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Carmen ist bildschön, blond und sie läuft Marathon. Ganz in Nähe ihrer Trainingsstrecke werden die Überreste einer brutal ermordeten Frau aufgefunden. Die Frau war bildschön, blond und sie lief Marathon. Ist Carmen in Gefahr? Dann geschieht ein zweiter Mord. In den Fokus der Mordermittlungen rückt zunehmend Doktor Weinfeld, erfolgreicher Schönheitschirurg und gleichzeitig Carmens Chef. Seine Geliebten nennt er Birdie und sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind bildschön und blond. Das ungleiche Ermittler-Team, Kriminalpsychologin Doktor Judith Schwarz und Kommissariatsleiter Klaus Braun, steht vor einem Rätsel und erst die Aussage eines ungewöhnlichen Zeugen bringt die beiden auf die richtige Spur ...
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Die Orte Bad Walden, Nixdorf und Freystein sowie der Freylingsee werden Sie vergeblich auf einer Landkarte suchen. Sie existieren nur in meiner Fantasie.
Auch die im Roman vorkommenden Personen und ihre Handlungen sind frei erfunden.
Den Marathon-Läufern unter Ihnen möchte ich sagen, dass der Köln Marathon auch in Zukunft wohl stets im Herbst stattfindet – ich habe ihn lediglich aus „handlungstaktischen Gründen“ in den Mai vorverlegt.
Und die Jungs vom Betzenberg spielen (leider) nicht in der ersten Bundesliga.
Da war der Wunsch der Autorin Vater des Gedankens!
Annegret Walgenbach, Jahrgang 1958, ist promovierte Diplom-Biologin und Wissenschaftliche Bibliothekarin. Sie lebt mit ihrer Familie und vielen Tieren in der Eifel. „Birdie“ ist ihr erster Roman.
Soulmate
Monsters are real, and ghosts are real too. They live inside us, and sometimes, they win.
Stephen King
Prolog
Freitag, 25. Mai 5:59 Uhr Freylingsee
Dienstag, 29. Mai 10:43 Uhr Freylingsee
11:23 Uhr Schönheitsklinik Dr. Weinfeld
Gegen 16:00 Uhr Polizeipräsidium, Raum 302
Mittwoch, 30. Mai 7:10 Uhr Polizeipräsidium, Raum 302
Freitag, 01. Juni 14:00 Uhr Polizeipräsidium
17:30 Uhr Haus Sonneck
Gegen 19:00 Uhr Luxusapartment-Komplex
19:21 Uhr Haus Sonneck
Samstag, 02. Juni 11:09 Uhr Polizeipräsidium, Raum 302
Zwei Stunden später Polizeipräsidium
Sonntag, 03. Juni 14:15 Uhr Polizeipräsidium
Etwa eineinhalb Stunden später
Montagmorgen, 04. Juni 9:34 Uhr Schönheitsklinik
Kurze Zeit später
10:49 Uhr Polizeipräsidium, Besprechungszimmer
Montag, 11. Juni 19:20 Uhr Haus Sonneck
Dienstag, 12. Juni 7:30 Uhr Schönheitsklinik
90 Minuten später
Einige Tage später bei Karl-Heinz zu Hause
Montag, 25. Juni 16:52 Uhr ehemaliges Flughafengelände
Dienstag, 26. Juni frühmorgens Freylingsee
Mittwoch, 27. Juni 11:43 Uhr Polizeipräsidium, Raum 302
14:34 Uhr Forensisches Institut Bad Walden
Donnerstag, 28. Juni 8:20 Uhr Polizeipräsidium
Später Vormittag, Schönheitsklinik
14:27 Uhr Haus Sonneck
16:30 Uhr Verhörraum im Polizeipräsidium
17:37 Uhr Haus Sonneck
19:21 Uhr Polizeipräsidium, Raum 302
Gegen 20:00 Uhr Schönheitsklinik
Freitag, 29. Juni 7:34 Uhr Schönheitsklinik
9:30 Uhr Polizeipräsidium, Besprechungsraum
14:03 Uhr Schönheitsklinik
18:25 Uhr Haus Sonneck
Samstag, 30. Juni 10:00 Uhr Polizeipräsidium, Vernehmungsraum
12:23 Uhr Polizeipräsidium, Raum 302
Gut eine Stunde später
Düsseldorf, 21:14 Uhr
Etwa vier Stunden später
Sonntag, 01. Juli gegen 10:30 Uhr ehemaliges Flughafengelände
Montag, 02. Juli 8:25 Uhr Schönheitsklinik
Zur gleichen Zeit
Fünf Stunden später
Dienstag und Mittwoch
Donnerstag, 05. Juli gegen 9:00 Uhr Schönheitsklinik
Etwa eine halbe Stunde später auf dem Polizeipräsidium
Abends gegen 20:30 Uhr Thai-Restaurant Sukhothai
Nachts, Hauptstraße des Dorfes Littgen /Vorort von Bad Walden
Stunden später
Freitag, 06. Juli
Samstag, 07. Juli 5:30 Uhr Freylingsee
Sechs Stunden später
Zwei Wochen später
Dienstag, 31. Juli 16:00 Uhr Polizeipräsidium
Epilog
Sie war bildschön und das wusste sie auch. Langes naturblondes Haar umrahmte ein fein gezeichnetes Gesicht mit Augen von der Farbe unberührter Alpenseen und einem Mund, der bei so manchem Mann gewisse Phantasien auslöste. Dazu eine Figur wie aus einem der Modehefte, in denen sie sich häufig Anregungen für gewagte Outfits holte.
Im Moment steckten ihre 1,10 Meter langen Beine allerdings in einer schlabbrigen Jogginghose und anstelle ihrer geliebten High Heels trug sie schon ziemlich ausgetretene Laufschuhe.
Wie jeden zweiten Morgen in der Woche tat Carmen etwas für ihre Traumfigur, indem sie ihre Hausstrecke lief. Einmal um den See herum und dann wieder nach Hause. 7,4 Kilometer waren es genau, wofür sie im Schnitt etwa 30 Minuten benötigte.
Heute war sie etwas schneller unterwegs als an den meisten anderen Tagen, denn obwohl es bereits Ende Mai war, war es empfindlich kalt. Ganze drei Grad hatte das Thermometer vor ihrem Schlafzimmerfenster in der Früh um 5:30 Uhr angezeigt.
