Bis der Nebel sich lichtet - Reinhold Vollbom - E-Book

Bis der Nebel sich lichtet E-Book

Reinhold Vollbom

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Dem Kriminalbeamten Moritz Wolff steht ein unfreiwilliger Berufswechsel bevor. Seine Freundin erfährt unterdessen, am Sterbebett ihrer Mutter, eine unliebsame Wahrheit. Bei einem Besuch, im Landhaus eines Bekannten, überschlagen sich plötzlich die Ereignisse. Unerklärliche Vorkommnisse geben Rätsel auf. Der Kripobeamte fördert Überraschendes zutage. Ein Mensch muss sterben, bis sich alles klärt, – Bis der Nebel sich lichtet.

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Ähnliche


Reinhold Vollbom

Bis der Nebel sich lichtet

Kriminalgeschichte

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein bedauernswertes Ereignis

Besuch bei Bernd

Im Dachsbau

Nachgefragt

Abschied von einem Freund

Ein neuer Anfang

Ankunft im Landhaus

Schuss auf den Blumentopf

Erkundung der Umgebung

Ein Mord geschieht

Der Nebel lichtet sich

Altvertrautes neu schaffen

Impressum neobooks

Ein bedauernswertes Ereignis

Die nur teilweise heruntergelassene Jalousie, in dem kleinen Eineinhalbzimmer-Apartment, tauchte den Raum in ein dunkles Grau. Durch einige Schlitze in den Lamellen bahnte sich das trübe Tageslicht einen Weg in das Zimmer. Dabei warf es gespenstische Formen an die gegenüberliegende Wand. Aus irgendeiner Ecke des Raumes tönte das monotone Ticken eines altertümlichen Weckers, wie schwerer Glockenschlag. Im Hintergrund hallte leise das unregelmäßig summende Zischen vorbeifahrender Autos im Zimmer. Es roch intensiv nach verbranntem Kaffee.

Das jähe Läuten des Telefons hämmerte wie ein Paukenschlag in diese Junggesellen-Idylle. Erst nach dem dritten Klingeln drang ein undeutliches Fluchen aus einer Ecke des Raumes. Von der Schlafcouch räkelte sich eine Hand zu dem kleinen Tischchen, das neben dem Bett stand. Vorsichtig tastend, suchten die Finger den Unruhestifter. Doch das Ende der Hand ertastete nur die Basisstation des schnurlosen Telefons. Der Handapparat selber lag neben der seit Stunden eingeschalteten Kaffeemaschine: von der Schlafcouch so weit entfernt, wie der Mond von der Erde.

Einen Fluch ausstoßend sprang Moritz Wolff von seiner Liegestatt auf. Es dauerte zwei, drei weitere Rufe, bis er den genauen Standort des Handapparates ausgemacht hatte.

Die Nase rümpfend betätigte er die Verbindungstaste des Apparates. »Ja?«, knurrte der fünfunddreißigjährige Kriminaloberkommissar, mit den blauen Augen schlaftrunken in die Sprechmuschel. Mit der linken Hand hielt er den Hörer ans Ohr, mit der rechten schaltete er die Kaffeemaschine aus.

Obwohl Moritz Wolff eine Geheimnummer hatte, meldete er sich am Telefon grundsätzlich ohne Namen. Somit sollte es demjenigen nicht einfach gemacht werden, der es ihm gegebenenfalls heimzahlen wollte. Es gab mehrere, die er auf Staatskosten hatte unterbringen lassen.

»Mein Gott, Kocke, hast du geschlafen?«, drang eine genervte Männerstimme aus dem Hörer. Christian Borck, sein Partner mit dem er im Dienst auf Streife fuhr, reagierte unüberhörbar verärgert.

»Schieß los, was gibt’s, Chris?«

»Was es gibt? Na, du bist gut! Der Alte hat nach dir gefragt. Ich habe ihm erzählt du bist vorgefahren und ich mach mich auch gleich auf den Weg …«

»Der Alte hat nach mir gefragt?« Misstrauisch wiederholte Moritz die Worte des anderen. Dann ruhten seine Augen fast automatisch auf den Wecker mit den übergroßen verschnörkelten Zeigern. »Es ist kurz vor fünf. Morgens oder abends, Chris?«

»Hör zu, du Scherzbold, heute ist Samstag und in genau vier Minuten ist es siebzehn Uhr. Seit über zwei Stunden warte ich hier im Büro auf dich.«

Moritz atmete lautstark aus. »Verflixt, ich muss eingeschlafen sein.«

»Ist Cindy bei dir?«

»Komm, keine Anspielungen, sonst kannst du deine Currywurst heute Abend selber bezahlen.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Was hast du gesagt? Heute ist Samstag?« Die letzten Worte sprach er langsam gedehnt, sowie ungewöhnlich leise aus. Dabei strich er sich sein fast schulterlanges braunes, etwas strähnig wirkendes Haar, aus dem Gesicht.

