Billie und die Freiheit nach dem Mauerfall - Beate Ehrmann - E-Book

Billie und die Freiheit nach dem Mauerfall E-Book

Beate Ehrmann

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Beschreibung

Berlin 1990 - Billie glaubt nicht, dass sich für sie viel ändert, schließlich ist sie aus dem Westen. Doch weit gefehlt. Freundschaften zerbrechen. Viele wollen nur ihren Vorteil aus der Goldgräberstimmung ziehen. Der Tod ihrer Mutter weckt Billies Sehnsucht nach den eigenen Wurzeln. Die Suche führt in unbekanntes Terrain und zu einem jungen Mann, den sie lieben könnte. Je tiefer sie in die Spuren der Vergangenheit eindringt, desto gefährlicher sind die Folgen. Die Geschichte um Billie und Axel beschreibt die Stimmung kurz nach dem Mauerfall in diesem zeitnah geschriebenen Roman. Die Wende gab das Gefühl von Freiheit, alles denken, sagen und tun zu können. Viele Deutsche in Ost und West sonnten sich zwischen 1989 und 1990 in der Illusion einer Aufbruchstimmung und Hoffnung auf Frieden. Manche änderten ihre Lebensentwürfe. Viele versuchten die sprichwörtlichen Leichen im Keller zu vergessen.

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Seitenzahl: 373

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über das Buch

Der Euphorie des Mauerfalls folgt ein brodelnder Sommer. Westberlin ist aus seinem Inseldasein gerockt. Dieser Entwicklungsroman um die junge Sängerin Billie lässt uns jenes berauschende Jahr der Anarchie hautnah miterleben. Billie ist so wild wie diese Zeit. Der Strudel der Goldgräberstimmung reißt Billie mit, ihr Leben wird zur grenzenlosen Achterbahn. Es gibt nur noch hier und jetzt. Im „wilden“ Osten trifft sie auf einen jungen Mann, den sie lieben könnte.

Axel aber wollte weder zum Brandenburger Tor noch zum Ku’damm. Hatte er nämlich alles schon gesehen, damals im November, da war auch er nach Berlin gefahren, um für hundert Mark die neue Freiheit zu testen.

„Wie schade, dass wir uns nicht damals begegnet sind.“ Es war durchaus ehrlich gemeint von Billie. Und einen Moment stieg ein flüchtiges Bild in ihr auf, es wäre alles anders gekommen.

Über die Autorin

Beate Ehrmann, geb. 1955 in Stuttgart, kam übers Theater zum Schreiben. Sie führte Regie, arbeitete als Dramaturgin und war u.a. Lektorin für Film- und Fernsehen, danach Hochschuldozentin für Drehbuch sowie für Analyse und Narration in Games an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland.

Beate Ehrmann

Billie

und die Freiheit

nach dem Mauerfall

Roman

Urfassung als Drehbuch, gefördert durch die Stadt Zürich 1992, archiviert Bibliothek der Uni Zürich / Zentralbibliothek Zürich:

Australien liegt im Osten, oder © 1992 Beate Ehrmann

Les amants dans un monde changeant © 1993 Ehrmann

Billie’s Song „Big Shaker“ im Roman ist dem fiktiven Musical ‚Quicky Darlin’ entnommen (Deutscher Titel ‚Kurzzeit Schätzchen’) Text: Ehrmann & Maier

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Beate Ehrmann

Umschlag:© 2024 Copyright by Ehrmann & Maier

Verantwortlich

für den Inhalt:Marcel Maier

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

D-70736 Fellbach

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Inhalt

1 Unverbrauchte Sängerin gesucht

2 Eine raum- und zeitlose Welt

3 Fast eine schreckliche Katastrophe

4 Ein Ballsaal in Babelsberg

5 Schicksalswächter in Südfrankreich

6 Iris, Lilien und Olivenzweige

7 Das Blut gefallener Engel

8 Die Band löst sich auf

9 Ein Erbe ohne Erfahrungswerte

10 Dustere Villa, heller Junge

11 Gefühle und Gefahren

12 Jeder für sich auf seiner Spur

13 Legenden und Bordsteinschwalbe

14 Wem der Himmel gehört

15 Zeit bis in alle Ewigkeit

1 Unverbrauchte Sängerin gesucht

Rund um sie herum war alles schwarz. Tiefes, fettes Schwarz, dick wie Tinte. So sehr sie sich auch anstrengte, sie hatte keine Chance, es zu durchdringen. Ihre Augenlider waren wie verschweißt. Sie rang nach Atem. Es war diese völlige Dunkelheit, die ihr die Luft abschnürte. Hier war es einfach Nacht, sonst nichts. Keine Umrisse, keine Schatten, kein einziger Lichtstrahl.

„Mama, wenn man tot ist, ist es dann ganz dunkel?“

Sie war noch klein. Ein kleines Mädchen, vielleicht vier, fünf Jahre alt. Höchstens.

„Schlaf jetzt, Billie!“

Etwas Kühles berührte ihre Stirn. Eine Hand. Wohltuend, schwer und kühl wie Marmor lag sie da. Die Hand eines unnahbaren Engels. Den wollte sie doch sehen! Da musste sie doch die Augen aufmachen. Geht auf, befahl sie ihren bleischweren Lidern. Aber es blieb schwarz und tat weh, ganz fürchterlich weh, da hinten in den Augenhöhlen, dort wo die Augen festgemacht waren, zog es so heftig, als würden sie abreißen.

„Mama, wenn man tot ist, kann man dann noch etwas sehen?“

„Ja, wenn man in den Himmel kommt. Und du machst jetzt die Augen zu und schläfst, meine kleine Billie.“

Nun spürte sie die kühle Hand auf ihren Augen. Gleich wurde es gleißend hell. Das war so schön. Die Hand musste dortbleiben, für immer. Und immer wollte sie die klare, warme Stimme ihrer Mutter hören, die ein Schlaflied sang. Ein Lied mit einer fremdartigen Melodie, in einer melancholischen, kehligen Sprache, die sie nicht verstand.

Unruhig wälzte sich Billie auf dem zerknüllten Laken. Sie atmete heftig. Ihre flatternden Lider beruhigten sich langsam.

Ein Traum, nur ein Traum, hämmerte es in ihrem Hirn, während sie mühsam aus der Tiefe auftauchte. Ganz ohne Anstrengung ließen sich ihre Augen plötzlich öffnen. Im Spiegel an der Wand gegenüber erblickte sie ihre Silhouette. Da saß eine schöne junge Frau Anfang zwanzig, kein fünfjähriges Mädchen, und am Ende des Futons, der auf dem blanken Boden ausgerollt war, saß nicht ihre Mutter, sondern ein dickes Knäuel aus Decken.

Billie schüttelte ihr langes, leuchtend rotes Rastahaar. Im bläulichen Licht des frühen Morgens wirkte es fast schwarz. Die Zotteln waren feucht. Auf ihrer Stirn standen kalte Schweißtropfen.

