Bewerbung um mein neues Leben - Stefan Külz - E-Book

Bewerbung um mein neues Leben E-Book

Stefan Külz

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Beschreibung

In der "Biografie-Werkstatt" einer psychiatrischen Klinik in ihrer Wahlheimat Wuppertal sucht die 45jährige Sozialarbeiterin Tónia Pereira Orientierung in ihrer Lebenskrise. Woher kommt sie und wohin soll ihr Weg führen? Findet sie einen Neubeginn aus ihrer "Starre", als die sie ihre depressive Episode empfindet? Ihrem behandelnden Arzt legt sie regelmäßig autobiografische Texte vor, die sie nach Abschluss der Therapie und nach Besuchen bei ihren "Herzenspersonen" erweitert und zu einer für sie stimmigen Lebenserzählung zusammenführt - zu ihrer "Bewerbung um mein neues Leben". Darin verarbeitet sie - neben dem aktuellen Aufenthalt im Krankenhaus - ihre Herkunft: die prägenden Sommerurlaube bei ihrem kommunistischen Großvater Jorge und seiner "Comunidade" im portugiesischen Lagos, ihr daraus folgendes politisches Engagement in Schule, Studium und Berufsleben sowie die Beziehungen zu ihrer besten Freundin Rike, zu ihrer Familie - und zu Micha, der inzwischen in einer bolivianischen Kaffeekooperative zu Hause ist und den sie dort nach langer Zeit während eines kurzen Arbeitsurlaubs wieder trifft.

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Stefan Külz

Bewerbung um mein neues Leben

Stefan Külz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte:

© 2022 Copyright by Stefan Külz

Umschlag:

epubli-Coverdesigner, eigenes Foto ‘Steinzeit’ © 2022 Copyright

Verantwortlich 

 

für den Inhalt:

Stefan Külz

 

c/o autorenglück.de

 

Franz-Mehring-Str. 15

 

01237 Dresden

 

[email protected]

 

Vertrieb:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine vier Lieben.

Teil Eins - Woher?

Lichtspur für das ganze Leben

Die Steine, die Aníbal und ich die Klippen hinunterwarfen, verbanden sich zu einem großen Steinhagelschauer, der beim Zusammentreffen mit dem Meer ein von oben gut erkennbares Muster erzeugte: hochschnellende, wieder in sich zusammenfallende Fontänen und Wellenkreise. Dann wurde unsere „Steinzeit“ in kürzester Zeit weggewischt, als ob sie niemals stattgefunden hätte. Ich staunte ihr aber noch eine gefühlte Ewigkeit nach, während ich im Hintergrund meines Bewusstseins das Heranrauschen der Atlantikwellen zur Kenntnis nahm und Aníbal im Nacken spürte; er hatte bereits ein anderes Ziel im Blick.

„Wollen wir schwimmen gehen, Tónia?“, hörte ich schwach aus seiner Richtung.

„Äh ja, geh doch schon mal vor, ich komme gleich.“

Nachdem wir später eine Weile im vom Sonnenlicht glitzernden Nass geschwommen und getaucht waren sowie ausgelassen herumgespritzt hatten, schmückte ich unseren Liegeplatz am Strand mit den Dreiecks- und Herzmuscheln, die ich gesammelt hatte. Ich legte unsere Anfangsbuchstaben – und statt des sich mir zunächst aufdrängenden Pluszeichens legte ich dann doch lieber einen neutraleren Bogen dazwischen.

Sämtliche Reibungskräfte hatten sich an diesem Sommertag eine Pause genommen, und so konnte ich sein warmes Licht, seinen strahlend blauen Himmel, seine sanfte salzige Brise und seine Wasserfrische unbeschwert zusammen mit Aníbal genießen. Die Schule, die Freundinnen zu Hause in Alemanha, meine Eltern und mein Bruder befanden sich meinem Gefühl nach auf einem anderen Stern.

Dabei waren meine Eltern und mein Bruder gar nicht weit weg. Lopo spielte mit den Jungs der Nachbarschaft Fußball und meine Eltern waren an diesem Nachmittag zusammen mit meinen Großeltern unterwegs. Sie wollten die Altstadt von Lagos „gemütlich durchstreifen“, wie mein Großvater öfter zu sagen pflegte.

Wir konnten die Gegend „gemütlich durchstreifen“, als er uns Kinder vier Jahre zuvor beim ersten Algarve-Urlaub in den Sommerferien mit der näheren Umgebung des eigenen Grundstücks vertraut machen wollte, oder: Lopo und ich durften den Kühlschrank „gemütlich durchstreifen“, wenn wir Hunger hatten. Dabei ertönte regelmäßig Oma Martas warnender Hinweis: „Jorge, dieses kühlende aparelho hält deine Gemütlichkeit auf Dauer nicht aus!“, und alle brachen in Lachen aus.

„Ach, das Ding hält das schon aus.“

Mit seinem „gemütlich durchstreifen“ schaffte es Opa Jorge schnell, eine Verbindung zu mir herzustellen, als ich ihn kennenlernte. Denn ich fand ihn tatsächlich auch als Person gemütlich. Er hatte eine ruhige zurückhaltende Art; ohne viele Worte zu verlieren, brachte er allerdings trotzdem Steine ins Rollen, wenn es darauf ankam; als ob er einen privilegierten Zugang zu den Transformationskräften der Natur besäße.

Meinen Strandtag mit Aníbal hatte er im Sommer 1984 durch seine Weichenstellung aus dem Reich der reinen Möglichkeiten in die Welt der Fakten katapultiert. Meine Eltern waren zuvor nämlich gar nicht bereit gewesen, mich mit Aníbal allein losziehen zu lassen.

Ich war ganz aufgeregt, als Aníbal zu uns hinüberkam und fragte, ob ich zusammen mit ihm an den Strand gehen wolle.

„Ja, klar, ich komme mit! Warte, ich hole eben meine Sachen, bis gleich.“

„Halt, halt, so einfach ist das nicht.“

„Papa, was ist das Problem, wir wollen doch nur an den Strand gehen und schwimmen!“, so höre ich mich noch heute. Aníbal aber zog sich vorsichtshalber erst einmal wieder zurück.

Bisher war ich in diesem Sommer für kurze Zeiträume schon oft mit ihm zusammen gewesen. Da befanden sich meine „Erziehungsberechtigten“ zwar auch nicht immer in direkter Sichtweite, aber zumindest müssen sie das Gefühl gehabt haben, ich befände mich unter ihrer Kontrolle.

Aníbal lebte mit seiner Familie in der Nachbarschaft meiner Großeltern. Es gab eine langjährige Freundschaft zwischen Aníbals Vater Luís und Opa Jorge, und meine Großeltern erzählten oft, seitdem wir die Sommerferien hier verbracht hatten, von dem Lehrer Luís und seiner deutschen Frau Katharina sowie von ihren Kindern Raul, Susana und Aníbal, die portugiesisch- und deutschsprachig aufgewachsen waren wie Lopo und ich. Aber nur der Jüngste, Aníbal, lebte noch zu Hause.

Wenn von Aníbal die Rede war, wurde ich immer besonders aufmerksam. Er war etwa zwei Jahre älter als ich und schien ganz anders zu sein als die Jungen, die ich bisher kennengelernt hatte. An Fußball schien er kein Interesse zu haben, er verschlang stattdessen Bücher. Er liebte es, in der Natur unterwegs zu sein und er half meinem Opa Jorge häufig beim Instandhalten der Ferienwohnungen, die meine Großeltern seit einigen Jahren betrieben, nachdem sie beschlossen hatten, den kleinen landwirtschaftlichen Betrieb aufzugeben und das Grundstück entsprechend umzugestalten. Sie sahen zum einen, dass ihnen die Landwirtschaft nicht mehr genug Freude bereitete und dass ihre nachlassenden Kräfte diesen Effekt im Laufe der Jahre sicher verstärken würden. Zum anderen wollten sie weiter in Lagos verwurzelt bleiben. Also entschlossen sie sich nach reiflicher Überlegung, „heimatliche Früchte“ einer anderen Gattung an die Frau und an den Mann bringen zu wollen. Dieses Mal seien die Abnehmer der „frutos“ vor Ort und die beiden bekämen unmittelbar mit, ob und wie sie schmeckten.

Im Sommer 1985 erzählte mein Opa mir in einem vertraulichen Tonfall unter vier Augen, was er unter den heimatlichen „frutos“ verstand, die sie zu verkaufen gedachten.

