zu glauben!“ Ein Algorithmus hat es so entschieden und auf seinen Laptop weitergeleitet: Sie passen zueinander. Wie, wenn dieser Algorithmus ihn vor die Augen all dieser Weiber zerrt, die sich für attraktiv halten? Es ist schon eine narzisstische Kränkung, wieviel Häßlichkeit sich für ihn interessiert! Er kann es nicht verhindern. Oder doch? Zumindest gibt es die Möglichkeit, weitere Besuche eines ungebetenen Gastes zu blockieren, indem Andreas die Option bucht: „Dieses Mitglied möchte nicht von Ihnen kontaktiert werden.“ Solch ein Korb ist ihm gerade verpaßt worden, woraus er schließen muß, dass die Dame, der er sich anzudienen versuchte, indem er ihr einen Smile gesendet hat, in ihm die Kaulquappe sah, von der in ihrem Profiltext die Rede ist: „Suche den Frosch, der sich als Prinz entpuppt und nicht als Kaulquappe, die ich leider sehr schnell in meinem Teich ertränken muß… lach…natürlich solltest du für so etwas auch den passenden Humor besitzen.“ Lach! Darüber kann Andreas keineswegs lachen. Durchaus amüsiert hat ihn aber die zugemailte Botschaft: „Ich bin dein Glück und deine Bestimmung. Ich komme aus der Ukraine und natürlich koche ich für dich leckere, rote Bortsch. Kannst du kriegen jeden Tag in unserer Ehe. Anna.“ Da hätte er für den Rest seines Lebens ausgesorgt.

Eine Begegnung zum Kennenlernen wird sich nicht arrangieren lassen wie in normalen Zeiten; dies ist keine normale Zeit. Wenn man sich heute verlieben will, wofür ein Date die Voraussetzung schaffen soll, dann muß man wissen: Hier und heute wird es gehen um die Liebe in Zeiten von Corona; folglich empfiehlt die Plattform ihren aktiven Mitgliedern, auf ein direktes analoges Kennenlernen vorerst zu verzichten und sich stattdessen auf einen digitalen Austausch zu beschränken; dies könne dann die Basis sein, nach Bewältigung der Pandemie sofort richtig loszulegen, um die aufgestauten Gefühle so richtig auszuleben.

Nach diesem Ansturm verwirrender Neuigkeiten, die reizen und verstören, nach all den Verheißungen und Bedenken träumt Andreas von dieser unsäglichen Dating-Show, die er auf einem der Boulevard-Fernsehkanäle gesehen und die ihn wütend gemacht hatte: Wie kann man in dieser Zeit, wo von überall das MeToo tönt und das Gendern allüberall um sich greift, noch eine solche Sendung machen, in der die Frau als Objekt der Begierde zur Schau gestellt wird! Dreißig junge Frauen stehen aufgereiht, bereit, dass ein Mannsbild tänzelnd an ihnen vorbei defiliert zu einer von ihm ausgewählten Popmusik; sie klatschen und juchzen dazu mit anzüglich werbenden Armbewegungen, mit denen sie nach seiner Gunst zu grapschen suchen. Die Szene ist empörend! Doch jetzt ist er selbst an der Reihe: Vor der Phalanx reifer Damen stolziert er wie ein gallischer Hahn zu den Klängen eines graziösen französischen Menuetts und macht sich damit zum eitlen Gockel. Ein ganz und gar unsäglicher, mißglückter Auftritt! Er hört das gequälte Stöhnen der Damen und dann das Todesurteil des Moderators: „Kein Date.“ Ihm ist tatsächlich, als sei er gerade gestorben, und heftig nach Luft schnappend schreckt er auf aus dieser geträumten totalen Niederlage. Kein Date! Na prima! Lieber einsam bleiben, als sich zu einer Zirkusnummer machen zur Belustigung der Damenwelt! Hat er das nötig? Schluß, aus, Ende. Er wird seine Mitgliedschaft umgehend kündigen.

Am nächsten Morgen hat Andreas das skurrile Notturno vergessen und damit seinen hehren Vorsatz. Wie war das noch? Ach ja, Corona!