Noch ganz benommen legte sie sich die Hand auf die Augen. Augenblicklich wurde es schwarz. Ihre Finger waren eiskalt. Sie nahm die andere Hand dazu und drückte mit den Fingerspitzen leicht auf die geschlossenen Lider. Goldene Punkte flogen durch das Dunkel auf sie zu. Sie drückte fester. Aus den Punkten wurden Kreise, sie begannen sich zu drehen, fingen Feuer, leuchteten in allen Farben des Regenbogens, drehten sich schneller, wurden größer, kamen auf sie zu und verschwanden. Magische Feuerräder verbrannten sich selbst. Als Kind hatte sie dieses Spiel gespielt, wenn sie nicht einschlafen konnte, wenn sie alleine war und niemand ihr ein Schlaflied sang.

Billie nahm das Kopfkissen in die Arme und zog die Knie an. Den Blick auf den dunkelblauen Vorhang geheftet, der das Zimmer gegen den Tag abschirmte, saß sie lange da und hielt sich an sich selber fest.

Warum träume ich von ihr, fragte sie sich. Ausgerechnet heute? Es verunsicherte sie tief. Das letzte, was sie heute brauchen konnte, war Unsicherheit.

Sie blickte auf den Zeitungsausschnitt, den sie mit einer Stecknadel in die Tapete gepinnt hatte. Zum Lesen war es noch zu dunkel, aber sie wusste auch so, was darinstand. „Neues Musical in Vorbereitung! Berliner Theater gibt jungen unverbrauchten Sängerinnen eine Chance!“

Vorgestern hatte sie den Artikel aus einer alten Morgenpost herausgerissen. Sie kam gerade von der Probe mit den Billie Babes nach Hause, und weil der Lichtschalter mal wieder nicht funktionierte, knallte sie im Dunkeln gegen einen Stapel Zeitungen vor der Tür des Hausmeisters. Sie fluchte, weil alles auseinanderflog. Fluchte, weil der Idiot offenbar nur Zeitung las, statt den Schalter zu reparieren. Sie wollte schon alles so liegenlassen, da fiel ihr die alte Frau aus dem obersten Stock ein. Wenn sie auf dem Papier ausrutschen würde und sich ein Bein bräche? Nein, das wollte Billie nicht. Sie mochte die Alte, denn sie war die Einzige im Haus, die sich nie über Billies Musik beschwerte. Vielleicht war sie ja auch schwerhörig. Jedenfalls sah sie Billie immer so lieb an, wenn sie ihr begegnete, wie die Oma, die Billie sich immer gewünscht hatte. Billie rannte einen Stock höher und drückte auf den intakten Lichtschalter. Unten lagen die Zeitungsblätter über den ganzen Flur verstreut. Sie sammelte sie zusammen und schob sie direkt vor die Tür des Hausmeisters. Soll er doch nächstes Mal drüberfallen, dachte sie und hatte plötzlich diesen Musical-Artikel in den Händen. „... Vorsingen am Samstag 10.00 Uhr in den Kammerspielen. Begabte, junge Sängerinnen mit Bühnenerfahrung können sich für ...“ Der Rest fehlte, weil auf der Rückseite offenbar eine Beerdigungs-Anzeige ausgeschnitten worden war. Wieviel Geld man wohl bei einem Musical verdient, überlegte Billie. Von wann war die Zeitung? Sie suchte nach dem Datum. In diesem Moment ging das Licht aus. Typisch, dachte sie, nahm die Zeitung mit und drückte oben auf den Lichtschalter. Die Zeitung war von heute und das Vorsingen sollte am Samstag sein. Billie jubelte und vollendete für sich den abgeschnittenen Satz: „... Begabte junge Sängerinnen können sich für die Hauptrolle melden.“

Billie sprang aus dem Bett. Wie spät war es? Sie rannte in die Küche und traute ihren Augen kaum. Viertel nach sechs! Das war viel zu früh! War sie etwa aufgeregt? Sie hatte doch schon so oft vorgesungen. Für ihre Band, und für die Band, in der sie vorher war. Für die Backvocals, die Charly ihr vermittelt hatte. Und nie war sie aufgeregt gewesen. Sie hatte immer alles geschafft.

Es gab also zwei Möglichkeiten. Sich nochmals hinzulegen, die Decke über die Ohren zu ziehen, um dann wahrscheinlich zu verschlafen. Oder zu frühstücken. Billie entschied sich für das letztere und setzte Kaffeewasser auf.

Sie begann mit ein paar Stimmübungen, gab es jedoch bald wieder auf. Der Refrain des Schlaflieds aus dem Traum hatte sich ins Gedächtnis gegraben und brachte sie ganz durcheinander. Wie bei einer zerkratzten Schallplatte begann die elegische Melodie in ihrem Kopf immer wieder von vorn.

Das Pfeifen des Wasserkessels war fast eine Wohltat, und Billie ließ den Ton länger stehen als üblicherweise. Warum höre ich im Traum ein Schlaflied, dachte sie, goss Wasser auf und beobachtete, wie der Kaffee durch den Filter tröpfelte. Mir hat nie jemand Schlaflieder gesungen. Schon gar nicht Marion. Sie war ja meistens weg gewesen.

Billie griff nach der Zuckerdose. Schwarz und süß musste ihr Kaffee sein. Sie nahm drei gehäufte Löffel. Während sie rührte, bis sich der Zucker aufgelöst hatte, hing sie ihren Erinnerungen nach. Ihre ganze Kindheit verbrachte sie in Wohngemeinschaften. Vielleicht weil ihre Mutter darauf vertraute, dass so immer jemand da war, dem sie das Kind überlassen konnte. Marion wollte das Beste für Billie, aber Billie hasste Wohngemeinschaften. Insbesondere nachdem sie gemerkt hatte, dass Marion oft in anderen, aber selten in ihrem Zimmer, das neben dem von Billie lag, übernachtete. Und es tat weh, morgens am Frühstückstisch zu spüren, dass Marion wieder mit einem der Männer aus der WG ein Geheimnis teilte, in das Billie nie eingeweiht wurde.

Billie nahm den ersten Schluck und verbrannte sich die Zunge. Zu heiß. Sie rührte weiter in der dunklen Brühe. Dachte an Hermsdorf, damals in dem riesigen Haus war es am schlimmsten für sie gewesen. Sechzehn Leute, lauter Erwachsene, und sie war das einzige Kind. Wenn sie spät in der Nacht noch einmal aufwachte, weil sie pinkeln musste, war das ganze Haus leer und still. Die Türen, die am Tag offen gestanden hatten, waren nun zu. Barfuß schlich Billie vor jede Tür und horchte. Zu klopfen oder die Türen zu öffnen, traute sie sich nicht. Wer wusste schon, ob dahinter nicht eine Hexe lauerte. Es war so dunkel und still in diesem Haus, und Marion war verschwunden. Billie ging nachts nicht mehr pinkeln. Sie verkroch sich tiefer in ihr Bett. Manchmal war es dann am Morgen nass. Marion schimpfte. Sie verstand es nicht, und Billie konnte es nicht erklären. Ein leeres Haus ist wie ein unheimliches Tier.