»Also, wann tauchst du hier im Büro auf? Ich kann den Alten nicht auf alle Zeit vertrösten.«

»Wiederhole bitte noch einmal, welchen Wochentag wir heute haben.« Der spürbar scharfe Unterton in der Stimme verunsicherte den anderen. Moritz lauschte gespannt in den Handapparat des Telefons. Statt einer Antwort seines Kollegen hörte er das hektische Rascheln von Papier.

»Äh …«, klang es unerwartet kleinlaut aus dem Hörer. »Ich habe mir gerade noch einmal den Dienstplan vorgenommen. Kocke, es tut mir leid. Ich konnte nicht wissen, dass du dir kurzfristig für heute einen freien Tag eingetragen hast.« Seine Stimme klang weinerlich.

»Der Eintrag ist schon eine Woche alt, Chris. Vielleicht kannst du dich noch daran erinnern, als ich dir vor ein paar Tagen sagte, dass ich heute mit Cindy ins Kino gehen will?!« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Und noch etwas. Sei bitte so nett und hänge den Dienstplan an die dafür vorgesehene Stelle im Büro. Gute Nacht!« Ohne einen entschuldigenden Kommentar seines Kollegen abzuwarten, betätigte Moritz die Trenntaste am Handgerät.

Sicherlich wirkte diese schroffe Reaktion auf Chris unmissverständlich einschüchternd. Andererseits konnte er seinen fünfundzwanzigjährigen Kollegen nicht mit Samthandschuhen anfassen. Die Arbeit vor Ort verlangte oftmals gestandene Männer. Bei dem vielen Elend, das sie zu Gesicht bekamen, konnten sie es sich nicht erlauben feinfühlig zu reagieren. Besonders dann nicht, wenn das eigene Leben auf dem Spiel stand. Moritz fühlte sich verpflichtet seinem Kollegen dabei behilflich in diese Position hineinzuwachsen. Dazu gehörte auch eine schroffe Reaktion, wie eben. Einen Dienstplan irrtümlicherweise falsch zu lesen, mag noch angehen. Aber bei einem Einsatzplan, bei dem Gewaltverbrecher dingfest gemacht werden müssen, kann ein derartiger Irrtum tödlich enden. Chris fehlte diese Erfahrung. Er glaubte fest daran, dass sein Arbeitskollege, aber auch Freund, ihm einmal nacheifern könnte.

Erst jetzt nahm Moritz den penetranten Geruch des verbrannten Kaffees bewusst wahr. Entsetzt sah er zur Glaskanne der Kaffeemaschine. Eine schwarze Kruste hatte sich in den gläsernen Krug eingebrannt. Ein bisschen verärgert rümpfte er die Nase. Dann zog er die Lamellen hoch. Gleich darauf öffnete Moritz das Fenster, um den schauderhaften Geruch aus der kleinen Wohnung zu vertreiben.

Er sah nochmals zu dem alten Wecker hinüber. Cindy wollte in einer Stunde kommen, um ihn zum Kino abzuholen.

Dann läutete es an der Wohnungstür. »Verdammte Bande«, fluchte er leise vor sich hin. In den vergangenen Wochen hatten spielende Kinder ihn bereits mehrmals aus dem Schlaf geklingelt. Immer, wenn er dann schlaftrunken die Tür öffnen wollte, stellte er fest, dass es sich nur um einen Scherz handelte. Insgeheim erinnerte ihn das an seine eigenen Streiche. Oft genug hatte er damit die anderen genervt. Übelnehmen konnte er das den Knirpsen deswegen nicht. Andererseits lag er danach oft lange wach. Die augenblicklichen Probleme beschäftigten ihn dann immer wieder. Ich werde den Kindern diesmal eine Warnung hinterherrufen. Dann geben sie hoffentlich eine Zeitlang Ruhe, überlegte er.

Mit wuchtigen Sätzen sprang er zur Wohnungstür, riss diese auf, um den Kindern vom Hausflurfenster aus eine Warnung zuzurufen.

Kaum das die Tür aufschlug, rannte er aus der Wohnung. Dabei hätte er fast seine Freundin umgeschubst, die davor stand. Den Schwung, der ihn nach vorn schob, stoppte erst auf den Stufen der herabführenden Treppe.

»Cindy?«, fragte er überrascht. Sein überaus freundlicher Gesichtsausdruck wirkte momentan wie eingefroren.

Diese sah ihn erstaunt an. »So einen stürmischen Empfang hatte ich lange nicht mehr«, schmunzelte sie. Um ihre Mundwinkel bildeten sich kleine, kaum wahrnehmbare Grübchen. Die freche Miene, unter dem kurzen schwarzen Haar, sah ihn herausfordernd fragend an.

Doch die Aufmerksamkeit von Moritz galt nicht seiner Freundin. Die schwarzen, feurig fordernden Pupillen von Cindy, ließen ihn im Moment kalt. Er sah mit halbgeöffnetem Mund an ihr vorbei. Ohne etwas dagegen unternehmen zu können, musste er mit ansehen wie die Wohnungstür, mit zunehmender Geschwindigkeit, ihre Stellung veränderte. Ein lautstarkes Knallen beendete den Vorgang.

