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Nach Toha-Tsu und Maka Pilau geht die Geschichte weiter! Eine neue Zukunft verlangt nach neuen Strategien, Werten und in manchen Fällen sogar Identitäten. Denn die Suche nach Frieden ist kein bisschen einfacher als es die Jagd nach Sicherheit war und verlangt nicht nur Mut und Kreativität, sondern auch ungewohnte Ressourcen wie Demut, Geduld und Empathie. Eine Herausforderung, die den Protagonisten alles abverlangt!
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Seitenzahl: 934
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für uns.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Ok, dachte Mitch und atmete tief durch. Dann wollen wir mal. Er stand vor dem Haus seiner Eltern in Hampton. Oder besser das Haus seines Vaters. Mehr war von seiner Familie nicht mehr übrig, seit sein Vater seine Mutter erschossen hatte. Eine zivile Polizeistreife einige Häuser weiter bewachte das Grundstück, für den Fall, dass sein Vater hier auftauchen sollte. Kaum zu fassen, dass sie den Kerl wirklich nicht finden, dachte Mitch. Er war davon ausgegangen, dass wenigstens das FBI irgendwann darauf kommen würde, wohin er sich verkrochen hatte.
Mitch schloss die Haustür auf und betrat die Stille des Hauses. Es war nie ein Zuhause gewesen. Für niemanden. In der Umgebung seines Vaters gab es sowas nicht, und ob der Kerl selbst zu solchen Empfindungen in der Lage war, bezweifelte Mitch. Aber leer war das Haus nie gewesen. Die permanente Spannung zwischen dem Hass des Vaters und der zerrissenen Mischung aus Angst und verzweifelter Liebe der Mutter hatte jeden Winkel ausgefüllt und einem das Atmen schwer gemacht.
Übrig geblieben war das hier. Eine Gruft.
Mitch schloss die Tür hinter sich und hängte die Jacke an einen Haken. Die erste Tür auf der linken Seite führte in die Küche. Mitch wollte dort nicht hin, aber er fand, dass er musste. Es nicht zu tun, wäre unanständig gewesen.
Und da war sie. Auf dem Küchentisch. Die Urne mit der Asche seiner Mutter. Hallo, dachte Mitch. Ich bin‘s. Ich hoffe, es ist ok. Aber eigentlich ist es mir egal. Ich werde tun, was ich tun will. Ich werde das Haus auf den Kopf stellen und klauen, was ich haben will. Und dann werde ich nie wieder hier herkommen. Aber dich nehme ich mit. Versprochen. Wir haben noch was vor, wir beide. Ob es uns passt oder nicht.
Mitch sah sich um. Die Küche war immer der einzige Ort gewesen, wo er seine Mutter gespürt hatte. Schon immer. Schon damals, unten an der Küste, wo er aufgewachsen war. Eine winzige Ecke, wo sie sich hatte manifestieren können. Mitch sah sich um. Er erkannte sie im Blumenmuster auf der Küchenschürze. Er erkannte sie im vertrockneten Strauß auf dem Fenstersims. Er erkannte sie in der Art und Weise, wie das Geschirr gestapelt und das Besteck sortiert war. Die Küchentücher fein säuberlich aufgehängt. Die Gewürze alle mit dem Etikett nach vorn. Mitch wusste, dass sie nicht sonderlich gern gekocht hatte. Die Küche war nicht ihr Reich gewesen, auf das sie stolz gewesen wäre. Vielmehr ihr Rückzug. Die einzige Ecke, die seinem Vater so dermaßen egal gewesen war, dass er keinen Fuß hinein gesetzt hatte. Das, was hier fein sauber und liebevoll aufgeräumt wirkte, war Janes Äquivalent von Strichen an der Wand eines Kerkers. Selbstbeschäftigung. Ablenkung. Bis hin zur totalen Realitätsverleugnung.
„Darum wollte ich hier nicht rein“, murmelte Mitch an die Urne gewandt. „Warum in aller Welt bist du stattdessen nie einfach gegangen.“
Mitch verließ die Küche. Er wusste, dass es nicht stimmte. Sie war gegangen. Schlussendlich. Mit ihm. Als es für ihre Söhne keine Rolle mehr gespielt hatte. Und sie hatte ihre Flucht mit dem Leben bezahlt.
Mitch begann seine Plünderung im Estrich. Von oben nach unten, dachte er. Systematisch, pragmatisch und effizient. Und das wäre dann vermutlich mein Äquivalent zu Strichen an einer Kerkerwand, dachte er. Struktur. Bloß kein Chaos. Alles unter Kontrolle. Man tut, was man kann. Er suchte etwas ganz bestimmtes. Und dazu standen die Chancen im Dachstock sowieso am besten.
Die nächsten Stunden grub Mitch sich durch alte Erinnerungen. Viel war nicht da. Seine Mutter hatte über die Jahre und Umzüge nicht viel retten können. Umso kostbarer war das, was da war. Dann setzte er seine Suche in der oberen Etage fort. Das Schlafzimmer seiner Eltern streifte er nur kurz. Das Büro des Vaters. Mitch fand den Schlüssel zu seinem Safe und blätterte sich durch das, was der Mann als wertvoll erachtet hatte. Neben einem beträchtlichen Stoß Bargeld und einer Pistole waren das ausschließlich seine Belobigungen und Beförderungspapiere vom Militär. Wertloser Mist. Mitch legte alles zurück und schloss wieder ab.
Er war gerade mit dem Wohnzimmer im Erdgeschoss durch, als es an der Tür klingelte. Gutes Timing, dachte er und ging in den Flur. Er öffnete, und vor ihm stand Joe Tack. An den Anblick gewöhnt man sich nie, dachte Mitch und merkte, wie seine bedrückte Stimmung sich lichtete. Joe trug noch immer seinen rechten Arm geschient und am Körper fixiert, aber die grauenhaften Blutergüsse und Schürfwunden in seinem Gesicht klangen allmählich ab.
„Alter, sag nicht, dass du hier aufwachsen musstest“, sagte Joe zur Begrüßung und sah die Straße hinauf und hinunter, als fürchtete er einen Terroranschlag.
„Nein“, lachte Mitch. „Ich zog lange vorher nach Kabul.“
„Na, zum Glück“, sagte Joe.
„Komm rein“, schmunzelte Mitch. „Du findest Kabul eine bessere Wohngegend als das hier?“
„Vor zwanzig Jahren? Auf jeden Fall! Das war nur Krieg. Das hier ist…“ Er fand kein passendes Wort und schüttelte sich stattdessen.
„Eine saubere, amerikanische Wohnsiedlung“, sagte Mitch. „Hier drin geht‘s weiter.“
Joe trat ein und sah sich um.
„In der Tat“, kommentierte er staubtrocken die konservative und stockpatriotische Inszenierung im Flur. „Wow. Das sind gleich zwei Präsidenten.“
„Reagan und Bush“, nickte Mitch. „Wir können auch gleich los. Ich packe kurz mein Zeug zusammen. Sieh dich ruhig um, in dem Höllenloch.“
„Es gibt Dinge, die will man nicht sehen“, sagte Joe und folgte ihm in die Küche.
Mitch packte die Urne in seinen Rucksack, wo er seine restliche Beute schon verstaut hatte.
„Bist du echt mit dem Bus gekommen?“, fragte er.
„Fast vier Stunden“, ächzte Joe und studierte die Aussicht in den Garten. „Pendeln will man das nicht.“
„Nein“, gab Mitch ihm recht. „Aber du wirst ja auch nicht in Washington stationiert sein.“
„Zahnarzt war auch kein Spaß“, nuschelte Joe. „Aber immerhin habe ich wieder Zähne.“
„Das war heute?“
„Heute saß ich im Bus, Kerl. Gestern. Und noch mehr Palaver mit den Bullen. Man kann nicht in einem Gerichtsgebäude um sich schießen, ohne danach darüber sprechen zu müssen. Offenbar. Die sind ganz fasziniert davon.“
„Du kriegst doch nicht Probleme, deswegen?“
„Quatsch. Es war Notwehr vor zahllosen Zeugen und mehreren Kameras, und ich habe niemanden gefährdet.“
„Außer dich selbst.“
„Fang mir nicht auch noch damit an, Mitch“, seufzte Joe. „Ich hatte keine Chance, aus der Deckung was zu treffen. Und keine Zeit zum Warten. Die hätten uns zu Hackfleisch geschossen! Denkst du eigentlich mir macht sowas Spaß?!“ „Ich weiß, ich weiß“, wehrte Mitch ab. „Ich wollte dich nicht auch noch verhören. Gehen wir?“
„Bist du schon soweit?“
„Ja.“ Mitch hob seinen Rucksack vom Boden. Es war kaum was drin. „Keiner von uns will länger hier sein als nötig.“
Joe sah zum Rucksack, dann zu ihm und wieder zurück.
Täusche dich nicht, dachte Mitch. Das Gepäck ist riesig. Einfach nicht das, das du sehen kannst.
„Ich richte mich nach dir“, sagte Joe.
„Ich weiß“, grinste Mitch. „Ich bin der mit dem Auto und der zweiten Hand. Du hast keine andere Wahl.“
Joe verdrehte die Augen.
„Und du wohnst mit deinem Herzblatt und deiner Mutter in meinem Haus“, sattelte Mitch genüsslich einen oben drauf.
„Und wem gehört Red Bull?“, ging Joe darauf ein.
Mitch wiegelte ab.
„Ich glaube, der gehört momentan am ehesten deiner Mutter“, sagte er. „Die Frage ist, als was.“
„Worauf willst du hinaus?“, knurrte Joe herausfordernd.
