Bevor ich verschwinde - Levi Wiedemann - E-Book

Bevor ich verschwinde E-Book

Levi Wiedemann

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Beschreibung

Hunter Forbes hat alles, was ein Jugendlicher sich wünschen kann: Freunde, die mit ihm durch dick und dünn gehen, gute Noten und eine hübsche Freundin. In seinem Leben gibt es eigentlich nichts, was er anders machen würde. Bis zu diesem einen Tag. Nach einem Streit mit seiner Freundin verschwindet der beliebte Junge plötzlich spurlos aus Doomstown, seiner Heimatstadt in Atlanta. Eltern, Freunde und Schulkameraden sind ratlos. Ist Hunter einfach abgehauen? Als Hunter in einem düsteren Kellerverlies zu sich kommt, weiß er nicht, was mit ihm passiert ist. Nur die Visionen, die er empfängt, geben ihm Hoffnung. Doch sieht er tatsächlich seine Freunde, die nach ihm suchen, oder spielt ihm sein Unterbewusstsein nur einen Streich? Ein packender Thriller zwischen Wahn und Wirklichkeit!

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Der AutorLevi Wiedemann erblickte am 1. Januar 1990 in Lübeck, der Marzipanstadt, das Licht der Welt. Heute lebt er mit seinen drei Hunden in Bad Oldesloe, einer kleinen Stadt in Schleswig-Holstein. Wenn er grade nicht an einem seiner Bücher arbeitet, beschäftigt er sich intensiv mit Grafikdesign und dem Verfassen von Werbetexten für verschiedene Internetpräsenzen.

Das BuchHunter Forbes hat alles, was ein Jugendlicher sich wünschen kann: Freunde, die mit ihm durch dick und dünn gehen, gute Noten und eine hübsche Freundin. In seinem Leben gibt es eigentlich nichts, was er anders machen würde. Bis zu diesem einen Tag. Nach einem Streit mit seiner Freundin verschwindet der beliebte Junge plötzlich spurlos aus Doomstown, seiner Heimatstadt in Atlanta. Eltern, Freunde und Schulkameraden sind ratlos. Ist Hunter einfach abgehauen? Als Hunter in einem düsteren Kellerverlies zu sich kommt, weiß er nicht, was mit ihm passiert ist. Nur die Visionen, die er empfängt, geben ihm Hoffnung. Doch sieht er tatsächlich seine Freunde, die nach ihm suchen, oder spielt ihm sein Unterbewusstsein nur einen Streich?   Ein packender Thriller zwischen Wahn und Wirklichkeit!

Levi Wiedemann

Bevor ich verschwinde

Thriller

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.  Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juni 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016  Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95819-061-0  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

1.

Prolog

Ich fühle mich so unglaublich dreckig. Gebadet in meinem eigenen Schweiß und Blut. Getunkt in Selbsthass und Misstrauen gegenüber allen, die ich jemals gekannt habe. Gefangen in meinem eigenen schwachen Körper, der seit Tagen nichts zu essen oder zu trinken bekommen hat. Ich bin eine Geisel. Ein Objekt, das benutzt wird, um etwas zu erreichen, von dem ich keine Ahnung habe... Mit weit aufgerissenen Augen starre ich in die Leere und auf einmal wird mir klar, dass sich der Wunsch nach meinem eigenen Tod nähert. Die Erlösung wirkt so einladend auf mich. Wieso weitermachen? Für wen oder was? Weil morgen früh alles besser sein könnte? Wer garantiert mir, dass nicht noch fünf weitere Tage folgen werden, an denen ich in diesem dunklen Loch über mein Leben, meine Liebe und meinen Tod nachdenken muss, weil mir sonst nichts anderes übrig bleibt? Ich will aufgeben. Ich bin keine Jagdtrophäe, die man sich mit unfairen Mitteln schnappt, um sie dann willenlos an die Wand zu hängen, um sich daran zu ergötzen, wie mutig und toll man war, als man in einem Moment der Unachtsamkeit des Opfers zugeschlagen hat. Ich bin ein Mensch. Ein Lebewesen aus Fleisch und Blut, das allmählich den Verstand verliert. Weitermachen oder aufgeben? Leben oder sterben? Wieso stelle ich mir all diese Fragen, wenn ich die Antwort nicht aus eigener Kraft geben kann? Ich muss warten, bis mich jemand rettet oder er mich freilässt. Bis dahin bleibt jede Sekunde unerträglich für mich. Diese Hoffnungslosigkeit ist keine Phase mehr. Sie wurde zu einem Dauerzustand. Alles, was ich sehe ist schwarz und für Dunkelheit lohnt es sich nicht zu kämpfen, nicht mehr. Aber bevor ich verschwinde, soll er wissen: Auch wenn du meinen Körper brechen kannst, meinen Geist niemals. Am Ende eines jeden Tunnels gibt es Licht. Ob es sich dabei um die Scheinwerfer eines anfahrenden Zuges oder um die Freiheit handelt, muss ich noch herausfinden. Ich werde aber jedes verdammte Risiko eingehen, um aus diesem Loch zu entkommen. Koste es, was es wolle.

2.

Wieso muss es nur so schrecklich heiß sein? Und wieso sagt uns Mrs. Clover nicht einfach, dass wir nach Hause gehen können? Bei dieser Hitze kann sich doch sowieso keiner konzentrieren. Es ist Mitte Mai und es fühlt sich an, als hätten wir Hochsommer. Wie wird es erst im Juli und August sein, wenn mir schon jetzt quälende 27 Grad das Leben in diesem Klassenraum zur Hölle machen?

»Mrs. Clover? Kann ich vielleicht kurz auf die Toilette?«, frage ich einfach, ohne dabei den Finger zu heben und warte ungeduldig auf ihre Antwort.

»Die letzten Minuten hältst du ja wohl noch durch, Hunter. Und beim nächsten Zwischenruf bekommst du eine Verwarnung. Haben wir uns verstanden?«

Ich zucke mit den Schultern. »Weiß nicht. Haben wir? Ich kann mich sehr schlecht konzentrieren, wenn ich auf’s Klo muss.«

Mrs. Clover verdreht nur ihre braunen Augen und kehrt mir und den anderen Schülern den Rücken zu, um etwas an die Tafel zu schreiben. Ich habe die ganze Zeit nicht richtig zugehört, weshalb ich auch nicht weiß, worüber sie in diesem Augenblick redet. Ich habe sowieso keine Lust, bei diesen Temperaturen zu lernen. Ich werde ohnehin vergessen, was heute in der Schule passiert ist und die Hälfte von dem Stoff, den wir seit ein paar Wochen durchnehmen, werde ich sowieso nicht mehr in meinem Leben brauchen. Was kümmert es mich also, in welchem Jahr der erste Mensch auf dem Mond war? Und was für einen Durchmesser die Sonne hat? Wir leben auf dem Planeten Erde, in Doomstown, Georgia, Amerika, und die Sonne kann mich heute mal dezent am Arsch lecken. Das ist alles, was ich für den heutigen Tag wissen muss. Der Rest ist pure Zeitverschwendung.