Es wurde wirklich so langsam Zeit, dass die Temperaturen nach oben gingen, denn nach dem langen Winter und der anschließenden anhaltenden Kaltwetterphase sehnte sie sich nach dem ersten sonnigen Tag.
Aber die Aussichten für diesen und die kommenden Tage waren alles andere als zufriedenstellend.
Mit jedem Atemzug entließ Carmen kleine Kondenswölkchen in die Luft, als sie in ihrem gewohnten Rhythmus über den Feldweg lief.
Jede Unebenheit, jedes noch so kleine Schlagloch kannte sie hier. Sogar den Geruch der Strecke hatte sie abgespeichert. Selbst mit geschlossenen Augen hätte sie gewusst, wo sie sich gerade befand.
Im Moment roch es nach den Silberweiden und Erlen, die an dieser Stelle das Seeufer säumten. Gleich ging es etwas bergauf in Richtung Buchenhain.
Diesen Teil des Weges mochte sie besonders gern. Er schien ihr immer etwas verwunschen zu sein, wie ein Wald voller Elfen und Feengestalten.
Heute allerdings nahm sie nichts Märchenhaftes wahr. Im Gegenteil.
Trotz ihrer durch das Laufen warmen Muskeln und der kleinen Schweißperlen auf ihrer Stirn fröstelte es sie leicht, als sie die ersten Buchen erreichte. Wie Krakenarme hingen die noch kahlen Äste in den nebelverhangenen Weg hinein, so als warteten sie auf ein Opfer, um es zu umfangen und nie wieder loszulassen.
Und plötzlich spürte Carmen, dass sie nicht alleine war.
Ganz deutlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden.
In einer ersten Eingebung wollte sie stehenbleiben, um ihre Umgebung zu taxieren und herauszufinden, wer sie da beobachtete, aber eine innere Stimme riet ihr, bloß nicht anzuhalten, sondern im Gegenteil diesen Wegabschnitt möglichst schnell hinter sich zu lassen.
Mit einem unguten Gefühl im Rücken beschleunigte sie daher ihren Lauf-Rhythmus.
Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust und sie konnte spüren, wie ihr einzelne Schweißtropfen von der Stirn ins Gesicht liefen. Bevor sie sie mit einer schnellen Handbewegung wegwischen konnte, gelangte einer der Tropfen in ihr rechtes Auge und trübte für einen kurzen Moment die Sicht. Nun musste sie kurz stehenbleiben, um sich die brennende Feuchtigkeit aus dem tränenden Auge zu wischen.
Gerade als sie wieder loslaufen wollte, hörte sie es. Ein Knacken, als träte jemand auf trockene Äste, gefolgt von einem entsetzlichen, unmenschlichen Schrei. Ganz in der Nähe musste sich etwas durch den dämmrigen Wald in ihre Richtung bewegen.
Ohne sich umzuschauen rannte Carmen los und versuchte, möglichst schnell Distanz zwischen sich und der Quelle des Geräuschs zu bringen.
Ihr Herz raste, ihr Atem flog und ihre Haare peitschten ihr ins Gesicht.
Erst als sie den Buchenhain schon lange hinter sich gelassen hatte und die ersten Häuser ihres Dorfes aus dem nebelverhangenen Morgen vor ihr auftauchten, fiel sie wieder in ihren normalen Tritt.
Atemlos kam sie vor ihrer Wohnung an.
Jetzt erst drehte sie sich um, um noch einmal zurückzuschauen, aber niemand war zu sehen. Die Wegstrecke sah genauso aus wie an jedem anderen Morgen. Ruhig und verlassen.
Als sie den Wohnungsschlüssel aus ihrer Hosentasche herauszog, zitterten ihre Hände so sehr, dass sie erst mit dem dritten Anlauf das Schloss aufbekam. Nur noch in Sicherheit, weg von diesen Augen, diesem unmenschlichen Schrei.
Als die Tür hinter ihr zufiel und Carmen wieder in ihrer vertrauten Umgebung war, ließ die Panik langsam nach.
Sie setzte sich in dem sehr teuer, aber steril schwarzweiß eingerichteten Wohnzimmer in ihren Fernsehsessel, beugte sich vor, legte den Kopf zwischen ihre Knie und atmete bewusst langsam aus und ein.
Allmählich kam sie zur Ruhe.
Carmen beschloss, direkt duschen zu gehen. Normalerweise folgte auf die Joggingrunde noch Hantel-Training und anschließend eine Bauch-Beine-Po-Session, aber für heute hatte sie eindeutig genug. Lieber wollte sie etwas länger unter der Dusche stehen, um mit möglichst viel, möglichst heißem Wasser den vergangenen emotionalen Stress abzuwaschen.
So konnte sie auch etwas früher zur Arbeit fahren und den Berg von Anmeldungen, die schon seit mehreren Tagen in der untersten Schublade ihres Schreibtisches lagen, verkleinern.
In der Hoffnung, dass sie an diesem Morgen wenigstens etwas Glück hatte und Karl-Heinz die Praxis nicht vor 9:00 Uhr aufsuchte, riss sie sich die verschwitzten Klamotten vom Leib, warf sie in den Wäschekorb und stieg in ihre Duschkabine.
***
Klaus Braun, Kriminalhauptkommissar bei der Mordkommission in Bad Walden und bekennender Frauenhasser, machte seinem Spitznamen K.B., alias Kotzbrocken, an diesem Vormittag wieder alle Ehre.
Wie immer empfand es der untersetzte Achtundfünfzigjährige als persönliche Beleidigung, wenn irgendwo in seinem Zuständigkeitsbereich eine Leiche aufgefunden wurde und er als Kommissariats-Leiter den Fall übernehmen musste.
Nicht, dass ihm die Opfer nicht leid getan hätten, aber wenn sie schon so dämlich waren, sich umbringen zu lassen, warum dann nicht bitte schön 100 oder 200 Kilometer weiter weg oder am besten überhaupt in einem anderen Bundesland.
Jetzt konnte er mit seinem kleinen Team mal wieder ran, was nichts anderes hieß als Überstunden, Schicht- und Wochenend-Dienst, Lagebesprechungen und literweise ungenießbaren Kaffee.