Langsam schlürfte Billie ihren bittersüßen Kaffee. Sie dachte daran, wie oft sie versucht hatte, Marion zu überreden, eine kleine Wohnung zu nehmen, nur für sie beide. Vergeblich. Erst als sie schon sechzehn war, ließ sich Marion darauf ein. Und nach einem halben Jahr tauchte dieser Typ auf. Dieser Claude. Sie hatte ihre Mutter nie für sich gehabt, das ärgerte Billie heute noch, auch wenn sie mit Marion nun keinen Kontakt mehr hatte.

Billie schenkte sich nach. Ohne genügend Kaffee wurde sie einfach nicht richtig wach. Noch immer hing sie ihren Gedanken nach. Wann war es gewesen, als sich alle über ihren Namen lustig gemacht hatten?

„Der Name deiner Tochter klingt nach Kondom!“ Wer hatte das gesagt? Und sie dann „Billy Boy“ gerufen?

Sogar Marion war das peinlich, und sie war bestimmt nicht prüde. Im Gegenteil. Die Liebe bestimmte ihr Leben, auch wenn sie wohl meistens Pech damit hatte. Sie stand einfach auf die falschen Männer. Jedenfalls in Billies Augen. Und Claude war der schlimmste. Billie hingegen hatte weder mit der Liebe noch mit Männern viel im Sinn. Sie war nicht etwa lesbisch, sie interessierte sich einfach mehr für Musik und ihre Band, die sie trotzig Billie Babes taufte und in der nur ein einziger Mann mitspielte.

Billie dachte an das letzte Konzert. In der alten Kleiderfabrik. Sie waren die dritte Band und hatten ihre halbe Stunde schon überschritten. Das Publikum, diese dunkle Masse da unten vor ihr, hatte gebrodelt und gekocht. Da war Billie einem Impuls folgend einfach von der Bühne gesprungen. Einfach da hinunter, mitten rein. Wahnsinn. Aber die Fans hatten sie aufgefangen. War das ein Gefühl, so in der Luft zu schweben. Auf Händen getragen. Nie mehr würde sie das vergessen. Denn das, da war sie sich sicher, war nur der Anfang. Ab jetzt ging es nur noch nach oben. Wenn die Billie Babes jetzt eine CD rausbringen könnten, wenigstens eine Maxi, mit vier Liedern, dann könnten sie es in die Top Ten schaffen. Doch es fehlte das Geld. Und niemand in der Band hatte einen reichen Papi. Sie waren alle arm wie Kirchenmäuse. Doch wenn Billie jetzt die Hauptrolle bekam, was würden die Babes dann sagen? Dann war eine Platte so gut wie sicher.

„Hey big shaker“, sang sie, so laut sie konnte. Sie sprang auf, wirbelte zum Spültisch und stellte die Kaffeetasse auf einen Turm ungespülten Geschirrs. Einer von uns müsste mal wieder abwaschen, dachte Billie und wusste schon jetzt, dass Ilona es nicht tun würde.

„Hey big shaker, shake a pretty while with me“, imitierte sie Shirley Baker und ging in ihr Zimmer.

Am gleichen Abend, als sie den Zeitungsausschnitt gefunden hatte, war sie noch zum Proberaum gefahren und hatte dort im Keller herumgekramt. Wenn sie überhaupt etwas für eine Musical-Audition finden würde, dann in Marions Gerümpel, wie sie die Plattensammlung nannte, die sie nach Marions Verschwinden dort untergebracht hatte. Zwar hatte sie sich geschworen, Marions Sachen niemals mehr anzurühren, doch so ein Vorsingen war nun wirklich eine Ausnahme, und Billie schleppte einen ganzen Stapel Platten nach Hause.

Sag niemals nie, sagte Billie ironisch zu sich, als sie nun die Shirley-Baker-Platte ihrer Mutter auf dem Plattenteller sah, und plötzlich wurde ihr klar, warum sie diesen merkwürdigen Traum gehabt hatte. Na also, dachte sie erleichtert, es gibt für alles eine natürliche Erklärung.

Sie riss das Fenster auf. Mit dem Lärm der Straße strömte der Duft der Linden herein. Gut, dass es die Bäume gab. Seit die Mauer Löcher hatte, schien halb Berlin ihre Straße als Abkürzung zu benutzen. Und es war voll geworden in der Stadt. Alles platzte aus allen Nähten. Die Straßen, die Läden, die U-Bahn. Einfach alles.

„Hey Fritz!“ begrüßte Billie den Baum vor ihrem Fenster. „Wie hältst du das nur aus?“

Bäume benamsen war auch ein Spiel aus Kindertagen, und komischerweise kriegten immer alle Bäume Männernamen. Vielleicht, weil es „der“ Baum heißt? Fritz jedenfalls war eine Linde und sein süßer Blütenduft vermischte sich mit den übelriechenden blauen Rauchfahnen der Trabis, die diesen Sommer den Westteil der Stadt überfluteten. Schon hatte Billie wieder genug von der „frischen“ Luft und schloss das Fenster.

Sie drehte sich um, sah in den Spiegel und überlegte, was sie anziehen sollte. Was passte am besten zu ihren Dreadlocks, ihrer roten Rastamähne, mit der sie aussah wie eine wilde Wüstenkönigin. Zu dumm, dass Ilona noch nicht da war. Zu zweit machte so eine wichtige Anprobe einfach mehr Spaß. Besonders wenn man Zeit hatte, so wie jetzt.

Bald hatte Billie sowohl ihr Regal, welches sie als Schrank benutzte, als auch die fahrbare Kleiderstange durchwühlt und alles heruntergerissen, was ihr auch nur einigermaßen brauchbar erschien. Nichts, aber auch gar nichts Passendes fand sie darunter. Aber was war schon passend für ein Musical, das man nicht kannte?

Sie probierte verschiedene Kombinationen aus. Zuerst natürlich ihre Lieblingssachen. Doch die schwarze Lackhose passte nur zu den klobigen Stiefeln, war also eindeutig zu heiß im Hochsommer. Bei dem giftgrünen Overall war der Reißverschluss kaputt. Das schwarzweiße Ballerina Kleid sah plötzlich viel zu bieder aus. Und die Schuhe erst! Wenn sie damit vortanzen musste? Die Plateausohlen, die Blockabsätze. Billie raufte sich die Haare. Ach ja, die sollte sie auch waschen. Sie waren ja schließlich so etwas wie ihr Markenzeichen. Abgesehen von ihrer Stimme natürlich.

Noch einmal ließ Billie den Blick über ihre im ganzen Zimmer verstreuten Schätze schweifen, dann entschloss sie sich, unter die Dusche zu gehen. Vielleicht käme ihr dort eine Idee, hoffte sie.

Sonst fiel ihr unter der Dusche immer was ein. Nur heute nicht. Sonst inspirierte sie das rauschende Wasser zu den tollsten Texten, den irrsten Phrasen für einen neuen Song. Die besten Songs der Billie Babes waren hier unter ihrer Dusche entstanden.