„Nichts, nichts! Ein Haustier tut jedem gut. Vermutlich. Vielleicht bringt er ihr ja Gefechtstaktik bei. Mich geht‘s nun wirklich nichts an. Gehen wir.“
Mitch floh, bevor Joe reagieren konnte. Joe folgte ihm.
Draußen auf der Straße schloss er die Tür hinter sich ab, fest entschlossen, damit auch all das hinter sich zu lassen, wofür sie stand.
„Um ehrlich zu sein, ich genieße es, dass ihr bei mir wohnt“, gab er zu, als sie zusammen die Straße hinunter gingen, wo sein Auto geparkt war.
„Wirklich?“, hakte Joe nach. „Es war eine kühne Einladung, sowas kann schon mal daneben gehen.“
„Ja“, gab Mitch zu. „Von allein in den eigenen vier Privatwänden zu gestapelt mit vier Dauergästen ist… ein bisschen verrückt, vielleicht. Aber ihr seid ok. Es fühlt sich gut an. Nicht für immer, das wäre zu eng, aber für jetzt.“
Joe legte ihm kurz eine Hand auf die Schulter.
„Danke“, sagte er. „Ich wüsste nicht, wo ich Zohal stattdessen lassen sollte. Sie hätte in der Klinik bleiben müssen, ohne dich.“
„Und ohne Red Bull und deine Mutter“, ergänzte Mitch.
„Ja.“
Sie erreichten das zivile Polizeiauto. Mitch klopfte gegen die Scheibe, der Mann ließ sein Fenster runter.
„Alles klar?“, fragte er.
„Ja, danke“, sagte Mitch. „Hier.“ Er reichte ihm seinen Schlüssel. „Den brauche ich nicht mehr. Machen Sie damit, was Sie wollen.“
Damit ließ er den Mann zurück. Joe folgte ihm zu seinem Auto. Mitch schloss auf und verstaute seinen Rucksack im Kofferraum. Sorry, Mutter, dachte er. Das ist nicht ganz standesgemäß, aber weißt du was? Das war alles andere auch nicht. Verdammt nochmal.
Joe setzte sich neben ihn auf den Beifahrersitz. Mitch entging nicht, wie er dabei kurz die Zähne zusammen biss.
„Der Streifschuss?“, fragte er.
„Brennt“, nickte Joe.
„Ich weiß.“ Mitch startete den Motor. „Wie geht‘s dem Rest so?“
Joe seufzte.
„Ach, weißt du… Eigentlich ist das alles ziemlich egal.“
Mitch sah ihn von der Seite an. Sein Freund wirkte müde, die letzten Wochen hatten ihre Spuren hinterlassen, aber zum ersten Mal seit Ewigkeiten war die Müdigkeit von einer entspannten Sorte. Als wäre ein ganz neuer Frieden eingezogen, der mit den äußeren Faktoren nichts zu tun hatte. Er ist glücklich, dachte Mitch fasziniert. Umzingelt von Unsicherheiten, vor einer Zukunft, die er nicht einschätzen kann und die auch diesmal keine Rücksicht auf ihn nehmen wird, aber glücklich. Er hatte ihn nach dem Stand der Dinge wegen des Anschlages in Washington fragen wollen. Was nun mit Brian Beckett geschehen würde. Wie die Ermittlungen liefen, ob er vom FBI was gehört hatte. Es gab so viele lose Enden, dass man sie hätte kämmen können. Aber er sah den Ausdruck in Joes Gesicht und ließ es bleiben.
„Du hast recht“, sagte er leise. „Das ist alles nicht wichtig.“
Joe sah ihn an, ein feines Lächeln huschte über sein Gesicht. Verliebt, dachte Mitch. Wir beide. Wir alten Säcke.
„Irre, wie schnell man das vergessen kann“, sagte er leise.
„Ja.“
Frag ihn, dachte Mitch. Tu es einfach.
„Sag mal… Würdest du mir einen Gefallen tun, Joe?“
„Ziemlich sicher“, wiegelte Joe ab. „Da ist nicht mehr viel, das ich nicht tun würde. Allenfalls einfach mit Handschuhen.“
Blödmann, dachte Mitch.
„Ich muss da was erledigen“, rückte er hervor. „Das… Naja, es… es würde mir… Ich wäre lieber nicht allein, dabei.“
Großartig, trat er sich in den Nacken. Da trieft deine kindische Überforderung aus jeder Silbe. Eine Schande bist du.
„Ok, was kann ich tun?“, fragte Joe.
Mitch sah ihn an. Er sah ehrliches Interesse. Ohne jedes Urteil. Ohne jede Absicht, die Schwäche für einen Angriff zu nutzen. Joe war da und verfügbar. Einfach so.
Auch das vergisst man rasend schnell, dachte Mitch. Er ist nicht Anthony Briganti. Niemand ist Anthony Briganti, eigentlich. Nur einer ist es. Und der ist ein Niemand. Und trotzdem erwartet man seine Reaktion hinter jedem Gesicht und hört seine Gift triefende Schnauze in den eigenen Gedanken.
„Mitkommen“, sagte er und räusperte sich. „Es… Was soll‘s. Es ist ja eh offensichtlich, dass mich das nicht kalt lässt. Ich hätte dich gerne dabei. Um ehrlich zu sein.“
„Wem soll ich in den Arsch treten?“, grinste Joe.
Mitch schmunzelte. Wer weiß, dachte er.
„Es ist ein Umweg“, stellte er klar. „Wir würden vermutlich erst mitten in der Nacht in Moyock ankommen.“
Joe zögerte. Er will zu ihr, dachte Mitch. Und er gehört zu ihr. Sir braucht ihn. Du solltest das nicht von ihm verlangen.
„Wir… Wir würden eigentlich sogar in Moyock vorbei fahren“, gab er zu. „Wir könnten auch kurz zuhause vorbei schauen.“
„Nein, ich glaube, das wäre nicht gut“, sagte Joe. „Sie kommt besser damit klar, dass ich weg bin als damit, dass ich weggehe. Wenn ich dort auftauche, sollte ich nicht gleich wieder verschwinden.“
„Macht Sinn. Vergiss es, Joe. Ich bringe dich hin und fahre dann alleine. Schon ok.“
„Nein. Ich rufe an und erkläre ihr, dass ich später komme“,
sagte Joe und kramte sein Handy hervor. „Sie wird es verstehen. Und sie ist gut aufgehoben.“
„Spricht sie mit dir?“, fragte Mitch.
Ein Schatten huschte über Joes Gesicht. Es war lange her, dass jemand Zohals Stimme gehört hatte. Seit Charles Huggins sie in die Finger gekriegt und in den Tod getrieben hatte, war sie verstummt.
„N-nein“, gab Joe zu. „Aber das macht nichts.“ Er drückte eine Kurzwahl und schaltete den Lautsprecher ein.
Es macht eben doch was, dachte Mitch und beobachtete ihn. Es macht ihm Angst. Er will, dass sie ok ist. Und er weiß nicht, ob sie das jemals wieder sein wird. Er weiß nicht, was er tun kann oder tun sollte. Mitch verstand ihn.
Die Vorstellung, Gina in dem Zustand sehen zu müssen, in dem Zohal seit Wochen festsaß, war unerträglich. Er wusste nicht, wie er damit umgegangen wäre. Joe verschanzte sich hinter einer trotzigen Festung aus Optimismus und zelebrierte eine Ruhe, von der Mitch wusste, dass er einen hohen Preis dafür bezahlte. Solche Dinge kommen nicht gratis, dachte er. Solche Dinge wollen erkämpft sein.
Da ging jemand ran.
„Hallo, Joe“, sagte seine Mutter.
„Hey, Mam“, sagte Joe. „Alles gut, bei euch?“
„Ja, ja. Alles ok. Wir machen es uns gemütlich.“
„Wie geht es ihr?“
„Sie ist hinter dem Haus, mit Sally“, sagte sie. „Ich koche uns was.“
„Was tun sie hinter dem Haus?“, fragte Joe überrascht.
„Sally hat Holz gefunden und schnitzt… Zeug“, sagte sie.
„Und Zohal hockt daneben und sieht ihm zu. Stundenlang.
Ich weiß nicht, was sie da sieht, aber… Sie sieht etwas, das sie sehen will.“
Joe zog die Brauen hoch.
„Wow“, sagte er. „Sie… Lässt sie ihn los?“
„Ja. Wenn sie ihr Kissen hat, kann sie ihn auch mal ohne Stress loslassen.“
„Das ist… Das ist großartig!“, sagte Joe gerührt. „Wow. Ihr seid der Hammer.“
„Sally“, stellte seine Mutter klar. „Er ist der Hammer. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber er ist immer genau das, was sie braucht. Und immer mit Haut und Haaren.“
„Ich weiß“, sagte Joe leise. „Der ist so. Keine halben Sachen bei Lieutenant Colonel Red Bull Evans.“
„Bist du schon bald hier?“, fragte seine Mutter. „Wir freuen uns.“
„Ich bin grad mit Mitch in Hampton“, sagte Joe. „Er hört mit.“
„Oh, hallo“, sagte Judy.
Guten Tag, Missis Tack, dachte Mitch.
„Hallo, Judy“, sagte er stattdessen. Es faszinierte ihn selbst, wie viel Mühe es ihm machte, die Mutter seines Freundes zu duzen. Irgendwie strahlte sie eine Autorität aus, die es ihm eigentlich verbieten wollte.