„Wir haben hier einen Arsch voller Arbeit und wo steckt unsere neunmalkluge Psychotussi? Wenn die Schwarz in fünf Minuten noch nicht hier auf der Matte steht, dann zieh ich ihr die kurzen, fetten Hammelbeine so lang, dass sie nie wieder Schuhe mit hohen Absätzen braucht“, fluchte Braun und bückte sich, um unter der von der Spurensicherung gespannten Absperrung zum Fundort der Leiche zu gelangen.
Hier war vor etwa zwei Stunden eine menschliche Leiche, beziehungsweise die Überreste einer Leiche gefunden worden und die armen Unglücklichen, die selbige gefunden hatten, standen aufgeregt gestikulierend immer noch in der Nähe des Fundorts.
Seinen langjährigen Partner Herbert Klump im Schlepptau, ging K.B. auf die Lichtung zu, wo die von ihm hämisch als Laborratten bezeichneten Mitarbeiter der Spurensicherung in weißen Schutzanzügen ihrer Arbeit nachgingen.
„K.B., Mensch! Bleib sofort da stehen. Der Tatort ist noch nicht freigegeben. Erst müssen noch ein paar Fotos gemacht werden, dann kannst du von mir aus die ganze Lichtung mit deiner Anwesenheit kontaminieren“, meinte Rolf Klipping, Leiter der Spusi Bad Walden, genervt.
„Das ist ja mal wieder typisch für euch. Seid noch lange nicht fertig, aber ich soll schon mal hier blöd rumstehen und euch beim Erbsenzählen zugucken. Da hätte ich ja noch’ ne halbe Stunde im Büro bleiben können“, blökte K.B. in Richtung Klipping.
„Ja, blöd rumstehen, anderen beim Arbeiten zugucken und nörgeln, das ist die passende Arbeitsplatzbeschreibung“, raunte Judith Schwarz dem Leiter der Spusi zu. Der grinste nur, denn es war allseits bekannt, dass nur noch Brauns Ungeduld seine Frauenfeindlichkeit toppte. Daher machten sich die Kollegen gerne den Spaß, in Anwesenheit von K.B. besonders gründlich und langsam allen möglichen Tatortspuren nachzugehen, um den Herrn Hauptkommissar damit aufs Äußerste zu reizen.
Auch diesmal war die angewandte Strategie erfolgreich, denn schon breitete sich eine ungesunde Röte über das fleischige Gesicht des Kriminalhauptkommissars aus.
Als er dann noch die Psychotussi Judith Schwarz in einem der weißen Anzüge entdeckte, wollte er gerade loslegen, aber Herbert Klump hielt ihn mit den Worten: „Mach langsam, auch in geschlossenen Ortschaften immer nur fuffzig!“ erfolgreich zurück.
Sie waren schon ein interessantes Gespann, die Herren Braun und Klump.
Als Klipping vor zwölf Jahren in den Dienst der Polizei trat, waren K.B. und Klump bereits ein Team, und so viel er wusste, war Klump nicht nur K.B.s Partner, sondern sogar so etwas wie sein Freund, wenn man denn im Zusammenhang mit dem Kotzbrocken den Begriff Freund benutzen wollte.
Merkwürdigerweise verstanden sich die beiden wirklich gut und noch bemerkenswerter war, dass dieses Duo eine super Aufklärungsquote hatte. Die beste in NRW, raunte man sich hinter vorgehaltener Hand zu.
Klipping vermutete, dass der bei seinen Kollegen beliebte, etwas behäbige Klump den Intellekt und K.B. seinen archaischen Instinkt in das Team einbrachte. Aber wie auch immer – zusammen waren die beiden echt gut.
Nur wenn sie abgelenkt wurden, wie derzeit durch Dr. Judith Schwarz, verzettelten sich die beiden.
K.B. war heute sogar noch übellauniger als sonst, und selbst der stets in sich ruhende Klump wirkte etwas angefressen, als sich ihnen die Schwarz näherte.
Natürlich war Klump bekannt, dass Frauen im Allgemeinen und studierte Frauen im Besonderen ganz oben auf der Abschussliste seines Kollegen standen.
Dass man nun aber ausgerechnet ihnen die Harvard-Absolventin mit Eliteabschluss für eine sechsmonatige Praxiszeit als Polizeipsychologin aufs Auge gedrückt hatte, war mehr als undiplomatisch.
Klump zählte bereits jetzt die Tage, die die Schwarz noch in ihrer Abteilung verbringen würde.
Nicht, dass er etwas gegen sie gehabt hätte – aber wenn eine Frau ins Spiel kam, dann war sein alter Kumpel einfach unerträglich. Anstatt seiner Arbeit nachzugehen, konzentrierte sich K.B. lieber darauf zu überlegen, wie, wo und wann er die weibliche Zielperson in die Pfanne hauen konnte.
Dabei war die Schwarz eigentlich ganz in Ordnung.
Gut, sie war nicht gerade eine Augenweide mit ihrem dünnen Haar und dem ausgeprägten Zinken im Gesicht. Und sie trug ganz offensichtlich für ihre knapp 1,60 Meter Körpergröße zu viele Kilos mit sich herum.
Aber man war bei der Polizei ja auch nicht auf dem Laufsteg und als die Schwarz vor etwa zwei Monaten in ihre Abteilung kam, gab sie sich zu Beginn viel Mühe, mit allen auszukommen, selbst mit K.B.
Nachdem dieser sie jedoch in aller Öffentlichkeit als besserwisserische USA-Trine mit Hang zur Glatzenbildung bezeichnet hatte, zeigte ihm die Schwarz die kalte Schulter.
Ja, mittlerweile war sie genauso scharfzüngig wie K.B. und wartete nur darauf, mit ihm verbale Tiefschläge auszutauschen. So auch jetzt.
Kaum stand sie neben den beiden Polizeibeamten, schaute sie K.B. mit einem gewollt mitleidigen Blick von unten herauf an und meinte: „Also so langsam mache ich mir echt Sorgen um Sie. Sie sehen aus wie ein Feuermelder kurz vor der Explosion. Vielleicht sollte sich Dr. Hartung mal um Sie kümmern. Der kann ja gut mit Leichen. Da kann man, genau wie bei Ihnen, nicht mehr viel falsch machen.“
Noch bevor K.B. antworten konnte, winkte besagter Dr. Hartung die drei zu sich zum Fundort.
Dr. Rudolf Hartung, Forensiker, Schachgenie und Frauenschwarm, zeigte auf den Fundort. Eine kleine freie Fläche im ansonsten von Bäumen umsäumten Bereich war das Zentrum des Geschehens.
