Bin ich schon erleuchtet? - Suzanne Morrison - E-Book

Bin ich schon erleuchtet? E-Book

Suzanne Morrison

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Beschreibung

Eine junge Frau am Rande der Selbstverwirklichung Suzanne, eine junge New Yorkerin (leicht verrückt-depressive, alkoholtrinkende und rauchende Schauspielerin) reist für zwei Monate zu ihrer Yoga-Lehrerin nach Bali auf der Suche nach der Glückseligkeit. Aber die Lehrerin entpuppt sich als nicht tauglich und Suzanne muss zwei Monate mit Tofu, ungesalzenem Gemüse und zwei Dutzend Yogis verbringen, die Eigenurin trinken, um sich vor Parasiten zu schützen - und das alles vor der malerischen Kulisse Balis. Wird Suzanne sich finden? Oder wird ihre dunkle (städtisch, weltliche) Seite die Oberhand behalten? »Zum Brüllen komisch und rührend romantisch – Suzanne Morrisons Suche nach dem Sinn des Lebens ist ein wunderbares Leseerlebnis.« Seattle Weekly »Bringt den Pfad der Erleuchtung erfrischend ehrlich und humorvoll zurück auf die Erde.« Kirkus Review

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Seitenzahl: 433

Veröffentlichungsjahr: 2013

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… und ehe Kitty sich noch recht besinnen konnte, fühlte sie, daß sie nicht nur in Annas Bann geraten war, sondern sich auch in sie verliebt hatte, wie sich eben junge Mädchen in verheiratete Frauen, die etwas älter sind als sie, zu verlieben fähig sind.

Leo Tolstoi, Anna Karenina

Heute hat mich eine Yoga-Lehrerin, die wie eine Kreuzung aus Telefonsexdame und Poetry-Slam-Teilnehmerin redete, ganz aus der Fassung gebracht. Am Anfang der Stunde sollten wir uns vorstellen, dass wir auf einer Wolke schweben. Originalton: »Ihr ööö-ffnet euer Herz dieser Wolke, ihr schwebt, ihr erblüht und stimmt euch ein, ihr schwindet dahin, yeah, ihr schwindet dahin.«

Ich zog kurz in Erwägung, der Lehrerin den Yoga-Finger zu zeigen und mich zu verdrücken. Ich praktiziere jetzt seit gut zehn Jahren Yoga und bin mit vierunddreißig zu alt für diesen erleuchteten Schwachsinn. Für mich klingt »auf einer Wolke schweben« nicht gerade nach einer angenehmen spirituellen Erfahrung, sondern nach dem, was du zu erleben glaubst, wenn du im LSD-Rausch aus dem Flugzeug fällst. Aber ich blendete ihre honigsüße, tiefenentspannte Stimme aus und meditierte kurz darauf tatsächlich. Natürlich darüber, wie ich dieser Yoga-Lehrerin eins über die Rübe gebe, aber immerhin.

Am Ende des Kurses sollten wir in ihren Gesang einstimmen: gate, gate, paragate, parasamgate … Das, erklärte sie uns ohne dieses Yoga-Gesäusel in der Stimme, bedeute: gegangen, gegangen, weiter gegangen, ins Verborgene gegangen. Sie war jung, eine echte kleine Zuckerschnecke in ihrem schwarzgrauen Outfit. Ungefähr fünfundzwanzig. Vielleicht auch jünger. Ihre Großmutter sei kürzlich gestorben, erzählte sie, und sie hätte gerne, dass wir für sie und all die lieben Menschen chanten, die schon von uns gegangen sind. In diesem Moment verzieh ich ihr alles, ich hätte ihr am liebsten den Pullover zugeknöpft und eine Tasse Kakao gekocht. Ich sang gegangen, gegangen, weiter gegangen für ihre Lieben und für meine und für die Fünfundzwanzigjährige, die ich einmal war.

 

Als ich fünfundzwanzig wurde, lag der 11. September gerade gut einen Monat zurück, und man hörte immer und überall von Menschen, die von uns gegangen waren. Ich hatte drei Jobs, weil ich für meinen Umzug von Seattle nach New York sparte, und ganz gleich, wo ich war, in der Anwaltskanzlei, im Pub oder bei meinen Großeltern, um deren Rechnungen ich mich kümmerte – immer liefen die Nachrichten und immer waren sie schlecht. So viele Leute suchten nach den Überresten der Menschen, die sie liebten. So viele Bilder von Flugzeugen, die in Türme krachen, von Rauch und Asche.

Vorher hatte ich nie wirklich Angst vor dem Tod gehabt. Ich dachte, ich hätte das alles mit siebzehn für mich geklärt. Da war ich nämlich zu dem Schluss gekommen, dass man, solange man authentisch lebt, ohne Angst und Bedauern stirbt. Als Teenager schien mir alles so einfach: Wenn ich so lebte, wie mein authentisches Selbst es verlangte, dann konnte ich auf den Tod neugierig sein – er wäre ein weiteres Abenteuer, das ich zu meinen eigenen Bedingungen erleben würde.

Religion war meiner Meinung nach hinderlich für ein authentisches Leben, besonders wenn man sich nur aus einem Grund der katholischen Kirche anschließt – damit einem die eigene Mutter nicht für den Rest des Lebens den Stinkefinger zeigt. Und so verkündete ich meiner Mutter mit siebzehn, ich würde mich nicht firmen lassen. Kierkegaard habe schließlich gesagt, jeder müsse zu seinem eigenen Glauben finden, und den hätte ich nicht gefunden – und sie könne mich nicht dazu zwingen.

Das war alles schön und gut für einen Teenie, der sich insgeheim für unsterblich hielt, wie meine zahllosen Strafzettel für zu schnelles Fahren bewiesen. Aber mit fünfundzwanzig kam mir die Idee vom Tod als Abenteuer idiotisch vor. Kaltschnäuzig, herzlos und vor allem unbedarft. Der Tod war kein Abenteuer; er war ein nahes und immer gegenwärtiges Nichts. Er war der Grund, weshalb mir die Kehle eng wurde, wenn ich sah, wie mein Großvater aus seinem Stuhl aufzustehen versuchte. Er war der Grund, weshalb wir alle bei den Nachrichten die Hände vor das Gesicht schlugen.

Ich hatte vor kurzem das College abgeschlossen, nachdem ich erst mit einundzwanzig mit dem Studium angefangen hatte, weil ich nach der Schule meinem authentischen Selbst nach Europa folgen wollte. Jetzt war für den nächsten Sommer der Umzug nach New York geplant. Schon vor den Angriffen auf Manhattan hatte mich der Gedanke an New York nervös gemacht; nach ihnen erschien mir das, was eigentlich ein schwieriger, aber notwendiger Übergangsritus sein sollte, eher wie ein Flirt mit dem Tod.

Wohin ich auch blickte, überall war Tod. Mein Umzug nach New York war der Tod meines Lebens in Seattle im Kreis meiner Familie und meiner Freunde. In Anbetracht der prekären Sicherheitslage in unserem Land bedeutete ein Umzug womöglich, dass man sich nie wiedersah. Ich weiß noch, dass ich überlegte, wie lange ich wohl zu Fuß von New York nach Hause unterwegs wäre, wenn der Weltuntergang kam. Ganz schön lange. Das machte mir Kummer.

Doch selbst wenn ich mir den Kopf nicht mit paranoiden postapokalyptischen Phantasien zumüllte, war der Tod mir auf den Fersen. In New York wollten mein Freund Jonah und ich zusammenziehen, und ich wusste, was das bedeutete: Heirat, und nach der Heirat Babys. Und nach Babys kommt nur noch eins. Der Tod.

Andauernd kriegte ich Krebs. Gehirntumore, Magenkrebs, Knochenkrebs. Selbst das Nägelschneiden erinnerte mich an das Vergehen der Zeit und das Heranrücken des Todes. Jede Woche lagen diese kleinen Bumerangs aus verbrauchtem Leben im Waschbecken.

Ich maß meine Lebenszeit an meinen abgeschnittenen Fußnägeln.

»Hör auf, so zu denken«, sagte meine Schwester.

»Kann ich nicht.«

»Versuch’s. Du hast es nicht mal versucht.«

Meine Schwester Jill war schon immer die Klügste und Vernünftigste von uns vier Geschwistern gewesen. Aber sie konnte mir damals nicht beibringen, wie man im Angesicht des Todes weiterlebt. Indra konnte es.