„Kann ich kurz mit Zohal sprechen?“, fragte Joe. „Wir kommen wohl etwas später. Ich möchte es ihr selber sagen.“
„Klar“, sagte Judy. „Ich gehe raus. Ist alles ok?“
„Ja, alles ok. Keine Sorge. Mitch muss nur noch was erledigen, bevor wir nach Hause kommen.“
Mitch hörte die Hintertür seiner Küche, Judys Schritte auf den Holzdielen seiner winzigen Veranda.
„Zohal, Joe ist am Telefon“, sagte sie. „Magst du zuhören?“
„Hallo, Boot!“, rief Red Bull fröhlich. „Unendlichkeit ist ein gravierender Mangel an Grenzen!“
„Ja, sieht so aus“, schmunzelte Joe. „Wie geht‘s dir, du altes Stinktier?“
„Mein Kopf ist ein 3D-Drucker für Haare!“, sagte Red Bull fasziniert.
„Ein scheiß langsamer“, nickte Joe.
„Jeder Fluss weiß, dass es nicht eilt“, konterte Red Bull ansatzlos.
Und das alles ganz ohne wenigstens zu kiffen, dachte Mitch fasziniert.
„Zohal hört dir zu, Joe“, meldete Judy.
„Hallo, mein Schatz“, sagte Joe. „Mitch und ich sind gerade losgefahren in Hampton, wo seine Eltern gewohnt haben.
Das ist nicht weit von da, wo ihr seid. Verstehst du? Ich bin schon ganz nah.“ Er wartete einen Moment. Aber Antwort bekam er keine. „Heute ist der Tag, wo ich zu dir zurückkomme“, fuhr er fort. „Aber Mitch muss noch was erledigen, und ich helfe ihm. Ok? Es dauert noch einen Moment.“
Wieder wartete er in die Stille hinein.
„Sie versteht dich“, sagte Judy leise.
„Uns geht es gut“, versicherte Joe. „Es ist alles in Ordnung.
Du kannst einfach bei Judy und Red Bull sein. Ihr werdet etwas Leckeres essen. Und dann noch einmal ein bisschen draußen sein, wenn du magst. Und später gehst du schlafen, ok? Ich komme vermutlich erst, wenn es schon dunkel ist.
Wenn du morgen aufwachst, werde ich da sein.“
Wieder wartete er. Mitch spürte seine Frustration. Er wollte das Richtige tun, die richtigen Worte sagen, irgendwas, aber ohne das geringste Feedback hatte er keine Chance.
„Sie ist ok“, half Judy. „Sie hat dich verstanden, Joe.“
„Du bist ok, mein Herz“, doppelte Joe nach. „Alles ist ok.
Macht euch einen schönen Nachmittag. Ich liebe dich, mein Schatz. Ich werde schon bald bei dir sein.“
„Ich liebe dich auch, mein Schnuffel“, säuselte Red Bull.
„Dich nicht, du Vogelscheuche“, sagte Joe. „Oder… Weißt du was, eigentlich schon. Was soll‘s. Ich liebe dich, mein räudiges Opossum.“
Judy lachte im Hintergrund.
„Achtet auf die Windrichtung“, sagte Red Bull.
Dann war die Leitung tot.
„Was macht man damit“, schmunzelte Joe und schüttelte den Kopf. „Der Kerl hat echt freie Sicht auf die Sterne.“
Aber Mitch hatte eine Gänsehaut. Der Kerl ist immer genau das, was man braucht, erinnerte er sich an Judys Worte. Er wusste, was sie damit meinte. Red Bull war treffsicherer, als es Joe jemals sein konnte. Selbst im Dunkeln, aus der Ferne, über ein Telefon. Aber er war sich nicht sicher, ob das immer das war, was man brauchte.
„Gehen wir?“ Joe sah ihn einladend an.
„Willst du denn gar nicht wissen, wohin und warum?“
„Nein.“
„W-warum nicht?“
„Du weißt es. Und du hast sicher auch recht. Ich bin nur der, der mitkommt.“
Ich liebe dich, Joe Tack, dachte Mitch. Wenn‘s wirklich drauf ankommt, dann bist du vermutlich der einzige, der genau das ist, was man braucht. Schon immer. Der, der kapiert hat, wie wertvoll diese plötzliche Hand auf der Schulter ist, wenn man sich alleine im Nirgendwo verloren hat.
Er startete den Motor, und sie fuhren los.
„Und du bist dir sicher, dass man hier wirklich langfahren sollte?“, fragte Joe Tack und sah links und rechts aus dem Fenster. Auf beiden Seiten war Wasser. Links der Atlantik, damit war zu rechnen gewesen, an der Küste North Carolinas, aber nach rechts sah es inzwischen nicht viel anders aus. Der Streifen Land, auf dem sie fuhren, war kontinuierlich schmaler und schmaler geworden.
„Klar“, grinste Mitch. „Das ist der North Carolina Highway. Der verbindet die Outer Banks über 300 Kilometer südwärts.“
„A-ha…“
„Natürlich nicht bei jedem Wetter“, grinste Mitch bösartig. „Bei Starkwind ist das hier natürlich unter Wasser.“
„Natürlich“, nickte Joe. „Ihr seid verrückt.“
„Na hör mal, das ist urälteste amerikanische Tradition! Das Ding rechts im Sound, vorhin, das war Roanoke Island!“
„Ich verstehe kein Wort.“
„Das, was du vorhin für Festland gehalten hast“, erklärte Mitch trocken. „Rechts von uns.“
„Das war… kein Festland.“
„Nein. Das war die Roanoke Island. Die erste englische Siedlung auf amerikanischem Boden und so. Schon mal gehört? Die verschollene Kolonie?“
„Wir fahren jetzt also quasi auf dem Wellenbrecher der ersten Siedlung.“
„Nun, erste Siedlung… Da würde dir Shane Sixkiller wohl einen Vortrag halten“, wandte Mitch ein. „Die erste englische Siedlung. Und ja, die stand im Schutz der Outer Banks, auf denen wir uns gerade befinden.“
„A-ha.“
„Das ist ein geschichtsträchtiger Ort, du Hammel! Kitty Hawk! Der erste Flug der Wright-Brüder! Das war hier, auf Bode Island!“
„Naja, vermutlich wollten sie weg“, murmelte Joe. „Fliegen scheint da keine so schlechte Idee zu sein.“
„Seit wann bist du wasserscheu?“
„Hey, ich bin ein Bluegrass-Landei! Wiesen! Wälder! Rindviecher! Cowboys! Schwarzbrand! So Zeugs!“
„Du bist aber auch einer, der über den Pazifik segelt“, konterte Mitch.
„Ja, aber nicht in einem… Auto!“, wandte Joe ein. „Mit einer hochseetauglichen Yacht und…“ Er brach ab.
„Und Zohal“, ergänzte Mitch. „Hattet ihr nicht eine fantastische Zeit, so ganz allein im Horizont? Trotz der Tatsache, dass nur wenige Millimeter Kunststoff euch von den tödlichen Wassermassen des Pazifiks trennten? Hier sind es immerhin ein paar hundert Meter!“
„Es war… fantastisch“, räumte Joe ein. Aber hingehalten hat es nicht, dachte er.
„Woher der Trübsinn?“, hakte Mitch nach. „Normalerweise geht einem nicht der Laden runter, wenn man sich an fantastische Zeiten erinnert.“
Joe wollte nicht daran denken. Von Zohals heftigem Flashback, an dem er schuld gewesen war, hatte er sich nie wieder richtig erholt. Und dann war Hawaii gekommen und hatte ihnen den Rest gegeben.
„Der Horizont ist nie wirklich weit genug“, seufzte er ausweichend. „Da vorne ist Schluss mit deiner Insel, Mitch“, wechselte er das Thema und zeigte nach vorn. „Was nun?“
„Brücke“, sagte Mitch. „Mach dir keine falschen Hoffnungen, es geht weiter.“
Tatsächlich tauchte eine Brücke auf. In einem erschreckend flachen Bogen schwang sie sich über die Meereswogen hinüber auf eine weitere, erschreckend flache Sandbank.
„Oh, Gott“, ächzte Joe.
„Willkommen auf Hatteras Island“, sagte Mitch. „Meiner… Meiner Heimat.“
Joe sah ihn von der Seite an. Er hatte geahnt, dass diese Reise irgendwann zu Mitchs Wurzeln führen würde, er wusste, dass er aus der Gegend stammte und mit Salz in den Haaren aufgewachsen war. Aber was genau er im Schilde führte, war ihm schleierhaft.
„Da bist du aufgewachsen?“, fragte er vorsichtig, als sie die Brücke überquerten und Hatteras Island erreichten. „Auf dieser… Sandbank?“
„Im Wesentlichen, ja.“
„Und du hast keine Kiemen?“
„Nein.“
„Flossen?!“
„Nein!“
Die Insel wurde breiter, aber der größte Teil zur rechten Seite der Straße wurde von einem großen, sumpfigen See eingenommen. Es gab niedere Büsche, Schilf und selten mal eine abenteuerliche Seitenstraße, die in dieses Niemandsland verschwand.
„Hatte ich mir nicht so vorgestellt“, gab Joe zu.
„Warum?“, fragte Mitch.
„Nun… Weil ich mir hier draußen einen LC wie deinen Alten nicht vorstellen kann. Leute wie der wollen in der Regel nicht auf sich selbst zurückgeworfen sein.“
„Meine Mutter“, sagte Mitch. „Sie hatte die alte Ferienhütte ihrer Familie geerbt und behalten. Wir waren immer hier, wenn der Bastard weg war.“
Eine Bastard-freie Heimat, dachte Joe. Verstehe. Das macht jede sturmumtoste Sanddüne zum Paradies.