Viel war es nicht, was die Natur von dem Opfer übrig gelassen hatte. Einen Totenschädel, der auf der nach oben gewandten Seite bereits vollständig von irgendwelchen Tieren abgenagt war und auf der Unterseite noch Anhaftungen von Hautfetzen und Sehnen zeigte.
Die Reste eines Unterarmknochens, Teile des aufgerissenen Brustkorbs mit zwei Rippen, etwas Muskelgewebe sowie das freigelegte Becken.
Blaue Fasern im Beckenbereich deuteten darauf hin, dass das Opfer zum Zeitpunkt des Todes bekleidet war.
In der näheren Umgebung hatte man bis jetzt weder die fehlenden Körperteile noch irgendetwas, das auf die Identität des Opfers schließen ließ, gefunden. Lediglich Fragmente eines Schuhs, höchstwahrscheinlich eines Damenlaufschuhs, waren in der Nähe der Leiche sichergestellt worden.
Hartung, dem man eine ausgeprägte Vorliebe für tote Sprachen, insbesondere für Latein, nachsagte, gab eine erste Diagnose ab.
„Dem Pelvis, also dem Beckenknochen nach zu urteilen, handelt es sich um eine weibliche Person. Zum Alter nur so viel. Die Epiphysenfuge am Radius, ich meine hier am Unterarmknochen, ist bereits verknöchert, also ist die Tote jenseits der Adoleszenz. Ich schätze mal, eine Frau zwischen 20 und 40 Jahren. Über die Todesursache möchte ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Stellungnahme abgeben. Aber dass sie keines natürlichen Todes starb, ist ziemlich sicher.
Sie wurde, so viel kann ich bereits bis dato sagen, vaginal mit einem dicken Gegenstand und einer solchen Kraft penetriert, dass das os pubis, ich meine das Schambein, richtiggehend zertrümmert wurde. Hier können die Herrschaften das genau sehen.
Ob das todesursächlich war, kann ich derzeit noch nicht sagen. Auch nicht, ob die Vergewaltigung prä- oder postmortal durchgeführt wurde. Genauso wenig, ob Fundort gleich Tatort ist. Und jetzt kommt sicher Ihre Superfrage, verehrter Herr Braun. Seit wann liegt sie hier? Schätzungsweise drei bis vier Wochen, vielleicht auch etwas länger. Genaueres, wenn überhaupt, nach der Sectio. Schließlich haben unsere kleinen und größeren Freunde des Waldes nicht allzu viel Material übrig gelassen.
So, und wen der Herrschaften darf ich in zwei Stunden zur Obduktion erwarten?“, fragte der Gerichtsmediziner mit Unschuldsmiene, wohlwissend, dass Obduktionen beizuwohnen nicht gerade zur Lieblingsbeschäftigung der beiden Kommissare gehörte.
„Das macht heute mal unsere Harvardesse“, meinte denn auch prompt K.B. mit zynischem Unterton.
„Das ist praxisorientiertes Lernen und nicht so ein theoretisches Hörsaal-Geschwafel. Und wenn unsere werte Kollegin dann beim Abendessen keinen Appetit mehr hat, na ja, sie kann es sich ja leisten, mal etwas kürzer zu treten“, meinte er mit einem bedeutungsschwangeren Blick auf Judiths Brüste, die deutlich sichtbar im Schutzanzug zusammengepresst waren.
Judith Schwarz erwiderte diese Kampfansage ihrerseits nur mit einem eisigen Blick, doch während sie sich vom Fundort abwandte, konnte man ein deutliches „dämliches Arschloch“ hören.
„Ob man solche Kraftausdrücke auch in Harvard lernt?“, meinte K.B. grinsend, hatte er doch sein Ziel, die Schwarz vorzuführen, mal wieder erreicht.
Gut gelaunt drehte er sich zu Klipping um und fragte: „Und wo ist das Ehepaar, das die Leiche gefunden hat?“ „Stehen dort hinten. Die beiden Alten mit dem Rottweiler“, antwortete Klipping knapp.
„Wenn der Tatort freigegeben ist, bekommst du Bescheid“, meinte er noch und ging zurück zu seinen Leuten, die immer noch die umliegende Gegend absuchten. Der wird immer schlimmer. Die Judith, die ist wirklich ein armes Schwein, dass sie mit dem zusammenarbeiten muss. Und der Klump hätte ja auch mal was sagen können, anstatt betreten auf den Boden zu glotzen, dachte Klipping.
Karl-Heinz war genauso gewöhnlich, wie sein Name schon vermuten ließ. Für einen Mann mit mal eben 1,75 Meter Körperlänge war er zwar relativ klein geraten, aber sein enormer Oberkörper, kompakt gebaut bis hin zum fleischigen Stiernacken, verlieh ihm die Statur eines Menschen, dem körperliche Arbeit vertraut war.
Fremde, die Karl-Heinz zum ersten Mal sahen, glaubten, er sei ein Handwerker, vielleicht ein Waldarbeiter oder Schmied.
Und sie hatten gar nicht so unrecht, denn ein Handwerker war Karl-Heinz in der Tat. Aber sein Handwerkszeug bestand nicht aus Hammer und Säge, sondern aus Edelstahl-Skalpellen, dünnfädigem Catgut, Cauter und chirurgischen Scheren.
Der Siebenundvierzigjährige war Schönheitschirurg, sogar ein extrem erfolgreicher. Mit seinen Händen und den entsprechenden Instrumenten zauberte er aus verblühten Fünfzigjährigen wieder straffe Dreißigjährige.
Und sie kamen immer wieder in seine Klinik, diese „neugeborenen“ Dreißigjährigen. Hatten sie die erste Schönheitsoperation hinter sich, so folgten schnell weitere. Es war eine Sucht, die die Frauen, aber zunehmend auch Männer befiel.
Jeder fand etwas an sich, das verbessert werden konnte. Einmal OP, immer wieder OP. Dem Gesichts-Lifting folgte eine Straffung des Bauch- und Po-Bereichs. Nach der Lidstraffung wurde Fett abgesaugt.
Vergrößerungen der Brust standen ganz oben auf der Liste der beliebtesten Schönheits-OPs.