»Der Durchmesser der Sonne beträgt 1.392.000 Kilometer, Mrs. Clover«, antwortet Caleb, der neben mir an seinem Tisch sitzt und am Radiergummi seines Bleistifts kaut. »Die Sonne übertrifft 700-fach die Gesamtmasse aller acht Planeten des Sonnensystems. Das ist wirklich erstaunlich, nicht wahr?«

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Du bist so ein Streber«, flüstere ich ihm zu, als Mrs. Clover sich einem anderen Schüler widmet.

»Ach, halt doch die Klappe. Einer von uns muss ja mitschreiben. Wenn du mich nicht hättest …«, antwortet er schmunzelnd.

»Was dann, hm?«, will ich wissen und hebe eine meiner Augenbrauen an.

Ich lehne mich auf diesem unbequemen Plastikstuhl zurück und verschränke meine Arme, während ich Caleb genau mustere. »Denkst du, dass ich ohne dich aufgeschmissen wäre? Versteh das nicht falsch, klar? Aber ich würde die Highschool auch ohne dich rocken, Kumpel. Du bist zwar nett und sehr sozial und all das, was man sich nur wünschen kann, aber genau das könnte ich auch!«

»Mit Sicherheit könntest du das allein hinkriegen. Du willst es nur nicht«, fällt mir mein bester Freund ins Wort und zwinkert mir zu.

»Du kennst mich zu gut, Caleb. Zu gut.« Ich schenke ihm noch ein Lächeln, als ich auf die Uhr über der blauen Tür schaue und feststelle, dass ich noch zwanzig Minuten aushalten muss. Zwanzig Minuten mit einer vollen Blase. Unmöglich für mich, besonders wenn man in der Pause zwei Flaschen Mountain Dew getrunken hat.

Diesmal hebe ich meinen Finger und warte auf Mrs. Clover, doch diese dreht sich nicht um und faselt etwas davon, dass, wenn die Sonne die Größe eines Gymnastikballes hätte, die Erde daneben nur so groß wie eine Kirsche wäre.

»Mrs. Clover? Ich melde mich, aber Sie haben anscheinend keine Augen auf dem Rücken«, platzt es dann irgendwann aus mir raus, sodass sich die schlanke Frau zu mir umdreht und ihre schwarze Brille mit den breiten Bügeln gerade rückt.

»Ich habe keine Frage gestellt, also brauchst du dich auch nicht zu melden.«

Bevor sie sich wieder umdrehen kann, stehe ich auf und deute auf die Tür. »Ich muss auf’s Klo, ob Sie das wollen oder nicht.«

Ich sehe in ihrem angestrengten Blick, dass sie etwas sagen will, aber nichts verlässt ihre Lippen. Stattdessen seufzt sie einfach nur und winkt in die Richtung der Tür. »Dann geh. Komm aber sofort zurück, ja?« Erschöpft streicht sie eine ihrer blonden Haarsträhnen hinters Ohr. Sie wäre eine hübsche Frau, wenn sie nicht immer so aggressiv aussehen würde.

Die Toiletten sind am Ende des Ganges und bevor ich den am meist gefürchteten Raum der Quarter High betreten will, stoppe ich vor dem Klassenraum meiner Freundin Cara.

Cara ist für ihre großen, dunklen, glänzenden Augen bekannt und auch ihr voller Mund und das braune Haar lassen sie außergewöhnlich schön aussehen. In der Schule trägt sie selten Make-up. Manchmal schminkt sie ihre Augen etwas dunkler, mehr aber auch nicht. Da Cara mexikanische Wurzeln hat, sieht ihre Haut immer sanft gebräunt aus.

Das Mädchen meiner Träume, zumindest so lange auch sie mich toll findet. Ich bin ein misstrauischer Mensch und ich weiß, dass sich das Leben ganz schnell ändern kann, also genieße ich unsere Beziehung unter Vorbehalt. Ist das nicht total bescheuert? Und ob, aber ich betrachte unsere Liebe sicherheitshalber realistisch. Ich genieße die guten Momente, bereite mich aber auch auf weniger gute Tage vor. Immerhin gehen wir bald aufs College und wer weiß, ob wir dann überhaupt noch zusammen sein wollen. Lieber gehe ich vom Schlimmsten aus, als mich optimistisch, blind und naiv in unserer regenbogenfarbenen Fantasiewelt zu verlaufen. Ich hoffe einfach darauf, dass ich überrascht werde und Cara und ich für immer und ewig zusammenbleiben, bis wir alt, hässlich und faltig sind. Überraschungen sind gut. Jeder mag Überraschungen. Meine Einstellung ist also eine richtige Win-Win-Strategie. Ich bin in jedem Fall auf eine Enttäuschung, aber auch auf das Gegenteil vorbereitet. Ich bin ein Genie.

Die Zahlen an der Tafel sehen nach Mathematik aus. Auf Zehenspitzen stehe ich da und schaue durch das kleine Fenster in der Mitte der Tür. Noch so ein nervtötendes Fach, aber bei Mathe sehe ich ein, dass man zumindest das Addieren, Dividieren, Multiplizieren und Subtrahieren beherrschen sollte. Diese Dinge sind genauso wichtig wie das Lesen und Schreiben. Aber wieso muss ich wissen, wie man Parabeln berechnet, wie sie aussehen und so weiter? Im Unterricht gibt es einige Themen, bei denen man getrost auf’s Klo gehen kann.

Wie ein Hampelmann versuche ich Caras Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Sie sitzt aber einfach nur da und notiert sich, was Mr. Kotter erzählt. Sie ist eine gute Schülerin, zumindest in den Kursen, die sie nicht mit mir teilt. Da sie in der fortgeschrittenen Klasse für Mathematik ist, braucht sie keine Angst haben, dass ich ihr in diesen Stunden auf die Pelle rücken werde. Auch wenn ich ziemlich gut in Mathe bin, Lust auf noch mehr Lernerei habe ich überhaupt nicht.

Plötzlich stößt Alison ihren Ellenbogen gegen Caras Schulter, die aber Alison dafür nur einen mahnenden Blick zuwirft. Oh ja, so ist meine Cara, richtig genervt, wenn man sie beim Lernen stört. Alison gibt aber nicht auf und flüstert Cara etwas zu. Da Lippenlesen leider noch nicht zu meinen Fähigkeiten gehört, warte ich einfach ab, was passiert. Und dann bekomme ich endlich das, wofür ich überhaupt hier bin, Caras Lächeln, als sie mich entdeckt.

Caras Lächeln ist besonders. Ich kann es aber nicht wirklich beschreiben. Wenn sie lacht, will ich auch lachen. Liegt wahrscheinlich daran, dass sie ein netter Mensch ist und eine tolle Ausstrahlung hat. Oder empfinde nur ich so, weil ich sie liebe? Müssen Caleb und Freddy auch lachen, wenn Cara lacht? Bei Gelegenheit werde ich mal darauf achten.

Mit vollem Körpereinsatz versuche ich ihr zu sagen, dass sie hinauskommen soll, aber alles, was ich von ihr zurückbekomme, ist ein Augenrollen.

»Ernsthaft? Wie kann man so besessen vom Unterricht sein?«, frage ich leise, erwarte aber keine Antwort. Schließlich weiß ich, dass sie mich nicht hören kann. Es passiert aber hin und wieder, dass ich mit mir selbst rede, das ist nichts Ungewöhnliches für mich.

