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Heiligabend, 24.12., Herr Bierkant will nur noch kurz ins Büro und das war's dann. Das war's dann? Drei Kinder verschwinden aus Herrn Bierkants Haus. Welche Rolle spielt dabei der Weihnachtsmann und welche die Polizei? Was hat das alles mit den Ereignissen vom 24.12.1992 zu tun? Und was mit Herrn Bierkant? Er und sein Hund, immer mitten drin, immer Seite an Seite, da möchte man doch meinen, da kann nichts passieren, oder?
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Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Albin Färber, 1966 in Limburg an der Lahn geboren, sucht sein Glück in Frankfurt und Mainz und findet-schau an-seine Liebe in Mannheim.
Er benutzt ein Pseudonym für seinen Alltag, ach nee, nur für seine Romane.
Interviewerin: „Wie kamen Sie auf die Idee, einen
Krimi zu schreiben?“
Autor: „Einen was?“
Interviewerin: „Einen Krimi.“
Autor: „Das ist kein Krimi.“
Interviewerin: „Nein?“
Autor: „Nein.“
Interviewerin: „Ich meine, Heiligabend, 24.12.,
Bierkant will nur noch kurz ins Büro und das war's dann.
Autor: „Und das war's dann?“
Interviewerin: „Natürlich nicht.
Drei Kinder verschwinden aus seinem Haus.
Welche Rolle spielt dabei der Weihnachtsmann und welche die Polizei?“
Autor: „O-kay.“
Interviewerin:„Und was hat das alles mit den
Ereignissen vom 24.12.1992 zu tun?“
Autor: „Auch Heiligabend?“
Interviewerin: „Nee, logisch. Aber, jetzt kommt's-
Bierkant immer mittendrin statt nur dabei.
Autor: „Er?“
Interviewerin: „Er und sein Hund, immer Seite an Seite, da möchte man doch meinen, da kann nichts passieren, oder?“
Autor: „Nee, nicht wirklich.“
Interviewerin: „Eben, also ich frage Sie, wie nennt man das jetzt, was zwischen uns liegt?
Der Autor erhebt sich und breitet die Arme mit den Händen nach oben aus, die Sonne scheint durch das Fenster hinter ihm, er steht im Gegenlicht, er sieht aus wie ER.
Mit glockenheller Stimme singt er:
„When a man loves a Woman, can't keep his mind on nothin' else...“.
Prilblumen steigen aus seinem Mund nach oben, verströmen ein angenehmes Aroma.
„When a man loves a Woman, I know exactly how he feels.“
Als er fertig ist, lässt er seinen Gesang nachklingen, währenddessen platzen die Blumen wie Seifenblasen, man kann sie noch riechen, alles ist rosa eingefärbt.
Interviewerin: „Percy Sledge?“
Autor: „Richard Bierkant.“
Interviewerin: „Och jo, jedenfalls, Sie haben recht, es ist kein Krimi, egal was draufsteht, egal was drinsteht.“
Die Interviewerin trocknet sich mit einem Taschentuch die Augen, schnäuzt sich.
Und der Autor? Der nickt zufrieden.
Richard „Rich“ Bierkant als der Sozialarbeiter Forrest der Mann als der Mann Hartmut „Mudi“ Kreuz als der Polizist EnEn als der Obdachlose Minna als der grüne Minna Bardo von Bödefeld als Bardo Dr. Michael Mühlstein als Dr. Michael „MickAS“ Mühlstein Herr Kröse als Herr Kröse Viktoria Schnabel als Vicky, die schnuggelische Computerspezialistin
0. Prolog-Dienstag, 07.01.2020-Verflixter erster Satz
1. Dienstag, 24.12.2019
2. Dienstag, 24.12.2019
3. Dienstag, 24.12.2019
4. Dienstag, 24.12.2019
5. Sonntag, 24.12.2017
6. Dienstag, 24.12.2019
7. Sonntag, 24.12.2017
8. Dienstag, 24.12.2019
9. Montag, 25.12.2017
10. Mittwoch, 25.12.2019
11. Mittwoch, 25.12.2019
12. Dienstag, 26.12.2017
13. Donnerstag, 26.12.2019
14. Donnerstag, 26.12.2019
15. Donnerstag, 26.12.2019
16. Donnerstag, 26.12.2019
17. Donnerstag, 26.12.2019
18. Sonntag, 23.12.2018
19. Donnerstag, 26.12.2019
20. Montag, 24.12.2018
21. Donnerstag, 26.12.2019
22. Freitag, 27.12.2019
23. Samstag 28.12./ Sonntag, 29.12.2019
24. Sonntag, 29.12.2019
25. Montag, 30.12.2019
26. Montag, 30.12.2019
27. Montag, 30.12.2019
28. Montag 30.12.2019
29. Dienstag, 31.12.2019
30. Dienstag, 31.12.2019
31. Dienstag, 31.12.2019
32. Dienstag, 31.12.2019
33. Dienstag, 31.12.2019
34. Dienstag, 31.12.2019
35. Mittwoch, 01.01.2020
36. Mittwoch, 01.01.2020
37. Mittwoch, 01.01.2020
38. Mittwoch, 01.01.2020
39. Mittwoch, 01.01.2020
40. Mittwoch, 01.01.2020
41. Donnerstag, 02.01.2020
42. Freitag, 03.01.2020
43. Samstag, 04.01.2020
44. Samstag, 04.01.2020
45. Sonntag, 05.01.2020
46. Sonntag, 05.01.2020
47. Montag, 06.01.2020
48. Montag, 06.01.2020
49. Montag, 06.01.2020
50. Montag, 06.01.2020
51. Donnerstag, 24.12.1992
52. Montag, 06.01.2020
53. Montag, 06.01.2020
54. Montag, 06.01.2020
55. Montag, 06.01.2020
56. Dienstag, 07.01.2020
57. Dienstag, 07.01.2020
58. Dienstag, 04.02.2020
59. Dienstag, 04.02.2020
60. Dienstag, 04.02.2020
Bierkant dreht langsam seinen Kopf; Bardo und Forrest bewegen sich nicht mehr.