Erschrocken sah Cindy sich um.

»Verflixt, das Fenster ist auf! Deswegen ist Durchzug.«

»Wenn ich dich so ansehe«, sprach sie zu ihm, »gehe ich davon aus, dass der Schlüssel in der Wohnung liegt.«

Erst jetzt kam ihm ins Bewusstsein, dass er nur mit einer Unterhose bekleidet im Treppenhaus stand. Er hatte sich nur etwas entspannt auf das Bett gelegt. Gleich darauf musste er eingeschlafen sein.

Schlagartig weiteten sich auf einmal aufgeregt Moritz’ Augen. Er vernahm das Geräusch vom sanften Abbremsen des Aufzuges. Gleich darauf öffnete sich die Tür vom Lift.

Die ältere Dame, die an den beiden vorbeiging, schien mit ihren Gedanken woanders zu sein. Reflexartig grüßte sie die stumm Dastehenden. Wie vom Schlag getroffen, blieb sie jedoch urplötzlich stehen. Ihr Kopf drehte sich etwas zu den beiden zurück. Dann erfasste ihr Augenpaar Moritz, wie er zwanghaft lächelnd in Unterhose dastand. Kopfschüttelnd, unverständlich leise vor sich hin schimpfend, betrat sie das Apartment, das neben dem von Moritz lag.

»Und nun?« Achselzuckend sah er seine Freundin an.

Cindy kramte etwas umständlich in ihrer Handtasche. Dann beruhigte sie ihn mit den Worten: »Mein Schatz, hast du denn ganz vergessen das du mir deinen Zweitschlüssel gegeben hast?!« Sie hörte förmlich sein erleichtertes Aufatmen, das man ihrer Meinung nach noch zwei Etagen tiefer hören konnte.

Wieder in der Wohnung stellte Moritz das Fenster in die Kipphaltung. »Ich freue mich schon auf den Film heute Abend. Wollen wir danach Essen gehen?« Nachdem er keine Antwort erhielt, sah er sie direkt an. »Is’ was?«, hakte er mit misstrauischer Miene nach.

»Mutter ist seit gestern im Krankenhaus.«

»Davon hast du mir gar nichts erzählt«, entgegnete er ein wenig verärgert.

»Ach, du weißt doch wie sie ist. Sie hat alle Krankheiten die gerade in den Frauenzeitschriften behandelt werden. Ihr Arzt hätte sie eingewiesen, sagte sie mir am Telefon. Zur Untersuchung. Und als ich Untersuchung hörte, da dachte ich, dass sie es diesmal auf die Spitze treibt. Ich hätte ja nie gedacht, dass sie wirklich krank ist. Zumindest irgendwas Ernsthaftes hat. Als ich heute Nachmittag im Krankenhaus war, habe ich mit dem Arzt gesprochen …«, mit tränenerstickter Stimme brach sie ab.

»Was hat sie denn, mein Gott, erzähl doch«, forderte er sie barsch auf.

»Sie wussten es selber nicht genau.« Bei diesen Worten rannen ihr zwei kleine Tränen über die Wangen.

»Wissen es selber nicht genau«, wiederholte Moritz entrüstet. »Wenn die Ärzte das nicht wissen, wer denn sonst?«

»Sie wollten noch ein Ergebnis von der Untersuchung abwarten. Erst dann würden sie Klarheit haben und genau wissen was los ist«, sprach sie leise.

»Und wie lange soll das noch dauern?«

»Heute Abend wissen sie Bescheid hat mir der Arzt gesagt.«

»Das kann aber auch bedeuten«, sprach Moritz mit gelassener Stimme, »dass man deiner Mutter klarmacht, dass sie kerngesund ist. – Oder wieder nur mal was Verdorbenes gegessen hat«, fügte er ein wenig spöttisch an.

»Du bist gemein. Mutter liegt im Krankenhaus und du amüsierst dich darüber.«

»Das mache ich nicht«, entgegnete er. Moritz versuchte sie zu beschwichtigen. »Wenn der Film aus ist, gehen wir nichts essen, sondern fahren zu ihr ins Krankenhaus. Einverstanden?«

»Bist du verrückt?! Glaubst du ich gehe ins Kino, während meine Mutter vielleicht schwerkrank im Krankenhaus liegt.«

»Schwerkrank«, wiederholte er lang gedehnt. »Du kennst doch ihre liebe für Krankheiten. Ich habe mir diesen Tag heute extra frei genommen, um mit dir Auszugehen. Du weißt, wie schwierig das bei mir ist. Deine Mutter wird sicherlich Verständnis dafür haben, wenn wir statt um sieben um zehn bei ihr sind.«

»Du kannst ja ins Kino gehen. Ich jedenfalls fahre ins Krankenhaus.«

»Das kann doch nicht dein ernst sein, Cindy?«

»Und ob das mein ernst ist«, erwiderte sie wutentbrannt.