Hätte sie nur mehr Zeit gehabt, dann hätte sie sich für das Vorsingen einen eigenen Song geschrieben. Und später, wenn sie dann berühmt geworden wäre, hätten alle immer diesen Song verlangt, träumte sie, während das Wasser über ihren Körper rann. Vom wilden Leben und einer wilden Liebe hätte er natürlich gehandelt, das wünschen sich nämlich alle, sogar sie selbst von Zeit zu Zeit. Mit dem Thema war man auf der sicheren Seite, und der Song wäre ein Hit geworden. Sie sah es vor sich, wie ihr Song zum weltbekannten Titelsong eines weltbekannten Musicals wurde. Im Grunde war alles ganz einfach, man muss es nur machen, dachte sie und begann wieder die Melodie von „Hey Big Shaker“ zu summen. Naja, dieser Song war auch ganz in Ordnung. Er war zwar nicht einfach zu singen, hatte aber Drive und Power, und Billie konnte sich gut in die Rolle dieser Frau hineinversetzen. Auf eine unheimlich direkte Art machte sie einen Wahnsinnskerl an. So ist’s richtig, dachte Billie, die Frau sucht sich den Typ aus, der ihr gefällt, und kommt auch gleich zum Punkt.

„I don’t light up my face for every lad I see. Hey big shaker! Shake a pretty while with me.“ – Ich lass nicht für jeden Typ, den ich sehe, mein Gesicht erstrahlen. Hey, du großes Tier, verbring eine schöne Zeit mit mir, übersetzte Billie sinngemäß. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

„Do you wanna have a little fun, I’m good to show you how it’s done.“ – Hast du Lust auf ein bisschen Spaß, ich bin gut und zeig dir was. – Der Song spielte ja eindeutig in dem Milieu, in welchem Ilona ihr Geld verdiente. Zu dumm, dass sie immer noch nicht da war. Billie horchte. Doch es war nichts. Nur ein Knacken im alten Treppenhaus.

Wenn Ilona nach Hause kam, war das nicht zu überhören. Sie gab der Haustür einen Kick mit der Ferse, mit dem Hintern oder dem Ellenbogen. Klinken schienen für sie nicht zu existieren.

An das Türknallen hatte sich Billie gewöhnt, wie Leute, die neben der Bahn wohnen, an den Zug. Ebenso an das unvermeidliche Wasserrauschen, aber dass Ilona es nicht lassen konnte in der Wanne auch noch zu singen, das war zu viel. Denn Ilona sang grundsätzlich einen halben Ton daneben, für Billies musikalisches Gehör eine der schlimmsten Foltern, da nur eine dünne Wand die Badewanne von Billies Bett trennte.

Wie in vielen Berliner Altbauten war auch hier das Bad nachträglich eingebaut worden. Das erklärte den ungünstigen Schnitt von Billies Zimmer und, dass es nur ein Fenster hatte. Das große Bett mit den sich küssenden Pfauen am Kopfende konnte nur an der Wand zum Bad stehen oder mitten im Zimmer, aber dann kam man nicht mehr daran vorbei.

Kurz entschlossen verkaufte Billie ihr weiches Bett verbilligt an Ilona, für das Versprechen nicht mehr zu singen. Sie selbst legte sich eine spartanische Futon-Matratze zu, die sich an jeder Stelle des Fußbodens ausrollen ließ. Gewöhnungsbedürftig war das am Anfang schon, aber Billie war hart im Nehmen. Und wenn Ilona nun nebenan in der Wanne planschte, mutierte für Billie der harte Futon im Halbschlaf zum schaukelnden Wasserbett.

Den Song auf den Lippen schlich sich Billie in Ilonas Zimmer. Im Gegensatz zu Billies Zimmer herrschte hier peinliche Ordnung. Ein großer schwarzweißer Pierrot aus Porzellan und seine glupschäugige Columbine sowie jede Menge kleinerer Puppen saßen auf der weißen Kommode. Darüber hing das Poster, das Billie Ilona zum Geburtstag geschenkt hatte: Marilyn Monroe mit wehendem Rock über dem U-Bahnschacht.

Die goldenen Pfauen von Billies ehemaligem Bett glänzten in der Sonne und spiegelten sich in den großflächigen Spiegeltüren der weißen Schrankwand. Der ganze Raum war hell und sonnendurchflutet. Ilona hatte eindeutig das bessere Zimmer, aber Billie war ja auch nur ihre Untermieterin, auch wenn Ilona sie ihre Freundin nannte.

Billie öffnete eine Schranktür nach der anderen. Das erste Abteil des Schrankes erwies sich als wahres Schuhparadies. Nichts anderes war hier drin, vom Boden bis zur Decke nur Schuhe. Billie probierte ein Paar giftgrüne Highheels an, Pumps mit unendlich langen, bleistiftdünnen Absätzen. Leider zu groß. Auch bei anderen Schuhen hatte sie wenig Glück. Die Stiefel, die bis zu den Oberschenkeln reichten, schlabberten an Billies schlanken Beinen. Andere ließen sich dafür nicht über ihren hohen Spann ziehen.

Die Auswahl an Kleidern im Schrankteil daneben war etwas beschränkter, dafür gab es etwas weiter Unterwäsche in allen Farben und jeder nur denkbaren Ausführung.

Billie entschied sich für einen schwarzen Straps mit roten Spitzen und Bändern und dazu passendem Mieder. Fast unanständig quoll ihr Busen aus den etwas zu kleinen Körbchen. Schön verrucht sah das aus. Madonnamäßig. Genau richtig für eine Show. Das Theater würde Augen machen, da war sich Billie sicher.

Etwas aber fehlte noch. Was nützte ein Straps ohne Strümpfe? Im Schrank fand sie jedoch keine. Billie sah sich um. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn Ilona da gewesen wäre. Vorsichtig zog sie die Schubladen der Kommode auf. Sie waren randvoll mit Strümpfen. Alle. Billie staunte. Sie zog einige aus der ersten Schublade, schwankte zwischen Netz oder Nahtstrümpfen, als ihr Blick auf den Pierrot fiel, der sie mit seinen gemalten Augen vorwurfsvoll anblickte. Sie packte die Puppe und wollte sie umgekehrt wieder hinsetzen, da fühlte sie unter seinem Kostüm etwas Hartes, Eckiges. Sie zog an der weißen Schleife, die sie für seinen Schal gehalten hatte. Ein kleiner Schlüssel kam zum Vorschein. Billie konnte nicht sagen warum, aber diese Entdeckung machte sie unendlich neugierig. Wozu gehörte der Schlüssel? Schrieb Ilona ein Tagebuch? „Die geheimen Wünsche einer ehrbaren Hure“ zum Beispiel?

Billies Blicke schweiften durch den Raum. „Wenn ich bei zwanzig was gefunden habe, darf ich mir die erste Seite anschauen“, sagte sie sich und begann zu zählen.

Bei zehn schaute sie unter die Matratze, bei vierzehn wandte sie sich wieder enttäuscht dem Schrank zu. Noch immer fehlten ihr die passenden Schuhe. Sie hob die Kartons heraus, in denen Ilona ihre alten Schuhe aufbewahrte, und wunderte sich, dass einer davon so schwer war, als lägen Steine statt Schuhe darin. Sie hob den Deckel, und unter grünem Seidenpapier kam eine Metallkassette zum Vorschein. War dafür der Schlüssel? Billie konnte nicht widerstehen.