DAS ERSTE DATE

Corona. Wie damit umgehen? Sich aufs Telefonieren beschränken? Sprich, damit ich dich sehe! Die Stimmlage? Die Sprechweise? Wie klingt das, aus wem tönt das, was ist das für ein Gefäß? Er traut sich zu, sich aus dem Klang ein Bild machen zu können, was etwas durchaus Synästhetisches hat - ich höre das Licht, die frische helle Stimme einer mädchenhaften Lichtgestalt. Aber genügt das, bringt ihn das wirklich weiter? Nein, ein Bild muß her, ein reales, lebendiges Bild! Wozu gibt es schließlich das Skypen, telefonieren über das Internet? Voraussetzung wird natürlich sein, dass das Gegenüber über Laptop und Internet verfügt, was bei der Altersklasse, aus der Andreas die mögliche Partnerin wird auswählen müssen, so selbstverständlich nicht ist. Abermals der Trommelwirbel, und wieder einige skurrile Pseudonyme, die schon komische Portraits befürchten lassen, was sich leider bestätigt. Aber ein Bild ist dabei, das Andreas sogleich fasziniert. Erika! Und sie lebt in seinem näheren Umkreis! Es macht keinen Sinn, sich auf eine Schönheit zu kaprizieren, für die man in die Ferne schweifen müßte; also erst einmal sehen, ob es stimmt, dass das Gute so nah liegt. Ja, Erika könnte der Beweis sein! Wenn ihr Profilbild nicht aus grauer Vorzeit stammt, ja dann…„Ein Like kann ausreichen, um sich zu verlieben.“ Andreas drückt auf das rote Herzchen und läßt es durch den Äther zu Erika flattern. Natürlich ist er ganz ihrem optischen Reiz erlegen und gefolgt. Sehen heißt überzeugt sein. Reizvoll ist auch ihr kratzbürstiger Text: „Männer sind eine ziemlich lästige Bagage, mit der ich mich in meinem Alter nicht mehr beschweren sollte, aber vielleicht wärest du mir eine süße Last; das wäre eine Güterabwägung wert…“ Davon fühlt sich Andreas durchaus angesprochen:

„Dem setze ich mich mutig aus. Nun läßt Corona kein reales Gewichten zu; das werden wir wohl virtuell angehen müssen. Wie wäre es, wenn wir uns mittels Skypen kennenlernen würden?“

„Nein, nein, um Himmelwillen nein, keinesfalls skypen, da entgleisen die edelsten Züge zur gruseligsten Fratze”

„Aber vielleicht könnten wir daraus ein amüsantes Spiel machen und lustvoll Fratzen schneiden.”

„Das wäre doch Kinderkram. Nein, laß uns bitte eine altersgerechte Seriosität bewahren!”

„Was hieltest du von einer Serie von Standfotos, die sich zu einer quasi filmischen Sequenz reihen ließen?”

„Was für Motive stellst du dir dabei vor?”

Andreas, jetzt heißt es dezent bleiben! Wir wollen doch diskret und geschmackvoll bleiben! Also keine Aktfotos. Machen wir uns nichts vor, es geht nicht um eine Gesprächspartnersuche als Basis für Geistreicheleien. Ohne Fleisch kein Geist. Wenn das Riechen und Schmecken, das Tasten und Fühlen nicht zu ihrem Recht kommen können, dann giert das Auge nach den verborgenen Reizen. Dennoch: Jetzt geht es um Maß und Mitte, um nicht in eine prekäre Geschmacklosigkeit abzudriften. Er wird also dem erhofften Ziel ein, zwei Etappen quasi als Prolog vorschalten müssen, in denen das grundsätzliche Interesse abgeklärt und der Wunsch nach Intimität geweckt wird. Und so kommt es zunächst zu einem regen Mailwechsel, danach sind es lange Telefonate, Dialoge, die den direkten Gedankenaustausch noch stärker befördern, was beide mehr und mehr in ihrem Eindruck bestärkt: Hier paßt etwas, hier will etwas zusammen. Aber die einschränkenden Maßnahmen wegen Corona, die ständig wechseln, immer unübersichtlicher werden, stehen dem drängenden Bedürfnis nach einem direkten Kontakt entgegen. Und so bringt Andreas noch einmal die Idee ins Spiel, mittels Skypen das Hören um das Sehen und Gesehenwerden zu ergänzen, und auch in Erika, die mehr und mehr Andreas wohltönender Stimme verfallen ist, ja, ihr Bauch ist zum Resonanzkörper dieser Stimme geworden, was dem Gefühl der berühmten Schmetterlinge im Bauch durchaus ähnlich ist, in Erika also ist der Wunsch, die körpersprachlichen Begleitsignale dieser stimmlich so offenkundig stimmigen Botschaften wahrnehmen zu können, so groß geworden, dass sie bereit ist, sich nicht länger zu verstecken, sondern mehr als nur das Gesicht zu zeigen. Von ihrem Profilbild war Andreas überaus angetan, eine äußerst charmante Dame mit vollem, hellgrauem Haar, das in sanften Wellen symmetrisch vom Mittelscheitel über die Ohren bis auf die Schultern fließt und so ihr geradezu mädchenhaftes Lächeln umrahmt, ein Lächeln, das ihn regelrecht verhext. Erika ist einfach eine schöne Frau. Aber bis jetzt Dame ohne Unterleib; dies soll sich nun ändern. Mit dem Skypen gilt es, die Körper zu erkunden, die realiter wegen der Seuche noch nicht zusammenfinden können. Jetzt heißt es für beide, den Laptop so aufzustellen, dass die Gesichter in einem möglichst günstigen Licht erscheinen und das Ambiente als Hintergrund einen vorteilhaften Eindruck vermittelt. Keine Frage, hier wird gleich ein Werbespot die Bildschirme füllen. Erika und Andreas sind sich völlig