4,49 €
Viktor konnte zu dem Zeitpunkt auch noch nicht wissen, dass er in Kürze verhaftet werden würde. Er ist erfolgreicher Personalleiter bei 2B1 - To be number one, ein Konzern mit über 7.000 Mitarbeitern. Firmenfahrzeug, erfolgreich abgeschlossene Projekte, hohes Prestige, eine liebenswürdige Lebensgefährtin, alles ist perfekt. Sein auf Freiheit ausgerichteter Lebenswandel entspricht trotzdem nicht immer unbedingt der bürgerlichen Moral und sorgt für Spannungen in der Beziehung. Zu allem Überdruss hat ihn auch noch seine Lebensgefährtin zu einem Pflegeelternkurs geschleppt, obwohl er einen Hund gegenüber einem Kind bevorzugen würde. Laufend werden Vorstellungsgespräche geführt, darunter auch mit den beiden sehr attraktiven Frauen Tabea und Sabine. Beide werden bei 2B1 eingestellt. Tabea ist Single und genießt die Wochenenden in Clubs und Bars, Sabine hat einen Lebensgefährten. Alles ändert sich als Tabea und Sabine von einem Unbekannten belästigt, verfolgt und attackiert werden. Schnell kann die Polizei einen Zusammenhang zu 2B1 herstellen, was den CEO Johann Kammerhofer zunehmend beunruhigt. Moralische Verfehlungen sowohl bei Viktor als auch bei 2B1 werden immer offensichtlicher. Geschäftsabschlüsse bei 2B1 unter Zuhilfenahme eines speziellen Cateringservice und nicht zustehende Förderungen sorgen immer mehr für Probleme. Johann kann sich meist elegant aus der Affäre ziehen, während Viktor immer stärker verstrickt erscheint. Stütze in dieser Zeit sind seine Lebensgefährtin und die Assistentin Veronika. Viktors Alibi, das sich hauptsächlich auf die Aussage seiner Lieblingsprostituierten stützt, wird immer brüchiger und Viktor steht kurz vor der Festnahme durch Chefinspektor Haberl, ein merkwürdiger Typ.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2022
Erfolg
Normaler Wahnsinn
Tabea
Sabine
Verfolgungswahn
Tabea - eine Woche später
Einstellung Sabine
Tabea - eineinhalb Monate später
Viktors Lebensgefährtin
Sieben Tage bis zum Eintritt von Tabea
Das Welcome-Event
Verfolgung
Message an Tabea
Viktors Besuch
Message an Sabine
Viktors Fortbildung
Einbruch bei Tabea
Anruf bei Sabine
Es hört nicht auf!
Befriedigung
Viktor wird verdächtigt
2B1 unter Verdacht
Tabea und die Liebe
Ermittlungen auf Hochtouren
Die Verhaftung
Dass Viktor kurz vor seiner Verhaftung steht, konnte er trotz seines moralisch nicht ganz einwandfreien Lebenswandels zum jetzigen Zeitpunkt nicht wissen. Im Stopp and go - Verkehr Richtung Innenstadt hält sein 5er BMW dank Stau-Assistent immer den richtigen Abstand. Auf dem Display meldet das Navigationssystem eine kurze Verzögerung und die gestreamte Musik kommt unterbrechungsfrei aus den Bose-Boxen: „The world is closing in and did you ever think, that we could be so close, like brothers“. Viktor ist HR-Leiter (HR für Human Resources oder wie er es nie nennen würde Personalleiter) eines internationalen Industrieunternehmens namens 2B1 mit über 7.000 Mitarbeitern - To be number One. Bereits mit 28 Jahren war er in leitender Position tätig und wechselte vor drei Jahren zu seinem jetzigen Arbeitgeber. In zwei Monaten wird er seinen 37. Geburtstag feiern, wobei das Feiern von Geburtstagen nicht so seine Sache zu sein scheint, aber für seine Lebensgefährtin und ein paar Freunde ist das irgendwie wichtig. Er liebt Erfolge und genießt die Bewunderung, wenn Projekte nach seinen Vorstellungen zu Ende gebracht werden können. Bewerber, die dank seiner charismatischen - so zumindest seine Selbsteinschätzung - Überzeugungskraft sich für 2B1 entscheiden, erzeugen in ihm ein Wohlgefühl, das auch für andere leicht erkennbar ist, sie nennen es einen Anflug von Arroganz.
Kinder kommen in seiner Lebensplanung nicht vor, auch wenn er bereits seit acht Monaten gemeinsam mit seiner Partnerin einen Kurs für Pflegeeltern besucht, da seine Lebensgefährtin auf einen Zeitungsartikel gestoßen ist und nun den Mangel an Pflegeeltern etwas reduzieren möchte. Das Haus im Stadtteil Aigen mit Garten ist groß genug für Nachwuchs. „Was ist das auch für eine tolle soziale Sache!“, waren ihre Worte und er hatte anfangs auch keine großen Gedanken darüber gemacht. Seither sitzt er alle zwei bis drei Wochen am Wochenende in einem Kurs und hört sich irgendwelche verzweifelte Geschichten von Paaren an, die keine Kinder bekommen können und deren Aussicht auf eine Adoption de facto nicht vorhanden ist. So bleibt die Pflege von Kindern in Krisensituationen über, die auch in eine Dauerpflege übergeleitet werden kann bzw. von Anfang auf Dauer ausgerichtet ist. Was für ein tristes Publikum, deren Lebensfreude von irgendwelchen kleinen, nicht unterentwickelten Schreihälsen abzuhängen scheint. Letzten Freitag berichtete er der Runde von einem tollen Frankreichaufenthalt, den er mit seiner Lebensgefährtin vor zwei Wochen verbrachte und einem kaum zu überbietenden Rosé-Champagner. Vielleicht war es das Wort Rosé oder doch das Wort Champagner - das konnte er nicht feststellen - aber Verständnis schien die Runde für die angenehmen Dinge des Lebens nicht zu haben. Nein, lieber kümmern sie sich um Gefühle und andere Nebensächlichkeiten und sprechen ausladend darüber. Allein die Frage der Kursleiterin zu Beginn nach dem eigenen Wohlbefinden treibt ihn regelmäßig zur Verzweiflung, wobei sie im Vergleich zu den anwesenden Paaren noch so etwas wie Erfolg ausstrahlt. So sind ihre roten Haare und ihr offenes Wesen auffällig anders und hätte sie einen richtigen Beruf so wäre eine Karriere durchaus machbar. Viktor schätzt Karrieren und Menschen meist richtig ein. Nur bei sich selbst scheint das manchmal nicht ganz so gut zu klappen. Trotz des Erfolges spürt er in letzter Zeit öfter ein leises Unbehagen, das sogar nicht zum äußeren Verhalten passt.