Im Laufe der letzten Jahre hatte Karl-Heinz unzählige solcher Mamma-Augmentationen durchgeführt und damit fast ebenso viele Frauen glücklich gemacht. Und die Frauen machten ihn glücklich.
Na ja, nicht alle.
Sibylle, seine dritte Frau, machte ihn alles andere als glücklich. Warum er sich ihretwegen von Britta, seiner lebenslustigen zweiten Gemahlin getrennt hatte, war ihm heute ein Rätsel.
Natürlich sah Sibylle toll aus, wie alle Frauen, die er im Laufe der Jahre besessen hatte, und das waren nicht eben wenige.
Aber seit der Geburt von Bill und Tom, den vierjährigen Zwillingen, lief es nicht mehr so gut. Ständig war sie müde, dauernd beklagte sie sich über Kopfschmerzen, was sie davon abhielt, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen. Nur zum Shoppen gehen oder Brunchen mit ihren Freundinnen, dafür fühlte sie sich immer fit genug. Aber andere Mütter hatten ja bekannterweise auch schöne Töchter. Und Karl-Heinz saß natürlich direkt an der Quelle. Zu ihm kamen die Schönen und die weniger Schönen.
Schon lange hatte er keine Gewissensbisse mehr, Sibylle zu betrügen.
Vor drei Jahren hatte er sich in Bad Walden, in dem neu angelegten Luxus-Appartement-Komplex eine Wohnung gekauft. Davon wusste seine Frau nichts und das sollte auch so bleiben, denn hier konnte er ungestört seine Männerphantasien mit wechselnden, willigen Gespielinnen ausleben.
Willig und jung sollten sie schon sein, seine kleinen Birdies, wie er sie liebevoll nannte. Aber er war auch ein dankbarer Liebhaber. Oft „bezahlte“ er seine Birdies mit einer kleinen Fettabsaugung, Laserpeeling der Gesichtshaut und dergleichen für erwiesene Liebesdienste.
Heute Morgen stand mal wieder eine Mamma-Vergrößerung an. Bei einer Achtzehnjährigen, die sich die Brustvergrößerung selbst zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte.
Ein süßer Käfer, auch mit kleinen Titten, dachte Karl-Heinz, während er die Brust der anästhesierten Patientin mit Skinsept G desinfizierte.
Carmen, seine Assistentin, reichte ihm die Schale, auf der er die gebrauchten Tupfer ablegte.
„Bist du in dem Alter auch mal auf die Idee gekommen, deine Titten vergrößern zu lassen?“, fragte er seine Assistentin.
„Meinst du, ich hätte das nötig?“, erwiderte Carmen etwas pikiert. „Du warst es doch, der immer gesagt hat, mein Körper sei perfekt, da gebe es nichts zu verbessern? Oder hast du mittlerweile vergessen, wie ich unter dem Kittel hier aussehe?“
Mit einer provozierenden Geste öffnete sie den obersten Knopf ihres OP-Umhangs und starrte Karl-Heinz unverwandt ins Gesicht.
Karl-Heinz, nun froh, dass der Anästhesist mal eben auf eine Zigarette den Operationssaal verlassen hatte, meinte: „Na ja, ist ja wohl schon ein Weilchen her, dass wir beide… Aber jetzt, wo du deinem Ziegenpeter den Laufpass gegeben hast, könnten wir uns ja mal wieder treffen. Über alte Zeiten reden, ein Glas Wein trinken und so. Was meinst du?“
„Gehen dir deine Birdies so langsam aus, dass du auf Altbewährtes zurückgreifen musst?“, fragte Carmen mit leicht sarkastischem Lächeln.
„Altbewährtes ist doch nicht schlecht. Ich hatte immer meinen Spaß, wenn ich bei dir eingelocht habe, und ich hatte auch den Eindruck, dass du bei mir voll auf deine Kosten gekommen bist. Wenn ich mich recht entsinne, konntest du gar nicht genug von meinem besten Stück bekommen.“
„Na, nun mach mal halb lang. Jetzt, mein Lieber, konzentrieren wir uns erst mal darauf, aus diesen Magermöpsen richtige Möpse zu machen, und dann, Herr Dr. Weinfeld, dann sehen wir weiter.“
Mit diesen Worten reichte sie ihrem Chef lächelnd das Skalpell und sah auf das betäubte Mädchen herab, das momentan noch natürliche Formen aufwies.
„Mein Gott, wie lange dauert das denn noch?“ Mit einem lauten Knall ließ K.B. den Hörer auf die Gabel zurückfallen und drehte sich in seinem Stuhl zu Klump herum.
„Der Hartung war auch mal schneller. Bestimmt hat ihm die Schwarz während der Obduktion dauernd rein gequatscht – oder vielleicht ist der auch schlecht geworden und die hat auf unser Opfer gekotzt“, meinte K.B. mit einem angewidert zynischen Gesichtsausdruck.
„Sorry, aber ich habe den Begriff Kotzen bisher nur im Zusammenhang mit Ihrem werten Namen vernommen“, meinte Judith Schwarz, die soeben das Büro betrat und noch die letzten Worte von K.B. mitbekommen hatte.
Bevor K.B. zu einer Erwiderung ansetzen konnte, bedeutete ihm die Psychologin mit einem Handzeichen zu schweigen, zog ihren Popelin-Mantel aus und warf ihn auf ihren provisorisch eingerichteten Schreibtisch.
„Also, meine Herren, hier das Neueste von der Obduktion. Unsere Jane Doe ist, unter Berücksichtigung der Fraßspuren und natürlich auch der Wetterverhältnisse in der letzten Zeit, aller Voraussicht nach etwa vor drei Wochen plus, minus zwei Tage umgekommen.
Der Leichnam weist Spuren von Sandanhaftungen auf, die man nicht mit dem Fundort in Verbindung bringen kann, mit anderen Worten: Tatort und Fundort sind höchstwahrscheinlich nicht identisch. Eine Sandprobe wurde an Lamster vom LKA geschickt.
Wie Dr. Hartung schon vermutet hat, wurde die Frau vaginal und darüber hinaus auch anal vergewaltigt. Die beigebrachten Verletzungen deuten auf einen dicken, oben abgeflachten Stiel hin, etwa in der Art eines Besenstiels, vielleicht etwas dicker. Dr. Hartung konnte schwarze Farbpartikel zumindest im Beckenbereich finden. Ob die Verletzungen vor oder nach Todeseintritt entstanden und ob sie todesursächlich sind, darauf will sich Dr. Hartung im Moment noch nicht festlegen.