Nach ein paar weiteren Versuchen gebe ich auf. Im Unterricht ist Cara nicht abzulenken. Während sich andere Mädchen im Unterricht die Haare kämmen und ihre Augen schminken, sitzt Cara einfach nur da und beantwortet die gestellten Fragen mit einer Leichtigkeit, die ich sonst nur von Caleb kenne. Sie ist sehr ehrgeizig. Das ist lobenswert, manchmal aber auch echt anstrengend. Wenn ich zum Beispiel auf eine Party gehen will, bleibt sie lieber zu Hause, um in aller Ruhe zu lernen und sich auf den nächsten Tag vorzubereiten. Sie ist trotzdem keine Streberin, auch wenn ich sie gerade so beschreibe. Sie hat einfach Ziele im Leben, von denen sie sich nicht abbringen lassen will. Das ist doch gut, oder? Wenn nämlich eines ihrer Ziele ist, dass ich in ungefähr zwanzig Jahren der Vater ihrer Kinder sein werde, unterstütze ich ihre Besessenheit sehr gerne.

Ich gebe mich geschlagen und mache mich auf den Weg. Der am meisten gefürchtete Raum der Quarter High befindet sich direkt vor mir. Ich verstehe, warum niemand die Kloräume betreten will. Der Gestank ist bestialisch. Eine Mischung aus Fäkalien, Zigarettenrauch und Cannabis. Warum geht jemand ernsthaft in diesen Raum, um an einem Joint zu ziehen oder eine Zigarette zu rauchen? Was kann im Leben so falsch gelaufen sein, dass so süchtig nach etwas ist und dafür diesen abartigen Geruch in Kauf nimmt?

Mit größter Überwindung öffne ich die rote Tür mit dem schwarzen Männchen drauf. Natürlich hilft es nicht, dass ich mir die Hand vor den Mund halte. Und auch das Atemanhalten rettet mich nicht. Ich müsste die Hälfte meiner Sinnesorgane loswerden, um es ein paar Minuten länger in diesem Raum aushalten zu können.

So schnell ich kann, greife ich nach einem Papiertuch aus dem Behälter neben dem Waschbecken und wickle es um den Türgriff der Toilettenkabine. Als ob ich hier noch etwas anfassen würde. Nachdem ich mit drei weiteren Tüchern in meinen Händen den Klodeckel hochgeklappt habe, öffne ich meinen Hosenschlitz.

»Diese Erleichterung«, stöhne ich grinsend und lege meinen Kopf entspannt in den Nacken. »Anscheinend habe ich den ganzen Ocmulgee River in meiner Blase«, sage ich zu mir selbst und betätige dann die Spülung.

Während ich den Reißverschluss meiner Hose zuziehe, lese ich die gekritzelten Botschaften auf der Kabinenwand: Samuel, du bist der beste Freund, den man sich wünschen kann … Tommy ist dumm … Matt Longfield ist ein Kiffer … John Creek’s Gladiators an die Macht … Und eine Peniszeichnung, die ziemlich beleidigend ist, auf wen auch immer sie sich beziehen soll.

Mit weiteren Tüchern bewaffnet ziehe ich den Wasserhahn hoch und wasche mir die Hände. Ich betrachte mich während des Händewaschens im Spiegel. Allzu viel kann ich von meinem Gesicht nicht sehen, da ein riesiger Riss mein Spiegelbild in mehrere Teile spaltet. Immerhin erkenne ich, dass meine Haare noch gut sitzen.

Caleb und Freddy haben mir schon oft gesagt, dass ich der am besten aussehende Typ auf der gesamten Quarter High bin. Mit den dunkelblonden Haaren, dem trainierten Körper und den braunen Augen würde ich jedes Mädchen um den Finger wickeln können.

Ich bilde mir aber nichts darauf ein. Caleb und Freddy sind meine Freunde. Ist es da nicht klar, dass sie nett zu mir sind? Immerhin bin ich auch nett zu ihnen und sage nicht immer, was ich denke.. Aber eine Notlüge ist okay, zumindest dann, wenn die Wahrheit verletzen würde.

Bevor ich meine Gedanken beenden kann, reißt mich der Lärm des Feueralarms in die Wirklichkeit zurück. Ich höre, wie alle Türen aufgehen und die Schüler über den Schulflur nach draußen auf den Parkplatz rennen. Warum lernen diese Kinder nicht aus der Vergangenheit? Das ist sowieso nur eine Übung oder ein Fehlalarm, den irgendjemand mit einem Hintergedanken ausgelöst hat. Außer einem Joint in diesem stinkenden Raum hat noch nie etwas in der Quarter High oder auf dem Grundstück der Schule gebrannt.

Gerade als ich gehen will, reißt Aaron, der Junior aus der Unterstufe, die Tür auf.

»Mr. Sandow hat gesagt, dass ich alle aus den Toilettenräumen holen soll«, sagt er völlig außer Atem und schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an.

»Keine Panik, Aaron. Wenn der Boss dich zum Feuerwehrmann befördert, obwohl du gerade mal ein Junior bist, handelt es sich nur um einen Übungsalarm.«

»Warum denkt ihr Seniors eigentlich immer, dass ihr so viel besser seid als wir? Weil wir ein Jahr unter euch sind? Ihr habt euren Abschluss noch nicht. Die letzten Prüfungen fehlen noch und vielleicht solltet ihr mit dem Prahlen warten, bis ihr das Diplom in euren Händen haltet, verdammte Besserwisser!«

Aaron schüttelt wütend den Kopf und schlägt die Tür hinter sich zu. So einfach mache ich es ihm aber nicht. Ich verlasse den stinkenden Toilettenraum und laufe Aaron hinterher. Ich bestehe auf einem klärenden Gespräch. Bald ist nämlich der Abschlussball und ich will Prom King werden. Dafür brauche ich jede Stimme.

»Ich denke nicht, dass wir besser sind, klar? Wir sind aber fast durch mit dem letzten Jahr und dann kann ich endlich tun, was ich tun will. Davon seid ihr noch etwas entfernt. Ich war aber auch mal ein Junior, jeder von uns Seniors war mal einer und wurde von den Großen fertiggemacht. Du wirst im nächsten Jahr genauso denken, Aaron, glaub mir. Und außerdem ist es gar nicht so schlecht, ein Junior zu sein.«

»Ach ja? Und was ist nicht schlecht daran?«, fragt er bockig und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Weil ihr euch noch keine Sorgen machen müsst, deshalb. Ihr habt noch genug Zeit, um euch ein College auszusuchen und ein geeignetes Stipendium zu finden. In den letzten Wochen habe ich nur gelernt und Prüfungen geschrieben«, erkläre ich und lächle vorsichtig. »Vor einem Jahr konnte ich aber noch entspannen und hab mich auf den Abschlussball gefreut, aber nur, um mitzufeiern. In diesem Jahr werde ich aber die ganze Zeit an mein Diplom denken und an meine Zukunft. Alles wird sich verändern.«

»Freundschaften gehen kaputt, stimmt’s? Zumindest dann, wenn nicht alle zusammen auf das gleiche College gehen werden.«

»Stimmt.« Der Gedanke macht mich traurig, weshalb ich schnell das Thema wechseln will, aber von Mr. Sandow unterbrochen werde.