„Weißt du, Tónia, es geht mir nicht nur um die großartige Landschaft des Algarve, ich will auch das Leben, wie wir es hier in der Nachbarschaft leben, für andere öffnen. Die Besucher sollen zumindest die Möglichkeit haben, zu sehen, dass wir hier gemeinschaftlich leben und dass dazu auch gehört, das Geld im Sinne unserer „comunidade“ einzusetzen. Wer Hilfe braucht, kriegt Hilfe. Leben ist im Grunde Gemeinschaft und das bedeutet Teilen: vida, comunidade, compartilhar. So wie es an unserem Hoftor zu lesen ist.“

Weil diese selbstverständliche Lebensregel so selten beachtet werde, hätten sie sich als Nachbarschaft bewusst „comunidade“ genannt.

Er hatte sich damals so in seine Herzensangelegenheit hineingeredet, dass er sich wegtreiben ließ und mehr Worte als üblich verwendete. Und er wollte ganz offensichtlich die nächste Stufe der Rakete in seiner Beziehung zu mir zünden, wie ich heute in der Rückschau denke: Nachdem ich ihn ein paar Jahre lang vor allem als gemütlichen Opa kennengelernt und seine politische Existenz nur am Rande bemerkt hatte, wollte er mich fast Sechzehnjährige wohl in seine politischen Kämpfe einbeziehen. Er untermalte dies mit seiner Einladung, ich könne ihn von nun an mit seinem Vornamen Jorge ansprechen.

Und Aníbal war ebenfalls Teil dieser Nachbarschaft. In den ersten vier Jahren Lagos-Urlaub bekamen wir ihn und seine Familie aber nur erzählt. Die Rücklichter ihres Autos konnten wir im Vorjahr erkennen, da waren sie auf dem Weg in den Spanienurlaub. In dem Jahr davor sollten sie an dem Tag von einem Solidaritätscamp in der Nähe von Lissabon zurückkehren, an dem wir uns wieder auf den Heimweg nach „Renânia do Norte-Vestfália“ machten. An die Hindernisse der ersten beiden Jahre kann ich mich nicht mehr erinnern. Doch im Sommer 1984 änderte sich das glücklicherweise endlich.

„Du bist erst vierzehn und er ist schon siebzehn!“

„Ich bin so gut wie fünfzehn und du sagst selbst immer, dass ich schon ziemlich erwachsen bin!“

„Eben, du bist schon so alt, und er auch, sogar älter, und er ist ein Junge, und Jungen in diesem Alter ... Ich will das nicht!“

„Du weißt genau, dass Aníbal anders ist. Wenn wir in diesem Sommer gewollt hätten, hätten wir es schon längst tun können, dazu brauchen wir nicht ohne euch an den Strand zu gehen!“

Ob es klug war, so zu argumentieren? Schließlich hätte es dazu führen können, dass meine ersehnten und sowieso viel zu seltenen Kontakte mit Aníbal ganz unterbunden worden wären. Zunächst schaltete sich meine Mutter mit dem Versuch einer Schlichtung ein.

„Carlos, ich möchte das auch nicht unbedingt, aber auf der anderen Seite scheint der Junge doch ganz vernünftig zu sein und dein Vater kennt ihn und die Familie schließlich schon lange.“

Da schob sich Jorge wie eine Katze auf ihren samtenen Pfoten zwischen meine Eltern und legte seine Arme ruhig um sie. Während des Schlagabtauschs hatten wir ganz vergessen, dass er anwesend war.

„Eure Tochter wird eine starke Frau werden und sie ist es jetzt schon, ihr müsst keine Angst haben. Sie wird ihr Leben nie wegen einer Geschichte mit einem Jungen wegwerfen. Sie sucht etwas anderes.“

Und Aníbal suche sicher nicht meinen Schaden, sondern schätze mich.

„Vertraut ihnen einfach! Sie gehen ja auch nur an den Strand.“

Ich war Opa Jorge auf ewig dankbar für diese gelungene Intervention. Meine Eltern hatten dem nichts mehr entgegenzusetzen, nickten zaghaft, und ich stürmte los, meine Schwimmsachen zu holen und Aníbal zu finden. Ich fühlte mich in einen idyllischen Zustand versetzt.

Ich genoss es sehr, muschelgekrönt Seite an Seite neben Aníbal im fast weißen Sand zu liegen, die Klippen im Rücken und die heranrollenden glitzernden Wellen von vorne, überstrahlt von der Wärme und dem Licht der Sonne. Ich sah und fühlte die Möwen segeln und gesellte mich in meiner emotionalen Raumzeit dazu. Die Geschehnisse dieses Tages hatten mir Flügel verliehen. Ich fühlte mich wie von einer lichten Kraftströmung emporgehoben und getragen. Ob sich die Klippenspringer ähnlich leicht fühlten, die ich hier schon oft gesehen hatte? Ich bewunderte, wie sie ihre Flügel ausbreiteten und mit welcher Eleganz sie segelten und ins Wasser eintauchten.

Für mich waren die Klippen sonst vor allem der Schauplatz meiner „Steinzeiten“, für die ich Aníbal inzwischen ein ums andere Mal gewinnen konnte, ein weiteres Mal auch an diesem Tag, nachdem ich neben ihm im Sand gelegen hatte.

„Dieses Mal nehme ich möglichst große und möglichst kleine Steine!“

„Und ich nehme einfach wahllos die ersten dreißig Steine, und dann werfen wir zeitversetzt und versuchen, die Wellenkreise so lang wie möglich in Gang zu halten, in Ordnung?“

„Okay!“

Meine Eltern schätzen, ich müsste ungefähr viereinhalb Jahre alt gewesen sein, als ich mit den „Steinzeiten“ anfing. Ich erfand sogar den Begriff mit meinen damals eingeschränkten sprachlichen Möglichkeiten selbst. Ich liebte es, stehende oder fließende Gewässer aufzusuchen, Steine in der Nähe zu sammeln, sie hineinzuwerfen und dem nachzustaunen, was da im Wasser passierte.

Ich kam oft nicht aus dem Staunen heraus und konnte auch nicht aufhören, Steine zu werfen. Auseinandersetzungen mit meinen Eltern waren deshalb unvermeidlich. Schließlich gab es noch andere Realitäten, und meine Eltern waren unerbittliche Anwälte dieser anderen Realitäten, die in Form von ganz konkreten Zeitforderungen auftraten: Hausaufgaben, Besuch bei soundso, von soundso oder Termin beim Soundso-Arzt. Da diese Zeitforderungen in für mich unzugänglichen Zeithinterzimmern ausgeheckt worden waren, konnte ich oft nur ohnmächtig schreien. Das Schlimmste war, dass ich in diesem unfairen Prozess ganz allein gegen die Anwälte ankämpfen musste, denn wo wäre ein Zeitanwalt, ein Oberzeitanwalt oder sonst eine Berufungsinstanz gewesen, die ich hätte anrufen können? Jorge, dem sanften Bezwinger von Autoritäten, war ich noch nicht begegnet, und er wäre sowieso nicht vor Ort gewesen.

Ich liebte, dass jede „Steinzeit“ einen ganz individuellen Charakter besaß, und einige Male hatte ich auch tatsächlich hinreichend Zeit zur Verfügung.

Ich warf Steine bei Sonnenaufgang, bei Regen (mit anderen Fontänen und Wellenkreisen als Begleitern), bei Sonnenuntergang und bei Vollmond. Ich warf bei starken und schwachen Winden, bei wechselnden Wolkenkonstellationen, im eisigsten Winter (an den Stellen, an denen es noch möglich war) und im heißesten Sommer, bei ergrünenden Bäumen im Frühling und bei fallenden bunten Blättern im Herbst. Ich warf an kleinen und großen und langsamen und schnellen Flüssen, an Seen, am Meer, auf Ausflügen, im Urlaub, je nach Laune fröhlich, entspannt, traurig, wütend, allein, mit Freundinnen oder mit Familie. Ich warf flache Steine vom Ufer aus, und sie tanzten eine lange Linie mit Fontänen und Kreisen. Ich warf Steine von Brücken herunter, und aus Booten: kleine, große, runde, spitze, dreckige, rote, bemooste Steine. Ich belasse es bei diesem Ausschnitt aus der Palette meiner fast einundvierzig Jahre andauernden „Steinzeit“-Karriere; die Richtigkeit der Schätzung meiner Eltern für den Beginn dieser Laufbahn setze ich voraus.