Im Übrigen hat Dr. Hartung diverse Kratzspuren an einer Rippe rechtsseitig gefunden. Die Probe wird gerade elektronenmikroskopisch untersucht.“
Dr. Schwarz schaute die beiden Kriminalbeamten an.
„Ach ja, und noch etwas. Die Gewebeanhaftungen an der Leiche lassen darauf schließen, dass Jane Doe ein auffallend großes Herz gehabt hat – entweder, sie war krank oder aber sportlich sehr aktiv gewesen – das solltet ihr berücksichtigen, wenn ihr die Vermissten-Meldungen durchgeht. So, und damit mach ich Schluss für heute. Meine Herren, ich wünsche allseits noch einen schönen Restarbeitstag.“
Mit diesen Worten legte sich die Psychologin ihren Mantel über den Arm und verließ schnellen Schrittes das Zimmer.
***
K.B. war mittlerweile schon bei seinem dritten Becher Kaffee angekommen, als Klump das Zimmer betrat.
„Hey Klaus. Ich habe mal bei der Vermissten-Stelle vom BKA nachgefragt. Dort ist keine in Frage kommende weibliche Person als vermisst gemeldet.
Ich habe unsere Kollegen gebeten, die Daten durch den europäischen Fahndungscomputer laufen zu lassen. Die schauen sich jetzt mal in den Nachbarländern um – aber wenn wir Pech haben, ist unser Opfer irgend so ein armes Schwein aus dem Osten, das hier im Westen auf ein besseres Leben hoffte“, meinte Klump, während er sich ebenfalls mit Kaffee versorgte.
„Ja, und im Osten hätte das arme Schwein auch bleiben sollen, denn jetzt ist das arme Schwein ein totes armes Schwein.“
„Mein Gott Klaus. Du bist heute aber mal wieder richtig gut drauf. Welche Laus ist dir denn schon so früh am Morgen über die Leber gelaufen? Oder nein, lass mich raten. Heißt die Laus vielleicht Judith Schwarz?“
„Nein, dieses Missvergnügen hatte ich heute noch nicht. Aber lass es uns nicht beschreien, noch ist die Luft hier sauber.“
K.B. probierte erneut seinen Kaffee, verzog das Gesicht und warf zwei weitere Zuckerwürfel in seinen Becher.
„Nein, es geht um unseren Fall. Ich habe da ein ganz ungutes Gefühl.“
„Was meinst du damit – ungutes Gefühl?“
„Ich weiß nicht, aber mein Instinkt sagt mir, dass da noch mehr auf uns zukommt. Es würde mich nicht wundern, wenn wir in der nächsten Zeit einen ähnlich gelagerten Mord auf den Schreibtisch bekommen.“
„Sie meinen, wir könnten es mit einem Serientäter zu tun haben?“, fragte die Psychologin, die gerade in diesem Moment das Büro betrat.
„Vielleicht könnten Sie in Zukunft freundlicherweise an die Tür klopfen, bevor Sie hier herein stolpern und alles platt machen“, äußerte K.B. giftig mit nach oben verdrehten Augen.
„Wieso sollte ich“, erwiderte Judith Schwarz in entsprechend patzigem Ton. „Ist ja schließlich auch mein Büro. Aber wo wir gerade über gute Manieren sprechen, da…“ „Stopp, Stopp.“
In ungewohnter Lautstärke fiel Klump der Psychologin ins Wort.
„Also ganz ehrlich. So langsam habe ich keine Lust mehr auf eure Scheiß Spielchen. Wir haben, auf gut Deutsch gesagt, einen Arsch voll Arbeit und euch beiden fällt nix Besseres ein, als euch gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Wenn ihr wollt, macht weiter so, aber dann steige ich aus. Das ist mein Ernst.“
Wütend tigerte Klump durch das Büro, während Judith Schwarz und K.B. leicht betreten auf den Boden schauten.
„Also noch mal von vorne. Glaubt ihr nicht, ihr könntet eure Animositäten einfach mal vergessen? Wir haben da eine junge Frau, die unter sehr unschönen Umständen zu Tode gekommen ist. Vielleicht sollten wir uns alle mal darauf konzentrieren. Oder?“
„Finde ich ja auch, aber ich habe mit dem Streit nicht angefangen, und wenn sich Ihr Kollege weiterhin mir gegenüber wie ein ungehobelter Waldschrat verhält, dann kann er auch nicht damit rechnen, dass ich mich ihm gegenüber freundlich verhalte. Sie wissen doch, wie es in den Wald hinein schallt, so…“
„Ok. Ich will jetzt eine klare Ansage!“ Klumps Stimme klang entschlossen.
„Und zwar von euch beiden. Arbeiten wir nun endlich mal vernünftig als Team oder wollt ihr weiter streiten? Ich habe keinen Bock mehr auf diese Art der Zusammenarbeit. Also?“
Er sah von der Psychologin zu seinem Kollegen und wieder zurück.
Während K.B. noch unentschlossen auf seiner Unterlippe kaute, ging Judith Schwarz nach einigen Sekunden Pause auf den Hauptkommissar zu, hielt ihm die ausgestreckte Hand hin und fragte etwas verkrampft:
„Waffenstillstand? Für Jane Doe?“
K.B. sah Judith Schwarz in die Augen, vielleicht zum ersten Mal, seit sie zusammenarbeiteten. Langsam nickend nahm er die dargereichte Hand und erwiderte:
„Waffenstillstand. Für Jane Doe!“
Langsam entspannte sich Herbert Klump. Vielleicht brachten sie ja doch noch etwas Vernünftiges zustande, sie drei.
***
Im „Round-Table-Room“, dem Besprechungsraum des Kommissariats Bad Walden, herrschte rege Betriebsamkeit.
Klump säuberte die Flipchart, wobei er einen Schlager aus den 70ern nachpfiff, ein sicheres Indiz dafür, dass seine Nerven extrem angespannt waren.
Susi, Sekretärin, Mädchen für alles und gute Seele der Abteilung, stellte gerade die dritte Kanne Kaffee auf den langen Tisch, der das Zentrum des Raums bildete.