»Aaron, warum bist du nicht draußen? Du solltest nur schnell die Toiletten absuchen und dann sofort nach draußen rennen«, mahnt der Schuldirektor. Sein 70er-Jahre-Schnauzbart und die Halbglatze bringen mich immer wieder zum Lachen.

»Mal sehen, wann dir dein Lachen vergehen wird, Hunter Forbes. Sofort in mein Büro!«

Bitte was?

»Wieso? Mr. Sandow, tut mir leid. Ich habe nicht Ihretwegen gelacht.«

»Und ich will dich nicht wegen deines dummen Gelächters in meinem Büro sehen.«

»Warum dann? Wegen Mrs. Clover? Sie hat mir erlaubt, auf´s Klo zu gehen.«

»Du hast fünf Minuten, dann sehe ich dich in meinem Büro. Der Alarm ist vorrüber.«

Mr. Sandow und Aaron lassen mich stehen. Warum soll ich in sein Büro kommen? Hat Mrs. Clover sich über mein Verhalten beschwert? Was kann ich dafür, wenn ich auf’s Klo muss? Gut, vielleicht hätte ich nicht zwei Flaschen Limonade trinken sollen, aber was bildet diese Frau sich eigentlich ein?

Wütend gehe ich über den Schulflur. Allmählich kommen die Schüler wieder herein und gehen in ihre Klassen zurück. Auch Cara. Sie kommt direkt auf mich zu und lächelt, doch diesmal bin ich viel zu wütend, um ihr Lächeln zu erwidern.

»Hallo«, sagt sie leise und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

»Hey«, antworte ich unruhig und schaue auf die Uhr, die über den Spinden angebracht ist. Die fünf Minuten sind bestimmt gleich um.

»Ist alles okay mit dir? Du wirkst irgendwie … nervös«, sagt Cara und wirft sich ihr braunes langes Haar über die rechte Schulter.

»Ich muss zu Sandow ins Büro. Keine Ahnung, was der wieder von mir will.«

»Zum Direktor? Hast du wieder etwas angestellt?«, fragt sie besorgt und hebt ihre dunklen, fein gezupften Augenbrauen in die Höhe.

»Ich war nur auf dem Klo, mehr nicht. Aber das reicht anscheinend schon. Ich muss los. Sehen wir uns nach der Schule?«, frage ich und gebe ihr gleichzeitig einen Kuss auf die Stirn.

»Ich arbeite heute wieder im Waffle House, weißt du doch.«

»Und danach? Ich kann dich doch abholen und nach Hause bringen?«, frage ich hoffnungsvoll und schaue sie mit flehenden Augen an.

»Und was machen wir mit meinem Dad? Der ist doch da und du weißt, dass er es nicht gut findet, wenn ich spät am Abend etwas unternehme. Ich muss auch noch lernen.«

»Deine letzte Prüfung schreibst du erst am Montag und heute ist Donnerstag. Du hast also noch genügend Zeit, um zu lernen. Und außerdem findet dein Dad nie etwas gut, egal, ob es in der Woche oder am Wochenende ist, aber okay. Ich komme einfach ins Waffle House und bestelle vierhundert Waffeln, damit du mich immer wieder bedienen und deine Arbeitszeit ausschließlich mit mir verbringen musst.«

»Du hast einen Schaden«, sagt sie grinsend und küsst mich.

»Und genau für diesen Schaden liebst du mich.«

»Stimmt. Viel Glück bei Mr. Sandow und versuch, dich zu benehmen. Du weißt ja mittlerweile, dass alles andere es noch viel schlimmer macht.«

Warum muss meine Freundin nur so vernünftig sein? Salutierend verspreche ich ihr, dass ich mich zusammenreißen werde. Wenig später betrete ich das Büro des Direktors.

»Ich kümmere mich gleich um dich«, sagt Mr. Sandow und bespricht etwas am Telefon.

Ich schaue mich um. Ich kenne den Raum auswendig, aber um mir sicher zu sein, schließe ich die Augen und versuche, mir den Raum vorzustellen. Der braune Schreibtisch, der wahrscheinlich schon seit Eröffnung der Schule hier steht. 1954 war das, glaube ich. Das Bücherregal, das nur zu Dekozwecken dasteht, denn die Bücher stehen immer exakt an derselben Stelle. Unmöglich, dass tatsächlich jemand in ihnen liest. Die weiße Uhr über mir, die ich nur hören, aber nicht sehen kann, da ich mit dem Rücken zur Tür sitze. Und dann hängt da noch diese riesige Pinnwand über dem Bücherregal, an der ein Flyer des Schulball-Komitees befestigt ist. Das Motto des Abschlussballs lautet: Wanted! Dead or Alive! Keine Ahnung, wer auf so einen Schwachsinn gekommen ist. Viel lieber wäre mir etwas mit Sport oder James Bond gewesen. Meinetwegen auch die siebziger Jahre. Mr. Sandow hätte sich nicht mehr verkleiden müssen.

»Hunter Forbes, geboren am 12.12.1998 in Atlanta«, fängt er an, nachdem er sein Telefonat beendet hat und aus meiner Akte vorliest. »Also bist du 18 Jahre alt.«

Ich nicke und atme dabei tief durch. »18 Jahre, 152 Tage und ein paar Stunden, um genau zu sein«, antworte ich grinsend und freue mich innerlich darüber, dass ich das Büro von Mr. Sandow tatsächlich in- und auswendig kenne.

»Sieh an, ein ganz schlaues Kerlchen. Wo war deine Intelligenz, als du dich unerlaubt aus dem Klassenzimmer entfernt hast?«, fragt er und lehnt sich siegessicher nach hinten.

»Heute? Ich musste auf’s …«, fange ich an, werde aber gleich wieder unterbrochen.

»Nicht nur heute, Hunter. Auch gestern und vorgestern.«

»Oh, also …«, stottere ich. Für einen kurzen Moment muss ich nachdenken. »Vorgestern hatte meine Mom mir ein paar Unterlagen vorbeigebracht, die ich für die nächste Stunde brauchte und gestern sprang auf einmal die Alarmanlage meines Autos draußen auf dem Parkplatz an. Das musste ich klären, sonst würde ich jetzt hier sitzen, weil ich die Alarmanlage meines Autos nicht ausgeschaltet habe. Wie ich es auch drehe und wende, am Ende sitze ich wieder in Ihrem Büro.«

»Heute hast du aber eindeutig übertrieben, Hunter Forbes. Deine Streiche und deine selbstherrliche Art kennen wir bereits, aber wenn es um die Sicherheit meiner Schüler geht, verstehe ich absolut keinen Spaß.« Mr. Sandow lehnt sich wieder nach vorn und platziert dabei seine Ellenbogen auf der braunen Tischplatte.

Ich komme nicht mehr mit. Sicherheit seiner Schüler? Womit habe ich die Sicherheit seiner Schüler gefährdet? Mit meinem Klogang?

»Mister Sandow, wovon reden Sie da?«

»Du hast den Feueralarm ausgelöst, weil du auf der Toilette geraucht hast. Wir haben Zeugen, die bestätigen können, dass du in der Toilette warst, von wo aus auch der Alarm ausgelöst wurde«, sagt er streng und schaut mir dabei tief in die Augen.