Das Knie trifft sein Gesicht, die Nase knackt,
Tränen schießen ihm in die Augen.
Der Schmerz wütet.
Der Tritt auf seine Brust nimmt ihm den Atem
und er taumelt gegen die Wand.
Er muss hier raus, sofort.
In der Ferne ertönt ein Martinshorn.
Und vierzehn Tage zuvor?
1 William Faulkner: „Schreib den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt auch den Zweiten lesen will.“, Weisheit 1897-1962
Herr Bierkant erwachte.
Es war ein perfekter Tag. Gut geschlafen, augenscheinlich ausgeruht, fläzte er sich noch bisschen im Bett herum, bevor er aufstand.
Er setzte Kaffeewasser auf und während er auf das kochende Wasser wartete, stand er am Fenster.
Er blickte über den Innenhof.
In der hinteren Ecke befand sich die Voliere mit seinen Brieftauben; bei diesen Temperaturen sollte er daran denken, die Gitterstäbe mit Sackleinen abzuhängen.
In der Mitte des Hofs spielten Kinder.
Sie hatten mit Kreide einen großen Kreis auf die Pflastersteine der Hofausfahrt gemalt. Der Kreis war unterteilt in drei gleich große Felder.
Rosafarbene, blaue und weiße. Jedes Kind stand in einem eigenen Feld.
Das Spiel war ihm unbekannt.
Es handelte sich weder um Himmel und Hölle noch um das andere Hüpfspiel, dessen Name ihm nicht einfiel. Möglicherweise hatte es keinen Namen. Alle Kinder spielten es damals. Steinchen in Feld eins werfen, dieses Feld mit beiden Beinen überspringen, dann in die Felder zwei, drei und vier der Reihe nach hüpfen, Kästchen fünf wurde ausgelassen und man landete in sechs und sieben gleichzeitig mit gespreizten Beinen, direkt links und rechts neben fünf.
So oder so ähnlich ging es wohl.
Aber das hier?
Die drei Kinder standen in ihren Feldern, ein Kind bückte sich und malte mit seiner Kreide Markierungen auf den Boden des benachbarten Kindes, offensichtlich darin bemüht, sich nicht mit den Händen aufzustützen.
Das Wasser kochte.
Er trank Kaffee und schaute weiter in den Innenhof, ohne die Kinder zu sehen. Die waren urplötzlich verschwunden.
Komisch.
Er hatte sich vorgenommen, den vollkommenen Vormittag zu verbringen, bevor er nachmittags zur Arbeit musste.
Er würde direkt nach dem Kaffee joggen gehen, noch nüchtern.
Direkt bei ihm in der Nähe lag der Günthersburgpark.
Um diese Uhrzeit war dort noch wenig los.
Er konnte Forrest freilaufen lassen.
Forrest liebte das.
Er schaute nach links, er schaute nach rechts.
Die Kinder blieben verschwunden.
Der Hof war nicht so groß, dass er nicht einsehbar gewesen wäre.
Im Treppenhaus hatte er weder Kinderstimmen gehört noch das Trappeln von Schritten.
Und er wohnte im Erdgeschoss.
Die Kinder kannte er.
Die beiden Kleinen gehörten der alleinerziehenden Mutter von obendrüber, Emilia und Lina.
Und der Junge war von gegenüber.
Dessen Eltern kamen erst nachmittags nach Hause. Elias war ein Schlüsselkind.
Die Zeiten der Olivers und Jennifers waren erfreulicherweise vorbei.
Eigenartig.
Auf dem Nachhauseweg würde er Brötchen holen und eine Tageszeitung beim Bäcker kaufen, duschen gehen und frühstücken.
Erst um vier musste er im Büro sein.
Er würde zu Fuß gehen, damit Forrest auch genügend Nachmittagsauslauf hatte.
Forrest war sein Hund. Ein Kangal. Ein türkischer Herdenschutzhund. Den erbte er von seiner Mutter.
Das war jetzt wie viele Jahre her?
Es wurde ihm soeben bewusst, dass seine Mutter heute vor sieben Jahren verstarb. Er hielt sich mit diesem Gedanken nicht länger auf. Nicht heute.
Und Forrest kam anschließend zu ihm.
Er war ein liebenswertes Tier.
Das Beste an Forrest war aber, dass niemand ihm die Herzensgüte ansah. Mit ihm an seiner Seite hatte er Ruhe. Immer.
Ungewöhnlich, dass die Kinder in dieser Jahreszeit im Freien spielten. Es lag kein Schnee, aber es war eiskalt. Die Frühsonne schien und erwärmte möglicherweise den Innenhof.
Der Himmel war wolkenlos blau.
So sagte man später.
Sicherlich waren sie draußen auf der Straße.