Um 08.10 ist er trotz der Mütter-Kinder-Bringdienste und Schrittgeschwindigkeiten vor den Schulen endlich im Büro angekommen. Seine Assistentin Veronika hat ihn schon gesehen und bereitet bereits den ersten Espresso vor. Sie ist 32 Jahre alt, trägt heute Jeans und weiße Bluse, was ihre schlanke Figur gekonnt betont. Das Gesicht deutet auf Zielstrebigkeit hin und ihr freundliches - fast schon dienendes - Wesen - ergänzt seine Dominanz, ohne diese nur ansatzweise zu gefährden. „Bereit für den ersten Espresso?“ erklingt ihre Stimme, die ihn immer an einen 20-jährigen Whiskey mit feinem Abgang erinnert, was selbst an einem Montagmorgen noch ein angenehmes Gefühl erzeugt. Er tauscht sich mit ihr gerne aus. Selbst privat - sie möchte gerne eine neue Wohnung kaufen - scheinen sie einen ähnlichen Lebensentwurf zu haben. Kinder sind dabei kein Thema. Dafür hochwertige Einrichtungsgegenstände, klare Raumaufteilungen, schöne Rückzugsorte, interessante Bücher und Sportaktivitäten. Sie liebt ihr Fitnessstudio und genießt ihr Alleinsein. Zumindest sind für Viktor keine Anzeichen erkennbar, dass sie in nächster Zeit heiraten werde oder gar - noch schlimmer - ein Kind bekommt. Viktor schätzt ihre Unabhängigkeit und fühlt sich in ihrer Nähe wohl, was eine perfekte Assistentin auszeichnet. Auch umgekehrt scheint Veronika ein ausgezeichnetes Verhältnis zu ihrem Vorgesetzten zu haben. „Der CEO möchte sie heute noch sprechen“, merkte Veronika beim Servieren des Kaffees an. Viktor liegt am regelmäßigen Austausch mit dem CEO DI Johann Kammerhofer sehr viel und das unterstreicht aus seiner Sicht die Wichtigkeit seiner Position. Er selbst ist neben zwei weiteren Kollegen Prokurist. Bei Abwesenheit des CEO kommt seit einem halben Jahr immer er zum Zug, wenn es um die Vertretung geht. Die gesamte Belegschaft sowie der gesamte Betriebsrat haben entsprechend Respekt vor ihm und seine verbindliche Art wird immer wieder lobend erwähnt. Viktor hat weiters einen guten Draht zu sämtlichen Hierachieebenen und selbst im Produktionsbereich wird seine Bodenständigkeit positiv bemerkt. Viktor muss diese Erdung und Bodenhaftung auch nicht spielen, sondern es handelt sich um einen ganz natürlichen Wesenszug. Im Gegensatz zu vielen Kollegen kann er Gefühle, über die er selber nicht gerne spricht bzw. diese auch nicht zeigt, trotzdem noch gut wahrnehmen und bemerkt schnell Missstimmungen im Team. „Am Nachmittag ab 13.00 ist sehr gut möglich, bitte stellen sie einen Termin in meinen Kalender“, antwortet Viktor. An das hat sich Viktor erst gewöhnen müssen, dass andere über seinen Kalender verfügen. Anfangs war er wehrhaft und merkte an, dass nur Räume gebucht werden können. In großen Konzernen wurden seit längerem auch Menschen wie Räume gebucht. Diese Veränderung war erkennbar. Für Viktor blieb dabei immer ein schaler Beigeschmack, was ihn deutlich von den übrigen Führungskräften unterschied.