Ich springe auf und schüttele ungläubig den Kopf. »Nein, nein, nein. Diesen Schuh zieh ich mir ganz bestimmt nicht an. Das können Sie vergessen, Sandow.«

»Immer noch MISTER Sandow.« Er wirft mir einen mahnenden Blick zu.

»Ich war das nicht. Ich rauche nicht. Ich bin Sportler, falls Sie das vergessen haben. Ich bin Pitcher bei den War Horses. Ich werfe die Bälle für das Baseballteam Ihrer Quarter High School. Ich mache Späße und bin vielleicht manchmal nicht der aufmerksamste Schüler, aber ich würde nichts tun, was meinen Platz im Team gefährden könnte.«

»Ich möchte dir glauben, Hunter, aber sogar Mrs. Clover hat gesagt, dass du zu der Zeit, als der Alarm ausgelöst wurde, auf der Toilette warst. Ich musste leider deine Eltern verständigen. Sie werden dich gleich abholen kommen.«

»Sie haben was? Meine Eltern verständigt? Mein Dad arbeitet den ganzen Tag in seinem Baumarkt, der kann da nicht einfach weg und meine Mom macht sich viel zu schnell Sorgen.«

Ich seufze und lehne mich ebenfalls ein Stück nach vorn, so dass ich ihm tief in die Augen sehen kann. »Ich schwöre Ihnen, dass ich das nicht war. Ich habe aber auch die Zigaretten gerochen, als ich die Toiletten betreten habe. Da muss also ganz kurz vor mir jemand geraucht haben. Vielleicht reagiert der Rauchmelder verzögert oder so.«

»Warum hast du das denn nicht gemeldet?«, fragt Mr. Sandow skeptisch.

»Weil es dort jeden Tag nach Zigaretten und Joints riecht und das eigentlich jeder weiß. Dieser Raum wird nicht grundlos von den meisten Schülern gemieden.«

»Ich werde der Sache nachgehen, aber für den heutigen und morgigen Tag bist du vom Unterricht suspendiert. Wir müssen diesen Vorfall klären. Die Feuerwehr ist grundlos gekommen. So etwas ist sehr teuer. Und für solche Späßchen hat Doomstown kein Geld.«

»Sie wissen, dass das unfair ist, oder? Jemanden zu beschuldigen, ohne es beweisen zu können. Es kann doch genauso gut noch jemand auf der Toilette gewesen sein. Niemand hat mich mit einer Zigarette gesehen. Aber gut, finden Sie raus, was Sie rausfinden müssen. Ich bin mir sicher, dass Fingerabdrücke und Speichelproben und der ganze Scheiß viel teurer sind, als es einfach dabei zu belassen. Und solange Sie diese Proben nicht nehmen, werden Sie auch nicht erfahren, wer dieses Drama hier wirklich verzapft hat, demnach ist Ihre Entscheidung ungerecht und nicht nachvollziehbar.«

Ich stehe auf und gehe zur Tür. »Entschuldigen Sie mich. Meine Mutter steht sicherlich schon auf dem Parkplatz, um mich abzuholen, weil ich ja auch erst 18 Jahre alt bin und meinen Kram allein nicht regeln kann. Vielen Dank für Ihre Mühe, Mr. Sandow.«

Wütend verlasse ich das Büro des Direktors und gehe zurück in den Klassenraum, der gähnend leer ist, da die letzte Pause angefangen hat und alle draußen sitzen und die Sonne genießen. Ich greife nach meinem Schreibblock und meinen Stiften und werfe den gesamten Schulkram achtlos in meinen schwarzen Lederrucksack. Es kann unmöglich wahr sein, dass ich kurz vor den letzten Prüfungen vom Unterricht suspendiert werde, obwohl ich nichts verbrochen habe. Ich wünsche mir in diesen Sekunden nichts mehr, als diese Schule nie wieder sehen zu müssen. Abgesehen vom Baseballfeld. Ich verbringe lieber Zeit mit meinem Team auf dem Feld als mit meiner Familie zu Hause. Und nichtsdestotrotz fällt das morgige Training wohl für mich aus.

»Schatz, hier drüben bin ich«, ruft meine Mutter lautstark über den Parkplatz und winkt mich zu sich. Sie steht vor ihrem roten SUV, der noch aus der Zeit stammt, als es uns besser ging, und hält sich wegen der Sonnenstrahlen schützend eine Hand vor die Augen. Ihre blonden Haare hat sie zu einem streng aussehenden Dutt gesteckt. Ich hasse es, wenn sie diese schreckliche Frisur trägt, wenn man dieses Etwas überhaupt Frisur nennen kann. Sie sieht dann nicht mehr aus wie 38, sondern wie 51. Sogar meine Grandma Lizzy sieht dann jünger aus als meine Mutter.

»Ich sehe dich, okay? Ich fahre aber mit meinem eigenen Wagen nach Hause«, stelle ich sofort klar und gehe auf meinen schwarzen Ford F 150 aus der zwölften Generation zu, den mir mein Grandpa vererbt hat, kurz bevor er an einer schweren Krankheit starb.

»Wir sollten aber vorher darüber reden, was hier heute passiert ist«, sagt meine Mutter und kommt dabei mit schnellen Schritten auf mich zu.

Ich schließe die Tür der Fahrerseite auf und steige ein. Kurz bevor ich die Tür zuschlagen will, reißt meine Mutter sie wieder auf und schüttelt entschieden den Kopf.

Jetzt kommt sie. Die nervigste Predigt aller Zeiten.

»Du kannst nicht immer einfach so verschwinden, Hunter«, sagt sie enttäuscht. »Wir müssen darüber sprechen. Immer wenn dir alles zu viel wird, gehst du einfach.«

»Ich bin doch gleich zu Hause. Können wir nicht da weiterreden?«, schlage ich vor, natürlich mit einem Hintergedanken. Als ob ich mir freiwillig dieses Gespräch geben will.

»Na gut. Du kommst aber wirklich nach Hause, ja? Nicht wieder wie beim letzten Mal, als ich dich am späten Abend bei Caleb abholen musste. Ich will nur wissen, was passiert ist.«

»Ja, ja. Bis später.« Ich verdrehe meine Augen und starte den Motor.

»Nein, nicht bis später. Bis gleich!«

Ich fahre davon und sehe im Rückspiegel meine Mutter in ihren roten Wagen einsteigen und gleich darauf losfahren. Natürlich bin ich schneller als sie, weshalb ich sie wenige Sekunden später abhänge und mein Tempo beschleunige. Jetzt gehört der Nachmittag mir. Es ist Zeit für die guten Dinge. Dinge, die nichts mit einem bescheuerten Schuldirektor, angeblichen Zeugen oder einer nervtötenden Mutter zu tun haben.

3.

Ich drehe die Musik in meinem Auto auf und wippe mit dem Kopf zum Beat. Bis Caras Schicht im Waffle House anfängt, dauert es noch ein paar Stunden. Wie kann ich mir also am besten die Zeit vertreiben?