Eigentlich sollten sie sich dort nicht aufhalten, sondern im Hof bleiben.
Seltsam.
Es würde ein klasse Tag werden.
Endlich ein Tag ohne eigene Seelenbeleuchtung, ohne den täglichen Furor.
Seit drei Monaten nahm er täglich seine Medikamente, regelmäßig und ohne Ausnahmen.
Ein gut verträgliches Antidepressivum, wie sein behandelnder Facharzt meinte. Lange auf dem Markt und vielfach erprobt.
Er wollte ihn beruhigen.
Die ihm beschriebenen Nebenwirkungen träten nur in einem Verhältnis vo 10 zu 1 auf.
So viel dazu.
Auf seinen Einwurf, ob er, der Arzt, in ein Flugzeug steigen würde, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von zehn zu eins abstürzte, antwortete dieser:
„Wenn Sie mit dem Flugzeug abstürzen, sind Sie tot.
Beim Eintreten der beschriebenen Nebenwirkungen geht es nicht um Leben oder Tod. Die kann man behandeln und Sie werden leben. Definitiv.“
Es handelte sich um Magenblutungen und Magendurchbruch.
Er hatte mittlerweile seine Bedenken abgelegt und glaubte, dass die Medikamente wirkten. Nicht so richtig dolle, aber immerhin, es ging ihm besser, deutlich besser.
Draußen war es bitterkalt und er bereute es fast schon, den Tag mit einem Auslauf beginnen zu wollen.
Aber Forrest hatte sofort viel Spaß und ihm zuliebe wollte er das jetzt wie geplant durchziehen und selbst Spaß dabei empfinden.
Forrest tollte nach rechts und trollte sich nach links, währenddessen zerrte er wie verrückt an der Leine.
Er zog die Jacke vorne zusammen und die Mütze über beide Ohren bis tief in die Stirn und rannte los. Der Atem stand ihm vor dem Mund und bildete durchsichtige Wölkchen.
Es sagte sich, dass es ein fantastischer Tag werde würde.
Allein es kam anders. Ganz anders. Aber das war ja klar.
Heute war Heiligabend, der 24.12.2019.
In der Ferne hörte er wie nebenbei ein Martinshorn.
Und Forrest begann zu heulen.
Eine seltsame Angewohnheit seines Hundes, dachte er noch.
Die paar Meter bis zum Park ging er flotten Schrittes.
Im Park war es menschenleer, er entleinte Forrest und begann mit dem Traben.
Forrest erleichterte sich überall, der beachtete ihn nicht weiter.
Wie in solchen Fällen nicht unüblich, war Bierkant höchst motiviert, steigerte das Tempo, hielt es hoch, legte noch eine Schippe drauf und duellierte sich albernerweise mit seinem Hund. Eine dämliche Narretei, die nicht folgenlos blieb.
Natürlich nicht. Er baute ab, ganz schnell.
Und kam langsam gehend wieder in seinem Viertel an.
Forrest fing wieder an zu jaulen.
Allmählich empfand er dieses Verhalten als zunehmend lästig.
Eine Erinnerung blitzte in ihm auf.
Es lief in Freiburg Marathon, einen halben, 21 Kilometer.
Es war ein Tag wie heute. Perfekt zum Laufen.
Und er lief. Und wie.
„Behände wie ein Has`“, würde in der Tagespresse geschrieben stehen, allerdings nur über den Sieger.
Aber das traf auch auf ihn zu. Gefühlt.
Selbst als der Teufelslappen den Beginn des letzten Kilometers kennzeichnete und ein Banner mit dem Spruch aufgezogen war: „Lauft ihr noch oder kriecht ihr schon?“, konnte er Fahrt aufnehmen, haute sich noch mal richtig rein und finishte kurz später. Laufend. Seinerzeit gehörte Bierkant noch zu den Bleistiften und nicht zu den Radiergummis.
Bei dem Gedanken schmunzelte er, obwohl er heute wohl eher um die Ecke kroch.
Sein Puls war immer noch stark beschleunigt und würde auch noch geraume Zeit treibend bleiben.
Vor seinem Haus standen zwei Polizeiautos und ein Notarztwagen. Die Straße war gesperrt. Kurz bevor er sich durch die Menschenmenge schlängeln konnte, wurde ihm eine Gasse zum Durchlass angeboten. Das lag an Forrest.
Die Stimme, die ihn ansprach, kam ihm entfernt bekannt vor.
„Sie können nicht weiter. Hier ist gesperrt.“
„Ich wohne hier.“
„Okay, dann gehen Sie durch und halten sich bitte für eine Befragung zur Verfügung.“
Er verzichtete aufs Duschen, fütterte Forrest und dann klingelte es bereits an der Tür.
Drei Kinder wurden vermisst.
Die Eltern bzw. die Mutter kamen nach Hause und ihre Kinder waren nicht zu finden.
Er teilte dem Beamten mit, was er gesehen hatte.
Der Beamte notierte sich seinen Namen.
Und fortan begann das Seelenbeben.
Und es sollte so schnell nicht abebben.
Kurz bevor er die Tür schließen konnte, stellte sich ein schwerer Stiefel in den Spalt und schob sie wieder auf.
Er wollte protestieren, verstummte aber augenblicklich.
Vor ihm stand ein bekanntes Gesicht.
Die Augen waren unverwechselbar. Morbus Basedow.
Aber diese Nerdbrille?