Sie nahm dem Pierrot den Schlüssel ab und öffnete die Kassette. Fotos, nichts als Fotos. Ilona als Kind, Ilona als Schulmädchen, Ilona mit einem gutaussehenden, aber um einiges älteren Mann, offenbar an einem Nacktbadestrand in Jugoslawien. Interessant, dachte Billie, warum hat sie nie von ihm erzählt? Ihr Vater war es nicht, von dem hatte Ilona erzählt und keinen guten Faden an ihm gelassen.

Billie grub weiter und stieß einen Schrei aus. Da lag Geld! Jede Menge Geld! Braune und rote Scheine. Einige Tausender und Fünfhunderter. Ob die wohl echt waren? Dass Ilona nicht arm war, wusste Billie, denn sie kaufte sich, was immer sie wollte, wann immer sie es wollte, meistens Schuhe in den teuersten Boutiquen am Ku’damm. Dass Ilona jedoch so viel Geld besaß? Und dieses so unsicher in ihrem Schuhschrank aufbewahrte? Hat sie denn noch nie was von Einbrechern gehört? Die durchwühlen doch alles! Besonders Schränke und Schubladen. Das muss ich ihr unbedingt sagen, dachte Billie. Doch nein, das ging ja gar nicht. Sie wusste ja offiziell nichts von dem Geld.

Schnell legte Billie alles zurück. Darüber faltete sie das Seidenpapier, so ordentlich sie es konnte. Ilona konnte bald kommen. Sie wollte nicht, dass Ilona denken würde, sie schnüffle ihr hinterher. Ilonas Geld interessierte sie eigentlich nicht, und sie hatte ein richtig schlechtes Gewissen. Man wühlt nicht in anderer Leute Sachen! Ilona arbeitete hart genug dafür, und Billie ging das alles nichts an, sie konnte froh sein, dass Ilona ihr ab und zu mit Geld aushalf. Sie sollte nicht sehen, dass sie hier herumgestöbert hatte.

Es war schwer, so ordentlich wie Ilona zu sein, aber schließlich schaffte Billie es doch, und man sah dem Schrank nichts mehr an. Gerade noch rechtzeitig.

Mit einem Knall fiel die Tür ins Schloss. Schnell rannte Billie zur Kommode und steckte dem Pierrot den Schlüssel wieder unter sein Kostüm. Sie sah sich um. Bis auf die Schubladen war alles in Ordnung. Sie schob sie zu und klemmte sich bei der zweiten den Finger. Die Kante erwischte voll die Nagelhaut.

Verdammt, tat das weh. Billie wollte laut aufschreien, stoppte sich und sog zischend die Luft ein. Sie steckte sich den Finger in den Mund um den Schmerz wegzusaugen und ging Ilona entgegen

„Leihst du mir die?“ nuschelte Billie und schwenkte die Netzstrümpfe.

Blitzschnell hatte sie sich dafür entschieden, Ilona ganz offiziell um die Wäsche zu bitten. Denn obwohl Ilona immer sagte, Billie dürfe selbstverständlich alles, was ihr gehöre, benutzen, und bei Billies Sachen dasselbe für sich in Anspruch nahm, reagierte sie von Zeit zu Zeit merkwürdig misstrauisch. Jetzt wusste Billie auch warum. Die Kassette im Schuhschrank! Sie blickte an sich hinunter. Sie war barfuß. Den Schuhschrank hatte sie so ordentlich aufgeräumt, dass er aussah, als habe ihn nie jemand anderer als Ilona geöffnet. Sie würde also nicht auf die Idee kommen, dass Billie von der Kassette wusste. Billie nahm sich vor, dieses Ding so schnell wie möglich zu vergessen. Alles was sie von Ilona wollte, waren ein paar gute Klamotten für die Audition im Theater.

Ilona schälte sich aus ihrem knallroten Lackmantel und ließ ihn achtlos fallen. Wie ein blutiger Fleck lag er auf dem weißen Boden. Ilona sah Billie nicht einmal richtig an, sondern betrachtete nur seufzend ihre geschwollenen Füße neben den ausgezogenen Stöckelschuhen und ging gleich ins Bad.

„Du trägst zu enge Schuhe!“ rief Billie ihr nach, blickte auf den Lackmantel und die ebenfalls roten Schuhe und dachte: Genau das, was mir noch fehlt!

Ilona war schon im Bad verschwunden und ließ das Wasser in die Wanne blubbern. Billie entschloss sich zum Angriff. Sie stürmte das Bad und gab „Hey Big Shaker“ zum Besten.

„Wie findest du mich?“ fragte sie, als der letzte Ton verklungen war.

Obwohl Ilona zwischendurch gelacht hatte, sagte sie keinen Ton. Sie saß auf dem Wannenrand, die Füße im Wasser, und überlegte sich wohl ihre Kritik. Plötzlich kickte sie mit einem gezielten Schuss ein Bällchen Pfirsichschaum auf Billies prallen Busen.

„Willst du jetzt auch auf den Strich gehen?“

„Nee, aber in dem Song, den ich dir gerade vorgesungen habe, da geht’s irgendwie genau darum.“

„Ist nicht zu überhören! Wenn du ‚how’s about us’ so ordinär sagst, kriegst du keinen Kunden ab“, belehrte sie Ilona. „Die Freier wollen die Illusion der Liebe, kapiert? Du musst das so sagen: Pass auf!“ Ilona schürzte ihre schmalen Lippen zum Schmollmund, lächelte zuckersüß und klimperte mit den falschen Wimpern. „Siehst du, so! Und jetzt: Wie wär’s denn mit uns zwei Hübschen?“ hauchte Ilona sinnlich.

„Ja“, sagte Billie trocken. Ihr war nämlich bei Ilonas Demonstration aufgefallen, dass sie ganz vergessen hatte, sich zu schminken. Sie kramte in der großen Schachtel, in der sie beide ihre überflüssigen Schminkutensilien aufbewahrten, und klebte sich falsche Wimpern an. Den Schmollmund brauchte sie nicht zu malen, sie hatte volle Lippen und große dunkle Augen, die sehnsüchtig blicken konnten, das musste nur etwas verstärkt werden.

Inzwischen hielt ihr Ilona nicht ohne Stolz einen Vortrag, als wolle Billie statt zum Theater ins horizontale Gewerbe einsteigen.

„Ist doch alles nur fürs Theater“, sagte Billie.

„Auch im Theater muss es echt sein, sonst laufen die Leute weg. Da ist jedes Geschäft gleich. Wenn die Leute bezahlen, wollen sie auch was dafür haben.“

„Da zahlt aber keiner was, das ist ein Vorsingen. Und ‚Big Shaker’ ist aus einem Musical über eine kleine Hure, die Quicky Darlin‘ heißt.“

„Die wollen ein Huren-Musical aufführen? Warum nehmen sie da nicht echte Profis! Oder lassen sich wenigstens beraten. So wie beim Film.“ Ilona ließ sich in die Wanne gleiten.

„Ich werde dich als Fachberaterin vorschlagen!“ feixte Billie, Ilonas Vortrag noch im Ohr.

„Bloß nicht! Sonst stehe ich noch in der Zeitung. Und wie stehe ich denn dann da? Vor meiner Familie. Die haben doch alle keine Ahnung.“

„Jedenfalls kannst du mir gleich die Daumen drücken!“ Billie ging den Artikel holen.