„Er war auswärts stationiert, hm?“
„Hm.“
Sie erreichten eine Siedlung. Da leben tatsächlich Menschen, dachte Joe fasziniert. Nicht bloß Touristen und Feriengäste. Echte Einwohner. Und Mitch und Franky waren welche von ihnen gewesen.
„Da gibt es… eine Schule und alles?“, fragte er.
„Gab“, nickte Mitch. „Unten in Avon, wo wir hinfahren. Aber die ist inzwischen geschlossen. Der Meeresspiegel steigt, die Stürme nehmen zu, der Sand erodiert, die Jungen ziehen weg.“
„Das kann man ihnen nicht nachtragen.“
„Nein.“
Joe beobachtete seinen Freund verstohlen. Seine einzige, glückliche Erinnerung versinkt in den Fluten, dachte er. Qualvoll langsam, aber unweigerlich. Man könnte kaum noch mehr verlieren, als er gerade verliert. Job. Mutter. Bruder. Heimat. Alles. Das ist mal ein Neuanfang, der seinen Namen verdient hat, dachte er.
Sie ließen auch diese Siedlung hinter sich. Der Highway folgte weiter einem immer schmaler werdenden Streifen Strand südwärts. Schnurgerade. An manchen Stellen führten Ausfahrten direkt auf die Sandbank. An diesen Stellen kampierten Leute am Strand und angelten, Kinder spielten, und es gab Windsurfer in den Wellen. Und dann waren die Strände wieder leer. Endlos, vom Wind blank gefegt und leer. Es ist eine Art Paradies, musste Joe zugeben. Das einzige, was beunruhigend war, war der erschreckende Mangel an Landmasse angesichts der erschreckenden Übermacht an Wasser. Dass all das nicht längst von einem der zahlreichen Stürme weggerissen worden war, grenzte an ein Wunder.
Dann wurde die Insel wieder breiter. Eine weitere Siedlung breitete sich aus. Mitch fuhr vom Highway. Wir nähern uns, dachte Joe. Die Frage ist nur, was eigentlich.
Sie fuhren mitten durch die Ortschaft. Sie war größer, Joe erkannte Dinge wie Läden und Restaurants. Einen Friedhof, sogar. Hotels. Befestigtes Leben, dachte er. Eine echte Ortschaft. Joe beobachtete die Menschen. Es waren nur wenige, aber sie faszinierten ihn. Und die Faszination schien gegenseitig zu sein. Ihre Blicke folgten dem fremden Auto, das sich erdreistete, so ganz außerhalb der Touristensaison durch ihren Ort zu kreuzen.
Mitch fuhr auf den Parkplatz einer Kirche und stellte den Motor ab. Das wird langsam rätselhaft, dachte Joe. Aber er fragte nicht nach.
Sie stiegen aus. Mitch wühlte etwas in seinem Kofferraum herum. Der Wind, der Joe ins Gesicht schlug, war stark, aber nicht so kalt, wie er gedacht hatte. Trotzdem löste er seinen geschienten Arm von den Gurten, die ihn an seinem Körper fixierten und fummelte eine Jacke darüber. Nach der heftigen Lungenentzündung, die ihn beinahe umgebracht hatte, wollte er nicht einmal eine Erkältung riskieren. „Gehen wir“, sagte Mitch. Er hatte den Kragen gegen den Wind hochgeschlagen, im Arm hielt er die Urne seiner Mutter.
Du bist ein Depp, dachte Joe. Logisch. Worum hätte es sonst gehen sollen. Wir bringen seine Mutter nach Hause. Da hin, wo sie jemals glücklich gewesen war, mit ihren Kindern. Die Bastard-freien Sanddünen.
Sie gingen los. In den Straßen begegnete ihnen kaum jemand. Das Nest wirkte mitten am Nachmittag auf eine Weise verschlafen und dennoch einladend, die einem sympathisch war. Kein Wunder machen die hier Urlaub, dachte Joe. All die gestressten Trottel.
Mitch führte ihn durch die Ortschaft hindurch. Den Platzverhältnissen entsprechend war sie lang und sehr dünn, wie alles andere auf diesem Fetzen Land auch. Und als die Häuser aufhörten, ging Mitch weiter. Vor ihnen breitete sich eine hügelige Dünenlandschaft aus. Hartes, windgepeitschtes Gras. Knorrige Sträucher. Und in der Ferne, auf dem letzten Hügel, ein alter Leuchtturm. Die Straße endete in einem kleinen, sandigen Wendeplatz.
„Wir sind da“, sagte Mitch.
Joe sah sich um. Hinter ihnen lagen die letzten Holzhäuser der Siedlung. Vor ihnen die Dünenlandschaft. Links breitete sich der Sandstrand aus. Die endlosen, schäumenden Fluten des Atlantiks leckten Welle für Welle an seinem Rand und machten klar, dass das hier nicht ewig halten konnte.
Ok, wenn du das sagst, dachte Joe. Aber es war nicht mehr die Zeit für bissige Kommentare. Egal was es war, das Mitch hier genau im Schilde führte, es war kein Scherz.
„Ich bin hier“, nickte er.
Mitch nickte zurück.
„Gehen wir.“
Mitch führte ihn auf einen verwehten Pfad, der sie von der Straße weg führte. Vorbei an den Spuren dessen, was die Bewohner dieses krassen Ortes den Elementen schon hatten hergeben müssen. Verwitterte Balken. Reste eines Ruderbootes. Ein Wagenrad. Eine halbe Veranda, noch immer mit ihren paar Treppenstufen, über die man sie damals, als der Sand sie noch nicht in die Knie gezwungen gehabt hatte, hatte erreichen können. Joe erkannte ganze Reste von Holzhäusern. Ruinen, vor langer Zeit schon den Stürmen und der Erosion preisgegeben. Und dann, kurz vor dem Leuchtturm und grausam nah an der Hochwasserlinie des Strandes, ein altes, verwittertes Holzhaus. Eine Ecke seiner Veranda war bereits unterspült worden und ragte über eine Leere, die mal Fundament gewesen war. Die Fassade war ein bisschen schräg, nach und nach zermürbt durch den ungebremsten Küstenwind. Von den Fenstern waren klaffende Löcher übrig geblieben. Wie tote Augen starrten sie ihnen entgegen.
„Da ist jemand“, sagte Joe, ohne zu wissen, warum.
„Ja“, sagte Mitch leise. „Ich weiß.“
Sie gingen weiter. Und dann sah Joe, was seinen Instinkt geweckt hatte. Da war Bewegung. In einem der Fenster.
Er wollte Mitch gerade darauf aufmerksam machen, als der eine Pistole aus seiner Jackentasche zog. Und erst jetzt fiel Joe auf, dass er Handschuhe trug. Dünne, aus Leder. Nicht solche, die man wegen Kälte getragen hätte.
„Wow, Kumpel, was…“
„Halt die Klappe.“
Ok, gut, dachte Joe. Das ist der Moment, wo ein leichtfertiges Versprechen, einem Freund zu vertrauen, auf seine Belastbarkeit getestet wird. Verstanden. Aber mach keinen Scheiß, Kumpel. Ich habe was zu verlieren.
Mitch ging auf das Haus zu. Joe wich instinktiv ein bisschen nach rechts aus, um einen anderen Winkel zu haben.
Was etwas ausmachen würde, wenn man mehr wäre als einfach nur ein unbewaffneter Krüppel, dachte er nervös. Ausgestattet mit nichts als Mut und Loyalität.
Mitch blieb stehen. Joe auch. Was nun, dachte er. Da öffnete sich die schief hängende Haustür. Ein alter Mann trat auf die Veranda und stieg langsam die zwei Stufen hinunter.
Dort blieb er stehen.
Mitch rührte sich nicht. Er hielt die Urne im Arm, die Pistole diskret an seiner Seite und sah dem Kerl gerade in die Augen.
Lass ihn, dachte Joe. Lass ihn. Tu‘s nicht. Lass ihn. Er ist nur ein Fetzen Rache, erinnerte er sich an Petes Worte.
Wertloser Müll, für den man einen immensen Preis bezahlt.
„Wer ist der?“, knurrte der Alte verächtlich und wies mit dem Kopf auf Joe. „Dein Bodyguard, du feige Niete?“
„Mein Lover“, gab Mitch zurück. „Wusste ich‘s doch, dass du dich hier verkrochen hast, Drecksack.“
„Was willst du?“, knurrte der Mann.
„Ich bringe Jane nach Hause. Die Frau, die du erschossen hast und die meine und Frankys Mutter war.“
„Das Miststück hat bekommen, was es verdient hat“, fauchte der Mann. „Sie hat mich verraten und wie einen Verbrecher dastehen lassen.“
„Und dennoch ist ihre Ruine das einzige Loch, in das du dich noch verkriechen kannst“, spuckte Mitch voller Verachtung. „Das Haus, wo du nie hin wolltest und das nun langsam vom Atlantik gefressen wird, wird dein Grab.“
„Ha! Drohst du mir etwa, du Schandfleck?!“
„Nein“, sagte Mitch leise. „Ich sehe.“
„Oh. Du siehst!“, spottete der Alte.
„Deine Angst“, sagte Mitch leise. „Ich hatte sie all die Jahre nicht erkannt, hinter deiner Fratze. Aber es ist wahr. Es war immer nur Angst. Eine unsägliche, perverse Angst vor deinem eigenen Sohn, deinem Produkt, das nach dir kommt, dich in Frage stellt und dich überleben wird. Was andere Väter stolz macht, hat dich zerfressen. Du hast deinen Sohn und seine Mutter getötet und dein eigenes Grab geschaufelt, Anthony Briganti.“ Mitch hob die Pistole.