Der zu diesem Gesicht passende Name mochte ihm partout nicht einfallen.
„Richard?“
Es handelte sich um die Stimme, die ihm vor dem Haus bereits bekannt vorkam.
„Richard Bierkant?“
Er suchte nach dem passenden Namen zu der Stimme.
„Rich?“
Und bevor der Name ihm erinnerlich war, sagte er:
„Wie kann man mit diesen Augen die Hürden zur Aufnahme in die Polizeilaufbahn schaffen?“
Das sagte er. Wortwörtlich. Sonst nichts.
Sein Gegenüber lachte, lauthals, so wie er immer lachte: „Hab' dich auch lieb.“
Bierkant erinnerte sich: „Du bist der gutaussehende unbekannte Bruder von Woody Allen und Marty Feldman.“
Die ganze Situation war unangemessen aufgrund des Anlasses, der drei vermissten Kinder.
Aber so spielte manchmal das Leben, dachte Bierkant.
Vor ihm stand Hartmut, Hartmut Kreuz.
Polizeihauptkommissar Hartmut Kreuz. Mudi.
Sein Freund aus Kindertagen.
Sie hatten kaum Zeit zum Plausch, die Kinder.
Sie verabschiedeten sich wieder, tauschten noch kurz Visitenkarten aus, nicht ohne sich gegenseitig das Versprechen abzunehmen, in absehbarer Zeit gemeinsam etwas zu unternehmen.
Er betrat die 'Rita'. Es war kurz vor vier.
Im Volksmund wurde das Männerwohnheim, in dem Bierkant als leitender Sozialarbeiter arbeitete, 'Rita' genannt.
Der Name ging zurück auf einen traurigen Vorfall, der sich ereignete, als er nach dem Ende seines Studiums dort mit der Arbeit anfing.
An Heiligabend 2000 erfror ein Obdachloser, weil er vor verschlossenen Türen stand. Am nächsten Tag fand man neben dem Leichnam eine rote Rose im Schnee. Die Rita-Rose.
Seit diesem Tag war das Heim immer geöffnet, immer besetzt, 24/ 7.
Forrest war an seiner Seite. Hunde waren eigentlich in der Rita verboten.
In der Hausordnung wurde fahrlässiger Weise im Zusammenhang mit dem Verbot von „den Bewohnern ist es nicht gestattet“ gesprochen.
Also war Forrest dabei. Immer. Vorsorglich trug er einen Maulkorb. Keiner wusste warum.
Eigentlich hatte er frei. Aber es stand das traditionelle Weihnachtssingen mit den Bewohnern mit anschließender Feier an. Diese Veranstaltung ließ er sich nicht entgehen. Nie.
Heute war er verständlicherweise nicht bei der Sache.
Es bebte in ihm.
Die Kinder gingen ihm nicht aus dem Sinn.
Sein Gedankenkarussell nahm Fahrt auf.
Er machte sich Vorwürfe.
Beim Singen hielt er sich zurück.
Irgendwann brummte sein Handy.
„Den Kindern geht es gut. Alle wohlauf. H.K.“
Hartmut Kreuz oder Hauptkommissar? Wer wusste das schon?
Bierkant lächelte. Es konnte sicherlich noch ein guter Tag werden, sogar ein sehr guter.
Die Anspannung ließ allerdings nicht so schnell nach.
Aber das war ja klar.
Fortan schmetterte er die Weihnachtslieder mit, beherzter als je zuvor. Immerhin.
Begleitet wurde das Altmännerensemble von Forrest.
Der heulte mit den Weihnachtsmännern um die Wette.
Das von Herrn Bierkant anschließend vor lauter Erleichterung umso vehementer vorgetragene Adventsgedicht von Loriot verfehlte seine Wirkung nicht.
Einige Stammgäste lachten schon aufgrund der Vorfreude auf den Vortrag. Es war eine liebgewonnene Gewohnheit Bierkants, der immer dasselbe Gedicht rezitierte. Nicht in einem freien Vortrag, aber das erwartete auch niemand in dieser Runde.
„Es blaut die Nacht, die Sternlein blinken, Schneeflöcklein leis herniedersinken.
Auf Edeltännleins grünem Wipfel häuft sich ein kleiner weißer Zipfel.
Und dort vom Fenster her durchbricht...“
Ein gellender Schrei.
Sodann Hilferufe.
Bierkant sprang unverzüglich auf.
Adrenalin schoss durch seinen Körper.
„Himmel, Arsch und Zwirn.“
Er nahm Forrest an die kurze Leine und band ihn geistesgegenwärtig an den nächsten Türknauf.
Er rannte los und folgte den Schreien.
Der Wohnbereich war hell erleuchtet, ein Spalier aus Bewohnern hatte sich gebildet. Eine Tür stand offen. Und innen lag EnEn. Auf dem Boden.
Röchelnd. Seine eigenen Hände an den Hals gelegt. Es sah nicht so aus, als hätte irgendjemand in diesem Saustall bereits den Notruf ausgelöst.
Bevor er sich einen genauen Überblick verschaffen konnte, hatte er bereits die Notrufzentrale am Telefon.
Anschließend ging er auf die Knie. Überall war Blut. Er kniete bereits in einer Lache. Das Blut floss aus EnEns Mund. Seine Hände trieften. Tiefe Wunden zeichneten sich ab. Er vernahm ein Flüstern.