»Also, pass auf. Ich mache dir einen Vorschlag. Wir rufen jetzt im Krankenhaus an und fragen wie es ihr geht. Sollten die Ärzte keine Bedenken haben und sie morgen früh entlassen wollen, fahren wir entweder nach dem Kino ins Krankenhaus oder aber«, er zuckte mit den Achseln, »gar nicht hin.«

»Hast du die Nummer vom Krankenhaus? Sie liegt im Gertrauden.«

Moritz blätterte in seinem Notizheft. Dann tippte er eine Nummer in den Tastenwahlblock vom Handapparat. Von der Vermittlung ließ er sich den zuständigen Arzt geben.

Cindy sah ihn derweil gespannt an. Dann merkte sie, dass sich die Stirn ihres Freundes in Falten legte. Nervös knetete sie mit den Fingern.

»Ja, ich weiß, am Telefon werden keine Auskünfte erteilt. Wollen Sie meine Rufnummer vom Polizeirevier? – Gut. Hm …«, klang es nachdenklich aus Moritz’ Mund. »Ist es tatsächlich so schlimm … wissen Sie, wir hatten die Vermutung … ach so … heute Nacht wollen Sie noch operieren? … Mein Gott, das konnte ja keiner ahnen … Sie will ihre Tochter auf jeden Fall sprechen, bevor sie operiert wird? … Natürlich, wir machen uns sofort auf den Weg.« Dann sah er zu Cindy hinüber. Diese beobachtete ihren Freund mit einem ängstlichen Flackern in den Augen. »Sie müssen so schnell wie möglich operieren. Allerdings stehen die Chancen nicht gut. Nur, ohne Operation wird sie wahrscheinlich den morgigen Tag nicht erleben.«

Der Schock verhinderte, dass Cindy in Tränen ausbrach. Ihr ansonsten frecher Augenausdruck, mit dem sie ihr Gegenüber interessiert zu beobachten pflegte, den gab es nicht mehr. Die kurzen schwarzen, seidigen Haare, hingen am Kopf herunter. Ihre Haltung wirkte schlaff hilflos, eher ängstlich. Die Neunundzwanzigjährige hatte alle Mühe, nicht wie ein Schlosshund zu heulen.

»Komm, mein Schatz«, sprach er leise, eher einfühlsam. »Im Auto erzähle ich dir, was der Arzt gesagt hat.« Er zog seine dunkelbraune abgegriffene Lederjacke über das rote Baumwollhemd. Dann steckte er nachlässig die Papiere ein. Schließlich verließ er mit seiner Freundin das kleine Apartment.

Cindy sah ihren Freund fragend an. »Das war doch Amtsanmaßung, als du den Arzt gefragt hast, ob er die Rufnummer vom Polizeirevier haben möchte.«

»Aber nein«, entgegnete Moritz schmunzelnd. »Ich wollte ihn gerade bitten im Revier anzurufen und sich nach meinem Dienstplan zu erkundigen. Aus Zeitgründen konnte ich nicht im Krankenhaus vorbeifahren. Dann unterbrach er mich und fing an zu erzählen.«

»Weißt du, warum der Teufel seine Großmutter verprügelt hat?« Cindy sah ihn herb an.

»Du wirst es mir sicherlich gleich sagen«, antwortete er trocken.

»Ihr fiel keine Ausrede mehr ein.«

Auf der Fahrt zum Krankenhaus standen sie unerwartet in einer schier endlosen Autoschlange. Wie ein übergroßer Parkplatz, der auch ihren letzten Rest an Geduld einforderte. Es dauerte einige Zeit, bis sie Abbiegen konnten, um zügiger an ihr Ziel zu kommen. Schließlich hatten sie es geschafft. Erleichtert stiegen beide mit einem »Puh« aus dem Fahrzeug.

Cindy leitete ihren Freund durch die sterilen Flure des Krankenhauses. Den Weg zum Zimmer 312 kannte sie bereits.

Mehrmals wechselten sie den Gang. Dann kamen sie am Raum der Stationsaufsicht vorbei. Nebenan lag das Krankenzimmer, in dem ihre Mutter lag. Zaghaft leise klopfte Cindy an die Tür. Langsam drückte sie den Türgriff nach unten. Unverhofft schlug abrupt die Tür auf. Zwei Krankenschwestern bugsierten eilig ein Bett hinaus. An den kleinen Erhebungen der Bettdecke erkannten beide, dass ein Körper darunter liegen musste. Die Decke lag über den Kopf der darunterliegenden Person.

»Nein!« Cindy brach in ein stilles leises Schluchzen aus.

»Sind Sie die Verwandten?«, fragte ein Arzt, der ebenfalls das Zimmer verließ. »Ihre Mutter … Ich gehe davon aus, dass Sie die Tochter sind?« Die Äußerung des Weißkittligen klang eher nach einer Antwort, statt nach einer Frage. Nachdem Cindy kurz nickte, sprach der Arzt weiter. »Die Operation hat den Körper Ihrer Mutter derart geschwächt …«

Moritz fiel dem Arzt ins Wort. »Am Telefon sagten Sie mir noch, Sie würden warten, bis meine Freundin mit ihrer Mutter gesprochen hat. Das war vor einer knappen Stunde. Und nun ist sie schon operiert. Das ging ja alles sehr schnell!«

Irritiert erfasste der Mann in dem Arztkittel, Moritz’ empörtes Gesicht. Dann wendete er sich wieder Cindy zu. »Sie sind Frau Petrisch?«, hakte er kurz nach.