Ich fahre über die Interstate 20, die direkt nach Atlanta führt. In einer knappen halben Stunde sollte ich da sein. Ich habe keine Ahnung, was ich dort machen will, aber alles an Atlanta ist besser als irgendetwas in Doomstown. Doomstown ist höchstens bekannt für den internationalen Pferdepark, der vor unzähligen Jahren mal die Olympischen Sommerspiele beherbergt hat. Heute gibt es dort immer noch Veranstaltungen für Pferdefans, doch mehr als Pferdekram, viel Natur und ein paar Geschäfte bietet die Kleinstadt mit 9.927 Seelen nicht. Sogar unsere Quarter High School wurde nach dem Quarter Horse benannt. Ein Pferd, das als freundliches und ruhiges Wesen, sensibel, aber überaus nervenstark und sehr lernfähig beschrieben wird. Eine motivierende Einstellung, sagt Mr. Sandow immer. Und verpasste der Quarter High im letzten Jahr ein neues Maskottchen: das Pferd, das auch die Jerseys unseres Baseballteams »War Horses« ziert.

Mittlerweile wische ich mir den Schweiß nicht mehr aus dem Gesicht. Ich gebe es nicht gern zu, aber es war dumm, einfach ohne Plan nach Atlanta fahren zu wollen. Obwohl die Stadt nicht weit entfernt ist, realisiere ich langsam, dass eine Autofahrt bei den Temperaturen nur sinnvoll ist, wenn der Wind einem um die Ohren weht oder man eine funktionierende Klimaanlage besitzt. Leider habe ich bei meiner spontanen Entscheidung das Ehepaar nicht einkalkuliert, das kurz vor der Ortschaft Redan in einen Truck gebrettert ist.

Genervt und seufzend lasse ich mich in den Sitz fallen. Der heutige Tag läuft echt beschissen und um dem Horrorablauf noch eine Krone aufzusetzen: Ich habe nichts zu trinken mitgenommen. In meinem Rucksack werde ich außer einer wilden Zettelwirtschaft nichts finden. Und was meinen Ford betrifft, sieht es nicht anders aus. Ich bin viel zu ordentlich, als dass ich eine Plastikflasche einfach so auf der Rückbank liegengelassen hätte. Es scheint aussichtslos, in den nächsten Minuten eine Tankstelle oder etwas Ähnliches zu erreichen. Der Verkehr stockt und es gibt kein Entkommen.

»Wichtige Verkehrsinfos. Auf der Interstate 20 kurz vor Redan sorgt ein Unfall, in den ein Kleinwagen und ein Truck verwickelt sind, für einen Stau. Bitte haben Sie einen Moment Geduld, die Polizei ist bereits vor Ort«, sagt mir die Frau aus dem Radio, dann kommt ein Mut machendes Lied für alle Wartenden, die dieses Ehepaar höchstwahrscheinlich gerade verfluchen.

»Das ist natürlich ganz toll.« Ich greife nach meinem Rucksack, den ich vorhin auf den Beifahrersitz geworfen habe und krame mein Smartphone heraus. »War ja klar. Vier verpasste Anrufe von Candice.« Candice ist übrigens meine Mutter.

Und dann ist da auch noch eine Nachricht von meinem Vater Paul, der bei der Hochzeit übrigens den Nachnamen meiner Mutter angenommen hat: Fahr sofort nach Hause und rede mit deiner Mutter oder du kannst die Party morgen bei Jason vergessen.

Die Party. Danke Dad. Beinahe hätte ich Jasons Party vergessen.

Ohne über die möglichen Konsequenzen nachzudenken, werfe ich mein Smartphone auf den Beifahrersitz und plane meine Anwesenheit auf der wahrscheinlich allerletzten Hausparty in Doomstown.

Ich weiß, dass es Unglück bringt, etwas zu feiern, was noch gar nicht gefeiert werden sollte, aber nach unserem High School Abschluss werden wir alle in verschiedene Richtungen gehen, also musste die Abschlussparty vorverlegt werden, damit auch alle dabei sein können.

Der Kleinwagen des Ehepaares, das gerade erst geheiratet haben muss, weil die Frau ein Brautkleid und der Mann einen Anzug trägt, wird unsanft zur Seite geschoben und der Stau löst sich langsam auf. Rettung ist in Sicht. Ich drehe meine Musik wieder etwas lauter und trommle mit meinen Händen auf das Lenkrad. Grinsend passiere ich das Ehepaar, das am Straßenrand neben einem dickbäuchigen Officer steht. Man sieht es mir an, dass ich froh bin, endlich weiterfahren zu können. Manchmal kann ich fies sein, ich weiß, aber wer will schon freiwillig eingesperrt sein? In einem Auto, das so aufgeheizt ist, dass man einen Saunagang imitieren könnte? Niemand! Nur der Bräutigam tut mir leid. Wie er da in seinem schicken Anzug neben seiner Frau steht und versucht, den Tag zu retten. Wahrscheinlich ist er nur in den Truck gebrettert, weil sie so schnell wie möglich den Hartsfield–Jackson Atlanta International Airport erreichen wollten, um in die Flitterwochen zu fliegen. So ist das Leben. Hart und ungerecht.

Kurz bevor ich Atlanta erreiche, vibriert mein Smartphone. Zuerst will ich meckern, weil ich denke, dass meine Mutter wieder anruft, aber als ich Caras Namen auf dem Bildschirm sehe, lächle ich und öffne die Nachricht: Hab gehört, dass du suspendiert wurdest. Caleb meinte, dass dieser Feueralarmstreich sogar für dich eine Nummer zu heikel wäre. Hast du etwas damit zu tun? Bin jetzt auf dem Weg ins Waffle House. Bis später. xxx

Immerhin weiß Caleb, dass ich nicht so dumm bin und mit so einer Aktion meinen Platz im Team gefährden würde. Schade, dass meine Freundin so misstrauisch ist und mir solche dummen Aktionen zutraut. Klar, in der Vergangenheit habe ich viele Streiche gespielt. Der beste davon war, als ich die ganze Tafel mit Haarspray eingesprüht und die Kreide ausgetauscht habe. Naja, mit Lakritzen, die aussehen wie kleine Kreidestücke lässt sich halt keine versiegelte Tafel beschreiben. Ich erinnere mich zu gern an diesen Tag. Dennoch würde ich nichts tun, was wirklich für Schwierigkeiten sorgt.

Und plötzlich höre ich Sirenen.

Ein Streifenwagen direkt hinter mir. Es dauert nicht lange und der Officer bittet mich, rechts ran zu fahren, was auf einem Highway mit so viel Verkehr aber gar nicht so einfach ist. Ich bereite mich auf die nächste Predigt vor und parke auf dem Seitenstreifen.

Ich hole meine Papiere aus dem Handschuhfach und kurble das Fenster runter. Da kommt er auch schon. Grinsend und mit einer Sonnenbrille auf der Nase.

»Den Führerschein und die Fahrzeugpapiere, sofort«, sagt er in einem strengen Ton und pumpt sich vor mir auf. Als ob ich ihn in dieser viel zu engen Uniform ernst nehmen würde.

»Selbstverständlich, Officer.« Ich reiche ihm die Papiere und setze ein Lächeln auf.