„Oh, das passt zu dir!“, rief der Alte. „Du feiger, undankbarer Mistkerl!“
Ok, ganz ruhig, dachte Joe nervös. Durchatmen, Mitch. Das Wrack ist keine Kugel wert. Lass ihn. Um Himmels Willen.
„Du hast mich die Treppe hinunter geworfen, als ich noch kaum gehen konnte“, knurrte Mitch. „Nicht geschubst. Geworfen. Du hast meine Knochen gebrochen, als sie noch kaum da waren. Du hast mehrmals in Kauf genommen, dass ich an den Verletzungen sterbe. Du hast mich nie ins Spital gebracht. Du hast nie zugelassen, dass sie es tut. Du hast uns durch die Hölle gejagt, du feiger Mistkerl, und Franky hat es nie wieder lebend raus geschafft. Ich bin der einzige, der noch vor dir steht. Ich habe sie beide weggebracht. Jane und Franky. Du wirst sie nie wieder erreichen können.“
„Und darum bist du gekommen, mich wie ein Feigling über den Haufen zu schießen?!“, giftete der Alte.
Oh, das ist zynisch, dachte Joe. Halt die Klappe, du Trottel.
Dein Leben ist grad nicht mehr sehr viel wert. Halt bloß die Klappe, oder der legt dich um.
„Oh, ich werde dich nicht einmal an die Bullen verpetzen“,
raunte Mitch. „ Ich bin nicht wie du.“
„Natürlich bist du das!“, rief der Alte. „Und ohne mich bist du nichts! Du wirst nie etwas sein! Du wirst mich nie vergessen!“
„Deine Angst wird alles sein, woran ich mich erinnern werde“, sagte Mitch. „Die gehört dir.“ Er warf seinem Vater die Pistole vor die Füße. „Ich dachte mir, dass du die Tatwaffe wohl weggeworfen hast.“
Ok, das ist nun auch keine gute Idee, dachte Joe alarmiert.
Der Mann rührte sich nicht und sah Mitch misstrauisch an.
„Du hast eine Kugel“, raunte Mitch. „Eine einzige Kugel.
Ich werde Bösartigkeit nicht durch Tod ersetzen. Aber ich dachte mir, dass dir vielleicht eine Verwendung für diese Kugel einfallen wird. Sieh genau hin, Arschloch. Das hier ist dein Sohn, der deiner Hölle den Rücken kehrt. Zum Teufel mit dir, Anthony Briganti.“
Mitch wandte sich einfach ab und ging. Nicht zurück, zur Siedlung, sondern hinunter zum Strand. Joe zögerte. Was soll das, dachte er. Er sah mehr als eine Verwendung für diese eine Kugel, und er wollte es nicht drauf ankommen lassen. Jede Faser seines Seins wollte den alten Mann im Auge behalten. Eine Kugel ist eine zu viel, dachte er. Der Alte war zu allem in der Lage. Aber genauso klar war auch, dass sein Platz bei Mitch war. Dazu war er hergekommen.
Joe riss sich los und erreichte ihn am Spülsaum der Wellen.
Er stand da, beinahe entspannt, den Blick auf den endlosen Horizont gerichtet und sog die salzige Luft tief in seine Lungen. Die Aussicht war spektakulär. Das war das Meer eigentlich immer, fand Joe. Aber er sah zurück. Der Alte stand da, wo sie ihn verlassen hatten und erwiderte seinen Blick mit eiskalter Verachtung. Zwanzig Meter, schätzte Joe. Sein Verstand wusste, dass das für einen durchschnittlichen Schützen durchaus viel war. Aber seinem Instinkt war das egal. Niemand konnte wissen, ob dieser Kerl ein durchschnittlicher Schütze war. Und selbst dann. Weg hier, dachte er.
„Er ist egal“, murmelte Mitch und ließ keinen Blick von den Wogen des Meeres. „Das hier“, sagte er leise. „Das hat sie geliebt.“
Joe folgte seinem Blick. Er musste sich zwingen. Diese eine Kugel in deinem Rücken setzte ihm zu. Er war sich nicht sicher, ob der Alte sich von einem Zeugen davon abschrecken lassen würde, seinen letzten Sohn auch noch zu erschießen.
„Wir waren Kinder“, sagte Mitch. „Wir hatten keinen Sinn für solche Dinge. Für uns war das normal. Aber sie saß stundenlang hier unten und sah in die Ferne.“
Schön, dachte Joe. Freut mich. Er sah wieder zurück. Der Alte bückte sich und hob die Waffe auf. Joe sträubten sich die Nackenhaare. Das ist einer, der nichts mehr zu verlieren hat, dachte er. Gar nichts mehr. Weg hier.
„Ich glaube nicht, dass es eine Rolle spielt“, sagte Mitch leise. „Es ist nur Asche. Aber falls doch… Das hier war vermutlich der einzige Ort in ihrem Leben, den sie wirklich geliebt hat.“
Prima, dachte Joe. Mach vorwärts.
Mitch streifte die Schuhe ab, zog die Socken aus und krempelte seine Hosen hoch. Achtet auf die Windrichtung, geisterte Red Bull durch Joes Gedanken. Aber der Wind war auf ihrer Seite. Er wehte kräftig und konstant ablandig.
Starthilfe für Jane, aber auch Rückenwind für diese eine Kugel, dachte Joe und ließ den alten Mann nicht aus den Augen, obwohl er nicht das Geringste tun konnte. Der Alte stand reglos vor der Ruine und sah ihnen zu.
Ok, dachte Joe. Guter Satansbraten. Braver Satansbraten.
Schön durchatmen. Sieh einfach nur zu. Das hier ist eine Seebestattung im trauten Familienkreis. Kein Grund, jemanden zu erschießen.
Mitch ging ein paar Schritte ins Wasser, bis die Wellen seine hochgekrempelten Hosen erreichte. Dann streute er die Asche seiner Mutter in den Atlantik. Jeder Welle gab er ein Stück von ihr mit, bis die Urne leer war. Joe dachte an Jevgeni Kapajev. Seinen von Frank Hoffmann zu Tode gefolterten Freund, den er vor Madeira mit ein paar Steinen in die Tiefsee versenkt hatte. Ein Verlust, der ihn tiefer getroffen hatte, als diese Leiche jemals gesunken war. Die Tragik von dem, was sich an dieser Küste hier abspielte, war anders. Joe durchschaute nicht, ob und wie der gewaltsame Tod seiner Mutter Mitch berührte. Er zeigte nichts, aber Joe wusste, dass das täuschen konnte. Chief Briganti war extrem gut darin, sich nicht in die Karten blicken zu lassen, wenn er das nicht wollte. Der konnte innerlich kaputt gehen und dabei nicht das geringste Zittern in seine Stimme lassen. Joe verstand langsam, warum er in den Dingen so gut war, die ihn stark machten. Der Kerl, der mit einer letzten Kugel hinter ihnen stand und zusah, wie sein letzter Sohn die Asche seiner ermordeten Mutter in den Atlantik kippte, ließ diesbezüglich keine Frage offen.
Mitch kam zurück. Er reichte Joe die leere Urne und nahm selber seine Socken und Schuhe in die Hand.
„Damals war der Strand einige Meter weiter vorn“, sagte er und wies auf die Hochwasserlinie. „Aber es war längst klar, dass wir das Haus würden aufgeben müssen.“
Um Himmels Willen, wen kümmert‘s, dachte Joe. Lass uns abhauen!
Aber Mitch schlenderte den Strand entlang, als wollte er den Alten und seine Kugel geradezu herausfordern.
„Diese Häuser hier“, sagte er und zeigte auf die Ruinen.
„Die waren damals schon leer und halb zerfallen. Franky und ich haben hier gespielt.“
„A-ha, muss toll gewesen sein“, sagte Joe abgelenkt und sah wieder zurück. „Mitch, ich will nicht grob rüberkommen oder so, aber können wir vielleicht einen Zahn zulegen? Der Alte…“
„Es war mein neunter Geburtstag“, fiel Mitch ihm ins Wort, packte ihn beinah grob am Ärmel und zog ihn mit sich.
„Wir waren hier, in Avon, weil der Alte eigentlich drüben in Guam war. Wir hatten den ganzen Tag dort drüben beim Leuchtturm gespielt. Franky und ich.“ Er blieb tatsächlich schon wieder stehen und zeigte zurück, wo der Leuchtturm war.
Schon kapiert, dachte Joe, aber lass uns endlich Land gewinnen!
„Mitch, er hat drei Köpfe zur Auswahl, für seine eine Kugel“, sagte er. „Und ich will ihn nicht wählen lassen.“
„Halt die Klappe, Joe.“
Joe sah ihn erstaunt an.
„Meine Mutter machte mir immer einen Schokoladenkuchen zum Geburtstag“, fuhr Mitch fort, als wäre nichts gewesen. „So eine Betty Crocker Backmischung aus dem Supermarkt.“
Wie zum Teufel kann das hier und jetzt relevant sein, dachte Joe.
„Für Franky machte sie immer einen mit Vanille und bunten Streuseln. Und wir durften wählen, welche Sorte Limonade wir dazu haben wollten.“
Joe sah seinen Kumpel an und sagte nichts. Was soll das, dachte er. Mitch schlenderte weiter.
„Diesmal kam der Mistkerl früher nach Hause“, sagte er.
„Wollte uns überraschen, hier draußen auf Hatteras Island.“
Er schnaubte verächtlich. „Die Überraschung ist ihm gelungen, glaub mir.“
Wenn das die einzige Überraschung bleibt, haben wir Glück, dachte Joe und schielte zurück.