Die Antwort erfolgte mit einem leichten Augenaufschlag.

Der Arzt atmete einmal tief durch, bevor er weiter sprach. »Ihre Mutter liegt noch in 312. Ich nahm an, Sie gehörten zu der Verstorbenen, die bei Ihrer Mutter mit auf dem Zimmer lag. Entschuldigen Sie bitte. Aber heute Abend geht es bei uns ein bisschen hektisch zu. Seit dem Personalabbau hier … Na ja, Sie kennen das«, unterbrach er sich selber. »Sie waren heute schon einmal hier und haben mit meinem Kollegen aus der ersten Schicht gesprochen?« Er bemerkte Cindys zustimmendes Nicken. »Davon einmal abgesehen«, sagte er schließlich mit besorgniserregender Stimme, »der Zustand Ihrer Mutter ist sehr kritisch. Wie sie die letzten Wochen ohne ärztliche Hilfe ausgekommen ist, bleibt mir schleierhaft.« Zu Moritz gewandt ergänzte er. »Es ist nicht nur die Bauchspeicheldrüse.« Dann sah er wieder zu Cindy hinüber. »Es wird besser sein, Sie gehen erst einmal zu Ihrer Mutter. Ich habe sie über ihren kritischen Gesundheitszustand aufgeklärt. Deshalb bestand sie darauf, unbedingt mit Ihnen zu sprechen. Im Augenblick zählt jede Minute. Tut mir leid, wenn ich Ihnen keinen positiveren Bescheid geben kann.« Dann legte er seine Handfläche beruhigend auf ihre Schulter.

Leise vorwärts tastend betraten beide das Krankenzimmer, in dem ihre Mutter lag. Im ersten Moment sah man Moritz an, wie ihn das krankhafte Aussehen der Frau schockierte. Er ließ sich jedoch nichts anmerken.

»Hallo, Mutter! Was machst du für Sachen, sag mal?« Cindy versuchte den besorgten Unterton, in ihrer Stimme, zu überspielen.

Die Angesprochene, mit dem lichten grauweißen Haar, schmunzelte leicht zurück. »Ich weiß doch schon seit Jahren, dass ich krank bin. Allerdings dachte ich immer, ich hätte was mit dem Darm. Meist haben ja die Schmerztabletten aus der Apotheke geholfen. Aber gestern war es so schlimm, da bin zum Strasser gegangen. Na, und der hat mich sofort eingewiesen, aber das weißt du ja.«

»Du wolltest mich dringend sprechen?«

»Ja, Maria, das wollte ich.«

Cindy fand es immer ungewöhnlich, wenn alle sie bei ihrem Spitznamen riefen, ihre Mutter jedoch stets den wahren Namen benutzte.

Der leidenden Frau konnte man anmerken, dass ihr das Sprechen schwerfiel. Aus einem Grunde, der sich weniger aus ihrer Krankheit ergab, sondern eher mit dem, was ihr auf der Seele lag. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, Maria.«

Cindy und Moritz saßen auf den bis an das Bett geschobenen Stühlen. Trotzdem mussten sie genau hinhören, um jedes Wort zu verstehen.

»Bevor er mich ruft«, dabei deutete sie mit geweiteten Augen nach oben, »muss ich diese Last endlich von meiner Seele loswerden.« Sie legte eine kurze Pause ein. »Wenn dein Vater noch leben würde, dann brauchte ich heute nicht diese Angst zu haben, dir mein Geheimnis zu beichten.«

»Du hast ein Geheimnis vor mir?«

Die alte Frau nickte. »Dein Vater starb, da warst du gerade mal siebzehn. Wäre er etwas später gestorben, brauchte ich jetzt nicht solche Angst haben.«

»Wovor hast du Angst, Mutter?«

»Vor der Wahrheit, mein Kind. Vor der Lüge braucht man keine Angst zu haben. Die kann man sich hinbiegen, wie man will. Aber die Wahrheit muss man nehmen, wie sie ist, nicht wahr?! Und die Wahrheit ist … die Wahrheit ist, dass du nicht meine leibliche Tochter bist.«

Das Fallen einer Stecknadel, in diesem Augenblick, käme einem Kanonenschlag gleich.

»Dann hat Vater eine andere Frau gehabt?« Cindys Stimme zitterte bei diesen Worten.

Mühsam, mit schmerzverzerrtem Gesicht, schüttelte die alte Frau ihren im Kissen eingebetteten Kopf. »Nein. – Er war auch nicht dein leiblicher Vater. Wir haben dich adoptiert. Nun wirst du fragen, warum wir dir das nie gesagt haben. Schließlich ist es keine Schande ein Adoptivkind zu sein. Ist es auch nicht. Wir wollten es dir auch sagen. An deinem achtzehnten Geburtstag. Aber dein Vater starb ein Jahr zuvor. Und allein hatte ich Angst, fürchterliche Angst. Ich fürchtete, du würdest dich vor lauter Ärger auf und davon machen …«

»Aber Mutter, warum sollte ich mich auf und davon machen?«, unterbrach sie die andere.