 

Indra war eine Frau, eine Yoga-Lehrerin, eine Göttin. Indra brachte mir bei, auf dem Kopf zu stehen und mit dem Rauchen aufzuhören, und hob mich dann aus meinem jüdisch-christlichen Kontinent heraus, schickte mich per Flugzeug viele Kilometer weit über den gleichgültigen Ozean und setzte mich zeitgleich mit dem Beginn des Kriegs gegen den Terrorismus auf einer von Hindus bewohnten Insel mitten in einem muslimischen Archipel ab. Indra war meine erste Yoga-Lehrerin, und ich liebte sie. Ich liebte sie mit der Ambivalenz, die ich sonst nur bei Gott – und sämtlichen von mir abservierten Exfreunden – erlebte.

Indra führte mich an das Konzept der Einheit heran. Darum geht es im Hatha-Yoga: Man vereint Körper und Geist, Männliches und Weibliches, und vor allem das individuelle Selbst mit dem unteilbaren Selbst, das manche Gott nennen.

Mit siebzehn war ich stolz darauf, dass ich mich von der katholischen Kirche nicht hatte firmen lassen. Ich ging davon aus, dass alle, denen ich davon erzählte – alle vernunftbegabten Menschen dieser Welt, die nicht meine Freak-DNA hatten –, mir zustimmen würden. Ich hatte recht. Die meisten von ihnen, vor allem meine Künstlerfreunde, waren meiner Meinung. Aber meine Schauspiellehrerin sagte etwas, das ich nie vergessen habe. Sie hörte sich nach der Probe geduldig und leise lächelnd an, wie ich mit meinem fehlenden Glauben protzte. Dann sagte sie: »Es ist okay, dich von der Kirche loszusagen, wenn du jung bist. Du wirst zurückkommen, sobald jemand stirbt.«

Und es starben Menschen. Als hätte meine Schauspiellehrerin in der Kristallkugel aus der Requisite in die Zukunft geblickt, stapelten sich kurz darauf spirituelle Erfahrungsberichte auf dem Fußboden neben meinem Bett. Ich verriet niemandem, was ich las. Und auf keinen Fall hätte ich zugegeben, dass ich diese Bücher las, weil ich Gott zu finden hoffte. Ich hätte erklärt, es handele sich im Grunde um fiktionale Werke, Erlösungsgeschichten im Stil unterschiedlicher Epochen und Länder. Ich hätte nie zugegeben, dass ich sie las, weil ich das befreite Aufatmen brauchte, wenn ein Erzähler nach dem anderen aus seinem Jammertal errettet wurde.

Vielleicht hat mich das zu Indra geführt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich im Herbst 2001 eines Abends in meinen ersten richtigen Yoga-Kurs spazierte. Ich hatte im Schauspielunterricht und in dem Fitnesscenter, in dem meine Schwester arbeitete, ab und zu Yoga gemacht und kannte die Körperhaltungen schon. Yoga-Übungen hatten mich nie besonders interessiert, aber jetzt pilgerte ich in dieses Studio, als hätte ich wie der heilige Augustinus den ganzen Tag weinend im Garten verbracht und nur darauf gewartet, dass eine körperlose Stimme mir vorsang: Schwing endlich deinen Hintern vom Liegestuhl und schwitz um des lieben Herrgotts willen endlich deine Scheiße aus.

 

An jenem Abend trat ich aus dem Dunst der Seattler Abenddämmerung in ein warmes, schummriges Studio. Kerzenschein spiegelte sich im Parkettfußboden. Leise, rhythmische Mönchsgesänge tönten aus einem unsichtbaren Lautsprecher, und eine unfassbar schöne Frau mit glatten, honigblonden Haaren saß absolut reglos vor einem niedrigen Altar im vorderen Teil des Raums. Sie trug flachsfarbene Baumwollhosen und ein passendes Tanktop. Sonnengebräunt, blond, groß – für solche Äußerlichkeiten hatte ich bis dahin nie geschwärmt. Es war mehr ihre Haltung, die mich anzog, still und doch geschmeidig. Und ihre warmen braunen Augen, von sympathischen Lachfältchen umgeben, die bis zum Haaransatz reichten.

Bald darauf vollführten wir schwitzend unsere Dehn- und Streckübungen. Die Beleuchtung blieb dämmrig, und ihre Stimme blieb sanft, so dass ich nach einer Weile den Eindruck hatte, ihre Anweisungen kämen aus meinem eigenen Kopf. Gegen Ende der Stunde lagen wir in einer irrsinnig anstrengenden Haltung auf dem Rücken, die Füße zwanzig Zentimeter über dem Boden erhoben, bis meine Bauchmuskeln fast explodierten. Ohne es zu merken, hatte ich die Hände über dem Solarplexus gefaltet.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Indra mit Blick auf meine Hände, während sie neben mir kniete, um meine Hüften auszurichten. »Mir hilft Beten auch immer, wenn ich nicht weiß, was ich machen soll.«

Ich musste lachen, weil sie meine Unfähigkeit so trocken kommentierte, aber ich hätte gerne richtiggestellt, dass ich auf keinen Fall beten würde. In Wirklichkeit hatte ich gedacht: Bring mich um. Bitte bring mich um. Ich würde doch nie beten. Zu wem sollte man denn auch beten, um Himmels willen? Oder besser gesagt, um Nichthimmels willen?

Aber am Ende der Klasse dankte ich den Göttern für diese Lehrerin. Bevor ich ging, zahlte ich den Mitgliedsbeitrag für einen Monat und versprach, ich käme bald wieder.

 

Indra besaß mit ihrem Partner Lou zusammen ein kleines Studio in Capitol Hill. Lou war mindestens zehn Jahre älter als Indra, aber sie waren gleich groß und gleich schwer – beide hochgewachsen und stark. Das erzählte mir Indra sofort, als ich sie nach Lou fragte, als sei es der Beweis, dass sie füreinander geschaffen waren. Ich ging nicht oft in Lous Kurse – meine Sehnen fühlten sich danach zwar wie Gummibänder an, aber er war mir zu intensiv und sein Blick für meinen Geschmack zu durchdringend. Außerdem war der Kurs voll von miefigen Trommelkreis-Typen. In Indras Kursen fühlte ich mich wie zu Hause.

Das ist schon eine ausgesprochen bizarre Feststellung, oder? In Indras Kursen fühlte ich mich wie zu Hause. Bevor ich sie kannte, hätte ich mich gnadenlos über mich selbst mokiert, wenn mir ein solcher Satz entschlüpft wäre. Vor Indra verstand ich unter Fitnesstraining einmal den Hügel hochgehen, um Kippen zu kaufen. Oder meine Bücher umsortieren. Sex. Vielleicht eine besonders anstrengende Schauspielübung. Die meiste Zeit lebte ich nur vom Hals aufwärts.

Ich bin eine Leserin. Das bedeutet, dass ich mich gerne an engen, warmen Orten wie Betten oder Badewannen aufhalte, an denen ich lese oder döse oder die Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen beobachte. Mit fünfundzwanzig versetzte mich die Vorstellung körperlicher Betätigung in Panik. Ich wurde manchmal regelrecht wütend, wenn ich Jogger sah, genauso wütend, wie wenn Leute mich aufforderten, an einen Gott zu glauben, der verlangt, dass wir uns andauernd mies fühlen, damit wir in den Himmel kommen. Alle Jogger glauben an ein Leben nach dem Tod. Doch, garantiert, denn warum würden sie sonst in diesem allen Anschein nach kurzen und endlichen Leben so viel Zeit verschwenden? Die Bevölkerung meiner Heimatstadt Seattle war gespalten. Die Hälfte joggte und glaubte an ein Jenseits, die andere Hälfte las und glaubte an die Happy Hour.