„Ach, das schaffst du schon. Bei deinem Talent!“ rief Ilona durch die dünne Wand, und Billie verstand jedes Wort in ihrem Zimmer

„Dann leihst du mir also deine Sachen?“ fragte Billie durch die Wand zurück.

„Soll das heißen, die Klamotten sind von mir?“ Ilonas Stimme bekam plötzlich einen argwöhnischen Unterton. „Warst du in meinem Zimmer? An meinem Schrank?“

„Nur ganz kurz! Du warst ja nicht da, sonst hätte ich dich natürlich vorher gefragt. Also leihst du es mir jetzt?“

Endlich fand Billie den Artikel unter ihren ganzen Kleidern.

„Weißt du eigentlich, wieviel du mir noch schuldest?“ tönte es wieder durch die Wand.

„Dann macht doch das bisschen Wäsche auch nichts mehr! Und überhaupt, wenn du mir das auch noch dazu leihst ...“ Sie hob den Lackmantel auf, schlüpfte in die roten Schuhe mit den Bleistiftabsätzen und ging wieder ins Bad. „Dann werde ich mir damit die Hauptrolle ersingen, und dann kann ich dir alles zurückzahlen!“

„Und wenn nicht, guck’ ich wohl auf ewig in die Röhre, du kleine Erpresserin?“

„Puhh! Ist das heiß, in dem Ding.“ Billie zog den Mantel wieder aus.

„Steht dir! Musst nur ein bisschen offenlassen, damit machst du die Jungs richtig scharf!“

Billie lachte und reichte Ilona den Artikel. „Jedenfalls ist es das Richtige für den ‚Big Shaker’!“

„Zehn Uhr“, las Ilona. „Na, dann aber los! Warum bist du noch nicht dort“, rief sie schon wieder versöhnt. „Nimm alles, was du brauchst, das ist deine Chance! Aber eines musst du mir versprechen, wenn du so berühmt bist, wie die Dietrich, dann nimmst du nur mich als Managerin. Ich verstehe was vom Geschäft! Und bis dahin werde ich alle Zeitungsartikel über dich ausschneiden und in ein Album kleben!“

Das war typisch Ilona, im einen Moment war sie total sauer und im nächsten die beste Freundin der Welt.

Billie küsste Ilona auf die Stirn: „Ich bin schon weg!“

Auf dem Weg zur U-Bahn kam Billie an ihrem Dönerstand vorbei. Mehmet starrte ihr mit offenem Mund nach, als er sie in Netzstrümpfen und dem roten Lackmantel sah.

Was würde der erst für Augen machen, wenn er sehen würde, was sie darunter trug. Wahrscheinlich würde sie in Zukunft die Döner für ihre Katzen umsonst kriegen.

Sie liebte die wilden, verwilderten Katzen vom Gleisdreieck, fühlte sich ihnen verwandt. Immer wenn sie Geld hatte, kaufte sie zwei Döner. Einen mit Knoblauchsoße für sich und einen ohne alles für die Katzen. Ihre Geisterkatzen. Die nannte sie so, weil man sie mit etwas Fressen herbeizaubern konnte. Ansonsten blieben sie unsichtbar. Wie auch die anderen Tiere, die angeblich hier in dem verwahrlosten Brachland zwischen den verrosteten Gleisen lebten: Füchse und Dachse, Schlangen und seltene Vögel, sogar Waschbären sollte es hier geben. Billie hatte allerdings noch nie etwas anderes als Katzen gesehen. Das Gleisdreieck gehörte zur S-Bahn und die wiederum zur Reichsbahn, also zum Osten. Die meisten Gleise waren stillgelegt und von Unkraut, kniehohem Gras und dornigem Gebüsch überwuchert. Niemand kümmerte sich darum, wie es hier aussah. Doch das würde nun, nach dem Mauerfall, vielleicht anders werden. Arme Katzen. Solange sie noch konnte, würde Billie ihnen jedenfalls einen Döner ins Gebüsch werfen. Jetzt aber hatte sie keine Zeit, und sie schwor, falls sie die Rolle kriegte, den Katzen jeden Tag zwei Döner zu stiften. Es ist nur gerecht, dass man etwas abgibt, wenn man Erfolg hat, dachte sie.

Seit die Mauer offen war, war die U-Bahn ständig überfüllt. Daran hatte Billie sich gewöhnt. Aber so schlimm wie heute war es seit Wochen nicht mehr gewesen. So voll, dass die Tür kaum aufging, als Billie sie temperamentvoll aufriss. Doch auch, als sie weit offenstand, nützte das nicht viel. Die Mauer aus Menschen, die ihr den Rücken zudrehten oder über sie hinwegschauten, als wäre sie Luft, rückte keinen Zentimeter.

Billie rannte ein Stück weiter. Aber auch in den anderen Waggons sah es nicht viel besser aus. Und niemand stieg hier aus. Die Bahn kam vom Schlesischen Tor, dort hinten war ein neuer Übergang zwischen Ost und West. Und die Linie Sechs, die aus Berlin Mitte, also ebenfalls aus dem Osten kam, kreuzte eine Station zuvor die Eins, mit der Billie in die Stadt wollte. Die Stadt, das war immer noch Westberlin, rund um den Ku’damm herum.

Die auf dem Bahnsteig Wartenden wurden ungeduldig und schimpften: „Na wat is’ nu’ wieder?“ „Übernachten woll’n wir ja wohl nich’ hier!“ Jeder wusste, dass gleich das tyrannische „Zurückbleiben“ aus dem Kabäuschen schallen würde, und dann war der Zug abgefahren.

Entschlossen schob ein türkischer Familienvater, der hinter Billie stand, kräftig nach und drückte Billie, sich und seine zwei Sprösslinge in den Wagen.

Kaum aus der Station heraus, heizte die Sonne den Waggon richtig auf. Die U-Bahn war hier noch Hochbahn und die Luft im Zug zum Schneiden. Der Fahrtwind, der durch die schrägen Klappen hereinkam, erreichte nur die Köpfe der Größten. Dazu zählte Billie mit ihren Einmeterachtundsechzig nicht.

Eingekeilt in der schwitzenden, nach billigem Deodorant und Rasierwasser riechenden Menge, war Billie fast dankbar für die kühle, silberne Stange, an die ihre Wange gequetscht wurde.

Die Bahn hatte gerade das Gleisdreieck passiert, eine Station an der selten jemand einstieg, und donnerte nun nach unten in ein Haus hinein, hinab in den Untergrund.

Billie hatte das Verschwinden der Bahn in diesem Haus immer fasziniert, und sie stellte sich oft vor, wie es wohl wäre, in dem Haus zu wohnen. Diesmal hoffte sie jedoch nur, dass es hier unten endlich kühler würde. Was auch bitter notwendig war, denn unter ihrem dichten Haar sammelten sich schon wieder die ersten Schweißperlen. Eine der angeklebten Wimpern löste sich bereits. Billie konnte gerade noch verhindern, dass sie zu Boden fiel. Die hätte sie niemals wiedergekriegt, denn bücken war in dieser Sardinenbüchse nicht drin. Als die Station Wittenbergplatz sichtbar wurde, drängelte Billie zur Tür und ließ sich mit hinausschwemmen, um in der luxuriösen Toilette des KaDeWe die Wimper wieder anzukleben.