Seine Kollegen in der Geschäftsleitung Christian, COO - Chief Operating Officer / Produktion und der CSO - Chief Sales Officer - Vertrieb waren Techniker, die für HR nur wenig übrig hatten. Viktor konnte sich in der Vergangenheit bereits einiges technisches Wissen aneignen und wusste um die wesentlichen Geschäftsfelder und Produktionsabläufe zumindest rudimentär Bescheid. Wenn sich Viktor in den Management-Sitzungen technisch einbrachte, wurde er trotzdem oft nur müde belächelt. Umgekehrt war jeder seiner Kollegen ein Experte in Sachen Personal. Der letzte Vorschlag von Christian zur Produktivitätssteigerung betraf einen Schrittzähler. Dieser Schrittzähler wird mittlerweile in einer Pilotphase getestet und das Management ist Feuer und Flamme, was wohl auch dem Umstand geschuldet ist, dass der CEO seinen Schrittzähler Tag und Nacht, 365 Tage im Jahr, tragen möchte. Die von der App gezählten Schritte werden stündlich an den Firmenserver übermittelt, der ein entsprechendes Ranking erstellt. Die GPS-Funktion wurde nicht offiziell mitgeteilt, da diese nur für berufliche Zwecke genutzt werden sollte. Wieviel Schritte gehen Produktionsmitarbeiter am Tag? Welche Wege werden zurückgelegt? Die Wegprofile sollen dann für entsprechende Verbesserungspotentiale - respektive weniger Schritte - genutzt werden. Außerhalb der Arbeitszeit sind die Schritte wieder zu erhöhen, um einen produktiven und gesunden Mitarbeiter zu gewährleisten. Bei Führungskräften hatte es bereits zu einer Verhaltensänderung geführt. Die Mittagspause wird nun für einen Spaziergang um das Headquarter genutzt. Der künstlich angelegte See wird dabei von den ganz Motivierten mehrmals umrundet. Im letzten Monatsranking gelang es Christian sogar Johann gefährlich nahe zu kommen. Viktor war Teil dieser Kultur, die etwas „ strange“ wirkt und die Freizeit auch für berufliche Zwecke nutzen will. Wer hier an Revolution oder zumindest leichten Widerstand seitens der Mitarbeiter von unteren Hierachiestufen denkt, wird enttäuscht. Die Karrierewilligen prägen das Unternehmensklima und hüten sich penibel davor, irgendeinen neuen Trend nicht mitzumachen. Und tatsächlich finden sich in diesem Konzern immer noch unzählig viele, die sich über Laptop und Mobiltelefon freuen. Die völlige Ekstase löst dann das Firmenfahrzeug und das eigene Büro samt Führungsverantwortung aus. Viktor ist klar, dass er dieses System zu einem großen Teil mitträgt und für den Erfolg dieses Systems hart arbeitet. Der Zusammenhang zu seinem Erfolg ist für ihn offensichtlich und diesen gilt es unter allen Umständen zu verteidigen bzw. weiter zu vergrößern. Viktor beißt von seinem Apfel ab, den das Unternehmen in Obstkörben bereitstellt. Er sorgte neben dem Apfel auch für Bananen, Orangen, Nüsse, Joghurt und Karotten. Gesundheit soll bei 2B1 eine zentrale Rolle spielen. Die entsprechende von ihm geleitete betriebliche Gesundheitsförderung hat die ersten erfolgreichen Veränderungen gebracht. Mehr als die Hälfte der Mitarbeiter haben bei der letzten Befragung angegeben, dass sich durch dieses Projekt auch ihre private Einstellung zur Gesundheit geändert hat. Die Krankenkasse unterstützte die Aktivitäten mit diversen Veranstaltungen und Förderungen. Warum diese gesunden Menschen dann mit nach unten gezogenen Mundwinkeln jeden Tag zur Arbeit fahren, konnte bzw. wollte auch Viktor nicht beantworten.
Viktor beschäftigt sich privat mit vielen Fachbüchern. Sein Wissen über Personal und HR muss - wie er es nennt - „state-of-the-art“ sein. Seit einiger Zeit interessiert er sich aber auch für philosophische, wirtschaftskritische und fast schon esoterische Ausführungen. Manchmal spürt er, dass es noch mehr geben könnte als Karriere und Erfolg. Kann Erfolg außerhalb eines großen Unternehmens überhaupt möglich sein? Wie definiere ich meinen persönlichen Erfolg? Warum ist meine Lebensgefährtin oft so distanziert? Fragen, die Viktor immer mehr beschäftigen…
Ein Kalendereintrag meldet sich zu Wort: „09.15 Vorstellungsgespräch mit Tabea Welser / Sourcing“. Viktor konnte den vielen Gesprächen immer etwas Positives abgewinnen. Neben dem vorgegebenen Bewerbungsfragebogen lernte er jeden Tag neue Menschen kennen, die versuchen, ihn zu überzeugen. Mit gewohnter Professionalität stellte er zuerst das Unternehmen vor, zeigte den historischen Werdegang, erwähnte die Erfolge und kam beim Ausblick selbst ins Schwärmen. Das Wachstum für das nächste Jahr war mit 15 % deutlich über dem Branchenschnitt und in drei Jahren sollte der Umsatz auf fünf Milliarden gesteigert werden. Tabea wirkte beeindruckt. Umgekehrt fand Viktor ihren Lebenslauf herausragend. Neben dem unglaublich guten Studienabschluss in Betriebswirtschaftslehre hatte Tabea tadelloses Auftreten und mit ihren 27 Jahren bereits eine verantwortungsvolle Stelle im Einkauf eines mittelständischen Unternehmens bekleidet. Sie war eindeutig reif für einen Konzern dieses Formats und legte überzeugend dar, warum diese Position für sie perfekt passen würde und Überstundenarbeit war in keiner Weise ein Problem. Die Fachkenntnisse im Bereich Elektronikeinkauf erfüllten das Anforderungsprofil in seltener Weise. Die soft skills - so die Einschätzung von Viktor - waren auf einem soliden Grundstock ausbaufähig. Eine Bescheidenheit, fast schon leichte Schüchternheit konnte Viktor erkennen und machte sie umso brauchbarer für die Unternehmensinteressen. Formbar war der in der Geschäftsführung gebrauchte Ausdruck. Mit ihrem Lächeln und ihrem hübschen Gesicht sollte auch der CEO zum Entschluss kommen, dass diese Bewerberin bei objektiver Betrachtung die Richtige war. Sourcing wurde als so wichtig eingestuft, dass sämtliche Bewerbungen - auch der unteren Hierachieebenen - vom CEO beurteilt wurden. Bei der ersten Begegnung würde dem CEO - so wie auch Viktor - wohl der angenehme Duft auffallen. Ein Duft, der vermutlich so weich wie ihre Haut war. Viktors Frage „What are your goals for the next five years?“ konnte sie in ausgezeichnetem Englisch beantworten. Die Grundkenntnisse der italienischen Sprache waren nur ein weiteres Plus. Das Kostüm hat Tabea sehr gekonnt für das Gespräch gewählt, was Viktor bereits bei Gesprächstermin bemerkte. Viktor wusste, dass die meisten Entscheidungen bei Bewerbungsgesprächen in den ersten sieben Sekunden nach dem Kennenlernen fallen. Sieben Sekunden entschieden, ob jemand eingestellt würde. Was dann immer folgt ist unwichtiges Beiwerk. Bei Sympathie gibt es entsprechend angepasste Fragen und fast jede Antwort wird als großartig empfunden. Bei Nicht-Sympathie wird der Bewerber mit teils skurril anmutenden Fragen herausgefordert und aus der Reserve gelockt. Viktor könnte darüber viel erzählen, was die neben ihm anwesenden Führungskräfte an Schwachsinn kaum zu überbietenden Fragestellungen in den Raum knallen. Einer der Highlights war - und das ist wie Viktor betonte nicht gelogen - die Frage, die Bewerberin solle ihm doch eine peinliche Frage stellen. Die Frage nach der Farbe der Unterhose schien die Richtige gewesen zu sein. Was immer der Zweck solchen Fragen war, Viktor konnte dem - darüber war er auch froh - nichts abgewinnen. Der Leiter Sourcing war von Tabea ähnlich wie Viktor beeindruckt. Jung, hübsch, anpassungsfähig gepaart mit Intelligenz stellten die Attribute für eine vielversprechende Entwicklung im Unternehmen dar. Der guten Form halber wurde ein zweites Gespräch angedeutet und man werde sich bis spätestens Freitag nächster Woche wieder melden. Bei der Verabschiedung sorgte bei Viktor ihr zarter Händedruck mit dem Lächeln, das ihn berührte, für angenehmes Kribbeln. Im Nachgespräch mit dem Leiter Sourcing wurde schnell Einigkeit erzeugt. Eine exzellente Bewerberin, umfassende Fachkenntnisse, ausbaufähig, passte gut ins Team, Gehaltswunsch hoffentlich in der Range und sympathisches Auftreten. Ihre zwei wohlgeformten Brüste, ihr kleiner straffer Po und ihre fast an einen Flirt erinnernde Konversation spielten weder bei Viktor noch beim Leiter Sourcing professioneller Weise wohl keine Rolle.