„Ich verstehe nicht.“
EnEn trommelte ihm mit der Hand auf die Schulter.
Bierkant beugte sich weiter hinunter.
„Sprich lauter!“
EnEns Fingerkuppen tippten im Rhythmus auf Bierkant.
Der neigte sich noch weiter, er berührte geradezu dessen Lippen.
„Rd.“
„Meintest du 'Rund'? Sprich deutlicher.“
EnEn bäumte sich auf, schüttelte den Kopf und flüsterte mit letzter Kraft: „Rad“.
Dann legte er den Kopf auf die Seite und verstarb.
Einfach so.
Bierkants Aufgeregtheit legte sich langsam.
Gaaanz, gaaanz laaangsam. Aber immerhin, sie legte sich.
Zwischenzeitlich empfand er den spontanen Drang, den Toten wachzurütteln, aber er getraute sich nicht, vor lauter Angst, eine später eingeleitete Obduktion könne feststellen, der Tote sei an einem Schütteltrauma verstorben.
Irgendwann würde jemand zum Ergebnis gelangen, Bierkant sei ein wahrer Meister im 'sich Sorgen machen'.
Das musste aber ein Jemand sein, der Bierkant gerade erst kennengelernt hatte.
Allen anderen war das doch längst klar.
Es musste keine erste Hilfe mehr geleistet werden.
So viel stand fest.
Draußen erklang das Martinshorn und in der Ferne hörte er Forrest jaulen.
Es herrschte anfänglich hektische Betriebsamkeit in der Rita.
An Feiern war nicht mehr zu denken.
Die Bewohner verzogen sich dann aber nach und nach auf ihre Stuben.
Der spät hinzugekommene Amtsarzt erhob sich und brummelte:
“So eine Sauerei!“
Bierkant saß, nachdem sich alles allmählich beruhigte, in seinem Büro. Es war drei viertel vier, nachts. Er kam gerade vom Gassigehen mit Forrest zurück. Er hatte sich nicht entleert. Forrest.
Er spürte die Anspannung seines Herrchens. Er leckte dessen Hände. Ausgiebig. Jetzt war es totenstill.
Es klopfte. Der Amtsarzt trat ein, grummelte etwas von „natürliche Todesursache“ und „Multiorganversagen“ und übergab ihm den Totenschein. Beim Rausgehen vernahm Bierkant noch Wortfetzen in der Art von „SchwnrVrfcktSchß“.
Er machte sich ein Bier auf und ja, er war im Dienst und ja, er trank Alkohol.
Aber für irgendwas musste es ja gut sein, Sozialarbeiter zu werden.
„Nun muss die Försterin sich eilen, den Gatten sauber zu zerteilen.
Schnell hat sie ihn bis auf die Knochen nach Waidmanns Sitte aufgebrochen.“
Natürliche Todesursache. Es wurde immer kurioser.
Er trank.
Er hätte was dafür gegeben, hätte er Zigaretten zur Hand.
Das wäre in der Rita nicht das Problem.
„Voll Sorgfalt legt sie Glied auf Glied (was der Gemahl bisher vermied) -, behält ein Teil Filet zurück als festtägliches Bratenstück und packt zum Schluss, es geht auf vier die Reste in Geschenkpapier.“
Forrest fiepte.
„Da tönt' s von fern wie Silberschellen, im Dorfe hört man Hunde bellen.“
Nachdem er sich Loriots 'Advent' vorgemurmelt hatte, griff er zum Telefon und wählte die Nummer auf der Visitenkarte. Die Nummer des 6.
Polizeireviers Frankfurt/ Bornheim.
„Hauptkommissar Kreuz“, meldete es sich bereits nach kurzem Tuten.
Ohne Umschweife fragte Bierkant, ob sie sich nach Dienstschluss zum gemeinsamen Frühstück treffen wollten.
Immerhin seien sie ja beide Singles und das müsse auch Vorteile haben, oder? Er müsse erst übermorgen zum Dienst, wie es denn bei ihm sei?
Mudi schlug „Zum Kleinen Peter“ vor.
Er wisse ja nicht, in welchen Etablissements er sonst verkehre, aber im „Kleinen Peter“ gebe es zum Frühstück allerhöchstens ein Herrengedeck, und zwar schon seit Jahren, was unter den gegebenen Umständen möglicherweise nicht die schlechteste Wahl wäre, aber er könne Forrest dorthin nicht so einfach mitnehmen.
Wer denn Forrest sei, wurde er gefragt.
Mein Mitbewohner.
Soso.
Sie verabredeten sich für den folgenden Morgen um acht Uhr in Bierkants Wohnung.
Er hatte gerade den Hörer aufgelegt, als es klopfte.
Forrest stellte die Ohren, blieb aber ansonsten entspannt.
So kam er heute nicht mehr zur Ruhe, dachte Bierkant noch, als sich die Bürotür auch schon zögerlich öffnete, ohne dass er signalisiert hätte, dem Klopfenden Eintritt gewähren zu wollen.
Er erkannte sofort den herein gereckten Schädel, der gehörte unverkennbar Minna, braungebrannte Glatze und ein Walrossbart, dazu dieses verschämte Grinsen.
Als er die Tür wieder schloss konnte man eine stümperhafte Totenkopftätowierung auf dem Unterarm erkennen.
Sie nickten sich zu.
Minna setzte sich ihm gegenüber, wortlos reichte Bierkant ihm ein Bier.