K.B. hatte sein umfangreiches Datenmaterial vor sich auf dem Tisch ausgebreitet und suchte scheinbar konzentriert nach einem ganz bestimmten Dokument, und die Doktoren Hartung und Schwarz unterhielten sich mit gesenkten Stimmen, in einer Ecke stehend und gelegentlich einen Schluck aus ihren Kaffeetassen trinkend.
Vier weitere Polizisten, darunter eine Frau, komplettierten die Runde.
K.B. räusperte sich mehrmals lautstark und gab damit das Startzeichen für das kommende Brainstorming. Die Anwesenden nahmen ihre Plätze an dem langen Tisch ein.
K.B. wartete, bis sich alle mit Kaffee versorgt hatten, dann begann er.
„Ich hatte heute Morgen Besuch vom Oberstaatsanwalt und ich möchte euch kurz über das Ergebnis dieses Gesprächs informieren. Wie ihr euch denken könnt, ist der OSta alles andere als zufrieden mit den bisherigen Ermittlungsergebnissen. Ich habe ihm gesagt, dass man mit so wenig Personal natürlich keine Wunder erwarten kann. Das hat er wohl eingesehen, denn wie ihr seht, ist schon Verstärkung eingetroffen.
Das sind die Kollegen von Freystein und Nixdorf, die man uns für die Lösung dieses Falls zur Verfügung gestellt hat. Vielleicht stellen sich die Herrschaften mal kurz selber vor. Danach beginnen wir mit dem Brainstorming.“
Bei der Vorstellungsrunde der neuen Kollegen kam heraus, dass keiner zuvor je mit der Kripo zusammengearbeitet hatte, aber alle hinterließen den Eindruck, sehr motiviert und engagiert zu sein.
Insbesondere Ingrid Ammer, eine etwa dreißigjährige Polizistin, die bisher in der benachbarten Kleinstadt Freystein Streife gefahren war, machte einen sehr aufgeweckten, intelligenten Eindruck. Sie war auch die Einzige, die sich Material zum Mitschreiben mitgebracht hatte.
„Ok, dann lasst uns mal anfangen. Kollege Klump wird die wesentlichen Punkte als Gedankenstütze an die Flipchart schreiben. Wenn einer von euch Fragen hat, bitte sofort melden. Keine Scheu, es gibt keine dummen Fragen, zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt.“
K.B. sah in die Runde, dann fuhr er fort:
„Also, zunächst zu den Fakten. Das Opfer ist weiblich, zwischen 20 und 40 Jahre alt. Sie wurde vor drei Tagen von dem Ehepaar Reuter, besser gesagt, deren Hund beim Gassi gehen entdeckt. Der Fundort befindet sich in der Nähe des Freylingsees, zirka 300 Meter in nordöstlicher Richtung in den angrenzenden Wald hinein.
Herbert, zeig doch mal, wo genau die Leiche entdeckt wurde.“
„Hier auf der Karte seht ihr, dass der Fundort zwar etwas abseits liegt, aber hier“, Klump zeigte auf eine dünne Linie, die quer durch ein Waldstück lief, „hier ist ein schmaler landwirtschaftlich genutzter Pfad, der direkt am Fundort vorbeiführt. Vermutlich wurde die Leiche mit einem PKW hierher transportiert und dann in unmittelbarer Nähe abgelegt“, führte Klump aus.
Ingrid Ammer hob die Hand und fragte: „Sie reden hier von einer Leiche. Heißt das, dass das Opfer bereits tot war, als es hier abgelegt wurde?“
„Definitiv. Das Opfer ist post mortem abgelegt worden, war also zum Zeitpunkt der Ablage tot“, schaltete sich nun Dr. Hartung ein.
„Vermutlich bereits sogar seit mehreren Stunden, denn obwohl das Opfer infolge der vorangegangenen massiven Verletzungen sehr viel Blut verloren haben muss, haben wir nur geringste Mengen davon am Fundort gefunden. Außerdem weist die Leiche, beziehungsweise das was von ihr noch übrig ist, Sandanhaftungen distal, das heißt auf der Körper-Rückseite auf. Es handelt sich um feinen, rotkristallinen Sand, der nicht vom Ablageort stammt. Die Spusi hat die ganze Gegend rund um den Freylingsee darauf hin überprüft, konnte aber bisher wohl nichts finden. Um in medias res zu gehen: Unser Opfer wurde nicht hier und auch nicht in der Nähe des Sees ermordet, sondern irgendwo anders, vielleicht einem Sportplatz, Tennisplatz, Schulhof oder dergleichen. Der Kollege Klipping bleibt da dran.
Da schon mein nächster Patient auf mich „wartet“ möchte ich kurz in meinen Ausführungen fortfahren, wenn es genehm ist“, sprach Hartung, an K.B. gewandt.
Als der nickte, fuhr der Rechtsmediziner fort:
„Die Leiche weist umfangreichste Fraßspuren auf, hinzu kommt mit mindestens drei Wochen eine relativ lange Liegedauer in freier Natur. Die forensische Entomologie ergab leider keine Befunde, das heißt, es konnten keine Bioindikatoren, sprich biologischen Todesmarker wie Phoridae, also Buckelfliegen und dergleichen festgestellt werden, was natürlich exakte Aussagen über die Liegezeit deutlich erschwert.
Zum Opfer selbst ist zu sagen: Die Frau war naturblond, nach Extrapolation durch die aufgefundenen Knochen zu urteilen eher klein bis mittelgroß, vielleicht um die 1,65 Meter, keinesfalls größer als 1,70 Meter. Ihr Zahnstatus weist darauf hin, dass sie ihren Zahnarzt regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen aufgesucht hat. Ihr Gebiss war nahezu makellos.
Die kardiologische Untersuchung des vorhandenen Restmaterials ergab eine Vergrößerung der Myokardzellen, das heißt der Herzmuskelzellen. Dieser Befund deutet entweder auf eine Erkrankung hin oder aber Jane Doe war Leistungssportlerin.“
Dr. Hartung machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr:
„Bezüglich Todesursache kann ich nur spekulieren. Die Verletzungen, das heißt massivste Penetration mit einem vermutlich metallischen, schwarzlackierten Gegenstand anal und vaginal wären unbedingt todesursächlich gewesen. Allerdings wurden ihr diese Verletzungen postmortal, also nach Todeseintritt, zugefügt.