Die gebrechliche Frau konnte ihre Gefühle nicht mehr verbergen. Leise weinte sie vor sich hin. »Ich weiß es doch auch nicht, warum ich das dachte. Ich dachte es eben. Dann glaubte ich, wenn du älter bist, wirst du vernünftiger sein und nicht mehr so ohne weiteres auf und davon gehen. Und so verging ein Jahr nach dem anderen. Irgendwann einmal befürchtete ich dann, du würdest es mir nicht verzeihen, dass ich dich zu spät über deine Herkunft aufgeklärt habe. Und nun ist es spät, sehr spät. Wenn du jetzt wegläufst, dann würde ich nicht mehr so lange darunter zu leiden haben.«

Cindy bettete die faltenreiche Hand ihrer Mutter in ihre ein. Minuten vergingen, ohne dass ein Wort fiel. Moritz erhob sich, schlenderte zum Fenster, um die grünroten Blätter der Bäume im Park zu beobachten.

»Natürlich laufe ich nicht weg«, unterbrach Cindy nach einer geraumen Weile die Stille. »Wie seid ihr auf mich gekommen?«

»Dein Vater hatte sich so gern ein Kind gewünscht. Er wollte unbedingt ein Mädchen. Aber einen Jungen hätte er genauso lieb gehabt. Dafür kannte ich ihn zu genau. Als mir dann ein Arzt bescheinigte, dass ich keine Kinder bekommen kann, waren wir beide sehr enttäuscht. Viele Jahre hatten wir uns damit abgefunden. Dann fragten uns Bekannte warum wir kein Kind adoptieren, wenn wir uns so sehr eines wünschten. Dein Vater erkundigte sich nach den Voraussetzungen und wenige Tage später waren wir in dem nächstgelegenen Kinderheim. Dort sahen wir uns einige Kinder an. Am liebsten hätten wir alle mitgenommen. Aber das ging natürlich nicht. Sie waren alle so süß und spielten so lieb miteinander. Bis auf eines. Das stand, mit seiner kleinen Puppe, verängstigt in einer Ecke des Raumes. Und für dieses kleine Mädchen haben wir uns spontan entschieden. Die Kleine hieß Maria.«

»Meine richtigen Eltern, kanntet ihr die?«

Die andere schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wie bin ich in das Kinderheim gekommen? Starben meine Eltern oder …?«

Die Frau im Bett schwieg einige Sekunden, bevor sie weiter sprach. »Dein Vater und ich hatten das Gefühl, dass die Leiterin vom Waisenhaus, so nannte man das früher, uns etwas verschwieg. Sie war sehr nett, teilte uns aber nur das mit, was für die Adoption notwendig war.«

»Und was war das?«, hakte Cindy nach.

»Du wurdest in Spanien geboren. Den Namen der Stadt habe ich vergessen. Dein spanischer Vater ist schon vor deiner Geburt untergetaucht. Deine leibliche Mutter hat dich allein bis zu deinem dritten Lebensjahr großgezogen und ist dann in unsere Heimat zurückgekehrt. Als sie kurz nach ihrer Rückkehr starb, kamst du ins Kinderheim.«

»Und mein Geburtsdatum, nannten sie dir mein Geburtsdatum?«

»Natürlich. Das haben wir so übernommen, wie es uns mitgeteilt wurde. Auch deinen Vornamen haben wir übernommen: Maria. Wir haben der Leiterin unsere ganzen Papiere, Genehmigungen, und was weiß ich alles, gegeben. Dein Vater hat den Papierkram mit ihr gemacht. Ich habe mich um dich gekümmert. Du warst noch nicht lange im Kinderheim, deshalb mussten sie deine Sachen noch zusammensuchen. Die ersten Augenblicke standest du verschüchtert neben uns. Das gab sich aber schnell. Im Auto glänzten deine Augen bereits vor Freude und wahrscheinlich auch Neugier.«

»Und«, erkundigte sich Moritz, »habt ihr das Kinderheim später noch einmal besucht?«

»Besucht? Nein, warum?«, fragte sie. – »Hast du deine Kette nicht mehr? Die Goldkette mit dem eingravierten Namen.« Ihre Augen tasteten Cindys Hals mühevoll nach dem Schmuckstück ab.

Schlagartig fiel es Moritz wieder ein. Entschuldigend, mit zuckenden Achseln, sah er seine Freundin um Vergebung bittend an. »Cindy, verzeih mir. Ich bin noch nicht dazu gekommen beim Juwelier vorbeizufahren.«

»Ist die Kette kaputt?«, fragte ihre Mutter nach.