„Er brachte sogar ein Geschenk mit“, fuhr Mitch fort. „Für Franky. Er hatte keine Ahnung, welcher seiner offenbar unzähligen Söhne wann Geburtstag hat. Und er stank nach Schnaps.“
„Scheiße“, murmelte Joe.
„Das findest du scheiße?“
„Ja“, sagte Joe irritiert. „Natürlich. Väter sollten nicht nach Schnaps stinken, am Geburtstag ihrer Kinder.“
Mitch nickte. Als wäre Joe ein naiver Trottel.
„Er ließ uns antreten“, erzählte er weiter und schlenderte durch den Sand, als hätten sie alle Zeit der Welt. „Das tat er immer. Truppeninspektion. Dann gab er Franky das Geschenk. Es war ein Taschenmesser. Der Kleine hat sich vor Angst in die Hose gepinkelt.“
„Himmel, warum?“
„Man bekommt nichts geschenkt, von Anthony Briganti“,
sagte Mitch düster. „Er hat ihn angebrüllt, weil er geweint hat. Er ließ uns schwören, dass wir für unser Land sterben werden und den Treueeid der Marines rezitieren. Und Franky hat‘s vermasselt. Er war gerade mal fünf, verdammt. Der arme Knirps hat nur noch geflennt. Da hat er ihm eine gescheuert.“
Verfluchter Mistkerl, dachte Joe angewidert und sah noch einmal zurück. Der Alte stand regungslos vor der Ruine.
Allerdings nun wirklich langsam außer Reichweite, dachte er. Was die Kugel angeht. Der trifft nicht mehr. Wenigstens ballistisch.
„So richtig“, fuhr Mitch fort. „Er hat ihm einen Milchzahn ausgeschlagen.“
Joe atmete tief durch und sagte nichts.
„Unsere Mutter hat uns in die Küche evakuiert. Um ihr zu helfen, offiziell. Wir haben den Kuchen glasiert. Kein Wort verloren darüber, dass ein vor Angst erstarrter Fünfjähriger aus dem Mund blutet.“
„Gütiger Himmel“, seufzte Joe.
„Sie hat mich zurück geschickt, um ihm Kaffee zu bringen“, fuhr Mitch fort. „Da habe ich es gesehen. Wie er Frankys Taschenmesser eingesteckt hat. Und als wir den Kuchen brachten, merkte Franky, dass es weg war. Der Kleine klappte zusammen.“
„W-warum?“
„Unser Vater hat ihn gefragt, wo er sein Geschenk hingetan hat.“ Mitchs Stimme wurde hart. „Sein teures, wertvolles Geschenk. Franky hat auf den Tisch gezeigt. Aber da war nichts. Und dann hat mein Vater ihn verdroschen. Weil er nicht auf seine Sachen aufgepasst hat. Weil er sich hat beklauen lassen. Er hat ihn ins Gesicht geschlagen und seinen Gürtel aus der Hose gezogen. Diese Schnalle war in der Lage, Narben zu hinterlassen. Ich habe welche, die bis heute geblieben sind.“
Joe wurde ein bisschen schlecht.
„Franky hat geschrien wie am Spieß“, fuhr Mitch fort.
„Blanke Todesangst in der Stimme eines kleinen Kindes ist ein Ton, der unverwechselbar ist. Unsere Mutter floh. In diesen Momenten verschwand sie immer. Und ich kämpfte.
Ich hatte keine andere Wahl. Ich war mir sicher, dass er Franky totschlagen würde. Ich habe ihn konfrontiert. Ihm ins Gesicht geschrien, dass ich alles gesehen habe. Wie er das Messer eingesteckt hat. Und dass er Franky in Ruhe lassen soll. Ich habe ihm ins Gesicht geschrien, dass wir ihn hassen und ich mir wünschte, er wäre tot.“
„Oh, wow. Keine gute Idee.“
„Er hat mich gegen die Wand geworfen“, nickte Mitch.
„Richtig geworfen. Als ich wieder zu mir kam, kniete er auf meiner Brust, drückte mir die Kehle zu und streckte mir seine Pistole ins Gesicht. Diese Pistole“, ergänzte er und nickte zurück. „Er hat mich angeschrien. Ich glaube nicht, dass ich Worte gehört habe. Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nur an seinen blanken Hass und die Gewissheit, dass er mich töten würde. Ich habe geschrien. Keine Ahnung, woher ich die Luft hatte, aber… Wenn du umgebracht wirst, dann… dann muss es manchmal einfach wenigstens gehört werden.“
Oh, wem sagst du das, dachte Joe. Ein Schauer lief über seinen Rücken.
„Ich weiß nicht, wie ich es schaffte“, fuhr Mitch fort. „Aber ich schrie. Und er rammte mir den Lauf seiner Pistole so tief in den Rachen, dass das Korn seines Visiers meinen Gaumen aufriss. Ich hatte sofort so viel Blut im Mund, dass ich dachte, darin zu ertrinken. Da hat er mich losgelassen, und ich konnte fliehen.“
Joe starrte seinen Freund schockiert an. Ihm fehlten die Worte.
„Ich lief da den Strand entlang“, erzählte Mitch unbeeindruckt weiter und zeigte mit dem Finger. „Da vorn. Es war schon dunkel. Und saukalt. Mein Geburtstag ist im Januar.
War er damals auch schon.“
„Ja, das ist so ein Datum, das einem in der Regel bleibt“,
ging Joe auf den Funken Humor ein. Noch einmal sah er zurück. Das Haus verschwand langsam in den Dünen. Der alte Mann war weg. Links von ihnen, am Rand des Strandes, reihten sich die Holzhäuser der Siedlung auf. Jedes mit seiner eigenen Veranda. Jedes mit seiner eigenen Holztreppe direkt auf den Sand. Friedlich. Romantisch. Geradezu utopisch. Aber was Mitch in diese Kulisse malte, war der blanke Horror.
„Ich bin vor ihm geflohen, seit ich denken kann“, sagte er.
„Die Erinnerung ist ein bisschen schwammig, aber ich vermute, dass das vor allem ab dann ausartete, als er auch auf Franky losging. Der Kleine war da vielleicht… zwei oder drei Jahre alt. Und ich dementsprechend sechs oder sieben.
Ich musste mich ihm in den Weg stellen, um Franky zu schützen, und dafür hat er sich gerächt. Aber nicht hier, auf Hatteras Island. Hier waren wir, wenn er in Guam war.“
Bis auf jenen Geburtstag, dachte Joe und verstand langsam.
Das hier war kein Bastard-freies Paradies. Es gab keine Bastard-freien Paradiese in Mitch Brigantis Kindheit. Es gab nur den trügerischen Schein davon.
„Raum hatte ich keinen Fluchtplan“, fuhr Mitch fort. „Keine Verstecke. Nichts. Zuhause in Chesapeake, ja. Da konnte ich entkommen. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, hier auf Hatteras plötzlich abtauchen zu müssen. Ich rannte in blinder Panik den offenen Strand entlang. Wie ein verdammter Anfänger.“
„Himmel, du warst ein Kind!“, sagte Joe erschüttert.
„Und darum hat er mich eingeholt“, nickte Mitch. „Er…“
„Er hat dich eingeholt, weil er dich verfolgt hat!“, korrigierte Joe. „Du hast nichts falsch gemacht, Mitch! Was erwartest du?! Gefechtstaktik von einem Neunjährigen?!“
„Joe, halt die Klappe“, sagte Mitch scharf. „Ich habe nicht deine Schnauze gebeten, hier zu sein.“
Joe schwieg.
„Er hat mich eingeholt“, nahm Mitch seinen Faden des Grauens wieder auf. „Da vorne.“ Er zeigte nach vorn.
Ein paar Surfer lagerten auf dem Strand. Ein paar weitere tummelten sich noch draußen in den Wellen und nutzen das letzte Tageslicht der schnell sinkenden Sonne. Und von einem hohen Holzsteg aus angelten Leute nach Fischen. Eine ganz normale, idyllisch friedliche Strandszene.
„Unter dem Fischerpier“, sagte Mitch. „Er hat mich nach allen Regeln der Kunst zusammengeschlagen. Keine Gurtschnalle. Keine Handflächen. Das waren Fäuste.“
Gott, halt die Klappe, dachte Joe.
„Er hat mich über den Sand getreten wie ein angespülter Kadaver“, fuhr Mitch fort. „Ich hatte offene Platzwunden von seinen Schuhsohlen.“
Grundgütiger Himmel, dachte Joe schockiert. Hör auf.
„Da… Da sind überall Häuser“, sagte er mit belegter Stimme und zeigte auf die Siedlung, die sich dem Strand entlang an die Hochwasserlinie schmiegte. „Das muss doch einer gemerkt haben!“
Mitch folgte seinem Blick. Zuckte mit den Schultern.
„Es war dunkel“, sagte er leise. „Die Leute in den Häusern.
Das Rauschen der Brandung laut. Und ich… still.“
Halb tot, dachte Joe. Im wortwörtlichen Sinn. Irgendwann schreit man nicht mehr. Das geht schnell, wenn Fäuste im Spiel sind und man keine Chance hat, sich zu wehren. Da reicht ein einziger Treffer.
„Da“, sagte Mitch und führte ihn unter den Pier. „Dort vorne, wo jetzt schon das Wasser steht. Da hat er mir den Mund mit nassem Sand vollgestopft, mich in der steigenden Flut an den Pier gefesselt und liegen gelassen.“
Joe starrte seinen Freund sprachlos an. Dann den Pier. Er sah die massiven Holzstämme, die in den Sand gerammt die Plattform trugen. Er sah den Algenbewuchs, die Verfärbung, die anzeigte, wie hoch die Flut reichte. Er konnte nicht fassen, was er gerade gehört hatte. Und er hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte. Ihm war kalt.