Sie prosteten sich zu und tranken schweigend.
Natürlich galt das Alkoholverbot insbesondere für die Bewohner.
Aber Bierkant hatte beschlossen, eine Ausnahme zu machen.
„Wann, wenn nicht jetzt?“2 Ganz wohl war ihm dabei nicht, natürlich nicht. Aber es handelte sich immerhin um Minna.
Und bei ihm wollte er alle Fünfe gerade sein lassen.
„Wo, wenn nicht hier?“
Irgendwann musste er wohl damit anfangen, mit dem Unperfektsein.
„Wer, wenn nicht er?“
Im Radio plärrte seit Minuten der Sänger in Endlosschleife:
„Din-daa-daa-dam-dam, din-daa-daa-dam-dam.“
„Was soll das eigentlich heißen?“
„Was?“
„Din-daa-daa-dam-dam“ „Din-daa-daa-dum-dum!“
„Wie bitte?“
„Din-daa-daa-dum-dum. Der Sänger singt: Dindaa-daa-dum-dum.“3
„Ach so.“
Bierkant öffnete wortlos zwei weitere Biere.
Sie stießen an und tranken.
„Und was hat das zu bedeuten?“
„Was?“
„Din-daa-daa-dum-dum!“
„Trommeltanz.“ „Ach was.“
Minna, eigentlich der grüne Minna.
Sein wirklicher Name war Bierkant unbekannt.
Er hatte auch nie danach gefragt.
Minna hatte am ersten Weihnachtsfeiertag im Jahr 2000 die Leiche mit der roten Rose gefunden.
Auch wenn er immer leugnete, war doch allen klar, dass er die Blume neben den Toten abgelegt hatte.
Am selben Tag noch zog er in der 'Rita' ein.
Tja, und nie wieder aus.
Er war eine äußerst auffällige Erscheinung, nicht nur im Heim, aber besonders hier.
Es gab den landläufigen Begrüßungsspruch unter den Bewohnern, dass sie es gerne so gut wie er hätten, gerne auch so viel Urlaub.
Ulkig.
Minna trank bisweilen wenig Alkohol, ernährte sich relativ gesund, nahm jede Gelegenheitsarbeit an – Straßen kehren und Winterdienste unter Nachbarn, auf dem Markt half er den Händlern bereits frühmorgens beim Aufbau und anschließend am Nachmittag beim Abbau – und sah aus, als würde er regelmäßig das Eisen biegen.
Er war immer sehr mobil, mit den Öffentlichen, und wenn er irgendwo nächtens aufschlug, von wo er nicht mehr so leicht zur 'Rita' hätte kommen können, zog er seinen Schwerbehindertenausweis und machte auf behindert.
Tatsächlich tat er lediglich so.
Und die Polizei fuhr ihn zurück, in einer grünen Minna.
Irgendwann flog das Ganze auf, aber Minna hatte seinen Namen weg.
Damals lustig, heute undenkbar.
Notgedrungen war er aufs Rad umgestiegen.
„Isch bleib bei meiner erstn Einschädsung. EnEn war kaan Schwiemelkopp. So jemand stirbt net an em Multiorganversagen. Was waas isch, der war kernxsund. Gestern ham mer noch zusamme gegesse, gesoffe un gelacht. Un heit? Aus, vorbei und lang her.“
Minna räusperte sich, seine Augen waren feucht, er schämte sich nicht im Geringsten dafür. Er stand auf, ergriff die beiden ihm gereichten Bierflaschen, nickte Bierkant respektvoll zu...
„Du weißt, dass hier Alkoholverbot besteht?“
Tja, Bierkant konnte nicht aus seiner Haut.
Minna nickte, steckte sich die Flaschen in die Taschen seiner Cargo Hose und verließ das Büro.
EnEn und der grüne Minna waren beste Freunde gewesen, allerbeste.
2 Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?“, Urheber eventuell John F. Kennedy, Weisheit 1917 -1963
3 Georg Kranz: „Din Daa Daa /Trommeltanz“, Single, 1983
Der Weihnachtsmann stand an einem Wasserhäuschen. Er fror. Sehr sogar.
Vor ihm stand ein heißer Apfelwein. Aber nichts wollte ihn wärmen.
In der Eile, als immerzu weitere Polizisten auftauchten, hatte er die Nerven verloren. Hastig machte er sich aus dem Staub.
Zurück gelassen hatte er seinen mollig warmen roten Wollmantel.
Immerhin konnte er die Überprüfung seiner Personalien vermeiden.
Doch jetzt war ihm kalt.
Seinen Plan hatte er ein Jahr lang generalstabsmäßig vorbereitet. Und das kam dabei heraus, wenn man sich nicht an die Vorgaben hielt. Oder vielleicht war einfach sein Plan scheiße?
Bevor es losging, ging bereits alles drunter und drüber, wegen dreier Gören.
Die tauchten in seinem Plan nicht auf. Dessen ungeachtet kam er nicht umhin, sich ihrer anzunehmen.
Das hatte er jetzt davon. Selbst schuld.
„Was hält dich davon ab, dein Vorhaben doch noch durchzuziehen?“, fragte er sich insgeheim.
Tja, was hielt ihn davon ab. Er lag noch im zeitlichen Soll.
Zuvorderst sollte er sich mal etwas Wärmendes zum Anziehen kaufen.
Und das machte er. Er kaufte sich einen roten Frotteemantel.