»Nein«, erwiderte Cindy, »nichts dramatisches. Sie ist mir nur ein bisschen zu klein. Moritz will einige neue Glieder einfügen lassen. Du weißt selber, wie märchenhaft schön und zierlich die einzelnen Glieder aussehen. So etwas möchten wir nicht irgendeinem Goldschmied anvertrauen.«

»Aber die Halskette ist von deiner leiblichen Mutter, mein Kind. Wir konnten uns so etwas Teures nicht leisten.«

»Hat sich mein spanischer Vater wenigstens mal nach mir erkundigt, weißt du das?«

»Erst überlässt er seine schwangere Frau sich ganz allein und dann soll er sich nach dir erkundigt haben?«

»Es gibt immer Menschen die ihre Handlungsweise später bereuen. Warum nicht auch er? Warum soll er nicht versucht haben mit meiner leiblichen Mutter oder mir Kontakt aufzunehmen? Wie hieß meine Mama überhaupt mit Familiennamen?«

»Ach, Kind …«, die Frau wälzte den Kopf im Kissen von eine auf die andere Seite. »Ich wusste es gibt nur Ärger, wenn ich dir sage, dass du adoptiert wurdest. Ich kenne den Familiennamen deiner leiblichen Mama nicht.«

»Ich möchte doch nur wissen, wo ich herkomme. Du, beispielsweise, kennst deine Herkunft. Oder Moritz. Er hat es in seinem Leben auch nicht einfach gehabt. Aber er weiß zumindest von wem er abstammt. Warum gönnst du dieses Wissen nicht auch mir? Meine Vergangenheit liegt im Nebel. Ich möchte diesen nebligen grauen Schleier lüften. Was ist daran so schlimm? Ich bin alt genug und kann einiges wegstecken.«

Ihre Mutter schwieg. Moritz hatte den Eindruck, dass sie in den letzten Minuten um Jahre alterte. Ihre Augen glänzten wässrig, inhaltslos leer. Krampfhaft lächelnd sah sie zu ihm hinüber. Man merkte, dass sie alle aufzubringende Kraft für die nächsten Worte sammelte. Schließlich nickte sie Moritz zu: »Junge, du bist ein feiner Kerl. Nur du kannst Maria davon abhalten eine Dummheit zu begehen.«

»Was für eine Dummheit? Ich verstehe Maria, wenn sie Licht in ihre Vergangenheit bringen möchte. Jeder Mensch hat ein Recht zu erfahren, unter welchen Umständen er auf die Welt kam. Wenn das nicht ganz zu klären ist, aus welchen Gründen auch immer, dann aber bitte soweit Klarheit in die Sache bringen, wie nur irgend möglich. Cindy wird es schon verkraften, wenn sie hört das ihre Mutter, meinetwegen«, er zuckte mit Achseln, dabei überlegte er kurz, bevor er weiter sprach, »minderjährig war. Vielleicht war es auch eine Prostituierte. Sie hat das Alter mit dieser Erkenntnis leben zu können.«

»Ach, Kinder«, stöhnte die alte Frau in ihrem Bett. »Warum, glaubt ihr, wird auf dieser Welt so viel gelogen? Ich habe es euch vorhin schon einmal gesagt. Die Wahrheit ist, wie sie ist. Man kann sie nicht ändern. Wir sind gezwungen sie hinzunehmen, ob wir wollen oder nicht. Ist diese Wahrheit angenehm, weil wir vielleicht beim Glücksspiel gewonnen haben, fällt es leicht uns mit ihr anzufreunden. Schwierig wird es erst, wenn die Wahrheit nicht in unsere Vorstellung passt. Wenn wir uns etwas anderes vorgestellt haben, als da plötzlich präsentiert wird. Ich habe mir ein Leben lang, mit meinen eingebildeten Krankheiten, selber was vorgemacht. In Wirklichkeit waren es alles Lügen, die ich mir so hingebogen habe, dass sie mir in den Kram passten. Die echte Wahrheit aber schmerzt. Ich spüre, dass das meine letzte Nacht hier auf Erden sein wird. Das, zum Beispiel, ist auch Wahrheit. Und die schmerzt, glaubt mir. Ich habe euch alles gesagt, was die Heimleiterin mir damals mitgeteilt hat.«

In Cindys Augen bildete sich ein wässriger Film.

»Ich will keine Volksreden halten. Denkt nur daran, eure Zukunft könnt ihr selber beeinflussen, indem ihr die Gegenwart gestaltet. Die Vergangenheit aber, die ist vorbei. Ein für alle Mal. Moritz, nimm Maria an die Hand. Schaut nach vorn und nicht zurück. Maria kam aus einem Kinderheim. Nicht mehr und nicht weniger. Sie ist ein überaus liebes Kind. Lass das im Nebel liegen, was im Nebel besser aufgehoben ist.« Bei diesen Worten sah sie ihre Adoptivtochter an.