Mitch stand einen Moment einfach nur da, unter dem Pier, und betrachtete still und seltsam ruhig den Tatort, wo sein Vater seinen neunten Geburtstag ermordet hatte.
„Als Franky mich fand, erreichten die Wellen meine Beine“, sagte er leise. „Ich war kaum wach. Ich erinnere mich, dass er geweint hat. Dass er versucht hat, mich zu befreien.
Aber er schaffte es nicht.“
„Er hätte sein Taschenmesser gebracht“, knurrte Joe.
Mitch nickte.
„Ich erinnere mich, dass er versuchte, mich in die Arme zu nehmen“, sagte er leise. „Er wollte mich trösten. Aber er war zu klein. Und er war der, der voller Verzweiflung Rotz und Wasser geheult hat. Ich war… kaum da. Und dann war er wieder weg.“
„Hat er Hilfe geholt?“
Mitch lachte bitter, als wäre das die dämlichste Idee, die jemals jemand gehabt hatte.
„Als er zurückkam, war ich bei jeder Welle unter Wasser“,
fuhr er fort. „Paar Minuten vor dem Ertrinken. Aber diesmal konnte er mich losschneiden. Er hat versucht, mich aus den Wellen zu ziehen. Aber er konnte nicht. Er war erst fünf. Ich erinnere mich an sein Gesicht. Wie er mich angefleht hat, nicht zu sterben. Er hat mich an den Haaren über Wasser gehalten und an Lebensgeister appelliert, die ich längst nicht mehr hatte. Und irgendwie haben wir es aus der Brandung geschafft.“
Joe sah seinen Freund fassungslos an. Er erzählte diese Geschichte mit einer so emotionslosen Sachlichkeit, dass sie ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Das hier sollte dir was ausmachen, dachte er. Weder der Ort noch die Erinnerung sollte schmerzfrei sein.
„Da drüben“, sagte Mitch und führte ihn unter dem Pier hervor. „Das alte Bootshaus.“
Joe nickte.
„Dorthin hat er uns gebracht“, sagte Mitch. „Ich weiß noch heute nicht, wie der Kleine das geschafft hat. Ich war unterkühlt. Dem Wasserstand nach war ich wohl fast anderthalb Stunden in den Wellen. Und ich war kaum bei Bewusstsein.
Der Alte hatte mich fast totgeschlagen. Franky hat es irgendwie geschafft, uns in diese Hütte zu schaffen. Er hat uns beide klatschnass in eine Bootsplane gewickelt. Ich erinnere mich noch, dass ich ihn trösten wollte. Er weinte. Er zitterte am ganzen Körper, und er war nass. Ich wollte ihn wärmen.“
„Du ihn?!“
„Wir hatten nur uns“, sagte Mitch leise. Zum ersten Mal schlich ein Hauch von Emotion in seine Stimme. Ein Hauch des Schmerzes, den die Jahre seines Lebens aufgehäuft haben mussten. „Ich hielt das schluchzende Wrack meines kleinen Bruders in den Armen und verlor das Bewusstsein“,
sagte er. „So haben sie uns gefunden. Im Morgengrauen.
Durchnässt, unterkühlt und kaum ansprechbar.“
„Und blutig vermöbelt“, ergänzte Joe. „Das muss doch aufgefallen sein!“
Mitch zuckte mit den Schultern.
„Mister Brennan“, sagte er. „Ihm gehörte das Bootshaus. Er kannte uns und rief sofort unsere Eltern. Unser Vater hat uns nach Hause geholt.“
Joe starrte ihn sprachlos an. Mitch erwiderte seinen Blick und zuckte wieder mit den Schultern.
„Jedes Mal“, sagte er. „Was denkst du denn, warum weder Franky noch ich jemals irgendwo Hilfe holten?“
„Die haben echt jedes Mal als erstes eure Eltern gerufen?!“
„Natürlich. Schulen, Nachbarn, Eltern anderer Kinder… Alle.“
„Himmel!“
„Wir kapierten sehr schnell, dass niemand mitbekommen darf, was bei uns zuhause geschieht“, sagte Mitch leise.
„Das läuft immer so, Joe. Sonst würde es gar nicht laufen.“
Zum ersten Mal kam Joe sich blöd vor, weil er sich noch nie Gedanken zu Kindesmisshandlung gemacht hatte.
„Logisch“, gab er zu.
Mitch ließ seinen Blick über den Strand schweifen und schwieg. Joe beobachtete ihn. Ich habe nicht deine Schnauze gebeten, hier zu sein, erinnerte er sich an seine Worte.
Und er verstand langsam. Er wollte da nicht hin, er hatte genug, aber er hatte es seinem Freund versprochen.
„Was geschah dann?“, fragte er.
Mitch seufzte.
„Wir reisten ab“, sagte er leise. „Nach hause, nach Chesapeake.“
„Die Leute konnten nicht nachfragen, wie es dir und Franky geht“, nickte Joe. „Und es war auch weniger wahrscheinlich, dass sie der Sache nachgehen würden.“
Mitch nickte.
„Wir haben uns sehr oft verschoben“, sagte er. „Der Satansbraten wusste genau, wann er jede Grenze überschritt.“
„Haben sie dich in ein Krankenhaus gebracht?“
„Ich war nie in einem Krankenhaus“, sagte Mitch. „Der Stabsarzt bei der Einstellungsuntersuchung war der erste Mediziner, der mich zu sehen bekam.“
„Heilige Scheiße! Zahnarzt? Impfungen?“
„Vergiss es. Abgesehen von denen in der Schule.“
„Wow.“
„Ich war sehr lange krank“, erinnerte sich Mitch. „Ich hatte eine Lungenentzündung.“
„Du hattest Salzwasser eingeatmet.“
„Ja.“
„Du hättest sterben können.“
„Ich sah unscharf. Ich kotzte tagelang Blut. Hatte Empfindungsstörungen in Händen und Füssen. Hohes Fieber.
Atemnot. Höllische Schmerzen. Offene Wunden. Ich weiß nicht, was er alles kaputt gehauen hat. Aber das war nicht das einzige Mal, dass es gereicht hätte, um mich umzubringen.“
„Und… Jane?“
„Hat an meinem Bett gesessen und geweint. Und gleichzeitig hat sie die Nachbarn belogen. Die Schule. Alle, die mir zu nahe kamen. Sie hat meine Wunden versteckt. Mich aus dem Sportunterricht genommen. Mich von den anderen Kindern ferngehalten. Tausend Ausreden erdichtet. Und einmal im Jahr hat sie eine Betty Crocker Backmischung in den Ofen geschmissen und es einen Geburtstag genannt.“
„Die Frau hat dich grauenhaften hängen lassen“, fasste Joe zusammen.
Mitchs Blick schweifte da hin, wo die Asche seiner Mutter sich langsam im Atlantik verlor.
„Ja“, sagte er leise.
„Sie hätte ihr Sorgerecht verloren, wenn das alles ausgekommen wäre.“
„Wahrscheinlich. Komm.“
Mitch führte Joe zu einer hölzernen Treppe, die auf den Pier hinauf führte. Joe folgte ihm. Oben angekommen, nahm Mitch ihm die leere Urne ab und warf sie in den Mülleimer neben einer Imbissbude. So sollte er mit der ganzen Mutter umgehen, dachte Joe. Nicht nur mit dem leeren Pott. Die Frau war kein Stück weniger schuldig als ihr Mann. Einfach nur diskreter.
Mitch bestellte am Stand zwei Portionen Fisch-Chips.
„Die sind gut“, wandte er sich an Joe. „Die machen die aus den Felsenbarschen, die sie hier aus dem Wasser ziehen.“
Joe merkte, dass er tatsächlich Hunger hatte. Ihrem spontanen Ausflug in die Kindheit des Grauens war schon das Mittagessen zum Opfer gefallen. Inzwischen erreichte die Sonne den Horizont.
Mitch bekam das Essen und bezahlte. Er führte Joe ganz nach vorne ans Ende des Piers, wo sie sich auf die Kante setzten.
„Iss, bevor sie kalt werden“, sagte Mitch und reichte ihm eine der Pappschalen mit frittierten Fisch-Nuggets.
„Danke.“
Joe beobachtete Mitch von der Seite. Komm schon, dachte er. Zeig eine Regung. Irgend eine. Aber Mitch saß einfach da und aß Fischnuggets. Er ließ die nackten Füße über dem Abgrund baumeln und sah in die Wellen hinunter. Und in dem Moment sah Joe das Kind. Den kleinen Jungen, den er damals gewesen war. Barfuß, Sand in den salzigen Haaren, sonnengebräunte Haut, einen kleinen Bruder im Schlepptau und das beste Kinderparadies um sich, das man sich nur wünschen konnte. Alles voller Strandgut, Krebse, Fische, Boote, Menschen, die einen kannten, Dünen, Ruinen und Leuchttürme. Es hätte so gut sein können, dachte er mit einem Stich in der Brust und schob sich auch ein Stück Fisch in den Mund. Wenn einfach nur ein einziger Mann seine Probleme anders bewältigt hätte. Joes Blick schweifte unweigerlich dahin zurück, wo irgendwo ein altes, verlassenes Haus in den Dünen zerfiel und wo sie einen alten Mann mit einer einzigen Kugel zurückgelassen hatten.