Mit fünfundzwanzig war ich ein fester Bestandteil der zweiten Hälfte, deshalb schockierte es meine Bekannten und mich nicht wenig, als ich plötzlich mindestens viermal wöchentlich in Leggins und Tanktop in Indras Yoga-Studio eilte, schwitzte und stretchte und die Erfahrung machte, dass mein Körper noch zu etwas anderem gut war, als mich im Bett umzudrehen. Gewöhnlich hatte ich einen Tag hinter mir, an dem ich von der Stoßstange der Zeit mitgeschleift worden war und mit den Fingernägeln am Boden Halt gesucht hatte. Wenn ich das Studio verließ, ging ich aufrecht, geschmeidig, anmutig, als sei Indra selbst die Haltung, die ich zu meistern hatte. Meine Schauspiellehrer forderten uns häufig auf, uns den Figuren durch ihre Gangart zu nähern. Wenn wir es schafften, in den Körper unserer Charaktere zu schlüpfen, würde sich uns ihre Gefühlslandschaft erschließen. War ich also allein unterwegs, ging ich wie Indra. Mit aufrechtem Rückgrat und gesenktem Kinn. Als Indra bestand ich nur aus geraden Linien – groß und langgestreckt. Meine weicheren Kurven streckten sich, bis sie ihrer Ballerina-Pose glichen. Ich machte bewusste, präzise Schritte. Ich musste den Blick nicht senken. Indra würde dem Untergrund vertrauen.

Beim Unterricht beobachtete ich, wie sie ihren Körper in die jeweilige Position gleiten ließ. Wie schmerzhaft mir die Haltung auch vorkam, wie verdreht und schief ich mich auch fühlte, Indras Gesicht war immer entspannt. Sie schien irgendwo über dem Raum zu schweben und kaum mitzukriegen, wie ihr Körper von einer unsichtbaren Hand geführt wurde, wie diese Hand ihre Arme perfekt ausrichtete, ihren Rumpf drehte und massierte und ihre Füße zärtlich zu eleganten Bögen formte. Ihre Zehen spreizten sich wie die Federn im Fächer einer Striptänzerin.

 

Indra entfachte in mir den Drang, mir Dinge zu kaufen. Glätteisen zum Beispiel. Sogar Indras Haare drückten eine gewisse innere Ruhe aus, wogegen meine wellige, fusselige Mähne, die mir dauernd aus dem Haargummi rutschte, beileibe nichts dergleichen über mich aussagte.

Wegen Indra wollte ich Yoga-Matten und Bücher mit Titeln wie City Karma, Urban Dharma und Brooklyn Kama Sutra haben. Nach dem Unterricht ging ich immer geradewegs zu Trader’s Joe, als sei der Kauf von Bio-Käse, Bio-Tomaten und biodynamischem Schaumbad eine Fortsetzung meiner Yoga-Übungen.

Und laut Yoga Journal war das auch der Fall.

Aber am erstaunlichsten war, dass ich Indra zuliebe mit dem Rauchen aufhören wollte. Als ich eines Vormittags nach dem Unterricht den langen Wollmantel anzog, mit dem ich am Abend vorher in die Bar gegangen war, fragte sie mich, ob ich rauchte. Ich sagte ja, schon, manchmal eben, wenn ich was trank oder eine Freundin sich getrennt hatte oder, na ja, überhaupt.

»Aber ich bin gerade dabei aufzuhören«, sagte ich.

Indra lachte tief aus dem Bauch heraus. »Ich weiß, wie das ist«, sagte sie verständnisvoll. Sie senkte die Stimme und beugte sich zu mir, als würde sie mir gleich ein höchst intimes Geheimnis anvertrauen. »Ich hab selbst mal damit aufgehört – ungefähr zwölf Jahre lang.«

»Du machst Witze«, flüsterte ich zurück.

Sie nickte. »Aber mit dem Aufhören ist das so – es ist eigentlich kein Prozess.« Sie lächelte. »Es ist eine Handlung.«

Es war nicht das letzte Mal, dass Indra mich beim Bluffen erwischte. Aber zwischen den Zeilen hörte ich eine noch viel provozierendere, inspirierendere und beängstigendere Botschaft: Ich war einmal du, deshalb kannst du eines Tages ich sein.

Heute frage ich mich, ob das der Anfang meiner ambivalenten Gefühle gegenüber Indra war. In diesem Moment erkannte ich nicht nur mein Potential, wie sie zu sein, sondern auch ihr Potential, ich zu sein. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass bald darauf etwas passierte, was in mir den Wunsch weckte, ihr überallhin zu folgen. Wenn sie mir nur zeigte, wie man richtig lebt.

 

Es passierte an Thanksgiving. In jenem Jahr war meine Großmutter nicht in der Verfassung, am Familienessen bei meinem Onkel und meiner Tante teilzunehmen, aber mein Großvater ließ sich nach Möglichkeit keine Party entgehen. Im Grunde war er in aller Regel die Seele der Party. Seit meine Großmutter nicht mehr so gesund war, waren wir häufig bei ihm und leisteten ihm Gesellschaft. Nicht selten waren meine Brüder, wenn meine Schwester und ich am Freitagabend zu unseren Eltern kamen, schon dabei, für Opa Scotch und Wasser zu mischen, und das war für uns vier der Start ins Wochenende. Es war keine Pflichtübung. Selbst meine Freunde waren gerne mit meinem Großvater zusammen.

Meine Mom nannte ihren Schwiegervater gerne »altes Haus« – alle fühlten sich wohl mit ihm, man musste ihn einfach lieben. Meine Schwester nannte ihn den »fluchenden Teddybär«. Er war über einen Meter neunzig groß, hatte einen kantigen Schädel, dichtes weißes Haar und leuchtend blaue Augen und war bekannt dafür, dass er das Falsche zur richtigen Zeit sagte. Als er meine Freundin Francesca zum ersten Mal sah, musterte er sie mit einem durchtriebenen Lächeln von oben bis unten und sagte: »Na, Sie sind eine ganz heiße Nummer, was?« Sie musste so lachen, dass sie fast den Wein über den Tisch geprustet hätte.

Als ich ihm erzählte, dass sich meine beste Freundin aus der Grundschule geoutet hatte, sagte er: »Das ist okay, aber was zum Teufel treiben diese Lesben miteinander, Suzie? Was machen sie?«

»Sie machen alles, was ein Mann und eine Frau auch machen, Opa.«

Er wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger und machte ein sehr selbstzufriedenes Gesicht.

»Ah, ja … alles außer einem.«

Politisch korrekt war er nicht.

Opa ging es nicht besonders gut. Wir versuchten alle, ihn auf seinen Hometrainer zu scheuchen, und manchmal tat er uns den Gefallen und trat fünf Minuten lang halbherzig in die Pedale. Anschließend forderte er eine Büchse Sardinen als Belohnung. Am liebsten saß er in seinem großen roten Fernsehsessel, sah sich Gerichtsshows und alte britische Filme an oder hörte über Kopfhörer Verdi und Wagner und pfiff bei den eingängigen Stellen mit.

Nachdem wir uns ausgiebig mit Truthahn und Kartoffelbrei vollgestopft hatten, halfen mein Vater und mein älterer Bruder Opa ins Auto. Auf einmal gab er beim Atmen ein pfeifendes Geräusch von sich. Das war nicht ungewöhnlich. Das Aufstehen und Hinsetzen fiel ihm seit einiger Zeit schwer. Sich beim Einsteigen ins Auto gleichzeitig zu drehen, vorzubeugen und in die Knie zu gehen, war eine schwierige Übung für ihn. Wir wussten alle, dass er laut summte, um das Ächzen zu übertönen, das ihm beim Binden seiner Schnürsenkel entfuhr. Aber an diesem Abend keuchte er bereits, als ihn seine beiden Namensvettern die kurze Auffahrt zum Auto begleiteten. Dort angekommen, klang das Geräusch, das aus seiner Brust drang, so, als würde er an einer straff gespannten Zellophan-Folie saugen, und als er zum Einsteigen einen Fuß hob, taumelte er gegen meinen Vater. Ich lief um das Fahrzeug herum und half, ihn auf den Sitz zu hieven, während sein Atem immer flacher ging und er wie ein Flötenspieler mit gespitzten Lippen die Luft in kleinen Portionen einsog. Er blickte uns angstvoll an. Ich hielt ihn am Arm und wollte ihn durch pure Willenskraft zum Atmen zwingen. Dazu atmete ich selbst tief ein und aus, um ihm zu zeigen, wie er den Weg zurück zu meinem Gesicht, dem Auto und einer weiteren Nacht finden konnte. »Weiter, Opa«, drängte ich, während ich seinen Arm streichelte. Ich atmete ein und aus, immer wieder, so macht man das, mach es mir einfach nach. Aber bald bekam auch ich Atemnot und spürte, dass mein Gesicht ganz nass war. Ich schluchzte. Oder hyperventilierte. Oder beides.