»Du weißt, warum ich dich angehalten habe?«, fragt er und redet mit mir in einer Tonlage, die ich von meinem Vater kenne. Streng und erwachsen, irgendetwas dazwischen.

»Weil Sie ihren Job besonders gut machen wollen und deshalb Kontrollen durchführen?«

»Du hast während der Fahrt auf dein Handy geschaut. Ich nehme an, dass kein Notfall besteht? Denn nur in einer Notsituation ist dieses Verhalten erlaubt.«

»Doch, meine Freundin ist … Ich muss schnell …«, stottere ich. Mist! So schnell bin ich auf das Erfinden einer Ausrede nicht vorbereitet.

»Deine Freundin ist kein Notfall. Das ergibt eine Geldstrafe von 150 Dollar. Bitte sehr.«

Der Officer reicht mir ein Ticket und schenkt mir dabei ein breites Grinsen.

»Können Sie mich nicht verwarnen? Bitte Officer!«, flehe ich. Eigentlich ist flehen und betteln überhaupt nicht meine Art, aber wenn ich an die 150 Dollar denke, wird mir schlecht.

Wie soll ich das nur meinen Eltern erklären?

»Beim nächsten Mal weißt du es besser. Gute Weiterfahrt!«, sagt er und nickt mir zu. Er verschwindet mit seinem Streifenwagen und fährt wenige Sekunden später an mir vorbei. Ja, jetzt ist mir die Lust endgültig vergangen.

Bevor ich das nächste Ticket an Land ziehe, schreibe ich Cara eine Nachricht vom Seitenstreifen aus. »Ich komme jetzt zum Waffle House. Bin so in zwanzig Minuten da.«

Es regt mich auf, dass ich anscheinend schon jetzt aus diesem Ticket gelernt habe. Ich packe nämlich mein Smartphone zurück in den Rucksack und starte den Motor.

Ich nehme die nächste Abfahrt, um dann auf die andere Seite der Interstate zu gelangen. Mit schlechter Laune fahre ich zurück nach Doomstown. In diesem ätzenden Kaff warten unzählige Probleme auf mich. Mein Vater wird mir höchstwahrscheinlich den Kopf abreißen, wenn ich nicht sofort nach Hause fahre. Meine Mutter wird wieder einen Heulkrampf kriegen, wenn ich ihr sage, dass ich Geld brauche und mein Direktor will mich für diesen dummen Vorfall in der Schule verantwortlich machen.

Warum kann nicht jemand kommen und mich in eine andere Welt mitnehmen? In eine Welt, in der ich Baseball mit meinem Team spielen und Partys mit meinen Freunden veranstalten kann und in der es keine Eltern gibt, die einem nur ständig Vorwürfe machen. Oh ja, schön wär’s, aber leider befinde ich mich immer noch in der Realität.

Ich erreiche das Waffle House und mustere mich kurz im Rückspiegel. Ich sehe total verschwitzt und gestresst aus. Meine dunkelblonden Haare, die ich eigentlich immer nach oben style, fallen mir in die Stirn. Haarspray brauche ich also auch.

Erschöpft von all den Ereignissen steige ich aus und betrete das Restaurant, in dem es fast alles gibt, was das Herz eines Amerikaners höher schlagen lässt, zumindest wenn man auf herzhafte Snacks steht.

Cara steht am Tresen und bereitet eine Bestellung vor. Sie trägt ihre Arbeitskleidung, die sie überhaupt nicht leiden kann. Ich finde sie in dem hellblauen Hemd und der dunkelblauen Schürze total niedlich. Und auch die Mütze auf dem Kopf steht ihr hervorragend. Ich sage ihr immer wieder, dass sie ihr braunes Haar ruhig öfter zu einem Zopf zusammenbinden kann, aber ihr gefällt diese Idee überhaupt nicht.

Das ganze Waffle House sieht aus wie ein typisches Diner. Gefliester Boden und geflieste Wände, rote Stühle und Bänke. Über dem Tresen sind verschiedene Menüs auf einem leuchtenden Schild angebracht, welches dasselbe Gelb hat wie das Logo des Restaurants.

Cara schaut konzentriert auf einen Bestellzettel. Ich kann die obere Hälfte des Zettels lesen und halte Ausschau nach dem Besteller. Es kann nur der dicke Typ neben mir sein, der gierig in die Restaurantküche starrt. Bestimmt war er es, der drei große Käsesandwiches, zwei Waffeln mit Bacon, dazu einen Gartensalat und eine große Cola bestellt hat.

Ich kenne die Preise hier in- und auswendig. Ich rechne kurz alles zusammen und komme zu meinem Ergebnis: 15,35 Dollar.

Bevor Cara den Typen neben mir abkassiert, spreche ich sie an: »Ich hätte dich gern nackt in meinem Bett. Dazu aber noch eine große Flasche Wasser.«

Erschrocken schaut sie auf und gerade, als sie mit ihren Beschimpfungen loslegen will, erkennt sie mich und lächelt schwach. »Hey! Ich dachte, du wärst irgend so ein Perverser. Erschreck mich doch nicht so. Was kann ich dir bringen?«

»Hab ich doch gerade gesagt. Ich will dich nackt in meinem Bett und dazu eine Flasche Wasser.« Ich grinse sie schief an.

»Ich arbeite, Hunter. Also?«

Wieso versteht sie nur so wenig Spaß?

»Ich nehme nur den Grilled Chicken Salad und eine Flasche Wasser«, antworte ich dann etwas geknickt und setze mich auf die freie Bank am Fenster.

Der dicke Typ, neben dem ich gerade noch stand, ist mit dem Bezahlen dran.

»Das macht 15,35 Dollar«, sagt Cara freundlich und nimmt das Geld entgegen. Wusste ich’s doch. Er nimmt die Tüte und verlässt glücklich das Restaurant.

Im Hintergrund läuft gerade One Way Or Another von Blondie. Leider wird das Lied von klirrendem Geschirr, plaudernden Gästen und schreienden Mitarbeitern übertönt.

Ich taste meine Hosentasche ab und muss mit großer Enttäuschung feststellen, dass ich mein Handy im Auto liegen gelassen habe. Also kein lustiges Katzenvideo von Caleb nach der Schule. Dieser Tag verläuft wirklich nicht gut.

Cara kommt mit einem Tablett auf mich zu und stellt den Teller mit dem Salat vor mir ab.

»Tut mir leid, dass ich gerade so komisch zu dir war. Ich möchte diesen Job nicht verlieren, weißt du? Der Boss ist nämlich hier und schaut uns genau auf die Finger.«

»Ist schon okay. Ich weiß ja, dass du in Stresssituationen nicht ganz so entspannt bist.« Ich grinse ihr frech entgegen und ernte dafür in derselben Sekunde einen leichten Schlag gegen die Schulter.

»Du hast ja auch leicht reden. Du gehst den Tag total entspannt an, legst die Füße auf den Tisch, nimmst die Hände hinter den Kopf und siehst dabei zu, wie Caleb deine Notizen aufschreibt. Was machst du eigentlich, wenn Caleb mal nicht da ist?«, fragt sie grinsend und schaut hinter sich, um sicherzugehen, dass sie niemand beim Plaudern beobachtet.