Als Viktor am Büro seiner Assistentin vorbeiging, erkundigte sich diese: „Wie ist das Vorstellungsgespräch gelaufen? Können wir bald mit der dringend benötigten Verstärkung im Sourcing rechnen?“ Viktor unterbrach seinen schnellen Schritt, überlegte kurz: „Eine unglaublich kompetente Bewerberin, passt perfekt. Fachkenntnisse gepaart mit hoher Teamfähigkeit. Bitte vereinbaren Sie ein zweites Gespräch, Teilnehmer Herr Kammhofer und ich.“ „Das freut mich sehr“, antworte Veronika ehrlich. „Ach ja, bitte wie immer noch ein paar Tage mit dem Anruf warten. Sie soll ja nicht glauben, wir hätten keine anderen geeigneten Kandidaten“, merkte Viktor noch an. Veronika brauchte diese Hinweise nicht mehr, lächelte aber trotzdem ein „Alles klar“.
Bei der Vereinbarung zu einem zweiten Vorstellungstermin war die Zeit nicht mehr so wichtig. Bei Absagen - vor allem wenn kein Bewerbungsgespräch zustande kommt - ist das jedoch von existentieller Bedeutung. An jedem Morgen erhält Viktor zwischen 40 und 100 Bewerbungen. Viktor ist aber nur für gehobenen Positionen wie Führungskräfte und Top talents zuständig. Der Auswahlprozess findet für diese Bewerbungen meist innerhalb einer Stunde statt. Jede Bewerbung erhält dabei kaum mehr als 30 Sekunden. Fehlende Unterlagen führen zur Aussortierung. Fehlende Fotos, Fotos mit Christbäumen im Hintergrund, Fotos im Bikini, Lücken im Lebenslauf, unübersichtlicher Lebenslauf, viele verschiedene Arbeitgeber und vieles mehr - Häkchen „Absage“ in der Recruiting-Software. Die Bewerber haben bereits eine Mail als Eingangsbestätigung erhalten, dass sich das Unternehmen sehr über die Bewerbung und das Interesse freut und sich in Kürze melden wird. Durch den Mausklick auf „Absage“ wird im Mailprogramm eine Nachricht kreiert, die automatisch nach 7 Werktagen versandt wird. Für den Bewerber wäre auch eine Absage innerhalb weniger Minuten bzw. Stunden unnötigerweise irritierend. Viktor führt dabei immer an, jeder Bewerber kann auch potentieller Kunde sein. Das war seine offizielle Version. Viktor hatte ob dieser altrömischen Daumen-nach-oben bzw. Daumen-nachunten Vorgangsweise leichte Zweifel. Er wusste aus seinen vielen Seminarbesuchen und Teilnahmen an HR-Austauschtreffen, dass die anderen Personalabteilungen nach ähnlichen Kriterien vorgingen. Viktor stellte sich von Zeit zu Zeit die Frage, was wäre, wenn er die Auswahlkriterien nicht oder nicht mehr erfüllen könnte. Welche Art von Mitarbeitern werden wir in Zukunft überhaupt erhalten? Angepasste, Motivierte, Glatte oder gar nicht mehr Lebende? Die Angst spürte er kurz im Magen, das Gefühl verflog aber glücklicherweise schnell. Positiv denken hält Viktor zurecht für wichtig und die richtige Einstellung war und ist für jeden seiner Erfolge notwendig.