Sodann begann er darüber zu grübeln, wie seine Planungen doch noch erfolgreich abgeschlossen werden konnten.
Oh doch, du bist vom Satan besessen.
Die Gestalt legt das Buch geöffnet neben sich.
Du weißt es nur noch nicht.
Sie legt ein Lesezeichen zwischen die Seiten und schließt es.
Aber in nicht allzu ferner Zeit wirst du es merken.
Sodann klopft sie auf den Leineneinband.
Steht alles hier drin. Kann man alles nachlesen.
„Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, Er mäht das Korn, wenn' s Gott gebot;...“
„Komm, spiel mit mir!“, ertönt es aus dem Schlafzimmer.
Über 25 Jahre ist das jetzt her, denkt der Mann. Es waren die Neunziger.
Damals begann gerade seine schwarze Phase, so wie bei vielen gleichgesinnten Jugendlichen.
Doch die Bewegung verlief sich schnell.
Er weiß heute noch nicht mal mehr ihren Namen.
Blulite, so nannte sie sich wohl.
„Komm, spiel mit mir!“, hört er ihre Aufforderung, als läge sie tatsächlich noch nebenan.
Zum Duschen benutzte sie schwarze Seife und zum Abtrocknen dunkel eingefärbte Handtücher, ihre Zähne wurden mit Kohlepaste geputzt.
„Er ist ein Schnitter und heißt Tod, Hat Gewalt vom großen Gott, Heut wetzt er das Messer,...“
Die Boxen dröhnen aus dem Schlafzimmer.
Die Musik ist nicht besonders originell.
'Rammstein' hätten das weitaus besser performt.
Die liefen damals auch bereits.
Blulite war nachgerade eine Göttin, viel Leder, viel Schwarz, viel vornehme Blässe, immerzu mit Weltschmerz, Leid und Wahn beschäftigt.
Wahrlich, er liebte dieses dralle Persönchen abgöttisch.
Über ihrer Scham befand sich eine Tätowierung.
Sonst trug sie keinen Körperschmuck.
„...Es schneidet schon viel besser Bald wird er damit schneiden, Wir müssen es nur leiden...“
Soll doch bitte keiner nachher kommen und behaupten, er hätte nichts geahnt.
„...Hüt Dich...“
Er macht die Musik aus und verlässt seine Wohnung.
Heute ist Heiligabend.
Der Weihnachtsmann saß jetzt im Café, seine Notizen lagen ausgebreitet vor ihm.
Er vergegenwärtigte sich die wichtigsten Punkte, schärfte sie sich immer und immer wieder ein.
Wie ein Mantra, auf dass ein Automatismus entstehe.
Die liebreizend aussehende Nachbarin am Nebentisch sah auf seine Aufzeichnungen. Für sie mussten sie wirr und undurchdringlich erscheinen, so interpretierte er ihren Gesichtsausdruck.
Mehrfarbige Striche und Pfeile gingen über die ganzen Seiten, Sternchen und Einschübe in allen möglichen Farben ergänzten die Palette.
Viel Kreuz und Quer, ein einziges Tohuwabohu, das alles ließ sie offenbar staunen.
„Ich bildete mir immer ein, dass der Weihnachtsmann strukturierter vorgehen müsse.“
Sie lächelte und nippte an ihrem Getränk.
„Aber nicht, wenn er der Erfinder der Chaostheorie ist“.
Sie lachte auf.
„Sieht fast so aus, als planten Sie einen Überfall, einen Bankraub vielleicht?“
Um auf Nummer sicher zu gehen, raffte er vorsichtshalber viel zu überhastet alles zusammen, ließ einen 5-Euro-Schein auf dem Bistrotisch zurück, verließ das Etablissement, nicht ohne der aparten Kurzhaarigen dezent zuzulächeln.
Er nahm sich klammheimlich vor, sich öfter mal mit dem roten Gewand zu kleiden.
Minuten später bemerkte er, dass er etwas wichtiges im Bistro vergessen hatte.
Scheiße.
Der Mann pfeift immer noch die Melodie.
Innerlich trällert er, als träfe Max Raabe auf Till Lindemann.
Verdammt, er hat was vergessen. Das ist ihm noch nie passiert.
Er eilt zurück. Er muss sich sputen, wenn er nicht bereits jetzt in Verzug geraten will.
Blulite und er führten eine durch und durch konventionelle Beziehung, glücklich, so schien ihm.
Bis er eines Tages durch einen dämlichen Zufall erfuhr, dass sie zugleich Umgang mit einem Mann pflegte, den sie Prinz nannte. Das sei lediglich eine Episode, sprach sie sich frei.
Warum sie ihn so nenne, fragte er.
Sie antwortete, dass er das nicht wissen wolle.
Wirklich nicht.
Leicht atemlos wieder zuhause angekommen, öffnet er den Tresor.
Darin befindet sich eine Luger Kaliber 9 mm, ein Präzisionsgewehr HK. Daneben liegen die gefüllten Patronentaschen.
Und ein Bowiemesser mit einer Klingenlänge von 20 cm.
Er recherchierte damals und fand, was er suchte.
Und bereute es.
Anschließend beendete er unverzüglich die Beziehung, brach sofort jeden Kontakt ab.
Ich sollte besser funktionieren.
Er konnte Blulite verzeihen, aber vergessen konnte er nicht.
Die Liebe blieb. Die Kränkung auch.