Ich weiß nicht mehr, was dann passierte, nur dass ich vor dem Auto stand und mein Cousin Mike, der Priester, mich im Arm hielt, weil ich haltlos weinte, bis mein Dad mich aufforderte einzusteigen.

Opas Atemzüge waren wieder etwas tiefer geworden, und er entspannte sich. Wir brachten ihn in aller Eile nach Hause. Auf der Fahrt saß er erschöpft gegen die Rückbank gelehnt. Er wandte mir den Kopf zu und sagte: »Das ist ganz und gar nicht lustig.«

Am nächsten Tag legte sich bei jedem Gedanken an meinen Opa ein Gewicht auf meine Brust, als würde ich ertrinken. Ich versuchte, nicht an die Zukunft zu denken, aber die Uhr schien schneller als sonst zu laufen. Die Zeit faltete sich zusammen wie der Balg eines Akkordeons, und ich konnte nur untätig zusehen. Ich sah meine Großeltern sterben, und dann, als wäre nur ein Tag vergangen, führte ich meinen Vater zum Auto, und meine Kinder sahen entsetzt zu und dachten daran, dass sie mich auch bald führen würden. Ich saß in Gedanken nach Luft ringend neben meinem erschrockenen Enkelkind, dem nächsten Glied in der Familienkette aus Liebe und Kummer, und ich wusste, es spielte keine Rolle, ob ich ein authentisches Leben führte oder nicht, ob ich für meine Familie lebte oder meinen Freund oder irgendeine Vorstellung von meinem wahren Selbst. Nichts davon würde mir helfen, wenn ich ins Nichts blickte.

Ich besuchte Indras Kurse und befolgte all ihre Anweisungen. Ich atmete ein, wenn sie es sagte, und atmete aus, wenn sie es sagte, und wenn wir uns am Ende in der Totenstellung ausruhten, bekam ich endlich wieder Luft.

Ein paar Monate später nahm ich das Geld, das ich ein Jahr lang für Zigaretten ausgegeben hätte – ungefähr 1200 Dollar – und gab es Indra. Es diente als Anzahlung für ein zweimonatiges Yoga-Lehrer-Seminar auf Bali mit Indra und ihrem Partner Lou. Aber ich will ehrlich sein: Es war keine Anzahlung für eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin, es war eine Anzahlung für ein neues Ich.

Kurz nachdem ich mein Schicksal mit diesem Scheck besiegelt hatte, kaufte ich ein dickes, liniertes, ledergebundenes Tagebuch und fing an zu schreiben. Das Schreiben war nichts Neues für mich, ich hatte seit meinem zehnten Geburtstag ein Tagebuch geführt. Damals stand Hello Kitty auf dem Umschlag, und ein kleines Metallschloss sollte meine Brüder fernhalten. Diesmal jedoch war mir irgendwie klar, dass ich für jemanden schrieb. Aber für wen? Mein älteres Ich, damit ich mich später daran erinnern konnte, wer ich einmal war? Oder für Indra, für Jonah, für den Äther? Ich weiß es nicht. Aber mir fällt dazu Thomas Mallon ein, der mal gesagt hat: »Niemand führt ein Tagebuch nur für sich allein.« Offensichtlich hat er recht.

17. Februar 2002

Seattle, 3 Uhr morgens

Okay. Ich bin am Durchdrehen.

Heute in einer Woche fliege ich zu einem Yoga-Retreat nach Bali. Ich kann es kaum erwarten und will nicht hin. Es macht mich fertig, dass ich in einer Woche auf der anderen Seite des Globus sein werde, während Jonah seinen Kram für den Umzug nach New York packt. Wenn ich zurückkomme, ist er weg. Ich habe dann noch ein paar Wochen, um mein Leben in Seattle abzuwickeln, dann fahre ich zu ihm. Er will in Brooklyn eine Wohnung für uns suchen, während ich noch auf Bali bin.

Ich weiß nicht, was mich mehr schockt – dass Jonah und ich aus Seattle wegziehen werden, oder dass meine Mutter wirklich und wahrhaftig glücklich ist, weil ich mit meinem Freund zusammenleben werde. In Sünde. Sie sagt, es wäre ihr lieber, wenn wir vorher heiraten, weil sowieso alle wissen, dass wir es vorhaben. Aber, wie sie es ausdrückt: »Wenn du nicht so weit bist, bist du nicht so weit. Ich jedenfalls habe ein besseres Gefühl, wenn ich weiß, dass du in New York einen Mann im Haus hast.«

Bali. Zwei Monate ohne mein Zuhause und meine Familie. Ich schneide die Nabelschnur nicht durch, noch nicht. Ich bohre nur ein paar Löcher.

Ich hatte doch mal Mumm in den Knochen, verdammt. Wenn ich mich mit der Frau vergleiche, die ich am Ende der Highschool war, erkenne ich mich kaum wieder. Damals habe ich gemacht, was ich wollte. Es war mir egal, was die Leute von mir hielten oder ob ich damit irgendwen enttäuschte. Als alle meine Freunde aufs College gingen, riss ich nach Europa aus, als wäre das das Normalste von der Welt. Ich war noch nie im Ausland gewesen, aber ich wusste, was ich wollte, ich sparte etwas Geld und zog einfach los.

Ich hatte vor nichts Angst. Jetzt möchte ich mich am liebsten bei meiner Familie entschuldigen, weil ich nach New York gehe. Weil ich unsere kostbare gemeinsame Zeit verkürze, um meinen selbstsüchtigen Träumen nachzujagen.

Ich habe sogar Schiss vor diesem Tagebuch. Es jagt mir eine Heidenangst ein, ehrlich zu sein, aber ich habe mir versprochen, dass ich mich hier nicht zensieren werde. Seit mein Exfreund mal in meinem Tagebuch geschnüffelt hat und dabei auf den Seitensprung mit einem deutschen Maschinenbau-Studenten namens Joachim (Johann? weiß nicht mehr) gestoßen ist, konnte ich über heikle Sachen allenfalls verschlüsselt schreiben. Aber dieser Trip jetzt ist allein meine Angelegenheit. Kein Boyfriend, keine Familie. Wenn ich etwas zu Blamables aufschreibe, kann ich das Tagebuch immer noch vor der Heimreise verbrennen.

Ich war seit über zehn Jahren nicht mehr bei der Beichte. Als ich klein war, sagte meine Mutter immer: »Fühlst du dich jetzt nicht wohler? Jetzt hast du reinen Tisch gemacht.« Das kam unweigerlich nach jeder Beichte. Und ich kriegte dann Schuldgefühle, weil ich wusste, dass mein Tisch noch bekleckert war. Ich konnte mich nie dazu aufraffen, alle Bußgebete aufzusagen – wenn der Priester mir zwölf Ave-Maria und zehn Vaterunser auftrug, murmelte ich zwei oder drei von jedem, und das war’s. Deshalb wusste ich genau, dass ich nicht wirklich geläutert war.

Aber jetzt bin ich bereit für den reinen Tisch. Wenn ich an die zwei kommenden Monate mit meiner geliebten Indra denke, ist dieser Trip nach Bali ein einziges aufregendes Abenteuer. Aber ich werde auch mit Indras Partner und Kollegen Lou zu tun haben, und nicht zu knapp, und das entspricht einer Zwei-Monats-Dosis Ave-Maria und Vaterunser. Eine Art Fegefeuer.

Beim Gedanken an Lou mache ich mir schier ins Hemd. Ich glaube, er kann meine Gedanken lesen. Mist, kaum schreibe ich das hin, schon beschleicht mich das gruselige Gefühl, dass er mir über die Schulter linst. Ich stelle mir vor, wie er auf Bali in irgendeinem uterusförmigen Meditationsraum sitzt, mit seinem nackten, gebräunten Oberkörper und seinen Leinenhosen mit elastischem Bund. Er atmet tief ein und aus, hält innerlich Zwiesprache mit Babaji, und dann machte er auf einmal die Augen auf und weiß Bescheid. Nicht etwa mit dem Verstand, sondern mit seinem Mentalkörper.

Als ich im letzten Herbst mit Indrou-Yoga anfing, fiel mir ziemlich bald ein Trupp leicht muffelnder, ungemein fokussierter Yoga-Schüler auf, die hinter Lou herdackelten, als wäre er Jesus in Spandex-Shorts. Man merkte ihnen keine Angst an, nur Ehrerbietung und grenzenlose Verehrung.