Viktor startete sein Fahrzeug und besorgte auf dem Nachhauseweg eine kleine Jause vom Italiener. Tagsüber nutzte er die Betriebskantine nur wenig. Beim Mittagessen stehen erwachsene Menschen in einer Serpentinenschlange, um aus drei Menüs wählen zu können. Schnitzel-Tage führen dazu, dass die Schlange nicht in der Kantine endet, sondern weit hinten am Gang. Das freundliche, helle Ambiente kann nicht von der Massenfütterung ablenken. Die ersten Worte am Tisch behandeln das Essen. Wieso isst du heute keine Suppe? Die Forelle schmecke so ausgezeichnet, sodass über das Mühsal der Grätenentfernung hinweggesehen werden kann, ja gehts denn noch? Das Huhn ist sogar bio, hat mir der Koch vertraulich mitgeteilt. Geistige Ergüsse, auf die Viktor getrost verzichten kann. Vom Essen geht es ohne Überleitung zum Beruf. Was haben die anderen heute wieder für Fehler gemacht. Hast du gehört, dass Maria gekündigt wurde. Außerdem hat sich die Projektleiterin aus der Konstruktion - wie heißt sie denn nur - von ihrem Mann getrennt. Aber du weißt, wem ich meine. Die Führungskräfte geben sich auch heute wie immer besonders leutselig, was so authentisch wirkt, als wenn die promiskuitive Sekretärin des CSO von Treue spricht. Der Höhepunkt in der Kantine sind die Führungskräfteveranstaltungen, zu denen der Geschäftsführer lädt. Neben der vergangenen Erfolge - meist wird nur über Umsatz und nicht über das Ergebnis gesprochen - erfolgt ein Ausblick in die noch erfolgreichere Zukunft. Eine Zukunft, an der jeder hart arbeiten muss und sich für das Gesamte verantwortlich fühlen muss. Um die Rede nicht zweimal zu halten, wird sie nur in Englisch vorgetragen und per Videoaufzeichnung in die halbe Welt versandt. Das alles aus der Provinz, dort, wo die Konzernzentrale von 2B1 steht, wobei manch ein Politiker und Berater bei dieser Provinz von einem neuen Silicon Valley spricht. Größenwahn ist kein Problem der Vergangenheit, sie ist mitten im Salzburger Land und im grenznahen Oberösterreich täglich Brot. Am schlimmsten wird es, wenn die obersten Vertreter der Muttergesellschaft anwesend sind. „Wir werden die Erwartungen der Muttergesellschaft nicht enttäuschen, nein, wir werden sie deutlich übertreffen. Das haben wir in der Vergangenheit geschafft und in Zukunft werden wir es noch besser schaffen. Das wollen wir versprechen. Jetzt stehen wir auf und klatschen!“. 110 Führungskräfte sprangen von ihren Sesseln und klatschten frenetisch eine Minute. OK, auf Nordkorea fehlten ein paar Minuten Applaus, aber schon sehr nah dran. Auf der Bühne verbeugten sich die obersten Vertreter der Muttergesellschaft samt grinsenden CEO, der das Klatschen für etwas Echtes hielt. Es musste für ihn eine Gnade Gottes sein, dass er kein Popstar geworden ist, der auf ein Klatschen angewiesen ist, das nicht eingefordert werden kann, dachte sich Viktor.
Zuhause angekommen zog Viktor seinen Anzug aus, Krawatte trug er seit dem letzten Firmenerlass nicht mehr. Mit Jean und T-Shirt zeigte er seiner Lebensgefährtin seine Schätze vom besten Italiener der Stadt, öffnete den mitgebrachten Wein und fühlte sich ein wenig befreit von der Anspannung des Tages. Ein kurzer Gedanke an Tabea und ob sie für das Unternehmen gewonnen werden könnte, störte den Abend kaum. Für den Garten hatte er nur wenig Zeit, dieser wirkte trotzdem auf seine eigene, wilde Art und Weise schön. Wild war ein Attribut für ihn, dass er in seiner Jugend sehr schätzte. Angepasste Spießer mit nine-to-five-jobs wirken für Viktor noch heute grauenvoll, er kann doch gar nicht Teil davon sein. Ein zweites Glas Wein und seine gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin erstellten Reisepläne - ein dreiwöchiges Abenteuer in der Wüste - bestätigte das erfreulicherweise zur Gänze. Das erinnerte ihn wieder an ein Gespräch von zwei Müttern, dass er zufällig beim Einkaufen - nur fast unabsichtlich - belauschte. Sie tauschten sich dabei über ihre letzten Urlaube aus. Während die eine seit sieben Jahren immer im gleichen Hotel in Bibione war, übernachtete die andere schon elf Jahre in der gleichen Unterkunft in Kroatien mit jeweiligem Partner. Es waren keine kurz vor oder bereits nach der Pensionierung gelegene Frauen, nein, diese beiden waren noch jung und das Leben breitete sich erst ganz vor ihnen aus. Was bewegte junge Frauen wie Männer immer in derselben Destination, ja am selben Platz, Urlaub zu machen? Viktor bekam während des Zuhörens bereits leichte Beklemmung. War es die Sehnsucht nach Kontinuität, nach Sicherheit und nach dem Bekannten. Lockte das Fremde diese jungen Familien nicht mehr? War nur mehr die Geborgenheit wichtig oder lag gar in der Geborgenheit eine Gefahr? Die Gefahr der Erstarrung schien nicht so groß sein wie anderweitige Unsicherheiten. Viktor hatte mal wieder eine komplett andere Vorstellung.
Viktor befand sich im üblichen Bürovormittag. Es gab wie immer wieder einige unvorhersehbare Unterbrechungen. „Langzeitkrankenstände müssen weiter reduziert werden.“ so Christian, der in der Produktion ein äußerst straffes Regiment führte, was ihm durchaus auch Anerkennung von Johann brachte. Johann achtete aber auch in diesem Fall darauf, deutlich die Schwächen von Christian im zwischenmenschlich-sozialen Bereich zu erwähnen, um die klare Nummer 1 - Stellung nicht auch nur ansatzweise zu gefährden. „Das ist wirklich ein Wahnsinn, diese Langzeitkranken kosten unglaublich viel Geld und ziehen die Krankenstandstatistik weit nach unten. Wir müssen hier endlich handeln. Ich erwarte von HR Vorschläge!“, stellte Christian vehement in den Raum. Viktor verwies auf das laufende Projekt, das zumindest mittelfristig Entlastung bringen sollte. Weiters führte er aus, dass bei Kündigungen von Langzeitkranken keine Besserung der Lage erreicht werden kann, da die Ursachen zu bekämpfen wären und nicht die Symptome. Ob Christian dafür Verständnis hatte, konnte eher bezweifelt werden. Viktor hatte jedenfalls eine klare Meinung und pushte sein Projekt weiter voran.