Die Besonderheit jeder einzelnen „Steinzeit“ ergab sich aus der je eigenen Kombination von unterschiedlichen Merkmalen der Steinwurf-Situation: Sonnenstand, beteiligte Personen, Ort, Zeit, Art der Steine, Gewässer, Jahreszeit, Stimmung.

Und wie sich das so entwickeln kann, wenn man von einer Sache ergriffen ist, und zumindest in diesem wichtigen Teil des Lebens Ordnung schaffen möchte, so fiel ich als Elfjährige dem Dokumentations- und Statistikwahn zum Opfer. Ich fasste kurz nach meinem elften Geburtstag den Entschluss, alle meine Steinwürfe mit ihren wichtigsten Merkmalen aufzuschreiben. Ich plante zudem, dass die Steinwurf-Dokumentation jährlich durch eine statistische Auswertung abgerundet werden sollte. Ich kaufte mir ein dickes DIN A5-Buch, das kariertes Papier und ein schönes Blumenmotiv auf der Außenseite hatte. Ich präparierte es liebevoll. Ich malte ein Schild mit einer kleinen Fontäne und sich langsam ausbreitenden Kreisen, schrieb „Antónias Steinzeiten“ darüber und klebte es vorne auf das Buch. Innen schuf ich eine Tabelle mit nummerierten Zeilen und den Spalten „Zeit“, „Ort“, „Personen“ und „besondere Umstände“. Natürlich landeten auch die „Steinzeiten“ 119-128 aus dem Sommerurlaub 1981 in Lagos in dieser Liste, zum Teil mit Lopo, zum Teil mit Opa Jorge und zum Teil mit meinen Eltern an der Praia Dona Ana, an der Praia do Camilo, in der alten Viehtränke auf dem Grundstück meiner Großeltern und von einer kleinen Brücke am kleinen Fluss Bensafrim.

Damals bekämpfte ich meinen Fieberwahn erfolgreich und gab das Dokumentieren kurz vor dem Jahrestag im Herbst 1981 wieder auf. Ich hatte bis dahin 179 „Steinzeiten“ notiert (das Buch besitze ich heute noch), aber mir kam das ganze Unterfangen angesichts der bevorstehenden Auswertung mit einem Mal sinnlos vor. Was wollte ich mit diesen Zahlen- und Datensammlungen anfangen? Lob dafür ernten, wie hervorragend das sei, was ich da auf die Beine gestellt hatte? Steigende Kurse an der Beliebtheitsbörse? Vermarkten in der Familie, in der Schule, unter Freunden oder auf anderen Märkten? Wofür das Ganze? Das, was mich immer angetrieben hatte, war nichts Isoliertes, das man aus dem Steinewerfen und seinen Umständen herauslösen könnte. Das Schöne war das ungeteilte einzigartige Erlebnis mit den kleinen Fontänen und den sich ausbreitenden Wellenkreisen, denen ich manchmal minutenlang hinterherstaunen konnte. Mit dieser Art von Dokumentieren konnte ich das nicht einfangen. Außerdem dachte ich beim Steinewerfen inzwischen immer öfter daran, was dieser Wurf für die Gesamtstatistik der Steinzeiten bedeuten würde, und das störte mich gewaltig. Also beendete ich den Ordnungswahn. Ich wollte die Steinwürfe wieder nur genießen. Aber ich fing an, besondere „Steinzeiten“ in Texten zu beschreiben: in Gedichtform, in einem ausführlichen Tagebucheintrag oder in kurzen Stichwörtern. So könnte ich das Ereignis noch am besten aufbewahren.

Als ich etwa zehn Jahre alt war, wurde es zum jahrelangen Überlebens-Ritual für mich, mindestens dreimal in der Woche den Bach aufzusuchen, der keine hundert Meter von unserem Zuhause im Wald entlangplätscherte, und dort meinen Alltag in Steinwürfe zu übersetzen: Ärger über Ungerechtigkeiten, Traurigkeit wegen fehlender Resonanz für meine Anliegen in der Schule und zuhause, Streit mit Freundinnen oder Freunden, Liebeskummer, aber auch Freude über gelungene Kontakte, über die ersten Versuche in der Liebe. Es glättete meine Wogen. Ich wollte und konnte das hinterher alles auch mit meiner besten Freundin Rike besprechen oder mit denen, die es anging, aber es musste geschnitten, gewürzt und gekocht werden, bevor es auf den Tisch kam. Manche der Stimmungen während dieser Solo-Steinwürfe hielt ich in Gedichten fest.

Und dann die „Steinzeiten“ an diesem Strandtag mit Aníbal, die ich an prominenter Stelle in diesem Text hier verarbeite!

„Das Steinewerfen war großartig.“

„Finde ich auch. Ein Gipfel in der Geschichte der Steinzeiten.“

Aníbal musste lachen, ich hatte ihm bereits ausführlich berichtet, dass dies keine vorübergehende Leidenschaft von mir war. Inzwischen waren wir zur Ponta da Piedade aufgebrochen, nachdem wir alle Steine geworfen hatten, alle unsere Muster vom Meer verschluckt worden waren, und wir unsere Taschen geschultert hatten. Ich liebte diese Aussicht auf das türkis und blau gefärbte Kuhfleckenmuster des Wassers. Und es war traumhaft, stehen zu bleiben und den Blick kilometerweit an der einen leichten Bogen beschreibenden Klippenküste entlang zurückzuwerfen: von den kleinen malerischen Strandbuchten, wie der Praia Dona Ana, bis hin zur Bucht von Lagos mit dem langen Hauptstrand Meia Praia.

Die Felsküste, die wir jetzt entlanggingen, bot einsam im Meer hochstehende Türme, geschrumpfte und fast abgeplattete Türme, und Felsbögen, die wie Brücken ohne zweites Ufer ins Meer hineinragten. Die Grotten, die unter der Steilküste liegen und zur Besichtigung für Boote befahrbar sind, hatte ich zwei Jahre zuvor mit meinen Eltern und meinem Bruder zusammen kennengelernt. Aníbal unterbrach mein Schweifen.

„Ich bin letztes Jahr einmal mehrere Tage lang die Felsküste von Lagos über Carvoeiro bis hin nach Albufeira entlanggewandert, das war schön.“

„Hört sich gut an, wie weit war das denn?“

„Ungefähr vierzig Kilometer. Ich hatte einen Rucksack, Zelt und Schlafsack dabei, und habe in Carvoeiro einen Freund besucht, bei dem ich einmal übernachten konnte.“

„So eine Tour würde ich am liebsten auch gern einmal machen, aber nicht allein.“

„Hast du es als Steinzeit-Mensch schon einmal so betrachtet, dass hier ohne menschliche Hilfe das Wasser ständig gegen Steine geworfen wird?“

Ich bekam große Augen. Das hatte ich so noch nicht gesehen, obwohl ich grundsätzlich wusste, was Erosion bedeutet, und dass sie hier an der Atlantikküste ihre Wirkung tat.

„Und das Resultat der ständigen Wasserwürfe gegen die Felsen ist dieses Felsküsten-Kunstwerk“, hauchte ich vor mich hin, als ob ich eine komplizierte Rechnung langsam durch mein Kaffeemühlengehirn kurbeln müsste.

„Und der Sand war früher ebenfalls Stein.“

„Wasser gegen Steine werfen“, murmelte ich wie abwesend. Aníbal wollte noch einmal eine andere Perspektive zur Geltung bringen.

„Natur verändert Natur, ohne erkennbares menschliches Zutun, und der ästhetische Genuss ist unglaublich.“

Wir wollten zu dieser südlichsten Spitze der Küstenlinie von Lagos aus schlendern, um auszublicken, und als wir ankamen, wendete sich dieses Stück Erde zusammen mit uns weiter und weiter von der Sonne ab, wodurch das Meer mit seinen heranrollenden Wellen orange gefärbt und ein Zeitlupeneffekt erzeugt wurde, der mir den Atem raubte. Dabei reichte ein stärker orange gefärbter dünner glitzernder Streifen Meer von der Stelle, an der sich die Sonne über der Horizontlinie befand, bis zum Strand. Ich konnte meinen Blick nicht davon lösen. Dann wendeten wir uns mit der Erde weiter von der Sonne ab und diese leuchtete nun nicht mehr auf das Meer, sondern nur noch orangefarben über dem Horizont, und sie war nur noch zur Hälfte zu sehen. Ich wagte einen anderen Ausblick.