Schon als sie die Treppe hinauflief, verfluchte sie ihre Idee. Als sie dann die Tauentzienstraße überqueren wollte, verfluchte sie sie noch mehr. Auch hier drängten sich die Leute. Papa, Mama, Kind und Kegel. Am schlimmsten klumpten sie sich vor dem Haupteingang des KaDeWe. Es schien, als sei die gesamte DDR aufgebrochen, um sich im Kaufhaus des Westens zu amüsieren. Da war kein Platz mehr für Billie und ihre falsche Wimper.

Doch nicht nur dort, vor jedem verfügbaren Geschäft drängten sich die Massen. Billie musste sich wohl oder übel mit dem Strom treiben lassen. Es war ein einziges Gedränge und Geschiebe in Richtung Ku’damm. Am Europacenter kam das Ganze ins Stocken. Beziehungsweise, es entstanden Wirbel, weil die Leute nun in verschiedene Richtungen drängten.

Was wollen die heute bloß alle hier, fragte sich Billie. Die Mauer kann doch nicht ein zweites Mal gefallen sein? An der Sprache und der Wortwahl erkannte sie, dass alle um sie herum aus dem Osten sein müssten. Im Übrigen war sie die Einzige, die keine Plastiktüte in der Hand hatte.

Zurück konnte sie nicht mehr, es war unmöglich gegen den Menschenstrom anzukommen. Die Passage durch das Europacenter zu nehmen, war ebenso unmöglich, weil völlig verstopft. Auch der Versuch, sich an den Schaufenstern entlangzudrücken, scheiterte. Zu viele Leute standen davor und beratschlagten, was sie kaufen sollten. Billie hatte keine andere Wahl, als es quer über den Platz zu versuchen und im Bahnhof Zoo wieder in den Untergrund zu tauchen.

Inzwischen wusste sie, warum Ilona die Füße weh taten. Selbst ihr waren diese Schuhe zu eng, und sie hatte kleinere Füße. Die Absätze waren viel zu dünn und viel zu hoch. Dauernd blieb sie hängen, trat in ein Loch, knickte um. Eisern kämpfte sie sich bis zum Bahnhof Zoo durch.

Am Eingang geriet sie in den Sog der Menge, der sie bis vor die Bahnhofstoilette spülte. Zunächst sah Billie nur eine lange Schlange Frauen. Die meisten traten pausenlos von einem Bein aufs andere. Vorne teilte sich die Schlange, an jeder Toilettentür klopfte oder rüttelte eine ungeduldige Frau. Billie wollte schon umkehren, da entdeckte sie, dass die Spiegelfront leer war. Erleichtert klebte sie die Wimper wieder an, zog sich mit dem blutroten Lippenstift, den sie Ilona entführt hatte, die Lippen nach und hauchte ihrem sexy Spiegelbild einen Kuss zu.

Plötzlich ging neben ihr eine wahre Heulboje los. Überrascht blickte Billie zur Seite. Ein Becken weiter wurde ein etwa fünfjähriges Mädchen zum Händewaschen gezwungen.

Eine stämmige Frau mit dicken Oberarmen hatte schon das Wasser aufgedreht und hob das Kind unbarmherzig in die Höhe. Es schrie wie am Spieß. Strampelte und stampfte mit den kurzen Beinen, ruderte mit den Armen und spritzte alles um sich herum nass. Auch Billie bekam ihren Teil ab. Zum Glück hatte sie einen Lackmantel an, den sie nur abzuwischen brauchte. Die Kleine tat Billie echt leid, sie hatte keine Chance gegen die dicke Mutter. Mit ihrer alles verdrängenden Masse presste sie das Kind gegen das Waschbecken und zwang es, die kleinen Händchen unters kalte Wasser zu halten.

Diese Zwangssäuberung, grässlich! Zum ersten Mal war Billie froh, in Marion eine Mutter gehabt zu haben, die sich um ihren Dreck wenig gekümmert hatte. Sie floh aus dem gekachelten Raum, in dem das Gebrüll des Kindes vielfach verstärkt widerhallte.

Die Bahnhofshalle war brechend voll. Und es schien, als kämen immer neue Leute hinzu. Das war selbst für einen langen Samstag zu viel.

Es war schon zwanzig vor zehn. Erschrocken blieb Billie stehen, als ihr Blick auf die große Bahnhofsuhr fiel. Von allen Seiten wurde sie geschoben und geschubst. Ein Mann in einer nagelneuen Jeansjacke lief auf sie auf.

„’tschuldigung“, murmelte er und versuchte sich an ihr vorbeizudrücken.

„Haben Sie eine Uhr? Ist es wirklich schon zwanzig vor zehn?“

„Bahnhofsuhren gehen immer richtig!“ Er zeigte andeutungsweise zur großen Uhr über ihnen und zwängte sich weiter durch die Menge.

Am liebsten wäre Billie losgerannt, doch genau das war unmöglich in dem dichten Gedränge. Zum Glück entdeckte sie ganz in ihrer Nähe den Aufzug. Offenbar misstrauten ihm die Leute. Wenn sie Pech hatte, war er außer Betrieb. Doch sie hatte Glück. Auch mit der U-Bahn. Sie fuhr ein, kaum war Billie aus dem Aufzug gestiegen. Und überfüllt war die Bahn auch nicht. Billie eroberte sich einen Sitzplatz und konnte für einen Moment die engen Schuhe loswerden. Aus reiner Gewohnheit las sie die Rückseite der Zeitung, die ihr Gegenüber aufgeschlagen hatte: „Rekordumsätze erwartet! Erstes verkaufsoffenes Wochenende nach der Währungseinheit!“

Einheit! Jetzt fing es also an, ernst zu werden. Berlin im Vereinigungsfieber. Der Rhythmus dieser Stadt schlug jetzt noch schneller als anderswo in Deutschland und jagte die Massen über die breiten Boulevards, die einem plötzlich eng vorkamen.

Billie dachte an Sylvester, da hatte sie sich auch durchs Brandenburger Tor treiben lassen. Das war aber auch das einzige Mal gewesen, dass sie im Osten war. Es interessierte sie weiter nicht. Was sollte sie dort, sie kannte ja niemanden drüben.

Turmstraße, endlich. Hier musste sie raus. Sie sprang aus der U-Bahn und sah auf die Uhr über dem Kabäuschen.

Noch fünf Minuten. Wie sollte sie das schaffen?

Sie rannte zum Ausgang. Stand vor einer steilen Rolltreppe, die so lang war, dass ihr Ende von hier aus kaum zu sehen war. Sie musste warten, bis die Leute sich eingefädelt hatten. Niemand ließ sie vor.

Billie seufzte. Sollte sie die normale Treppe nehmen? Nein, nicht mit diesen Schuhen!

„Links gehen, rechts stehen.“ Billie passierte das Schild am Anfang der Rolltreppe. Endlich ging es aufwärts. Alle standen, außer Billie. Sie rannte. Bis sie gestoppt wurde. Durch Tüten, Taschen, Koffer, die links abgestellt waren. Oder von Pärchen, die die ganze Stufe in Anspruch nahmen.