13.55 Uhr. Die Telefonistin sagte Viktor Bescheid, dass Tabea soeben eingetroffen war. Tabea hatte beim Vereinbaren des zweiten Vorstellungstermins bereits ihren sehr guten Eindruck des Unternehmens erwähnt und ist mehr denn je an der Position interessiert. Viktor hatte im ersten Vorstellungsgespräch also alles richtig gemacht. Viktor kündigte bei Johann Tabea kurz an und erschien dann pünktlich mit ihr um 14.00 Uhr im Büro des CEO. Johann begrüßte Tabea „Hallo Frau Welser, es freut mich außerordentlich Sie heute kennenzulernen.“. Sein Lächeln konnte Viktor bereits so deuten, dass die Einstellung von Tabea klappen wird. Tabea stellte sich gekonnt nochmals vor und der Lebenslauf entsprach diesmal wieder einem roten Faden, der geradezu zur neuen Position führte. Ein Problem könnte - so Viktors Einschätzung - noch das machohafte Verhalten von Johann sein. Er bremste ihn aber insofern gut ein, als dass er das Gespräch fast zur Gänze an sich gerissen hat. Tabea wirkte nicht nur von der Bürogröße und der dunklen Eicheneinrichtung des CEO-Büros beeindruckt. Viktor hatte wieder kurz den Eindruck bekommen, sie würde mit ihm flirten. Viktor war das nicht unangenehm, wenn er auch Privates und Berufliches strikt zu trennen wusste. Der spannendste Teil des Bewerbungsgesprächs folgte am Schluss. „Was sind ihre Wunschkonditionen?“. Viktor fragte bewusst nicht nach dem Gehalt, da bei vielen Positionen im Management weitere Wohlfühlfaktoren dazukommen.
In der Beliebtheitsskala bei zusätzlichen Goodies war bei Bewerbern das Firmenfahrzeug weit oben. Das Firmenfahrzeug war auch diesmal Viktors Trumpf im Gespräch. 2B1 zeigte sich hier äußerst flexibel. So konnte fast jede Marke geordert werden, was sich als unglaublicher Vorteil herausgestellt hatte. Für Viktor - er fühlte sich mittlerweile auch älter, nein erfahrener - war das teilweise völlig unverständlich. Bewerber, die seit 25 Jahren Mercedes fuhren und daher unter keinen Umständen wechseln wollten. Eine Bewerberin mit Dieselallergie war ebenfalls dabei, was zum ersten benzinbetriebenen Fahrzeug im Unternehmen geführt hatte. Leider hatte Viktor zu spät gegoogelt und sich auch nicht mit dem Betriebsarzt abgestimmt. Es war nicht nur das erste benzinbetriebene Fahrzeug im Unternehmen, sondern auch die erste festgestellte Dieselallergie weltweit. Neben dem Firmenfahrzeug konnte Viktor auch beim Mobiltelefon zwei angesagte Marken anbieten. Das Unternehmen verfügte auch über Firmenwohnungen, wobei die normalerweise nur zu Beginn des Arbeitsverhältnisses genutzt wurden und für Entsendungen aus dem Ausland in das Headquarters.
„80.000 plus 20 % Bonus und Firmenfahrzeug“, antwortete Tabea durchaus selbstbewusst. Tabea erwies sich hier als eine absolute Ausnahme. Selten hatten in der Vergangenheit Bewerberinnen einen Wunsch deutlich über dem gesetzlichen Mindestentgelt erwähnt. Die Standardantwort der Bewerberinnen lautete: „Sie haben das Gehalt in der Stellenannonce angeben. Das passt für mich als Einstieg.“ Tabeas Antwort war richtig männlich, was zu ihrer souverän klingenden Stimme gut passte. Viktor lächelte und antwortete: „Als mittelfristige Entwicklung ist das durchaus vorstellbar. Als Einstieg schlagen wir € 70.000,-vor, der Bonus beträgt 15 % und als Firmenfahrzeug kann ein Mittelklassefahrzeug für diese verantwortungsvolle Aufgabe zur Verfügung gestellt werden.“ „Welche Fahrzeugtypen stehen zur Auswahl?“, fragte Tabea. Viktor führte als Erstes Audi A4, 3er BMW und Mercedes C-Klasse an und wusste bereits, dass Tabea das Angebot annehmen wird. Männlich zeigte sich Tabea auch in der Fahrzeugwahl mit dem 3er BMW. Es folgte die Klärung von weiteren Details und Tabea sagte bereits mündlich zu. Sie hatte sich aber den Vertrag mitgenommen und würde ihn zuhause unterzeichnen. Bei der Verabschiedung machte Johann eine leichte Verbeugung und lächelte sympathisch. Sein Blick fiel zum zweiten Mal kurz in die Bluse von Tabea und er schien nun von der Kandidatin restlos überzeugt zu sein. Viktor brachte Tabea nach unten, erwähnte dabei noch die angenehme Du-Kultur im Unternehmen und wies darauf hin, dass sie ihn jederzeit bei Fragen Tag und Nacht kontaktieren könne. Nach der Verabschiedung dachte Viktor beim Hochgehen der Stufen noch an ihre angenehme Art, ihre Fachkenntnisse und vielleicht auch kurz an ihren straffen Po.
„Veronika, wir haben Tabea für das Unternehmen gewinnen können. Ihre angenehme Art gepaart mit dem selbstbewussten Auftreten haben auch Johann überzeugt“, teilte Viktor beschwingt mit. Veronika kannte diese Euphorie, die immer eher Bewerberinnen gilt. Bei Bewerbern war diese zwar auch vorhanden, aber sie unterschied sich doch in feinen Nuancen. Viktors Stimme war kaum merkbar gedämpfter und er wechselte dann meist schnell das Thema, um sich der nächsten Herausforderung zu stellen. Veronika schätzte Viktor sehr, wobei sie ihn hier nicht immer als objektiv wahrnahm. Veronika wechselte mit Viktor ein paar private Worte, was Viktor als angenehm empfand. Er war mit Veronika in jeder Hinsicht sehr zufrieden.