In Lous Gegenwart fühle ich mich winzig klein und schwach. Vielleicht weil er seine Schüler »Leute« nennt, als seien wir alle mit viel mehr menschlichen Schwächen behaftet als er. Vielleicht liegt es auch daran, dass er mich an einen Priester erinnert. Na ja, einen Priester, der nach Curry riecht, gelbe Kurkumaflecken auf den Fingernägeln hat und Nelken kaut statt Pfefferminzbonbons. Lou ist die Sorte Yogi, die Zungenschaber benutzt. Ich finde Zungenschaber widerlich.

Dabei ist Lou kein Inder. Soviel ich weiß, ist er in Connecticut geboren und dort aufgewachsen. Die Legende besagt, dass Lou in den späten Sechzigern zum Aussteiger wurde, sich die Haare wachsen ließ und sich in ostindische Gewänder hüllte, die wie lange Leinennachthemden aussahen. Er wetteiferte mit Timothy Leary um den maximalen Konsum halluzinogener Drogen, und als er mit den Drogen durch war, konsumierte er vier Jahre lang nur noch Fruchtsäfte.

Als ich zum ersten Mal in einem seiner Kurse saß, fixierte er mich und sagte: »Leute, wenn ihr hier seid, um Yoga so zu lernen, wie ihr in den Achtzigern Aerobics gelernt habt, dann geht bitte wieder. Yoga ist kein Fitnesstraining. Yoga ist eine spirituelle Übung. Wenn ich sehe, dass ihr übt, ist euch meine Aufmerksamkeit gewiss.«

Seit jenem Tag hielt ich mich von seinen Kursen fern. Aber jetzt werde ich jeden Tag vor ihm sitzen. Verdammte Hacke.

18. Februar

Als ich vor ungefähr einem Jahr zum letzten Mal in New York war, saß ich mit meinem Glimmstängel downtown in einem Starbucks und hörte, wie sich zwei Frauen vor dem Yoga-Studio nebenan unterhielten. Sie tratschten, keine Frage, aber sie taten das in diesem unverkennbaren Yoga-Ton. Man sollte ihr Geraune als Besorgnis interpretieren und nicht etwa als Wut. Genüsslich zogen sie über eine andere Frau aus ihrem Yoga-Lehrer-Kurs her. Ihren Lippen entströmte ein melodisches Säuseln, ihre Vokale waren so rund wie die Brüste einer Hindugöttin. Offensichtlich hatte diese andere Kursteilnehmerin etwas Schreckliches getan, denn das Gespräch verlief so:

»Feather checkt es einfach nicht.«

»Mhmm-hmm. Sie checkt es nicht. Arme Feather.«

»Sie checkt nicht mal, wie unyogisch sie ist.«

»Also echt, sie tut mir leid, ehrlich. Sie checkt es so gar nicht.«

»Ich weiß, und ich kann’s nicht fassen, dass sie glaubt, sie checkt es. Hmmmm. Sie checkt es so kein Stück.«

»Einfach kein Stück.«

»Äh, weißt du, vielleicht ist sie eine junge Seele? Oder? Aber mich belastet das echt, dass sie glaubt, sie checkt es.«

»Genau. Und jetzt sind wir gestresst, und sie verunreinigt das ganze Energieumfeld. Wie Guruji gesagt hat. Sie hat irgendwie kein Samtosha.«

»Ich war voll in der Glückseligkeit, bevor sie dazugekommen ist.«

»Ja, ich weiß, voll in der Glückseligkeit.«

»Genau.«

Und so weiter.

Zuerst lachte ich mich schief über die beiden. Ich fuhr nach Seattle zurück, und Jill und ich rissen noch Monate später Witze. Als ich ihr erzählte, dass ich zum Yoga-Lehrgang nach Indonesien fliegen wollte, drohte sie, sie würde mich, falls ich als Yoga-Bitch aus Bali zurückkäme, auf der Stelle festschnallen und mit Steaks, Bier und Zigaretten zwangsernähren, bis ich wieder normal wäre. »Ich stehe voll hinter dir«, sagte sie. Ich liebe meine Schwester.

Aber seit ich mein Flugticket habe, muss ich ständig an die beiden Frauen aus New York denken. Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe – dass ich so werde wie sie oder dass ich an einen Ort fliege, an dem ich von Leuten wie ihnen umgeben sein werde. Was ich Yoga-Retreat nenne, ist eigentlich ein Kurs für angehende Yoga-Lehrer. Aber mich interessiert der Retreat-Faktor mehr.

19. Februar

Als ich den Plan fasste, auf Bali zu sein, während Jonah nach New York umzog, hielt ich das für eine gute Idee. Vielleicht brauchten wir eine Auszeit. Zwischen uns klappte es seit Monaten nicht mehr besonders. Aber jetzt, wo die Trennung kurz bevorsteht, ist er lieb und aufmerksam und sitzt bis spät abends im Pub, bis meine Schicht zu Ende ist, damit wir zusammen nach Hause gehen können. Anscheinend bekommt unsere Beziehung Aufschwung, weil wir wissen, dass unsere Zeit in Seattle sich dem Ende nähert.

Mit dem Kofferpacken geht es sehr langsam voran, und heute hing Jonah bei mir rum, während ich meinen Waschbeutel füllte. In meinem Schrank steht seit drei Jahren dieselbe Flasche Sonnencreme – unter dem bleiernen Himmel von Seattle brauche ich so was kaum –, und ich wollte sie gerade einpacken, da kam mir ein Gedanke.

»Wird Sonnencreme schlecht?«, fragte ich Jonah. Er machte ein verdutztes Gesicht und stemmte sich von meinem Futon hoch, um einen Blick auf die Flasche zu werfen, die ich in der Hand hielt. »Die steht schon ewig hier rum.«

Er nahm sie, schnipste den Deckel auf und quetschte einen Tupfen Creme auf den Finger. Dann warf er mir einen Seitenblick zu, um sich zu vergewissern, dass ich ihn beobachtete, und leckte die Milch vom Finger ab. Er schmatzte, als hätte er an Butter geleckt, um herauszufinden, ob sie ranzig ist. »Schmeckt okay«, sagte er achselzuckend. Einen Augenblick lang nahm ich ihm tatsächlich ab, dass er wusste, wie verdorbene Sonnencreme schmeckt, aber dann kicherte er los und wischte sich mit dem Ärmel die Zunge ab. »Urgs«, prustete er, »erinnere mich daran, dass ich das nie wieder mache!«

Ich hasse die Vorstellung, dass ich zurückkomme und er ist nicht mehr da.

Ein Freund von mir, ein Matrose, der eine Million Mal die Erde umrundet hat, kam letzte Nacht ins Pub, und wir redeten lange über Indonesien. Ich bin schon lange insgeheim ein bisschen in ihn verliebt. Gestern Abend hatte ich wieder dieses Bauchflattern – halb Euphorie, halb Panik –, als er zur Tür reinkam. Aber heute … mir fehlt Jonah jetzt schon.

Später

Klar, ich weiß, dass ich gesagt habe, ich würde mich in diesem Tagebuch nicht zensieren, aber in diesem einen Punkt muss es sein: Es geht um diesen Freund von mir, den Typ, der gestern in den Pub kam. Ich habe darüber nachgedacht. Ich kann seinen richtigen Namen nicht hinschreiben. Es fühlt sich falsch an. Also werde ich mir diesen einen Akt der Feigheit zugestehen, obwohl mir das fürchterlich nach Sex and the City riecht. Er ist Matrose, und so werde ich ihn nennen: der Matrose.

Er hat mir einen Roman geschenkt, den ich nach Bali mitnehmen soll. Ich blättere ihn gerade durch.

Außerdem ist er einfach nur ein guter Freund. Ja, schön, da gab es diese Nacht, bevor ich mit Jonah zusammen war, in der wir uns geküsst haben. Ziemlich heftig. Ohne Kleider. Aber das ist drei Jahre her. Ich habe also keinen Grund, mich schuldig zu fühlen, auch wenn es mich kurz durchzuckt hat, als ich das Buch aufschlug und eine Karte darin fand. Es steht nicht viel mehr drauf als »Bon Voyage«, aber trotzdem … Normalerweise hätte ich jetzt die übelsten Gewissensbisse und würde von einem Paralleluniversum phantasieren, in dem ich mit ihm lebe und wir den ganzen Tag in seinem Wohnturm liegen und Bücher lesen und die Nacht durch reden. Und anderes tun. Ich muss nicht deutlicher werden, oder?