„Ich werde diesen Tag sicher nie vergessen.“

Aníbal kam es offensichtlich blöd vor, etwas dazu zu sagen, also legte er einfach seinen Arm um mich, woraufhin ich auch meinen Arm um ihn legte. So standen wir wie eine halbe Ewigkeit eng aneinander und schauten auf den immer dünner werdenden orangefarbenen Streifen am Horizont.

Schließlich blickten wir ein letztes Mal auf die inzwischen dunkle und von den Lichtern der Stadt punktuell erleuchtete Küstenlinie und wandten uns dann ab. Es war ein wenig kühl geworden. Wir streiften unsere Pullover über. Ich war sehr erschöpft und mir kam es vor, als würden der Tag mit seinen Ereignissen und ich nun zugedeckt werden. Einzelne Sterne funkelten bereits, und ich wurde den Rückweg schlaf- und traumwandelnd durch die Blindenführer-Gleise gelenkt, die Aníbals Hand für mich bereitstellte. Außen war für mich die Darbietung schon beendet, die Vorhänge bereits geschlossen, aber in mir war die gesamte erlebte Strand-Tageshelle noch als Bühnenlicht da, und auf der Bühne in meinen Katakomben sprudelte und oszillierte es nur so vor Aktivität, die Vorbereitungen für die Aufführung liefen auf Hochtouren. Ob die Aufführung noch auf dem Rückweg, beim Ankommen oder erst im Bett, nachdem ich eingeschlafen war, stattfand, weiß ich nicht mehr so recht, weil sich die Realitäten ineinanderschoben. Jedenfalls stellte, wer da hinter der Bühne Regie führte, anhand meines aktuellen Körpergedächtnisses eine Bilderfolge zusammen, die seitdem fest in meinem Bewusstsein eingebrannt ist: Aníbal und ich sind Hand in Hand auf dem Rückweg von der Klippenküste, wir laufen auf einem orangefarbenen Lichtweg, und als wir so laufen, wächst die sonst deutlich kleinere Tónia auf die gleiche Größe wie Aníbal, und ich fühle, während dieser Kurzfilm in meinem Kopf abläuft:

„Ich bin eine Frau geworden, aus Antónia ist Tónia geworden, Tónia ist aus Antónia herausgewachsen, Tónia ist Antónia entwachsen, ich bin mir aus mir erwachsen.“

Die Lichtspur führt uns bis zu Aníbals und Jorges Stadtviertel, und man erwartet uns im Halbkreis auf dem zentralen Platz des Viertels mit großem Lagerfeuer: Opa Jorge und Oma Marta, meine Eltern zusammen mit Lopo, Aníbals Eltern Luís und Katharina und andere Nachbarn. Alle winken uns schon von Weitem zu. Und dann schließt die Bilderfolge mit Aníbals Kuss auf meinen Mund, zur Verabschiedung, bevor sich alle voneinander trennen und nach Hause gehen. Der Kuss ist kurz, aber von einer Zartheit, dass mir schwindlig wird und das Aufrechtbleiben schwerfällt ...

Im Laufe der Jahre wuchs bei mir die Empfindung, dass ich in diesem Sommer 1984 das Licht der Welt erblickte, das mir durch das weitere Leben leuchtete, und an keinem anderen Tag wurde das so deutlich wie an diesem Tag, den ich mit Aníbal zusammen am Strand verbrachte. Das, was vorher in meinem Leben war, wurde auf einer unteren Ebene aus der alten Lebensordnung herausgelöst und jetzt auf einer oberen Ebene transformiert und rekombiniert. Ich fühlte mich mit einem Bezugspunkt für mein ganzes weiteres Leben ausgestattet.

Wenn es sich um einen zielgerichteten Plan gehandelt hätte, dann würde ich von einem fünf Jahre dauernden Sommerkurs am Algarve sprechen, der mich auf den Übergang ins Frausein vorbereitete und diesen Übergang schließlich vollzog. Ich ging in den „Unterricht“ bei einem Meister des Lebens und lernte, mitzuschwingen. Ich erlebte mir bisher nicht bekannte, aber durchaus erahnte, Kräfte und Rhythmen der Natur und lernte, ihnen nachzuspüren. Ich erlebte mir in diesem Grad bisher nicht bekannte, aber ersehnte, Kräfte und Rhythmen in menschlichen Beziehungen und verinnerlichte sie. Nach der verbalen Vorbereitung in den ersten vier Jahren, gab mir der Meister des Lebens im fünften Jahr außerdem einen jungen Mann als Gefährten an die Seite. Schließlich wurde ich im Kreis der Eingeweihten aufgenommen, besiegelt durch den Kuss des Gefährten, nachdem ich von meinen Eltern getrennt worden war und vertiefende Erfahrungen mit diesem Gefährten machen konnte.

Ja, ich übte tatsächlich das Mitschwingen in der Natur und in menschlichen Beziehungen ein, und ich fühlte mich auf eine neue Ebene gehoben, und ich fühlte (und fühle heute noch), dass hier mein Übergang zum Erwachsensein vollzogen wurde. Aber es gab keinen Plan. Es gab keinen Fünfjahreskurs und keinen Meister, der mich entsprechend unterrichtete. Der Übergang geschah Stück für Stück so, weil ich bei meinen Großeltern im Sommerurlaub dieses faszinierende Stück Natur direkt vor der Haustür hatte und weil ich es glücklicherweise mit den Menschen aus der Comunidade zu tun bekam, die mein Vertrauen fanden. Ich befand mich zudem auf einer diffusen „Suche“. Meine Saiten sollten verändert schwingen, ich wollte „weiterkommen“. Ich wurde älter und ich öffnete mich für die lokalen Einflüsse. Das war alles, was ich für die Verwandlung benötigte.

Ich beschreibe das heute in Anlehnung an Initiations- und Übergangsrituale, weil ich in meiner Berufsausbildung mit diesem Thema zu tun hatte. Während meines Studiums benutzte ich dieses Wissen, um autobiografisch zurückzublicken. Ich stellte Vergleiche mit Freundinnen und Freunden an, die im etwa gleichen Alter den rituellen Weg in die Mündigkeit durch kirchliche Staatsdiener organisiert bekamen. Und meine ostdeutsche Brieffreundin Sandra aus Zwickau, zu der ich 1990 den Kontakt verlor, wurde vom realsozialistischen Staat durch eine Feier geschleust, nach deren Abschluss sie eben diesem Staat zu Diensten sein sollte. Dabei war die Jugendweihe vor dieser Verwendung eine freiheitliche Art gewesen, das Erwachsensein zu eröffnen.

Blick vom Berg

Da ich in die Freiheit versetzt wurde, meine Bewerbung in der Form abzufassen, die mir selbst angemessen erscheint, habe ich zu dieser ungewöhnlichen Form gegriffen. Wenn es bei dieser Bewerbung für mich um das Ganze meines Lebens geht, muss ich auch über das Ganze schreiben. Ich schreibe hier nicht nur um meine zukünftige Beschäftigung. Ich schreibe um mein ganzes Leben. Diese Bewerbung ist das Ergebnis meiner biografischen Selbstvergewisserung. Ich werde die Standardinhalte in meine autobiografische Erzählung einbetten, soweit ich sie in diesem Rahmen für relevant halte.

Ich erzähle den Lauf meines Lebens nicht, um zu erzählen. Angesichts meiner Lebenskrise im letzten Jahr und angesichts des sinnlosen Kosmos ringe ich dem Zufall ein wenig eigene Notwendigkeit für mich ab. Wie eine Forscherin durchwandere ich mein Leben, um meine Sinnquellen aufzuspüren und sie für die Bewässerung meiner Lebensfelder nutzbar zu machen. Es geht um meine fragile Stabilität, damit ich in diesem Kosmos überleben und mich weiterentwickeln kann.