Um 16.30 Uhr verließ Viktor das Büro. Tabea ging ihm nicht ganz aus dem Kopf und er fuhr zu Angelique, um den späten Nachmittag noch angenehm ausklingen zu lassen. 100 Euro wechselten den Besitzer und Viktor startete nach einer halben, körperlich befriedigenden Stunde - Angelique hatte fast eine gewisse Ähnlichkeit mit Tabea, zumindest dachte er währenddessen an sie - seinen BMW Richtung zu Hause. Mit einer wie immer nach solchen doch regelmäßigen Abstechern fühlenden inneren Leere kam er an. Trotzdem gut gelaunt begrüßte er seine Lebensgefährtin, die noch bei ihrer Arbeit verweilte. Viktors Lebensgefährtin war Buchhalterin. Sie erledigte ihre Arbeit von zuhause und machte mittlerweile auch in Viktors Augen ansprechende Umsätze. Ihr Kundenstock hatte sich in den letzten Jahren kontinuierlich erweitert. Die Arbeit selbst aber erfüllte sie nicht mehr wirklich, Viktor wurde aus seiner Sicht manchmal Opfer dieser Unzufriedenheit. Sie hatten ausreichend Geld zur Verfügung - für Viktor könnte es natürlich mehr sein, obwohl die Statistik ihn mindestens in den oberen 2 % der Einkommenspyramide verortete. Auch die Freizeitgestaltung mit Freunden - erfreulicherweise alle ohne schreiende, nervige Kinder - erwies sich als abwechslungsreich. Gemeinsame Ausflüge wurden traditionell immer mit Besuchen in den besten Restaurants abgeschlossen. Viktor genoss Essen und machte keine Kompromisse was Qualität und Freundlichkeit des Servicepersonals betraf. Meist übernahm er die Rechnung für seine Lebensgefährtin, da diese noch nicht in seinen Einkommensregionen angekommen war. Irgendetwas schienen die Zahlen und Belege aber in letzter Zeit mit ihr zu machen. Der Termindruck trug auch nicht zur Entspannung in der gemeinsamen Beziehung bei. Er unterstützte sie bei ihrer Arbeit und half bei ganz kniffeligen Buchungsfällen. Viktor hatte dafür aber oft nur wenig Geduld, was seine Lebensgefährtin von Zeit zu Zeit anmerkte. Am Abend sahen sie diesmal einen französischen Film - laut Viktor das einzige Land, aus dem erwähnenswerte Produktionen kommen - und genossen dazu etwas Knabbergebäck. Viktor merkte bereits beim Ansehen des Films, dass es am nächsten Tag unbedingt Zeit wird, einige Freunde von ihnen einzuladen. Er verfiel immer schnell in Unruhe, wenn er das für ihn bürgerliche Leben zu sehr pflegt. Es handelte sich um ein Kribbeln und er musste wieder unter Menschen sein. Von Zeit zu Zeit zog er auch mit einigen Freunden ohne Lebensgefährtin um die Häuser, um sich seiner Freiheit bewusst zu werden. Eine Freiheit, die für ihn etwas Wertvolles war und die es unter allen Umständen zu verteidigen galt. Angreifer gab es dabei sowohl im Unternehmen als auch im privaten Bereich. Im Unternehmen irritierten Viktor die Chips zur Zeiterfassung (er musste zwar nur die Beginnzeiten erfassen), die nicht von ihm fixierten Termine und das Lean-Office-Projekt, das ihm in seiner Arbeitsweise Vorgaben machen wollte. Privat konnte er mit der Aussage seiner Lebensgefährtin „Aber heute bleibst du zuhause. Der Freitag und Samstag soll uns gehören.“ nur schlecht leben und erfüllte den einen oder anderen Wunsch seiner Lebensgefährtin auch nicht, sondern begab sich mit Freunden ins nächtliche Abenteuer. Es waren meist dieselben Lokale, die sie besuchten. Da störte die Kontinuität Viktor nicht. Neue Bekanntschaften und aufregende Begegnungen waren doch das Ziel, was nicht nur einmal unerfüllt blieb. Manchmal ergaben sich nicht nachhaltige Flirts, die er brauchte, um sich weiterhin attraktiv zu fühlen. Es schien immer so, als könnte Viktor sich seines Selbstbewusstseins nur mit diesen Ausflügen sicher sein. Um zwei Uhr morgens stieg er ins Taxi und machte sich auf den Heimweg. Nächsten Tag war er wieder sehr froh in seiner bürgerlichen Welt und machte Pläne für zukünftige Treffen bzw. Reisen. Seine Lebensgefährtin konnte seinen Freiheitsdrang zwar nicht nachvollziehen zu können, lebte aber nun doch schon sehr lange damit.
Neben Tabea hatte sich auch Sabine Reiter beworben. Sabine war 38 Jahre und verfügte über Erfahrung im Assistenzbereich Sourcing. Als verantwortliche Einkäuferin war sie noch nicht aktiv. Viktor hatte mit ihr alleine das Erstgespräch geführt und dem Leiter Sourcing kurz berichtet. Dieser reihte sie nach Tabea an zweiter Stelle, was auch der Einschätzung von Viktor entsprach. Sabine hatte schwarze, längere Haare, herbe, interessante Gesichtszüge und war schlank. Grundsätzlich hatte Viktor aus seiner Berufserfahrung gelernt, dass im Management schlanke, nach Möglichkeit gutaussehende Menschen arbeiten sollten. Das erhöhte die Zufriedenheit aller Beteiligter. Geschäftsführung und die direkten Führungskräfte kamen damit immer bestens zurecht. Johann hatte überhaupt die Auffassung, dass dickere Personen nicht den nötigen Biss hätten bzw. es überhaupt am sogenannten Mindset fehlt. Wobei diese Einstellung wohl auch eher auf die Bewerberinnen zutraf und bei Bewerbern manchmal ein Auge zugedrückt wurde. Bewerber, die zu Mitarbeitern werden, betraf das dann auch wiederum nicht mehr in diesem Ausmaß. Manch einer hatte sein mit der Managementposition verknüpftes höheres Einkommen erkennbar in viel gutes Essen investiert, wovon auch Johann merklich betroffen war, was aber an den Anforderungen wiederum nur wenig änderte. Schlank, sportlich, gutaussehend und leistungsorientiert waren die gewünschten Attribute. Wenn sie dann noch plumpe Flirtversuche seitens des Managements ertrugen, stand der steilen Karriereleiter wahrlich nichts mehr im Wege. Me-too war schon lange wieder vorbei und sorgte bei 2B1 auch immer eher für Kopfschütteln. Viktor grinste bei den in der rein männlichen Geschäftsleitung gemachten Witze über einzelne Mitarbeiterinnen müde mit. Die bei den Geschäftsführungssitzungen besprochenen privaten Verstrickungen und neuesten Klatschmeldungen waren immer wieder das Highlight. Für den Rest wie Ergebnisse, Umsatzzahlen und Strategie blieb meist nicht mehr die nötige Zeit. In Erfolgszeiten war das auch nicht von Belang.