Aber ich bin zu deprimiert, weil ich wegfahre und Jonah hier bleibt. Nicht mal eine prickelnde Phantasie kann ich mehr genießen.

20. Februar

Meine Yoga-Klamotten für das Retreat wurden in Indonesien hergestellt. Ist das ein gutes Omen? Werden sich meine Hosen dort gleich wie zu Hause fühlen? Oder ist es ein schlechtes Omen, und man wird mich für eine imperialistisch-kapitalistische Neokolonialistin halten, die Bali besucht, um ihre Ausbeuterbetriebe zu kontrollieren?

Puh. Bestimmt hätte ich Bio-Baumwolle kaufen sollen. Ein Yoga-Outfit »aus zertifizierten Erwachsenen-Betrieben«. Shit. Ich bin jetzt schon uncool.

22. Februar

Ich habe Indra gemailt, dass ich nicht kommen kann. Ich fühle mich dem nicht gewachsen, ich bin kein mutiges Mädel mehr und kann nur noch daran denken, dass die Welt demnächst untergeht – alle sagen das, Nostradamus und der Betrunkene gestern im Pub. »Du glaubst, der 11. September war schlimm?«, lallte er. »Dann warte mal ab, was der 13. Juni bringt!« Ich will nicht so weit von meiner Familie und meinen Freunden weg sein, wenn nach dem Hagel die Heuschrecken kommen!

Indra hat geantwortet. Sie ist schon auf Bali und schreibt, wenn alles den Bach runtergeht, weiß sie, wo sie sein will, die USA sind es jedenfalls nicht. Sie schwärmt davon, wie schön und warm und friedlich alles ist. Und sie erwarten mich.

»Hier ist alles einfacher«, steht in ihrer Mail.

Dann rät sie mir zu einer Visualisierungsübung, in der ich mir vorstellen soll, dass alles gut wird. »Stell dir das Best-Case-Szenario vor, in Bezug auf deine Yoga-Praxis, deine Meditationspraxis und dein Leben in diesem unglaublichen Paradies.«

Also gut. Hier ist meine Visualisierung: Ich lebe in einer dieser strohgedeckten Hütten, die ich in meinem Reiseführer gesehen habe. Sie hat einen Lehmboden. Ich sitze im Lotossitz neben dem Strohlager, in fließende weiße Yoga-Gewänder gehüllt, wie sie im Yoga Journal abgebildet sind, und die ich kaufen würde, wenn sie nicht so viel kosten würden wie mein halbes Flugticket.

Meine Zimmergenossin sitzt neben mir, wir essen Tofu und Reis aus hübschen Ethno-Schüsseln. Der Tofu schmeckt köstlich, woraus auch immer Tofu bestehen mag.

Wir lesen heilige Texte, die uns ein ungemein heiliges Gefühl geben. Wenn es Zeit für den Unterricht wird, hängen wir uns unsere Strohtaschen über die Schulter, aus denen unsere Yoga-Matten ragen wie Baguettes auf französischen Schwarzweißfotos.

Hmmm. Es funktioniert. Mehr oder weniger.

23. Februar

Über den Wolken.

Ich habe keine Panikattacke. Ich habe keine Panikattacke.

Später

Mir ist gerade eingefallen, dass ich keinen einzigen Roman dabeihabe, überhaupt nichts Unterhaltsames zum Lesen, dabei habe ich mir in der Schlange vor dem Sicherheitscheck am SeaTac Airport mit meinen vierzig Kilo heiligen Texten im Bordgepäck fast die Schulter ausgekugelt. Nach vierzig Minuten habe ich die Terroristen verflucht, die einem das Reisen ins Ausland ruinieren und mir meine Schulter dazu. Dann habe ich das zurückgenommen. Keine yogische Geisteshaltung. Außerdem hatte ich dummerweise noch zwanzig Flugstunden vor mir und wollte das Schicksal nicht herausfordern.

Als ich nach einer Stunde immer noch ein halbes Dutzend Serpentinen von der Röntgen-Analsonde entfernt war, habe ich mir dann doch ein paar unyogische Flüche gestattet. Sie gewinnen! hätte ich am liebsten laut geschrien, als der Typ am Sicherheits-Check meine Notunterwäsche befingerte. Die Terroristen gewinnen!

Er grinste auf mich herunter, während er meine Unterwäsche zusammenfaltete und in den Koffer zurücklegte. Er grinste, als ob er meine Gedanken lesen könnte und das Ganze ein Insiderwitz zwischen uns beiden wäre. Es war ein so breites Grinsen, dass ich unweigerlich zurückgrinsen musste.

Dann schraubte er die Dose mit meinen Antibabypillen auf, vermutlich um sicherzugehen, dass sie nicht in Wahrheit klitzekleine Granaten waren.

Zurück zu meinen Büchern. Mitgenommen habe ich:

Die Yoga-Sutren. (»Leitfaden der Weisheit« steht auf der Rückseite. Sutra bedeutet Faden. Ich schlage an einer beliebigen Stelle auf und lese: »Der Körper ist ein ekelerregendes Behältnis, ein Gefäß voller Blut und Fäkalien und Eiter. Warum also willst du mit einem von ihnen Geschlechtsverkehr treiben?« Ich schlage das Buch zu.)

Die Upanischaden. (Drei verschiedene Übersetzungen; bei zweien von ihnen nickte der Kassierer bei Elliott Bay Books beifällig, beim dritten rümpfte er die Nase und sagte: »Ouh, Mainstream.«)

Das Bhagavad Gita. (Habe ich in der letzten Klasse der Highschool gelesen und so getan, als fände ich es irre tiefsinnig und interessant. Ich glaube, es geht um ein Wagenrennen.)

Die Autobiographie eines Yogi. (Memoirenschreiber sind Egomanen. Geniale Ironie!)

Rüssel-im-Teich: Das illustrierte Kama Sutra. (Schnäppchenpreis, Taschenformat und auf Hindu, Leute!)

Außerdem besitze ich ein Trio von New-Age-Broschüren, die in der Kurzfassung ungefähr so klingen würden: Das Universum wird volljährig: Gott-Göttin im Zeitalter des Wassermanns. Auweia.

 

Okay, gelogen. Ich habe doch einen Roman dabei. Der, den mir der Matrose geschenkt hat. Ja, aber ich weiß nicht mal mehr, wie er heißt. Egal.

Grrr. Wieder gelogen. Er heißt Maqroll. Nie gehört und ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal, warum ich ihn eingepackt habe. Wahrscheinlich werde ich neben all diesem heiligen Kram sowieso keine Zeit für was Unterhaltsames haben.

24. Februar

Ich wünschte, in diesem Stift wäre farbige Tinte. Eben noch das graue, trübe Seattle, und jetzt das!

Bali.

Ich bin auf Bali.

Das war der längste Tag meines Lebens.

Ich bin heute Nachmittag gelandet, todmüde und stocksteif nach vierundzwanzig Stunden Flugzeit. Nach dem Abschied von Jonah war ich so verheult und durch den Wind, dass meine Schwester mir zwei Zigaretten als Notration gab. Ich verstaute sie in der Tasche meiner grauen Wollhose, und als ich in Denpasar aus dem Flugzeug stieg, merkte ich, dass von beiden nur noch Tabakkrümel übrig waren.

Bedauerlich, denn ich hätte eine letzte Dosis Heimat gut gebrauchen können, bevor ich mich zu einem Fremden in seinen Land Rover setzte und mit ihm nach Norden fuhr, in ein Dorf namens Penestanan in der Nähe der Stadt Ubud, die laut Reiseführer das spirituelle und künstlerische Zentrum von Bali ist.

Der erste Eindruck von Bali? Heiß ist es hier. Heiß wie in der Sauna. Der winzige Flughafen von Denpasar ist so groß wie der Fährterminal von Seattle und genauso von Ausländern belagert. Die anderen allerdings waren schlau genug, Leinenkleidung zu tragen. Die Französin neben mir am Zoll beäugte mich und meinen schwarzen Rollkragenpullover von der Seite und beugte sich dann zu ihrem Mann hinüber: »Quelle idiote«, sagte sie, »elle est sûrement Americaine.«

Eigentlich hätte ich mich aufregen müssen, nur hatte sie leider recht. Ich fummelte an den Tabakkrümeln in meiner Hosentasche herum.