Mein Alles – mein Herz und meine Seele – beginnen also mit dem Urknall meiner vervollständigten Geburt am Algarve. Von hier aus bin ich auf einer neuen Ebene losgesegelt, hier habe ich die neue Qualität von Lebenskraft und Urvertrauen empfangen, die mein Leben bis heute ausmachen. Beim kurzzeitigen Verblassen im Alltagskladderadatsch halfen mir aufblitzende Erinnerungen, Fotos, Brocken aus meinem Tagebuch, kurz bevorstehende Algarve-Aufenthalte, um mich wieder mit diesem Ursprung zu verbinden. Das Licht vom Horizont strahlte wieder zu mir herüber. Ich drehte mich um, ich sah meinen großen Schatten vor mir und ich erinnerte mich an meine Würde und Größe. Dann konnte ich die Scherben wieder aufheben und war in der Lage, Ordnung in Leben und Beziehungen zu bringen. Dann war mein Leben wieder scharf gestellt und ich begann, meiner Umgebung und den Menschen wieder mit der angemessenen Achtsamkeit und Ruhe zu begegnen.

In meiner aktuellen Krise gelang mir dies nicht ohne professionelle Unterstützung.

Nach Lagos segeln

Beim ersten Lagos-Urlaub im Sommer 1980 war ich zehn, mein Bruder Lopo acht Jahre alt, und wir „segelten“ den ganzen Weg von Köln aus an den Algarve. So drückte es unser Vater aus, während er uns Kindern die Strecke auf dem Globus oder auf der Landkarte zeigte. Wahrscheinlich wollte er den zu erwartenden Härten der langen Autofahrt einen Geschmack der Mühelosigkeit geben.

Neben den sowieso eingeplanten Härten eines engen, weil vollgestopften Autos und einer enorm langen Autofahrt, die uns sogar zwei Übernachtungen auf der Reise bescheren würde, reihte ich schnell das unaufhörliche Fußball-Gerede meines Bruders in diese Kategorie ein. Am Abend vorher durfte er zum ersten Mal für ein am Fernseher übertragenes Fußballspiel länger aufbleiben, und nachdem er am frühen Morgen im Auto erst einmal eine Zeitlang geschlafen hatte, war er beim Überfahren der Grenze von Belgien nach Frankreich auf einmal hellwach. Er hatte die längs gestreifte schwarz-gelb-rote Fahne wiedererkannt und verwickelte meinen Vater sofort in ein Gespräch über dieses Fußballspiel vom letzten Abend, in dem „Deutschland“ gegen „Belgien“ die „Europameisterschaft“ gewonnen hatte.

Ich hatte eine kleine Büchersammlung von Abenteuern der „Fünf Freunde“ mitgenommen, die zu dieser Zeit meine absoluten Favoriten waren, und ich war die Einzige in der Familie, die ohne Gefahr zu erbrechen bei Autofahrten lesen konnte. Nun versuchte ich mich zwar, so weit wie möglich auf die Lektüre meines spannenden Buches zu konzentrieren, aber ganz überhören konnte ich Lopos Plappern natürlich nicht. Er schien über alle einzelnen Spieler und ihre Fähigkeiten sprechen zu wollen, über sämtliche Eventualitäten in einzelnen Szenen des beendeten Spiels und über die vielen Milliarden Fußball-Sandkörner, die es sonst noch gibt. Außerdem versuchte er ständig, meinen Vater zu mehr Begeisterung über den Ausgang des Spiels anzustacheln. Ich stieß regelmäßig Tonsignale aus, um anzuzeigen, dass mich das Thema immer noch nervte, falls es jemand vergessen haben sollte.

„Man ist festgehalten, auf engstem Raum, mit Fenstern als Gitter, miteinander eingesperrt in diesem silbergrauen Monster auf Rädern, man muss die Nähe der anderen aushalten, die Fensterwände hallen alle unsere Töne, Wörter, Bewegungen und Gesichtsausdrücke verstärkt wider, diese unerträgliche Dauerdunkelheit der ständig gleichen bewegten Bilder; verglaste Autos, verglaste Bäume, verglaste Straßen, verglaste Felder, verglaster Himmel, verglaste Sonne und verglaste Wolken, verglaste Parkplätze, verglaste Lastwagen, doppelt verglaste Kinder, Hunde, Frauen, Männer. Alle paar Stunden einmal öffnen sich die Türen, wir werden bei einer Abteilung für natürliche Bedürfnisse ausgespuckt und danach wieder eingefangen, platziert, und weiter rollt die rumorende, qualmende Bestie“ (Aus meinen Reisetagebüchern, 1985).

Ich bewundere meinen Vater noch heute für die Gelassenheit, mit der er sich wie ein Deich der angreifenden Fußballwellen meines Bruders erwehrte. Weil ich ihn wie eine Stimme der Vernunft empfand, wurde ich zwischenzeitlich aufmerksam und hörte dann genauer hin.

„Jetzt ist Deutschland doch die beste Mannschaft in Europa, oder Papa?“

„Das ist schwer zu sagen, Lopo. Das war nur ein einziges Spiel. Schon morgen könnten die gegen eine andere Nationalmannschaft verlieren.“

„Du bist doch ein Fan der Löwen aus Lissabon, wie heißen die noch mal richtig?“

„Sporting Lissabon, ein richtiger Fan bin ich allerdings nicht. Ich mag Vereinsmannschaften zwar lieber als Nationalmannschaften, aber am liebsten hatte ich es immer, mit Freunden zusammen selbst zu spielen: überall, wo man zweimal zwei Pfosten markieren konnte, bis die Sonne unterging.“

„Und warum magst du die Nationalmannschaften nicht so sehr?“

„Weil mir das zu sehr nach Krieg klingt, wenn zwei Länder gegeneinander kämpfen, selbst wenn es nur ein Spiel ist.“

Meine Mutter schaltete sich ein und streichelte meinen Vater am rechten Oberarm.

„Na, ist da einer doch im Grunde seines Herzens Kommunist, so wie sein Vater?“

Da war es wieder, das Wort, das zwar keine Härte für mich darstellte, aber doch wie eine ständige große graue Wolke über unseren Reisevorbereitungen geschwebt war. Meine Eltern hatten zum ersten Mal erwähnt, dass mein Großvater schon seit seiner Jugend Mitglied in der portugiesischen Partido Comunista sei, der PCP, und das habe sich erst recht nicht geändert, nachdem im April 1974 die faschistische Diktatur, der Estado Novo, gestürzt und die Partei nun offiziell zugelassen worden sei.

Nach dem, was ich bis 1980 als Grundschulkind zufällig in unserer Kölner Nachbarschaft aufgeschnappt hatte, war ein Kommunist etwas ganz Schlimmes. Und dadurch, dass mein Vater in der SPD aktiv war, waren wir als Familie schon mit Kommunisten verknüpft, auch ohne die mir noch unbekannte Parteimitgliedschaft meines Großvaters, denn diese SPD stand bei unseren Nachbarn unter Verdacht, im Fall der Fälle mit wehenden Fahnen zum kommunistischen Feind überzulaufen. Für unsere Nachbarn waren gewöhnliche Diebe und Gewalttäter im Vergleich zu Kommunisten noch verstehbar. Kommunisten waren aus einer anderen Etage, bösartige Besucher von einem anderen Planeten. Die Nachbarn wussten wahrscheinlich nicht von den SPD-Aktivitäten meines Vaters, aber in meinem damals noch eingeschränkten kindlichen Wahrnehmungshorizont reagierte ich vorauseilend mit einer mir selbst auferlegten Sippenhaft und begegnete ihnen in der Folge ausweichend und reserviert. Vorher waren die Kontakte noch unbeschwert gewesen.

Mein Großvater, den ich nun in den Sommerferien kennenlernen würde, sollte aber ein richtiger Kommunist sein, so ein bösartiger Mensch? Als ob mein Vater genau auf diese Frage antworten wollte, trat er als Anwalt in einen imaginären Gerichtssaal.

„Ich weiß nicht, ob ich im Grunde meines Herzens Kommunist bin, oder ob ich einfach nur zurückhaltend gegenüber Staaten und Nationen bin. Ich habe schon in zwei Ländern gelebt und habe dabei gemerkt, dass die anders funktionieren als die menschlichen Gemeinschaften, die ich mag. In Staaten geht es um „oben und unten“ oder „Befehl und Gehorsam“, mag noch so sehr die Rede von Demokratie sein. Die Dinge, die einem Staat wichtig sind, sind sowieso für das Volk vorgegeben, in Portugal und Deutschland und anderswo, in einer Diktatur oder nach einer Diktatur. Und mein Vater, euer Opa Jorge, ist kein schlechter Mensch. Darauf könnt ihr euch verlassen.“

Er habe immer seine Überzeugung gelebt, dass Menschen gleichberechtigt miteinander leben sollten, und das habe er auch in seiner Nachbarschaft so praktiziert. Als er sich in der Öffentlichkeit dafür stark gemacht habe, seien Konflikte mit dem Regime unausweichlich gewesen, und er sei für ein paar Tage inhaftiert worden.