Sabine hatte Viktor bereits vergessen, wäre Veronika nicht wieder auf ihn zugekommen. „Viktor, was machen wir jetzt eigentlich mit der Bewerbung von Sabine Reiter. Tabea Welser haben wir ja schon eingestellt“, fragte Veronika. „Ja, genau, Sabine Reiter…die gibt es ja auch noch“, überlegte Viktor laut „am besten wir laden sie zu einem zweiten Gespräch ein. Notfalls lassen wir uns noch eine Stelle von Johann genehmigen, wir haben ja noch Bedarf im Bereich Quality Management / Lieferantenentwicklung.“ Johann musste als CEO jede Stelle genehmigen, um den Personalabbau ja nicht durch unnötigen Aufbau zu gefährden.
Sabine kam pünktlich zum zweiten Vorstellungsgespräch. Viktor gefiel ihre direkte Kommunikation, ihre weiße Hose und der nicht vorhandene Kinderwunsch, den sie ohne Rückfrage selbst erwähnte. Seine Lebensgefährtin musste ihn unbedingt zu diesem belämmerten Kurs schleppen, dachte Viktor kurz. Sabine genoss ihr Leben mit ihrem älteren Partner und liebte Städtereisen. Viktor unterhielt sich mit Sabine über Paris, Rom und Bangkok. Bangkok fand auch Sabine so spannend wie Viktor. Allein der Beginn der Rushhour, der dem schon vorher kaum beherrschbarem Treiben die Krone aufsetzte, begeisterte Viktor immer wieder aufs Neue. Bangkok stand für Viktors Leben wie keine andere Stadt. Abenteuer, geschäftiges Treiben, nette Mädchen und das Gefühl der Leichtigkeit an den Stränden waren für Viktor wie gemacht. Sabines Gehaltswunsch war wieder typisch weiblich, was Viktor positiv zur Kenntnis nahm. Er konnte am Ende des Gesprächs Sabine noch nichts versprechen, aber es wäre eine andere Position möglich, die Sabine ebenfalls sehr interessierte. „Wann werden Sie sich wieder melden?“, fragte Sabine interessiert. „Spätestens in einer Woche kann ich ihnen Bescheid geben“, antwortete Viktor routiniert. Er begleitete Sabine Reiter noch zum Ausgang und beide verabschiedeten sich mit einem festen Händedruck und Augenkontakt. Sabine hatte schöne türkise Augen, die ihn wieder an das Meer rund um Krabi erinnerten. Viktor holte sich seine Unterlagen aus dem Besprechungszimmer und atmete nochmals kurz den Duft von Sabine ein. Neben einem blumigen Parfum roch der Raum nach leichter Aufgeregtheit, was aber noch im angenehmen Bereich lag. Beim Verlassen des Besprechungsraumes ging Viktor beim Empfang vorbei, um die Telefonistin nach ihrem Eindruck zu fragen. Viktor war Profi und wusste wie wichtig das Verhalten der Bewerber am Empfang ist. Die Telefonistin hatte auch einen wunderbaren Einblick auf den Parkplatz und konnte so bereits viele Informationen liefern. Wie verhielt sich jemand auf dem Parkplatz? Parkte er korrekt auf dem Besucherparkplatz? Grüßte er vorbeigehende Personen? Wie schnell ging er zum Verwaltungsgebäude? Wie freundlich meldete er sich beim Empfang? Was machte er während der Wartezeit? Gerade diese vermeintlich von HR unbeobachteten Momente waren für Viktor wichtig. „Frau Reiter macht einen guten Eindruck“, sagte die Telefonistin zu Viktor ungefragt. „Sie ist freundlich, wirkt motiviert und hat sich die Firmenbroschüre mitgenommen“, führte sie weiter aus. Viktor konnte sich auf diese Einschätzung verlassen. Er formulierte im Anschluss eine offene Position, stimmte sich mit der QM-Leiterin ab und würde sie gleich morgen zur Geschäftsleitungssitzung mitnehmen. Die QM-Leiterin war eine weitere Vertraute von Viktor. Er hatte sie vor einem halben Jahr eingestellt bzw. handelte es sich um einen Wechsel im Konzern. Der für die Unit Electronics zuständige Leiter hatte sie Viktor empfohlen. Diese Empfehlungen von obersten Stellen hatten für Viktor und Johann meist etwas Verbindliches. Beide wollten es sich im Konzern nicht verscherzen und waren dann bei den Gesprächen noch freundlicher als sonst. Der positive Vertragsabschluss stand schon lange vor den Gesprächen bereits fest. Im Konzern waren neben diese Empfehlungen Familienangehörige der Geschäftsleitung immer bevorzugt zu behandeln. Hätte Viktor Kinder würden diese sicher nicht bei 2B1 arbeiten. Andere sahen das völlig anders. Compliance - Regelungen würden dem zwar leicht widersprechen, was aber die oberste Konzernführung nicht wirklich tangierte. Compliance betraf nicht die oberste Führungsriege, sondern alle anderen.