Auf der einstündigen Autofahrt nach Penestanan fragte ich mich, ob ich tatsächlich den Flug über den Pazifik überlebt hatte, um hier mitten in Indonesien zu sterben. Heilige Madonna, Mutter Gottes, diese Indonesier rasen durch die Gegend wie reinkarnationssüchtige Fluginsekten. Ich machte mich allen Ernstes darauf gefasst, dass wir bei der Ankunft mindestens eine Handvoll Leute auf dem Gewissen haben würden.

(Meine Reiseführer versicherten mir, die Balinesen seien ein sehr heiliges, überaus frommes Volk. Auf den Fernstraßen ist davon nichts zu merken.)

Und heiliger Strohsack, diese Hunde! Wir fuhren mitten auf der Straße, als ein Rudel räudiger Hunde uns direkt vor den Kühler sprintete. Ketut, der Fahrer, ein Mann mit einem gutmütigen Gesicht und wunderschönen Zähnen, kurvte ungerührt um sie herum.

»Welpen!«, lachte er frohgemut.

Ich heuchelte Begeisterung.

»Süß! Ich mag Hunde, wirklich, und wie!« Aber das war gelogen; dieses Rudel sah gemeingefährlich aus. Sie rannten heiser kläffend neben dem Landrover her und hatten offensichtlich nur eines im Sinn – Angst und Seuchen zu verbreiten. Ihre Rücken starrten vor Dreck, und mehr als einem fehlte ein Auge oder Bein. Aber als wir abbremsten, sah ich auch, dass alle … äh … eine intakte Männlichkeit besaßen. Solche Eier an einem Hund, das ist irgendwie schockierend. Der Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Wenn diese Hunde nicht kastriert werden, gibt es bald noch viel mehr von der Sorte.

Wir hielten an einer Ampel, und plötzlich war unser Wagen umringt von Männern, die Zeitungen durch die offenen Fenster streckten. Ketut schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf.

»Java«, sagte er. »Fahr nie mit javanischem Fahrer.«

»Warum nicht?«

»Sie bescheißen dich. Du bist Australierin?«

»Nein. Amerikanerin.«

»Oh.« Seine Augen leuchteten auf, und er deutete nach rechts. »Wir haben Restaurants von euch!«

Neben der Fernstraße ragte wie eine Plastik-Ritterburg ein McDonald’s auf. Ketut deutete darauf und bog gleichzeitig einhändig auf eine schmale Lehmpiste ein, wobei er um ein Haar drei Motorradfahrer umgenietet hätte. Bald darauf holperten wir durch Dörfer, vorbei an strohgedeckten Häusern, Frauen mit riesigen Wäschestapeln oder Baumaterial auf dem Kopf und noch mehr Hunden.

Massenhaft Hunden.

Ich sitze zwei Monate hier fest. Das ging mir beim Anblick dieser Hunde durch den Kopf, während ich versuchte, nicht daran zu denken, wie diese Hunde riechen würden. Mechanisch reagierte ich auf Ketuts Geplauder über McNuggets und Milkshakes, aber ich war nicht bei der Sache. Ich war gerade in der Realität gelandet. Denn bisher war das alles nur eine Phantasie gewesen. Ich hatte mir diese Reisende – mich, aber mit eleganteren Armen und Kleidern – in einem reizvollen Mix aus National-Geographic-Panorama und Eine-Welt-Shop vorgestellt. Jetzt hatte in meinem Kopf nur noch ein Gedanke Platz: Ich werde hier, in dieser stickigen, stinkenden Hitze, zwei ganze Monate zubringen.

Frühling auf Bali klang für mich inzwischen ungefähr so verlockend wie Sauna mit einem nassen Hund. Ich hatte kein Model aus dem Yoga Journal nach Bali verpflanzt, sondern mich, und nun beschlich mich das dumme Gefühl, dass mein bleicher Luxus-Body für das primitive Leben nicht geschaffen war. Und die Aussicht auf eine Hütte mit Lehmboden, auf dem zweifellos Scharen von Inseltierchen herumkrabbelten, weckte in mir die Sehnsucht nach meiner bequemen Matratze und meiner insektenfreien Wohnung.

Ich war auf dem besten Wege zu einem Nervenzusammenbruch. Horden räudiger Hunde, eine Hütte mit Lehmboden. Ich würde mir Läuse und Kopfhautflechte und Japanische Enzephalitis einfangen. Und wo wir schon dabei waren – der letzte Bürgerkrieg in Indonesien lag auch noch nicht lange zurück. Vielleicht braute sich gerade der nächste zusammen? Wenn ich gleich nach New York gegangen wäre, hätte ich mich wenigstens nur mit Kakerlaken herumplagen müssen. Was mich daran erinnerte, dass Jonah in sieben Wochen nach New York zog. Ich vermisste meine Schwester. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte rauchen.

Also machte ich diese Meditation. Es ist eigentlich keine richtige Meditation, wenigstens nicht eine, wie ich sie im Kurs gelernt habe. Aber sie hat mir früher bei langen Autofahrten geholfen, wenn mir langweilig war oder schlecht wurde. Ich sehe mir die anderen Leute auf der Straße an und stelle sie mir ohne ihre Autos vor. Das ist so ähnlich, als wenn man sich die Leute im Zuschauerraum in Unterwäsche vorstellt. Auf mich jedenfalls hat das einen beruhigenden Effekt. Wir düsen also alle über die Straße, in unserer normalen Sitzhaltung, umfassen unsichtbare Lenkräder oder stützen den Arm auf die unsichtbare Autotür. Auf den Motorrädern hocken meistens zwei Leute hintereinander. Aber es gibt keine Motorräder. Und keine Autos. Alle Fahrzeuge sind verschwunden, und wir preschen im Eiltempo durch die Weltgeschichte, nur unsere Körper bewegen sich durch den Raum.

Aber als wir am Ziel waren und ich aus Ketuts überdimensionalem Geschoss ausstieg, war alles auf einmal sehr, sehr wirklich.

 

Schon komisch, wie viel Angst ich hatte. Das ist alles erst ein paar Stunden her, und schon blicke ich auf diese Person – mich – zurück und denke mir, ich hätte mich einfach entspannen und abwarten sollen, was passiert, statt mir alle möglichen furchtbaren Dinge auszumalen. Mal ehrlich, wozu sind solche Einbildungen überhaupt gut? Man weiß sowieso nicht, wie etwas ist, bevor man es erlebt.

Meine Mitbewohnerin zum Beispiel. Das Einzige, was ich bei meiner Ankunft in Penestanan wusste, war, dass mich eine Mitbewohnerin in meiner Unterkunft erwartete. Wir hatten vor ungefähr einem Monat kurz telefoniert. Sie hatte mit leiser, luftiger Stimme irgendwas gehaucht von »Sehen, wohin der Geist uns führt auf dieser Reise des Selbst«, und dass wir uns auf einer Weisheitssuche oder Visionssuche oder so was befänden, deshalb hatte ich sie sofort in die New-Age-Ecke gestellt. Indra hatte mir erzählt, dass Jessica als Heilmasseurin arbeitete, aber Jessica selbst hatte sich am Telefon als Body-Workerin bezeichnet. Ich hatte keine Ahnung, was eine Body-Workerin tut, aber ich hegte den Verdacht, dass es jemand ist, der kein Deo benutzt.

Ketut setzte mich auf einer Schotterstraße ab, die als Parkplatz diente. Rechts von mir ging der Schotter in Lehmboden über, und die Straße verengte sich zu einem Pfad, der in einen Wald führte, der so kühl und feucht aussah wie die Wälder zu Hause. Links von mir erstreckten sich Reisfelder bis zum Horizont, ein Ozean aus Grün.

Jessica, rotwangig und löwenmähnig, stand am Rand des Parkplatzes. Ungefähr so groß wie ich, aber zierlicher und biegsamer. Sie trug einen ballettrosafarbenen Sarong, ein weißes, bauchfreies Tanktop und uralte Trekking-Sandalen. Sie ist hübsch wie eine Muse, und ihre blonden Haare sind der Hammer. Sie hält sie mit Haarzöpfchen, die sie um den Kopf gelegt hat, von ihrem herzförmigen Gesicht fern. Mein erster Gedanke: Das will ich auch.