„Fragst du dich manchmal, was mit ihm los ist?“, fragte er mit vollem Mund. „Ich meine… Ein Kriegstrauma oder so?
Ist er ein Gefechtsveteran?“
„Er war irgend so ein Etappenhase in Vietnam“, nuschelte Mitch. „Und es ist mir egal, was mit ihm los ist.“
„Eine Begründung wäre keine Entschuldigung“, sagte Joe und schob sich mehr Fisch in den Mund.
„Ich weiß. Aber sie bringt nichts. Ich hätte ihn gebraucht.
Ich… Ich hätte ihn geliebt. Ich wollte ihn lieben. Sogar. Ich war ein Kind. Aber er hat alles zerstört, was gut und wertvoll war. Er hat meinen kleinen Bruder vernichtet. Er hat mich da unten ersaufen lassen, ohne auch nur nach mir zu sehen. Es gibt immer Gründe, für sowas. Aber die gehen mich nichts an. Red Bull nannte es Angst. Einfach nur Angst. Und das ist die einzige Erklärung, die mir jemals was gebracht hat.“
„Red Bull?“, fragte Joe erstaunt. „Er kennt deinen Vater?“
„Nein“, sagte Mitch und schmunzelte seit langer Zeit endlich mal wieder. „Aber er ist Red Bull. Er weiß… Zeug.“
„Er weiß auch, wo wir jetzt gerade sind“, nickte Joe.
„Ja.“
„Was auch die Bullen wissen werden“, sagte Joe leise. „Da waren Verkehrskameras.“
Mitch sagte nichts.
„Mitch, ich weiß, du willst meine Schnauze nicht“, sagte Joe vorsichtig. „Aber bei dem immensen Motiv, das du hast, wäre mir lieber, du wärst in Italien, wenn da hinten ein Schuss durch die Dünen peitscht. Ich empfehle dir, diesen Ort jetzt zu verlassen.“
„Wir waren hier für die Beisetzung meiner Mutter“, sagte Mitch. „Wir waren bei ihrem alten Haus und haben meinen Vater gesehen. Das ist nur logisch.“
„Und die Waffe?“
„Seine. Ohne meine Fingerabdrücke. Ich bin nicht blöd.“
„Ich habe die Handschuhe bemerkt“, nickte Joe. „Die Waffe haben wir ihm aber nicht gebracht, hoffe ich.“
Mitch zögerte.
„Nein“, sagte er leise.
„Gut.“
Mitch sah ihn an.
„Ich habe dich nicht deshalb mitgenommen, Joe“, sagte er ernst.
„Einen Moment dachte ich, ich bin dein Bodyguard“, gab Joe zu. „Unbewaffnet, einarmig und ohne Briefing.“
Mitch schwieg.
„Dann hielt ich mich für deinen Berater. Wie man damit durchkommt, dem Bastard eine rostige Klinge in sein nicht existentes Herz zu rammen.“
Mitch sagte nichts.
„Und dann dachte ich, ich bin sein Bodyguard“, fuhr Joe fort. „Dazu da, dass du ihn nicht umlegst.“
Mitch sah ihn an und schwieg.
„Dann dachte ich, ich bin ein Zeuge. Damit er dich nicht umlegt.“
„Nichts von all dem hätte ich je von dir verlangt, ohne dich zu fragen“, sagte Mitch leise. „Du hast keine Ahnung, was du wirklich bist, Joe. Jenseits deiner Fachkompetenz.“
„Doch“, sagte Joe ernst. „Dein Lover.“
Mitch sah ihn an und fand tatsächlich keine Worte. Wieder schlich eine Spur jenes Schmerzes in seine Augen, den Joe die ganze Zeit schon vermisste. Ich bin hier, dachte er. Ich bin dein Freund. Und ich hab‘s kapiert.
„Und wir tun hier, was immer du tun musst“, sagte er ernst.
„Wenn du diesen Knall hören musst, dann sei es so. Aber als dein… Lover weise ich dich darauf hin, dass ein bombenfestes Alibi wie eine Verkehrskamera mit Zeitstempel den Unterschied ausmachen kann, ob man zum Beispiel nach Italien fliegen darf oder ob man den Pass abgeben muss, bis irgendwelche Deppen den Durchblick haben.“
Mitch sah auf das dunkle Meer hinaus und sagte nichts. Der Mond war aufgegangen, sein Licht reflektierte wie tausend winzige Kerzchen an den Wellen.
„Du bist hergekommen, um ein Stück Vergangenheit abzuwerfen“, sagte Joe leise. „Nicht, um dir die Zukunft zu verhageln. Du hast ein Flugticket in der Tasche, Kerl.“
Mitch seufzte. Er zog die Füße auf den Pier und wischte den Sand ab.
„Es wird schnell dunkel, hier draußen“, sagte er.
„Ja.“
Mitch zog sich Socken und Schuhe an. Dann hievte er sich ächzend auf die Beine, streckte Joe eine Hand hin und half ihm hoch. Langsam schlenderten sie den Pier hinunter.
Vorbei an der Imbissbude, die inzwischen geschlossen war.
In einigen der Häuser am Strand brannte Licht. Andere waren dunkel. Der Strand trennte die Siedlung wie ein schwarzes Band vom rauschenden Glitzern des Meeres. Es wird wirklich dunkel, hier draußen, dachte Joe.
„Der Mond ist nirgendwo so spektakulär wie am Meer“,
sagte er.
„Ja“, sagte Mitch. „Ich hatte deshalb sogar mal einen Mond als Nachtlicht, als ich klein war.“
Joe hielt instinktiv den Atem an. Er hatte kapiert, dass nichts, was einfach nur niedlich und normal klang, in Mitchs Kindheit dies auch tatsächlich war.
„Mein Vater hat es mir weggenommen“, fuhr Mitch fort.
Na bitte, dachte Joe.
„Er sagte, dass es die Hälfte der Zeit dunkel ist. Und er wollte keinen Sohn, der zur Hälfte der Zeit ein Feigling ist.“
Joe seufzte angewidert.
„Kinder haben nun mal Angst im Dunkeln“, sagte er. „Das gibt sich später von selbst, wenn die Angst vor der Stromrechnung größer wird.“
Mitch lachte. Leise, aber er lachte. Joe spürte seine Hand auf seiner Schulter.
„Du bist und bleibst ein Blödmann“, schmunzelte er.
„Naja, ich dachte mal, ich bringe die Schnauze trotzdem mit“, sagte Joe.
Sie erreichten die Hauptstraße. Einige Lampen tauchten sie in ein gelbes Licht. Ein Auto fuhr an ihnen vorbei und erinnerte Joe daran, dass auch Mitchs Vater hier irgendwo eins haben musste. Vermutlich. Irgendwie war er immerhin auf die Outer Banks gekommen.
„Es ist denkbar, dass er uns auflauert, nicht wahr?“, sagte er leise, weil er die Stimmung eigentlich wirklich nicht wieder verhageln wollte. Aber der alte Briganti hatte einen Ruf, der klarmachte, dass man ihn nicht ignorieren sollte.
„Natürlich“, sagte Mitch. „Es gibt keine Sicherheit, solange der atmet.“
„Du möchtest ihn tot sehen.“
„Ich will ihn nicht zwingend sehen“, murmelte Mitch. „Ich will nur, dass er‘s ist.“
Joe nickte. Er verstand ihn. Nur zu gut. Als die Kirche und damit auch ihr Parkplatz auftauchte, war er erleichtert. Endlich weg hier, dachte er.
„Er weiß auch, wo wir geparkt haben“, sagte Mitch leise.
Ok, dachte Joe, das ist nicht lustig. Sofort wurde er langsamer. Sein Blick scannte reflexartig die Straße ab. Aber die Lampen warfen so viele Schatten, dass jeder Angreifer unzählige Möglichkeiten gehabt hätte, ihnen aufzulauern.
„Gleich erzählst du mir noch, dass er der lokale Champion im Schützenverein war“, murmelte er.
„Er hat meine Platzwunden mit einem Angelhaken genäht“,
sagte Mitch stattdessen. „Wenn sie zu groß waren. Oder im Gesicht, wo die Leute sie sehen konnten.“
„Oh, Gott.“
„Dann erzählte Mutter allen, dass ich mit dem Fahrrad irgendwo gegen gedengelt bin oder so.“
„Scheiße, Mitch!“ Joe verzog das Gesicht. „Ich habe mir auch schon selber Wunden genäht, aber… Mit einem Angelhaken?!“
„Ist praktisch“, sagte Mitch kalt. „Die ganz Kleinen, die gibt‘s gleich mit einem Vorfach mit dran. Von denen hatte auf Vorrat. In der Garage.“
Joe schüttelte ungläubig den Kopf. Wo steckst du, du Monster, dachte er. Lass uns bloß einfach abziehen.
„Geangelt hat er nicht“, prügelte Mitch seinen Punkt ins Tor, als wäre das noch nötig gewesen.
Wer hätte gedacht, dass Angelausrüstung in einer Garage alarmierend sein könnte, dachte Joe angewidert.
Sie erreichten das Auto. Niemand schoss auf sie. Weg hier, dachte Joe. Mach schon. Mitch schloss auf. Sie stiegen ein.
„Das mit den Knochenbrüchen war schwieriger“, sagte er und startete den Motor.
„Lass mich raten“, sagte Joe mit belegter Stimme. „Er hat dir die Schuld daran gegeben.“
„Natürlich“, sagte Mitch und fuhr vom Parkplatz. „Wem denn sonst! Es waren ja meine Knochen, die nicht die nötige Stärke hatten. Die Knochen einer Memme.“