„Aber er ist trotzdem kein Verbrecher.“

Er habe die Geheimpolizei schließlich überzeugen können, dass er sich in Zukunft mehr zurückhalten werde, und zudem sei sein Außenseiterstatus innerhalb der Partei bekannt gewesen.

„Deshalb, glaube ich, kam er dann nach wenigen Tagen frei. Ich war knapp vierzehn Jahre alt, eure Tante Romana lebte schon nicht mehr bei uns, und wir waren ganz schön froh, als er plötzlich im Tor stand und nach kurzem Blick zum Haus das Grundstück betrat. Oma Marta und ich waren gerade im Hof, auf dem Rückweg vom Hühnerstall, Eier holen, ich sehe es heute noch vor mir. „Er ist wieder da!“ Da steht er unter diesem metallenen Tor, das ein Genosse für ihn geschmiedet hatte und das, denke ich, heute noch da ist, mit dem an den großen Rundbogen des Tores angepassten Schriftzug „Vida, Comunidade, Compartilhar“, für uns vom Hof aus nur spiegelverkehrt zu sehen.“

Manche Bilder brauche man nicht in Papierform vor sich liegen zu haben, die befänden sich in der nach außen nicht wahrnehmbaren Herzenssammlung.

„Auf jeden Fall lasst euch nicht durch das Wort „Kommunist“ abschrecken, schaut euch den einzelnen Menschen genau an, der so genannt wird. Das Wort allein sagt erst einmal nicht viel.“

Meine Mutter schien zufrieden zu sein. Sie lächelte ihren Carlos von der Seite an und streichelte ihn am rechten Oberschenkel. Er schaute kurz zurück zu ihr, nickte kurz mit ernstem Gesichtsausdruck wie jemand, der auf einer wichtigen Mission war und gerade eine seiner Pflichten erledigt hatte, und konzentrierte sich dann wieder auf den Straßenverkehr. Viele Jahre später, als mein Vater bereits erkrankt war, verriet mir meine Mutter einmal, wie sehr sie es möge, wenn ihr Carlos für seine Überzeugung einstehe.

„Seine Augen funkeln und werden schwarz, und er kommt mir dann vor wie ein Vulkan.“

Diese Verteidigungsrede für seinen Vater war sicher so ein Augenblick.

Danach war es erst einmal still im Auto, minutenlang, oder eine halbe Stunde lang? Der Ausbruch war vorbei. Der Lavastrom verteilte sich und lieferte schon einmal den fruchtbaren Boden für die bevorstehende Ernte, alle hingen ihren Gedanken nach, oder ruhten sich aus. Oder säten sie bereits aus? Gerade war keiner dem anderen eine Härte, das Eingesperrtsein wich der gemeinsamen Ruhewiese, die störenden Gitterfenster waren weggesprengt.

Er mochte seinen Vater also doch, und das Wort „Kommunist“ klang nicht mehr so schrecklich in meinen Ohren. Die Geschworenen im Auto waren eindeutig überzeugt. Wir Kinder hatten nicht alles verstanden, was er gesagt hatte. Ich kann seine Verteidigung nur in dieser Ausführlichkeit berichten, weil ich mir noch im Urlaub das aufschrieb, was ich mir gemerkt hatte, und weil ich den Rest zusammen mit meiner Mutter rekonstruierte. Das Entscheidende erfassten wir aber sofort. Er mochte seinen Vater doch. Bis dahin hatte ich das so noch nie gehört. Mein Vater hatte bis zu diesem Zeitpunkt immer nur Andeutungen gemacht. Er habe viel mit anpacken müssen zu Hause. Es sei nicht immer leicht gewesen. Seine Eltern hätten ihm keine Steine in den Weg gelegt, als er dann schließlich nach Deutschland gezogen sei, obwohl sein Vater erwartet habe, dass sein Sohn eines Tages mit einsteige in den Betrieb und diesen dann übernehme, selbst als der nach seinem Abschluss in der Schule schon eine Ausbildung in einem lokalen Geldinstitut absolvierte und danach dort weiterbeschäftigt blieb.

Als Dreizehnjähriger war Carlos zum Einzelkind geworden. Seine vier Jahre ältere Schwester Romana war nach Lissabon gezogen, um dort in einer Anwaltskanzlei zu lernen und zu arbeiten. Onkel Jaime, ein Bruder von Oma Marta, der in Lissabon lebte, hatte dies durch seine Kontakte ermöglicht, worüber Opa Jorge gar nicht begeistert gewesen war. Tante Romana arbeitete sich schnell in der Hierarchie der Kanzlei empor, wurde nach wenigen Jahren Chefsekretärin und heiratete kurze Zeit später einen der Anwälte. Meine Eltern kannten sich zu dieser Zeit noch nicht. Mein Vater hatte einmal davon erzählt, dass er von seiner brandneuen Heimatstadt Köln aus allein zur Hochzeit nach Lissabon geflogen sei. Als ich ihn zu Beginn meiner Grundschulzeit fragte, wie es denn gewesen sei, seinen Vater nach so vielen Jahren endlich wiederzusehen, sagte er nur „normal“, und ich fragte nicht weiter nach, weil ich nicht noch einmal an der von ihm ganz schnell wieder geschlossenen Auskunftstür klingeln wollte. Viele Jahre später, in meinem Sommerurlaub nach dem Abitur, stellte ich die Frage zum Wiedersehen auf Romanas Hochzeit der vermeintlich anderen Seite der Begegnung, Jorge und Oma Marta. Sie habe es sehr schön gefunden und sich sehr gefreut, ihren Sohn wiederzusehen, sagte Oma Marta, aber Jorge sei nicht dagewesen. Jorge schaute seine Frau nur finster an, stand auf und spuckte noch kurz die Worte „zu viele Freunde des Regimes“ aus, bevor er das Zimmer verließ.

Wir lernten Tante Romana 1978 in Lissabon kennen, während des ersten Portugalaufenthaltes für uns Kinder. Wir wohnten drei Wochen in einer kleinen Pension mit Ausblick auf den Tejo und die „Brücke des 25. April“. Leider sahen wir Tante Romana, die sehr nett zu uns Kindern war und mit der wir uns hervorragend verstanden und ungehemmt toben konnten, viel seltener als geplant. Sie musste oft länger arbeiten, weil ein wichtiger neuer Fall zu bearbeiten war, weil ein nicht vorhergesehenes Treffen am nächsten Tag vorbereitet werden musste, weil dringende Telefonate viel länger als erwartet gedauert hatten oder weil der Chef unbedingt noch ihre Hilfe für dieses und jenes brauchte. Schade für uns, dass sie nicht mehr Zeit hatte, und schade auch für alle fiktiven Kinder, die sie aus medizinischen Gründen nicht bekommen konnte. Ihren Mann, unseren Onkel Filipe, sahen wir ein einziges Mal, als wir uns am Abend vor unserer Rückreise alle sechs gemeinsam zum Essen trafen. Er war auf Geschäftsreise in Brasilien gewesen, überraschte uns Kinder mit bunten Stoffpapageien und bestand mit seiner lustigen Art außerdem schnell unseren versteckt ablaufenden Kindertauglichkeitstest.