Aber ich habe bei der Obduktion etwas anderes, höchst Interessantes gefunden. Man hat der Frau die rechte Mamma, ich meine Brust, entfernt, und zwar ziemlich stümperhaft, denn ich konnte deutliche Schnittspuren auf den darunter liegenden Costae, also den darunter liegenden Rippen, entdecken. Da wurde ein nicht adäquates Instrument zum Entfernen der Mamma eingesetzt. Die Frau lebte zu diesem Zeitpunkt übrigens noch. Höchstwahrscheinlich ist sie aufgrund dieser Verletzung einem hypovolämischen Schock erlegen.“
„Das heißt auf Deutsch für uns Normalbürger?“, unterbrach K.B. den Forensiker grob.
„Sie ist verblutet, werter Kollege“, gab der Rechtsmediziner gelassen Auskunft. „Sonst noch Fragen?“
„Ja.“
Wieder ging der Finger von Ingrid Ammer hoch.
„Was glauben Sie, Herr Dr.? Braucht man als Täter viel Kraft, um einer Frau solche massiven inneren und auch äußeren Verletzungen zuzufügen?“
„Sie meinen mit anderen Worten: Haben wir es hier mit einem Täter oder einer Täterin zu tun?“
„Ja, das meinte ich.“
„Nun, ich tippe aufgrund der eindeutig sexistischen Komponente des Mordes eher auf einen Mann. Theoretisch könnte auch eine starke Frau solche Verletzungen zustande bringen, aber der Kraftaufwand wäre schon enorm.“
„Außer die Täterin war außer sich vor Wut, denn auch Wut oder unendlicher Hass kann übernatürliche Kräfte freisetzen“, gab Judith Schwarz zu bedenken.
„Tja, das müssen Sie wohl besser wissen, meine Liebe, Sie gehören ja schließlich dem weiblichen Geschlecht an“, erwiderte Dr. Hartung leicht schmunzelnd und verabschiedete sich aus der Runde mit den Worten:
„A bientot.“
„Glauben Sie wirklich, dass eine Frau eine solche Gräueltat an einer anderen Frau verüben könnte?“, fragte Ammer, wobei sie der Psychologin zweifelnd ins Gesicht schaute.
„Im Moment glaube ich alles und nichts. Ich möchte nur nicht, dass wir bereits im Vorfeld falsche Schlüsse ziehen, die uns dann in eine falsche Richtung führen. Von daher sollten wir zumindest derzeit nichts einschränken und auch nichts ausschließen.“
„Der Meinung bin ich übrigens auch“, brummte K.B, wofür er zustimmendes Nicken von Klump und ein überraschtes „Hach“ von der Schwarz erhielt, „aber bevor wir unser Interesse auf den Täter lenken, sollten wir uns erst einmal das Opfer anschauen. Erst wenn wir wissen, wer Jane Doe ist beziehungsweise war, können wir uns mit der Frage beschäftigen, warum gerade sie Opfer einer solchen Gewalttat wurde. Das heißt, oberste Priorität hat die Identifizierung des Opfers.
Uns wurde noch kein Treffer bei BKA und SIS angezeigt. Sie beide, Pfeiffer und, wie heißen Sie noch mal? Streber, ok. Streber, Sie schauen sich mal die internationale Vermissten-Datei an. Nehmen Sie Kontakt zu Interpol auf und gehen zurück bis Datum 01. Mai. Und schicken Sie denen unbedingt die Zahnaufnahmen.
Da muss doch was zu finden sein, verdammt noch mal. Sie können direkt loslegen, die Susi kann Sie in die entsprechenden Datenbänke einloggen.
Frau Ammer, Sie und Ihr Kollege Köller durchforsten mal das world wide web nach möglichen Tatwaffen. Wir müssen unbedingt herausfinden, welchen Gegenstand der Täter benutzt hat. Reden Sie mit der Spusi, schauen Sie sich die Unterlagen von unserem Rechtsmediziner dazu noch mal ganz genau an.“
Und an seinen Kollegen gewandt: „Herbert, du überprüfst unser System auf ähnliche Morde zu einem früheren Zeitpunkt. Hier in Deutschland. Und wenn du nicht fündig wirst, dann vergrößere den Radius. Bitte die Kollegen um Amtshilfe, denn eins sagt mir mein Bauchgefühl. Es wird nicht bei diesem einen Mord bleiben.“
„Und welche Aufgabe soll ich übernehmen?“, fragte die Psychologin.
„Nun, Sie, verehrte Frau Dr. Schwarz, nutzen bitte zunächst Ihre guten Kontakte zu Klipping“, meinte K.B. katzenfreundlich.
„Wir müssen mehr über diesen roten Sand erfahren. Wo wurde die Frau getötet, warum hat der Täter sie nicht am Tatort belassen, sondern gerade hier abgelegt? Weshalb hat er sein Opfer nicht direkt in dem Waldstück umgebracht, wieso war es ihm wichtig, Tatort und Ablageort zu trennen? Vielleicht lassen Sie mal Ihre berühmte psychologische Intuition walten und finden auf diese Fragen eine Antwort“, gab K.B. mit leicht ironischem Unterton von sich.
„Ok, das war es für heute. Wir sehen uns morgen wieder. Gleicher Ort, gleiche Uhrzeit. Und Leute, liefert mir Ergebnisse, die Uhr tickt. Danke.“
Mit diesen Worten erhob sich K.B., kramte seine Unterlagen zusammen und verschwand durch die Tür.
„Tja, und was macht er, unser großer K.B?“, fragte die Psychologin in schnippischem Ton.
„In sein Bauchgefühl hinein hören“, grinste Klump und verschwand ebenfalls.
Riesig und sehr gepflegt wirkte das Haus, in dem Lissi untergebracht war.
Sie wohnte dort bereits viele Jahre, wie viele genau, hätte sie nicht zu sagen gewusst, denn hier war ein Tag wie der andere. Nur die Freitage waren besonders, denn freitags bekam Lissi Besuch.
Es war immer derselbe Besucher, groß und schlank, der Lissi besuchte.
An schönen Tagen gingen beide im Park spazieren, bei schlechtem Wetter blieben sie auf Lissis Zimmer. Der Besucher brachte Lissi jede Woche etwas mit. Mal war es ein Kartenspiel, mal waren es Glasmurmeln oder Buntstifte, meist jedoch ein Buch, aus dem der Besucher dann auch vorlesen musste.
Am besten gefielen Lissi die Märchenbücher, weil in ihnen stets das Gute gewann und das Böse vernichtet wurde.