„Kann ich vielleicht mal vorbei!“

Billie störte den Kuss eines langhaarigen Blonden und seiner stoppelhaarigen Freundin. Unter anderen Umständen hätte sie natürlich gewartet, sie sah ja ein, dass die Dauer der Fahrt auf der längsten Rolltreppe Berlins zum Endloskuss reizte. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht selbst gern geküsst. Fragte sich nur, wen? Zurzeit war sie solo. Ihre Liebe gehörte ganz der Musik. Billie musste über sich selber lachen, als sie diesen Satz dachte. Er klang so anständig, nach Hausmusik, Geige und Bratsche und nicht nach schweren Bässen, harten Drums und House, ein Musikstil, den die Billie Babes richtig gut draufhatten.

Drei Stufen weiter wurde sie wieder gestoppt. Diesmal blieb sie mit dem Absatz in der Rille hängen. Hätte ich doch bloß Turnschuhe angezogen, dachte Billie. Sie versuchte den Schuh herauszuziehen. Vergebens. Der Absatz steckte richtig fest. Sie bückte sich, zog den Schuh aus und riss ihn aus der Rille. Die Freiheit tat ihrem Fuß so wohl, dass sie gleich auch noch den anderen Schuh auszog. Sie schaute auf. Vor ihr stand eine Frau mit einem Kinderwagen. Mit einer unglaublichen Langsamkeit bewegte sich die Treppe nach oben, quietschte und ächzte und wollte einfach kein Ende nehmen. Ob sie nun rannte oder nicht, Leute aus dem Weg scheuchte oder nicht, sie würde zu spät kommen, soviel war sicher.

Wie ein hektisch hin und her tanzendes Glühwürmchen wirkte Billies knallroter Mantel zwischen all den Passanten, die aus dem U-Bahn-Schacht quollen.

Sie überholte mal links, mal rechts. Nutzte jede Lücke. Doch kaum hatte sie den einen Rücken hinter sich gelassen, sah sie einen neuen vor sich auftauchen. Oben angelangt, wurde es nicht besser. Die Fußgängerampel verursachte einen Fußgängerstau. Kurz entschlossen sprang Billie über die Kette, um ohne Ampel die Straße zu überqueren, und blieb dann doch wie vom Blitz getroffen stehen.

Plötzlich war alles, was eben noch so wichtig war, wie weggeblasen. Vor ihr stand ein kleiner, feuerroter, japanischer Sportwagen. Hingerissen starrte sie das Cabrio an. „Zu verkaufen“ las sie auf dem Schild im Fenster. Lieber nicht auf den Preis schauen, sagte sich Billie, kannst du dir doch nicht leisten. Und die fünfstellige Summe bestätigte es.

Sie drehte sich um und wollte weiter, da versperrte ihr ein aus dem Nichts aufgetauchter, hagerer Mann den Weg. Auf eine merkwürdige Art schob er beim Gehen die Hüfte vor, wahrscheinlich hinkte er. Das längere Ende seines ungleich geschnittenen Schnurrbarts war in seinem Mundwinkel verschwunden und er kaute darauf herum, als sei es ein Kaugummi. Spöttisch blickte er auf die roten Schuhe in ihrer Hand. Nicht unbedingt sympathisch, der Typ, dachte Billie.

Mit einer einladenden Geste deutete er auf das Cabrio und grinste sie mit hungrigem Blick an: „Wie wär’s, schöne Frau?“

„Ich hab’ leider keine Zeit!“ antwortete sie schnell und wollte an ihm vorbei.

Er rührte sich keinen Zentimeter.

„Ich muss ...“ Nein, dachte Billie und stoppte sich, was geht den mein Vorsingen an. „Ich hab’ ein Angebot, da muss ich jetzt zugreifen!“

„Hier können Sie das auch, schöne Frau“, nuschelte er, wobei das Schnurrbartende in seinem Mundwinkel klebenblieb. Mit der flachen Hand klopfte er leicht auf die Haube des Cabrios.

„Echt Spitze, die Kiste!“ bestätigte ihm Billie. „Aber die Karriere geht nun mal vor ...“

„Logisch, die Karriere bringt die Kohle für die Kiste“, unterbrach er sie. „Da muss man fix sein. Und der Manne macht’s möglich. Steigen Sie ein. Und ab geht die Post.“

Was will der bloß von mir, fragte sich Billie und log: „Danke. Ich bin praktisch schon da.“

Sie zeigte vage auf die andere Straßenseite, obwohl das Theater noch eine ganze Straße weiter entfernt lag und die Vorstellung, mit dem Flitzer dort vorzufahren, bestechend war. Allerdings nur, wenn sie selbst am Steuer säße. Aber das würde dieser Schnurrbart bestimmt nicht zulassen. Billie kannte solche Typen, die versprachen immer alles und hielten nichts.

„Man hofft, man sieht sich wieder, schöne Frau.“ Wie eine Feder schnellte das Ende des Schnurrbarts aus Mannes Mundwinkel. Er grinste breit und trat zuvorkommend einen Schritt beiseite. Hübsch, die Kleine, dachte er, warum die sich nur immer so verunstalten? Da eifern sie Madonna nach und merken nicht, dass sie aussehen wie billige Nutten.

Schon von weitem sah Billie den Haupteingang des Theaters und setzte zum Endspurt an. Außer Atem kam sie dort an und wollte mit einem Griff die Tür aufreißen. Sie war zu. Auch die nächste war geschlossen. Alles war zu, stellte Billie verblüfft fest, und sie war ausgesperrt. Hätte sie sich doch bloß von diesem Manne fahren lassen, vielleicht wäre sie dann noch rechtzeitig gewesen. Sie wollte schon aufgeben und umdrehen, da sah sie ein verblichenes schwarzes Schild mit einem weißen Pfeil „Pforte“.

Billie folgte dem Pfeil durch einen Hinterhof und kam zu einer kleinen Tür, an der ein ebenso altes Schild hing. „Bühneneingang“. Sie atmete auf. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Wenn die Billie Babes ein Konzert gaben, marschierten sie ja schließlich auch nicht durch den Haupteingang zum Auftritt.

Das ganze Theater war still und ausgestorben. Billie lauschte. Merkwürdig, hier sollte ein Vorsingen stattfinden? Davon müsste doch etwas zu hören sein?

Rechts neben der Tür sah sie in das Fenster einer Pförtnerloge. Sie war leer. Billie zog den Artikel aus der Tasche und vergewisserte sich. Jetzt konnte sie nur noch im falschen Theater sein. Aber nein. Die Uhr über dem schwarzen Brett zeigte fünf vor halb elf und darunter stand „Kammerspiele Probenpläne“. Sie war also richtig. Sie ging auf das schwarze Brett zu, das tatsächlich schwarz war. Ein mit schwarzem Stoff bespanntes Styroporbrett, das abgewetzte weiße Ecken hatte. Billie ging näher und sah sich die Probenpläne an, vielleicht stand da ja was.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“ fragte barsch die heisere Stimme eines starken Rauchers. „Wie sind Sie hier reingekommen?“