Bei einem gemeinsamen Picknick im Monsanto-Park, eine der ganz wenigen Gelegenheiten, bei der wir ausgiebig Zeit mit Tante Romana zusammen hatten, schnappte ich zufällig einen Augenblick im Austausch der beiden Geschwister auf, der nicht für mich bestimmt war. Lopo und ich hatten an einem kleinen Bach im Wald ein gutes Stück entfernt gespielt, und unter anderem Steine ins Wasser geworfen, wobei Lopo und ich unzählige imaginäre Spielkameraden Steine werfen ließen. Wir bekamen überfallartig Durst, es war ein heißer Sommertag, und wir rannten eiligst zurück zu unserem Platz, den wir auf einer Lichtung am Waldrand errichtet hatten, um so je nach Bedarf die Sonne oder den Schatten einschalten zu können. Ich war schneller als mein Bruder und erreichte beinahe die Lichtung vom Wald her, als ich noch im Schatten Tante Romana hörte:

„Irgendwie bin ich bei ihm wie gegen eine Mauer aus Stein gelaufen.“

Und ich trat erst einmal voll auf die Bremse wegen des in ihrer traurigen Stimme wahrgenommenen Intimitätssignals, und wurde, unterdessen fast zum Stillstand gekommen, mit den verbliebenen Bruchstücken meiner Bewegungsenergie auf die Lichtung geschoben. Lopo prallte bereits gegen mich Mauer aus Fleisch, während ich ein stehendes Knäuel sah, meine weinende Tante in den Armen meines Vaters, meine Mutter streichelte ihr von hinten über den Kopf, und dabei meinen Vater hörte:

„Ich glaube, deshalb sind wir beide von zu Hause weggegangen.“

Im nächsten Moment war das Knäuel gesprengt, wie durch das grelle Blitzen einer Radarkontrolle musste unser Erscheinen auf der Picknickbühne ein „Erwischt“ signalisiert haben, „zu langsam fertiggeworden“, was bei dem überführten Trio reflexartig zur Beseitigung des vermeintlich verdächtigen Tatbestandes, zur Entwirrung des Knäuels, führte. Dabei hatten meine Augen das Foto für das Kopf-und-Herz-Archiv schon längst geschossen. Die Täter versuchten sogleich, ihre Tat zu maskieren, veranlassten ein schnelles Umschalten der Gesichtsmuskeln, und eine lächelnde Frage meiner Mutter schloss sich an.

„Na, braucht ihr eine Pause?“

Tante Romana ging, so folgerte ich, ähnlich mit ihrer Vaterbeziehung um wie ihr Bruder. Es gab ein Einvernehmen. Kein offener und freier Umgang mit dem Thema gegenüber den Kindern, sondern nur ein zurückhaltendes Andeuten von Fakten. Und manchmal wurde uns Kindern eben durch Zufall ein unfreiwilliger Blick hinter die Kulissen der Aufführung gewährt. Das Übergewicht schien mir eindeutig in den Schwierigkeiten mit dem eigenen Vater zu liegen, in einer negativen Beurteilung der Beziehung zu ihm.

Bis zu dieser enthüllenden Verteidigungsrede im Auto konnte ich bezüglich des Verhältnisses Papa-Opa also nur wie ein Detektiv vorgehen, wie die „fünf Freunde“ in ihren vielen Abenteuern, die ich in meinen Büchern kennengelernt hatte: beobachten, mutig sein, Geheimgänge finden, die zugänglichen Fakten sammeln, alle in einer Rechnung zusammenfassen, bewerten, weitersuchen, sammeln, rechnen, bewerten. Ob ich das unentdeckte Land entdecken könnte? Mein Vater wollte etwas verstecken, was mich interessierte. In seiner Öffentlichkeitsarbeit gab er emotionslos einen statistischen Bericht für mich ab. Ich war nicht erfolgreich. Ich konnte die entscheidenden Geheimgänge nicht finden. Ich musste mich mit den aufgezählten Fakten begnügen und daraus errechnete ich meine Bilanz, die negativ ausfiel. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Vater seinen Vater mochte. Damit hatte ich mich verrechnet. Ich hatte beispielsweise das Faktum des geplanten Sommerurlaubs in Lagos falsch bewertet, eindeutig Folge der zurückhaltenden Informationspolitik meines Vaters. Für mich war der Lagos-Besuch in der Verhältnisbestimmung Vater-Sohn ein Glied in der Kette der Routinekontakte zwischen seinen Eltern und uns, reine Gewohnheit wie die sporadischen Telefonate, Postkarten, Briefe und Pakete, die zwischen Lagos und Köln hin und her gingen. Dann eben dieses Mal ein Urlaubsbesuch als besonderer Kontakt. Aber in der doppelten Buchführung meines Vaters sah die Rechnung anders aus.

Oma Marta habe sich oft auf ihre Seite geschlagen. Die Schwierigkeiten mit seinem Vater seien aber enorm gewesen, das habe Tante Romana und ihn dazu bewogen, möglichst bald das Elternhaus zu verlassen. Die Geschwister hätten mit unbewusster Absicht Berufsfelder gewählt, die in einem schlechten Ansehen bei Jorge standen. Damals und in den ersten Jahren nach seinem Weggang wäre das Bekenntnis, wie er zu seinem Vater stehe, eindeutig negativ ausgefallen. So öffnete sich mir mein Vater fünfzehn Jahre nach der ersten gemeinsamen Autofahrt Richtung Lagos zum ersten Mal ausführlich zu diesem Thema. Reichlich spät. Er ist eine schwer zu bewegende Steinmauer, und darin Erbe seines Vaters.

Meine Eltern besuchten mich gerade in meiner WG in Wuppertal, und ich hatte für sie gekocht. In entspannter Atmosphäre aßen wir eine Caldeirada, das Leibgericht meiner Eltern, und Vanilletörtchen als Nachtisch. Wir tranken warmen Tee und Glühwein und genossen den Kerzenschein. Es war ein herbstgrauer, mit Nebel und Nieselregen verhüllter kalter Freitagabend im November, und wir hatten beschlossen, es uns gemütlich zu machen. Die Themen „Studium“ und „Arbeit“ sollten außen vor bleiben. Meine Eltern würden auf einem großen ausklappbaren Sofa im Wohnzimmer übernachten können, da ich an diesem Wochenende allein in der Wohnung war. Es war einer der angenehmsten Treffen mit ihnen. Sie waren gerade mit der Familiendynamik insgesamt zufrieden und das ließ sie einmal richtig loslassen. Ich bereitete meine Berufstätigkeit gerade entschlossen vor und wurde von ihnen fast schon als Erwachsene behandelt. Sie selbst fühlten sich mit ihrer Lebenssituation in Köln sehr wohl. Und mit Lopos Studium verlief auch alles gut. Meine Mutter lobte sogar meine Kochkünste. So leckere Caldeirada habe sie lange nicht mehr gegessen. Ich freute mich, aber versuchte, auf dem Boden zu bleiben.

„Ich habe mich an dem orientiert, was ich bei Oma und bei dir gesehen habe, und ein bisschen variiert.“

Und nach einer kurzen Pause:

„Wie hat Oma Marta das eigentlich genommen, als du 1967 nach Köln gegangen bist?“

Meine Mutter deutete in Richtung Sofa, wir anderen nickten und ergriffen die Initiative sowie die Getränke. Aufräumen konnten wir später. Die Rechnung, deren Ergebnis ich als ein virtuelles Mitglied der „fünf Freunde“ damals falsch ermittelt hatte, wurde nun endlich in ihre Einzelteile zerlegt und erklärt, die Mechanik der doppelten Buchführung meines Vaters offengelegt.

„Oma Marta war sehr traurig, schon vorher, als Romana ging. Sie sah richtig, dass unser Wille, rauszukommen, stark von der Erziehung unseres Vaters beeinflusst war. ,Das hat er jetzt davon, dass er euch immer dazu angehalten hat, selbständig zu sein, eure Pläne gut zu durchdenken, und sie dann mutig umzusetzen. Hoffentlich können wir wenigstens irgendwann unsere Enkel sehen.‘ Das sagte sie und sie hatte recht. Ohne den kommunistischen Regimegegner Jorge Duarte Pereira hätten wir nicht eine solche Kraft entwickelt, unser Leben in die eigene Hand zu nehmen.“

Das habe er in diesem Moment zwar gehört, aber erst sehr viele Jahre später verstanden. Das sei dann die wichtigste Erkenntnis gewesen, die ihm seinen inneren Rückweg zum Elternhaus eröffnet habe. Aber damals habe er diese nervenaufreibende Auseinandersetzung mit dem Regime nicht aushalten können.

„Ich wollte einen „normalen“ Beruf und „normal“ leben, in Lagos wäre ich automatisch in seine Kämpfe verstrickt gewesen.“

Deshalb habe er beschlossen, sein Schicksal dem Würfel zu überlassen, „das weißt du ja, und die „Vier“ war das Ziel Deutschland“, und so habe er heimlich Deutsch gelernt und seinen Kollegen Miguel angesprochen, der für die Geschäftsbeziehungen zu deutschen Banken zuständig gewesen sei und der ihm dann die Stelle in Köln vermittelt habe.

„Das war wie so ein flacher Stein, der reibungslos über einen See hüpft.“

Mein Vater grinste und wir mussten lachen.