Er nimmt sein All Black Single Speed aus der Halterung an der Wand. Die Witterungsverhältnisse und die herrschenden Temperaturen sprechen gegen dieses Rad, aber er hat keine andere Wahl, sonst würde die Zeit zu knapp. Es ist mit Abstand das schnellste Fortbewegungsmittel.
Es ist zwanzig vor vier, aus dem Mannheimer Süden braucht er schon gut und gerne 10 Minuten bis zur UMM, immer vorausgesetzt, dass der Verkehr heute an Heiligabend einigermaßen flüssig läuft.
Das alles denkt er, während er bereits heftig in die Pedale tritt.
Entweder man tritt rein oder man steht still.
Dazwischen gibt es keine Handlungsalternative.4
Erneut geht er seinen Plan gedanklich durch:
16.00 Uhr: Weihnachtsfeier der intensivtherapeutischen Anästhesiologie der
UMM
16.15 Uhr: Weihnachtsfeier der operativen
Intensivüberwachungsstation der UMM
17.15 Uhr: Weihnachtsfeier der internistischen
Intensivmedizin
des Diakonissenkrankenhauses Mannheim
18.30 Uhr: Weihnachtsfeier im therapeutischen
Wohnheim für psychisch kranke Menschen der
Caritas
19.30 Uhr: Weihnachtsfeier in der
Übernachtungsstelle in der
Bonadiesstraße
So brettert er längst durch den 'Suezkanal', überholt einen Sonntagsfahrer und schlängelt sich durch den Stau auf der Querstraße. Manche Autos hupen.
Halten sich alle an diese Maxime, kann das Leben so schön einfach sein.
Gleich hat er es geschafft. Er kann den Neckar geradezu riechen. Gut so, er würde noch Zeit genug haben, sich aufzuwärmen, seine Hände und Füße sind reichlich klamm.
Gleichwohl, manchmal muss man nachhelfen und jemanden auf dem Weg zu seinem Glück begleiten..
„...Was heut noch grün und frisch da steht, wird morgen schon hinweggemäht:...“
Heute ist Heiligabend, der 24.12.2017.
4 Verfasser unbekannt, wahrscheinlich aus 'Premium Rush', Actionfilm von David Koepp, 2012
Der Weihnachtsmann war auf Bewährung, als Auflage war er zu gemeinnütziger Arbeit verdonnert worden. Das war auch der Grund, warum er keinen gesteigerten Wert darauflegte, mit den vermissten Rotznasen in Verbindung gebracht zu werden.
So weit wäre es noch gekommen.
Seinem Bewährungshelfer gegenüber hatte er vorgeschlagen, etwas für Kinder tun zu wollen, was Schönes, vielleicht an Weihnachten.
Ha, hatte der gerufen, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Nix da.
Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich, wohl für ziemlich, oder? Drei Altenheime an drei Tagen über Weihnachten, da hast du die Liste, daran hältst du dich gefälligst.
Um zehn nach fünf kam er im Seniorenheim an.
Man erwartete ihn schon sehnsüchtig.
Zweifel habe man bereits bekommen, aber schön, dass er jetzt da sei. Die Bewohner warteten schon und wie verzückend er doch aussehe, gleichzeitig so authentisch.
Und der Mantel, der habe was.
Aber warum trage er denn keinen echten Mantel?
Der hier sehe ein bisschen aus, na ja, wie ein Bademantel halt. Sei's drum.
Und wo denn sein Sack sei?
Vergessen, im Bistro?
Wie könne er denn seinen Sack vergessen? Er sei doch immerhin der Weihnachtsmann.
Man habe es ja immer geahnt, dass es keine gute Idee gewesen sei, mit der Bewährungshilfe.
Und jetzt?
Er könne hier den Wanderrucksack nehmen. Und die Geschenke.
Er solle bloß die Präsente nicht verwechseln.
Er trat auf die Bühne und fünfzig leuchtende Augenpaare strahlten ihn an. Als er alle Gaben durcheinanderbrachte, fiel der Radau dementsprechend aus. Gleichwohl, die Augen leuchteten als seien es Kinderaugen.
Der Mann kommt erst morgens nach Hause.
„Sprich aus der Ferne Heimliche Welt, Die sich so gerne Zu mir gesellt!“5
Um zehn vor vier hat er gerade noch zeitgerecht vor der Universitätsmedizin gestanden. Die Sonne ist noch nicht vollständig untergegangen, viel sehen kann man trotzdem nicht mehr. Es ist klirrend kalt. Das durch den Körper schießende Adrenalin sorgt zumindest dafür, dass er nicht komplett durchgefroren ist.
Er hat sein Rad an einen Laternenpfahl geschlossen, absichtlich etwas abseits vom Haupteingang, sodass er bis dorthin leicht joggen kann, um sich ein klein wenig aufzuwärmen.
Von da an läuft alles planmäßig. Er ist fokussiert, kann methodisch vorgehen, lässt sich nicht ablenken und nichts Unerwartetes kommt dazwischen.
Jetzt ist es kurz nach eins in der Nacht.
Er stellt sein Fixie an die Schlafzimmerwand, zieht sich aus, seine Kleidung liegt verstreut in der Wohnung.
Er stellt sich unter die Dusche, dreht heiß.
Aaah, was für eine Wohltat.
Er steht vornübergebeugt, stemmt sich mit einer Hand an der Wand ab und während der heiße Wasserstrahl auf seinen gespannten Rücken trifft, sodass...