Als könnte ich ihre Zöpfchen kaufen.

Die beste Nachricht des Tages? Jessica riecht phantastisch. Nach Vanille und Ambra. Kein schlampiger, schmuddeliger Hippie weit und breit! Das ist beachtlich. Allerdings rasiert sie sich die Beine nicht. Aber gut, ich hatte in der Highschool auch meine radikalfeministische Phase, ich kenne das. (Bin auf deiner Seite, Schwester.) Wenigstens hat Jessica den Mut, ihre haarigen Beine zu zeigen. Als ich mich damals nicht mehr rasierte, trug ich immer nur Strumpfhosen. Hätte ich unter dem Badeanzug Strumpfhosen tragen können, hätte ich auch das gemacht. Da es nicht ging, bin ich nicht schwimmen gegangen.

Jessica hatte ein balinesisches Mädchen namens Su zu meinem Empfang mitgebracht. Su ist schätzungsweise sechzehn, vielleicht sogar jünger, und trägt ihre rabenschwarzen Haare zu einem langen Zopf geflochten. Ihrer Familie gehört das Gelände, auf dem wir wohnen. Es war schon seltsam, dass Jessica, die biegsame Blonde, einen Sarong trug, während Su Caprihosen anhatte, die aussahen wie direkt aus diesem schicken Tommy Hilfiger-Katalog. Aber gerade als ich dachte, dass Bali vielleicht doch westlicher war als erwartet, beugte sich Su vor, hob mein riesiges Kofferungetüm hoch und wuchtete es sich auf den Kopf.

Abartig. Ich fing an zu protestieren (Heiliges Kolonialistenrohr! Bist du Batwoman?), aber sie wehrte ab. Sie packte mit ihren glatten braunen Armen den Koffer an beiden Seiten und hievte ihn sich einfach auf den Kopf. Schande über mich. Vor meinem Abflug aus Seattle gab mir mein Freund Dan einen Autoaufkleber für mein Gepäck (nebst dem guten Rat, mich als Kanadierin auszugeben), und da klebte er nun und schrie mir ein paar Zentimeter über Sus Stirn zu: MARXISTEN POPPEN WIE DIE IRREN.

Sie kicherte belustigt, als sie mein Gesicht sah. »Er ist nicht schwer.« Na dann.

Als Nächstes folgte ich Jessica und Su zum Pavillon und weiter an ihm vorbei in das heiße grüne Labyrinth aus terrassierten Reisfeldern, die sich in alle Richtungen erstreckten. Aus manchen schossen lange, dünne Stängel in die Höhe, wie auf unseren Weizenfeldern. Ich ließ die Finger durch sie hindurchgleiten, als wären sie Haare. Andere Felder waren offensichtlich jüngeren Datums, nur blanke Erde mit einer dünnen Wasserschicht darüber, wie gigantische, horizontale Spiegel. Ich sah unsere Spiegelbilder, wenn wir von einer Terrasse zur nächsten sprangen und auf engen Pfaden über Lehm und Gras wanderten. Su konnte sogar mit meinem Gepäck auf dem Kopf Sprünge machen. Nicht zu fassen.

Alles roch nach Hitze und Entenkacke. Meine Augen waren wie geblendet von dem vielen Grün.

Nach ungefähr zwanzig Minuten kamen wir bei den Bali-Hai-Bungalows an, meinem Zuhause für die nächsten beiden Monate.

Was habe ich vorhin geschrieben? Es ist Schwachsinn, sich im Voraus unnötig aufzuregen, weil man sowieso nicht weiß, was einen erwartet? Genau. Eine Strohhütte? Von wegen! Das hier ist eine Villa!

MARXISTEN POPPEN WIE DIE IRREN.

Als ich nach oben schaute und unser Haus uns entgegenglänzte, fiel mir der Song aus The Sound of Music ein, in dem Maria sinngemäß trällert: Irgendwann im Leben muss ich mal was richtig gemacht haben.

Und dann dachte ich: Wenn das Volk revoltiert, dann knüpfen sie zuerst die Bewohner solcher Häuser auf.

Aber dann wurde ich vom Pool abgelenkt.

Eigentlich sind es drei Pools. Drei Pools! Ein normal großer Pool, ein Kinderbecken und ein noch kleinerer … das Säuglingsbecken? Vor meinem geistigen Auge entstand das Bild eines Hunde-Pools, in dem sich das mordlustige Rudel suhlt und Cocktails mit Deko-Schirmchen schlürft.

Die Anlage besteht aus fünf großen Häusern, drei dicht an der Lehmpiste gelegen, zwei ungefähr dreißig Stufen höher. Wir haben den Wald im Rücken und blicken auf die Reisfelder hinunter.

Unser Haus liegt am weitesten von der Straße entfernt. Geflieste Veranda, glänzender Marmorfußboden, Teakmöbel in allen Zimmern. Eine Gewölbedecke im Erdgeschoss, darunter ein Futon mit einer gebatikten Tagesdecke, eine gemütliche Sitzecke am Fenster mit Tisch und Stühlen. Rechts eine steile Treppe, links eine voll eingerichtete Küche mit einem Kühlschrank voller Ananas und Papayas. Und unter der Treppe? Ein Badezimmer, das jeder Beschreibung spottet: blank polierte graue und blaue Fliesen, eine Vase mit Jasminzweigen auf der Ablage neben dem Waschbecken.

Im oberen Stockwerk, wo ich gerade sitze, befindet sich ein Schlafzimmer von der Größe meiner Wohnung in Seattle. In der Mitte steht ein großes Doppelbett mit einem Moskitonetz, das von einem Haken an der Decke herunterwallt wie ein langer, durchscheinender Kronleuchter.

 

Ich wollte gerade über die Treppe ins Badezimmer runter und starrte diese unglaublichen glotzäugigen Monster an, die um die glaslosen Fensteröffnungen – die einzige Lichtquelle auf der dunklen Treppe – herum geschnitzt sind, als ich fast mit Su zusammenstieß, die von unten kam. Sie fing sofort an zu kichern.

Ich sagte ihr, wie schön ich den Bungalow fand, und sie kicherte weiter und sagte: »Ja.«

»Ich hatte nicht erwartet, bei einem Yoga-Retreat drei Pools zur Auswahl zu haben!«

Sie runzelte die Stirn und nagte an der Unterlippe. Ich dachte, sie hätte mich vielleicht nicht verstanden, deshalb wiederholte ich: »Drei Pools, das ist toll.«

»Zwei Pools«, sagte sie. Ihr Gesicht wurde ernst, und sie suchte nach Worten. »Der kleinste Pool ist … reserviert.«

»Reserviert?«

Sie nickte und wich mir mit einem geschickten Hüftschwung aus.

Ich drehte mich um und sah ihr nach. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal. Die Schatten am oberen Ende der Treppe hatten sie schon fast verschluckt, als ich ihr hinterherrief: »Für wen ist der kleinste Pool reserviert?«

Sie antwortete, ohne sich umzudrehen: »Für Gott.«

Mitternacht

Ich glaube, ich weiß jetzt, durch welche Eigenschaft Jessica auf mich so seltsam und ungewohnt wirkt: Sie ist eine ernsthafte Person. Ernsthaft ernsthaft, meine ich. Die meisten meiner Freunde sind lustig, ironisch, sarkastisch. Theaterleute, Schriftsteller, Leser. Nun ja, Raucher eben. Raucher sind immer ironische Zeitgenossen, oder? (Obwohl mir gerüchteweise zu Ohren kam, dass uns allen nach dem 11. September die Ironie demnächst abhandenkommen wird. Anscheinend haben wir im Zeitalter der Ironie gelebt, das jetzt zu Ende ist. Merkwürdige Sache, wenn man bedenkt, dass die Ironie die meisten Kriege, Revolutionen und Seuchen der Menschheitsgeschichte überstanden hat – aber gut, wir Amerikaner sind zurzeit eben eine ziemlich empfindliche Nation.)

Nein, Jessica ist ernst und pausenlos inspiriert. Es kommt mir vor, als wären ihre Antennen immer auf einen unglaublich ergreifenden Radiosender eingestellt, der ihr die Absolut Megageilsten Nachrichten Aller Zeiten