„Und Jorge, wie reagierte der?“

Mein Vater trank einen Schluck Glühwein.

„Der sagte nur: ,In Ordnung, du schaffst das schon.‘ Steinmauer halt.“

In Deutschland habe er dann später realisiert, dass man nicht einfach „normal“ leben und die gesellschaftlichen Kämpfe um einen herum ignorieren könne. Das sei ein zweiter wichtiger Punkt in seiner emotionalen Wiederannäherung an sein Zuhause gewesen und habe zu seiner Mitgliedschaft bei den „Portugiesen in der SPD“ geführt. Die Nelkenrevolution 1974 habe ihm schließlich den Mut gegeben, nach den ersten inneren Schritten auch äußere Schritte der Annäherung zu wagen.

„Jorge war nun gewissermaßen legalisiert worden. Wir dachten jetzt zum ersten Mal an einen Besuch in Portugal mit der ganzen Familie, du warst vier und Lopo war zwei Jahre alt, ihr solltet natürlich einmal eure Großeltern in Lagos kennenlernen. Mit zwei Sprachen hatten wir euch sowieso aufwachsen lassen, das war uns beiden wichtig.“

Damit hatte sich der Kreis für mich erst einmal geschlossen, der Insider hatte ausgepackt und seiner Tochter die Musterlösung präsentiert. Die Geheimgänge waren zur Besichtigung freigegeben. Das heiße Gitarrensolo schraubte uns zum Aussichtsturm empor, ein bisschen Trance und Möwen-Schwebebahn in meiner emotionalen Lebensraumfahrt, wohlig wärmende Kerzenscheinhöhle inmitten der grauen Außenwelt, Toilettenbesuch, Knabbereien und neuer Glühwein.

Interessant, wie unspektakulär mein Vater seinen Vater aus der Ferne gemocht hatte: Dankbarkeit über eine hinreichende Ausstattung für das eigene Leben, keine großen Gefühle, keine Freundschaft. Dennoch empfand ich diese Verbundenheit als sehr stark, entgegen allen vergangenen Schwierigkeiten. Und auf dieser Basis wuchs dann spätestens ab dem zweiten Sommerurlaub in Lagos eine größere emotionale Nähe zwischen den beiden, so meine heutige Einschätzung.

„Und warum hat es dann nach der Nelkenrevolution noch so viele Jahre gedauert, bis wir wirklich nach Lagos „gesegelt“ sind?“

Jetzt antwortete meine Mutter.

„Die unübersichtliche Lage nach dem 25. April 1974 besserte sich erst 1976 nach den Wahlen.“

Mein Vater ergänzte, er sei in seinem Mut noch nicht so zielstrebig gewesen, „demnach besuchten wir 1978 erst einmal Romana, wie die Katze um den heißen Lagos-Brei herum.“ Er sei in Lissabon allerdings ständig an den Brei erinnert worden.

„Die Gespräche mit Romana, die an die Hauswände geschmierten PCP-Schriftzüge. Überall roch es danach.“

Als sie im Sommer 1979 schon nach Lagos in den Urlaub fahren wollten, sei Jorges Umbau dazwischengekommen, „deshalb fuhren wir erst ein Jahr später, wir konnten dann in einer der acht neuen Ferienwohnungen bleiben.“

So viel änderte das späte Offenlegen der detaillierten Rechenschritte gar nicht, das merkte ich ganz erstaunt. Den entscheidenden Schritt der Öffnung hatte mein Vater doch damals bei der ersten Fahrt nach Lagos gewagt. Uns Kindern war in diesem Moment zum ersten Mal klar geworden, dass er seinen Vater mochte und dass er für ihn ein- und aufstand. Die vielen Schwierigkeiten der Vergangenheit, von denen wir durch Andeutungen wussten, schienen daran offensichtlich nichts zu ändern. Der Ausdruck „Segeln“, den er für unsere Reise nach Lagos verwendete, war also sicher nicht nur als Gegenmittel gegen die unangenehme lange Reise gedacht, er war, so vermute ich, zumindest 1980 bewusst oder unbewusst auch ein Zauber- und Beschwörungswort zur Bannung seiner Ängste in der erwarteten Konfrontation mit den Gespenstern der Vergangenheit gewesen.

Im Auto beendete meine Mutter damals das Schweigen nach der Verteidigungsrede für meinen Opa Jorge, den ich bis dahin nur auf Fotos gesehen hatte.

„In knapp drei Stunden sind wir in Bordeaux. Wollen wir nicht an der nächsten Raststätte anhalten, uns noch einmal ordentlich stärken und bewegen, bevor es zum Endspurt für heute geht? Und ich übernehme dort das Steuer, Carlos?“

Das traf unsere Stimmung auf den Punkt, und wir alle waren jetzt zu Lautstärken fähig, die man aufgrund des letzten Streckenabschnittes nicht für möglich gehalten hätte. Aber wahrscheinlich hatten wir in der Zeit der Stille gesammelt, um jetzt einen derart imposanten Lautstärkepegel produzieren zu können. Wir mussten uns ausagieren, wir brauchten das Draußen, die Freiheit von unseren Autositzen, wir brauchten Kraft, Bewegung und andere Luft. Danach waren wir fröhlich; die „knapp drei Stunden“ bis zum Ort unserer ersten Übernachtung vergingen wie im Überschallflug, wir spielten Ratespiele und erzählten Witze. Es kam richtige Abenteuerlust und Urlaubsfreude auf.

Die Zwischenlandungen beim „Segeln“ waren eine gute Idee meiner Eltern. Sie hatten jeweils zwei spannende Städte für Übernachtungen ausgesucht, die nach etwa zehn Stunden reiner Fahrtzeit erreicht werden konnten.

Zwischen 1980 und 1988, der Zeit der gemeinsamen Urlaube als Familienviererbande, machten wir auf der Hinfahrt Station in Bordeaux und Évora und auf der Rückfahrt in Burgos und Orléans. Insbesondere die Aufenthalte in Bordeaux waren bei uns allen so beliebt, dass die Stadt sich zu einem eigenen Urlaubsziel entwickelte, oder zum „Vorspeise-Urlaub“, wie Lopo damals sagte. Es kam öfter zu Verlängerungen dieses Zwischenaufenthalts. Meistens blieben wir dann eine Nacht länger; einmal konnte ich sogar zwei zusätzliche Nächte heraushandeln, was von der Zeit her in Ordnung ging, da wir für unseren Urlaub sechs Wochen zur Verfügung hatten.

Ich wollte von dieser Tradition nicht lassen, als Rike, Michele, Jan und ich nach dem Abitur 1989 mit dem Interrail-Ticket in der Tasche per Zug quer durch Europa fuhren. Glücklicherweise konnte ich die Drei überzeugen, die vier Zwischenstationen mit in unsere Reiseplanung zu übernehmen, wenn wir die Städte im Vergleich zu unseren Familienfahrten auch in anderer Reihenfolge ansteuerten. Orléans steuerten wir schon auf der Hinreise an und hielten uns dort, wie sonst auf der Rückreise, für eine Nacht und etwa einen halben Tag auf. Évora besuchten wir wie Burgos auf dem Rückweg, weil wir vor Lagos noch einen Abstecher nach Lissabon machen wollten. Das war ein Zugeständnis an Jan und Michele, und dafür erschien es uns am günstigsten, den Nachtzug von Irún nach Lissabon zu nehmen, der uns entgegen der angeblichen Eignung für die Nachtruhe diese Möglichkeit aber gerade nicht bot: Rucksacktouristen wie wir in Massen, Isomatten in den Gängen ausgebreitet, kaum ein Durchkommen, Hitze und Rotwein-Partys.

Ursprünglich wollte ich diese Interrail-Tour mit meiner Rike allein unternehmen – jedenfalls hatten wir uns das etwa ein Jahr zuvor vorgenommen, als unser letztes Schuljahr begonnen hatte. Dann bekamen Jan und Michele auf einer Party im Herbst Wind von der Idee und jubelten mit einem Mal, sie wollten unbedingt mitfahren. „Klar, kommt mit, das wird cool“, jubelten wir zurück, halb Unsinn vermutend, halb selbst Unsinnsgejohle produzierend, wie das im letzten Schuljahr die meisten unserer Jahrgangsstufen-Hirne unter Alkoholeinfluss taten, mit den uns allen einprogrammierten Welteroberungsmanien: sich entgrenzen, sich irgendwohin verlängern und sich dabei erneuern.