»Er ist immer in der Schule. Er war nur ein einziges Mal nicht da und das war, als seine Grandma gestorben ist. Ich habe an dem Tag aber auch gefehlt. Nancy und ich mochten uns nämlich sehr gern, also war ich ebenfalls auf ihrer Beerdigung«, erzähle ich und pikse mit der Gabel in einen der Hähnchenstreifen.

»Das gibt es nicht«, sagt Cara belustigt und schüttelt dabei den Kopf. »Wie hast du es nur in die Abschlussklasse geschafft?«

»Ich bin ein Überlebenskünstler, Baby.«

»Hoffen wir mal, dass dir dein Survivaltraining der vergangenen Jahre auch in den letzten Abschlussarbeiten nützen wird. Ich habe nämlich gehört, dass die letzten Prüfungen echt hart sein sollen. Und dann musst du ohne deinen Gehilfen auskommen.«

»Caleb war nicht immer an meiner Seite. Ich hatte nie Probleme in der Schule. Ich bin vielleicht etwas bequem, was den Unterricht angeht, aber ich bin nicht blöd. Ich lerne, wenn ich Sachen aufschreibe und darin bin ich ein Profi, immerhin schreibe ich mir alles von Caleb ab. Ich habe ein fotografisches Gedächtnis und genau auf dieses Gedächtnis werde ich mich verlassen, wenn die letzten Prüfungen anstehen. Alles gar kein Problem.«

»Ich bewundere deine entspannte Art. Ich habe leider kein fotografisches Gedächtnis.«

»Aber du hast bestimmt ein paar Zettel, oder? Vielleicht auch Walkie-Talkies?«, frage ich und schmiede bereits einen Plan.

»Wofür? Zum Bescheißen?«, fragt sie und sieht mich an, als sei ich verrückt.

Ich nicke.

»Oh Gott, Hunter, wie leichtsinnig wäre das? Vergiss es. Und selbst wenn ich mich darauf einlassen würde, wo zur Hölle soll ich deiner Meinung nach das Walkie-Talkie hinstecken? In die Hosentasche? Oder soll ich es einfach ans Ohr halten?«

Ich runzle die Stirn. Soweit habe ich nicht gedacht. »Mist.«

»Allerdings. Deine Ideen sind lieb gemeint, aber die Umsetzung ist mir dann doch zu … offensichtlich? Tut mir leid, Darling. Ich muss jetzt weitermachen.«

»Und wenn du so tust, als hättest du dir den Arm gebrochen? Wir könnten das Funkgerät in den Gips einbauen. Du müsstest dann nur dein Ohr zwischendurch auf den Arm legen, um meinen Worten zu lauschen. Ich würde mich gegenüber von deinem Klassenraum auf dem riesigen Baum verstecken, um zu sehen, wann du mich bräuchtest. Das ist brillant, oder? Vielleicht geht aber auch ein Headset, das als Ohrring getarnt ist.«

Sie lacht und wuschelt mir dabei durchs Haar. »Ich liebe dich und deine verrückten Ideen, aber ich werde wohl oder übel das Wochenende zum Lernen nutzen müssen.«

Genau das wollte ich nicht hören. »Dann hast du aber wieder keine Zeit und morgen ist die Party bei Jason. Du musst unbedingt mitkommen. Das wird vielleicht die letzte Party sein, auf die wir gemeinsam gehen«, erkläre ich und schaue sie flehend an.

»Was ist mit dem Abschlussball? Da werden wir doch auch alle hingehen.«

Verdammt, sie hat recht.

»Das ist aber etwas anderes. Auf dem Ball sind auch unsere Lehrer. Willst du wirklich mit Mr. Kotter alkoholfreien Punsch trinken und mit Mr. Sandow das Tanzbein schwingen?«

»Natürlich will ich das nicht. Mein Vater wird mich aber bestimmt nicht auf Jasons Party lassen. Er weiß, dass die letzten Prüfungen anstehen. Er erinnert mich jeden Tag daran.«

»Rede mit ihm, bitte. Ich möchte nicht ohne dich gehen.«

»Ich versuche es, in Ordnung?«

Ich nicke. »Okay.«

Sie drückt mir einen flüchtigen Kuss aufs Haar und räumt danach den Nebentisch ab.

Ihr Leben ist so durchgeplant. Wenn es nach ihr geht, wird sie die High School mit sehr guten Noten beenden, einen Platz an der Harvard University ergattern und einen Job finden, der nicht nur gut bezahlt, sondern auch sicher ist. Cara hat nämlich panische Angst davor, dass sie irgendwann von einer Maschine ersetzt werden könnte.

Was meine Zukunft angeht, bin ich überhaupt nicht wie sie. Ich lebe in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Natürlich habe ich Ziele, aber ich richte nicht mein ganzes Leben nach ihnen. Vielleicht will ich auch einfach nicht an die Zukunft denken, weil ich tief in meinem Inneren weiß, dass Cara kein Teil dieser Zukunft sein wird. Unsere Wege unterscheiden sich stark voneinander. Ich suche ein College, das mich sportlich voranbringen kann. Sie sucht ein College, das sie auf dem Weg zur Anwältin bestens vorbereitet. Ein College zu finden, das ein gutes Baseballteam hat und gute Kurse für eine angehende Rechtsanwältin anbietet, ist nicht gerade einfach. Und wer versichert uns, dass genau dieses College, das alles bietet, was wir wollen, nicht nur einem von uns einen Platz anbieten würde?

Ich futtere den Rest meines Salats und trinke die halbe Flasche Wasser aus. Ich schaue auf die Uhr und denke dabei an meine Mom. Mich überkommt ein Gefühl von Mitleid für sie.

Meine Mutter versucht immer, das Richtige zu tun, auch wenn es in meinen Augen falsch ist, was sie alles auf sich nimmt, um mich doch noch zu einem gut erzogenen Jungen zu machen. Ich bin wie ich bin und sie kann es nicht mehr ändern. Die Zeit hat mich geformt, das Internet hat mich geprägt und die Schule hat mich verändert. Zu Hause bin ich nur, wenn ich es muss. Sie kann also nicht das Richtige oder das Falsche tun, weil sie einfach keinen Einfluss mehr auf mich hat. Irgendwann in der Vergangenheit hat sie mich verloren und jetzt ist es zu spät, den Draht zu mir zurückzugewinnen. Mit meinem Vater ist das genauso. Er kommt erst am späten Abend und geht am frühen Morgen. Ich sehe ihn, wenn ich mit meinem Wagen durch die Stadt fahre und seinen Baumarkt passiere. Manchmal kommt es vor, dass er draußen die bestellte Ware in Empfang nimmt, dann treffen sich unsere Blicke und wir schauen uns an. Vielleicht lächelt einer von uns. Vielleicht schaut auch einer von uns zur Seite und tut so, als hätte er den anderen nicht gesehen. Caleb findet es traurig, dass es zwischen meinen Eltern und mir so läuft, wie es eben läuft. Ich erkläre ihm dann immer, dass Eltern auch nur Menschen sind, die man lieben oder auch hassen kann. Sie sind nicht besser oder schlechter als der Nachbar von nebenan, nur weil sie uns dieses Leben geschenkt haben. Wir haben das Recht zu entscheiden, wem wir Liebe schenken und wem wir unseren Hass widmen.