Von allen unbemerkt, kam der Arzt unvermittelt ins Zimmer. Er sah auf seine Armbanduhr. »Tut mir leid, aber sie muss jetzt unbedingt in den OP.«

Dann kamen wieder die beiden Krankenschwestern, die das Bett aus dem Zimmer schoben. Cindy und Moritz, blieben sich selbst überlassen, im Raum zurück. Sie sahen sich schweigend an. Noch ehe sie die Worte wiederfanden, setzte überraschend ein hektisches Treiben auf dem Flur ein. Sie hörten hastig zugerufene Wortfetzen. Ein leises Scheppern, sowie Klappern, deutete auf gehetzte Beschäftigung hin.

Moritz fühlte, wie Cindys Augen fragend auf ihm ruhten. Vorsichtig öffnete er die Tür vom Krankenzimmer. Sein Kopf neigte sich auf den Gang hinaus. Interessiert versuchte er das Geschehen auf dem Flur zu Verstehen. Nach einigen Augenblicken schloss er die Tür wieder. Er drehte sich nicht um. In diesem Moment konnte er keine einzige Silbe hervorbringen. In seinem Kopf hämmerte es. Die Beine hingen wie Blei an dem Körper. Moritz lehnte sich stützend an den Türrahmen. Er hoffte, dass Cindy ihn nicht ansprach. Immer und immer wieder würgte er den massigen Kloß in seinem Hals hinunter. Hoffentlich fragte sie ihn jetzt nichts. Er mochte sich nicht umdrehen, mochte nicht, dass sie ihn mit Tränen in den Augen sah.

Moritz hatte sein Zeitgefühl verloren. Er musste auf die Uhr sehen, um festzustellen, wie lange sie bereits im Krankenzimmer standen. Schließlich atmete er einmal tief durch. Dann fasste er seine Freundin kräftig an die Hand. Gleich darauf verließen beide schweigend das Krankenhaus.

»Bleib heute Nacht bei mir«, bat Cindy ihren Freund. »Ich kann jetzt nicht allein sein.«

»Ich finde es jedenfalls gut, dass sie, bevor sie starb, noch eine Gelegenheit hatte, dir mit eigenen Worten zu sagen, dass du nicht ihre leibliche Tochter bist. Stell dir vor, du hättest das erst erfahren, wenn du ihre Papiere durchgesehen hättest.«

»Findest du das korrekt, dass sie mir das erst auf dem Sterbebett mitgeteilt hat?«

»Es wäre für alle besser gewesen, wenn du es früher erfahren hättest. Sie hat es zwar nicht böse gemeint, aber sie hat in diesem Fall wohl zu sehr an sich selber gedacht. Daran, dass du vielleicht von ihr weggehst.«

»Das wollte ich nur von dir hören, Moritz.«

»Was meinst du damit?«

»Auch ich meine es nicht böse, wenn ich in diesen einem Fall nur an mich denke. Ich beabsichtige nächste Woche Urlaub zu nehmen. Morgen rufe ich Bernd an. Da man Arbeitgeber sonntags nicht stören darf, frage ich ihn in meiner Funktion als Freundin von seinem besten Freund. Du hast doch nichts dagegen?«

»Was soll das, Cindy?«

»Ich fahre Montag oder Dienstag zum Dachsbau. Kommst du mit?«

»Wer sagt dir denn, dass es ausgerechnet dieses Kinderheim ist, aus dem sie dich geholt haben?«

»Erzähle bloß niemanden, dass du Kriminalbeamter bist. Kannst du dich nicht mehr daran erinnern, wie Mutter sagte, dass sie mit Vater zum nächstgelegenen Kinderheim fuhr, weil sie es kaum erwarten konnten ein Kind zu adoptieren? Und das nächstgelegene Heim ist nun einmal der Dachsbau.«

Moritz schwieg.

»Also, kommst du mit?«, fragte sie ihn gleichmütig. »Ich will den Schleier, der über meine Vergangenheit hängt, lüften.«

»Willst du nicht wenigstens so lange warten, bis sie unter der Erde ist?«

»Deine Verzögerungstaktik kannst du bei mir nicht anwenden.«

»Mal ehrlich, Cindy, was versprichst du dir davon? Du erfährst eventuell, dass deine leibliche Mutter eine Geistesgestörte war. Was dann?«

»Ein Grund mehr nachzuhaken. Schließlich möchte ich auch mal Kinder haben. Was soll ich denen erzählen, wenn die mich fragen wo ich geboren bin oder wer meine Eltern sind? Wenn ich ihnen dann sagen muss, dass ich es nicht weiß, will ich wenigstens die Gewissheit haben, alles unternommen zu haben dies herauszubekommen. Aber ich bin zuversichtlich, dass ich im Dachsbau die Informationen bekomme, die ich suche.«

Er hasste es an ihr, wenn sie das Dickköpfige hervorkehrte.

»Außerdem«, fuhr Cindy fort, »hast du gegenüber Mutter im Krankenhaus für mich Partei ergriffen, so dass ich deine Zurückhaltung jetzt nicht ganz verstehe.«

»Ich will nur vermeiden, dass Tatsachen ans Licht kommen, die dich nur belasten, die dir aber nicht weiterhelfen.«

»Was glaubst du, Kocke, wie mich das belastet eine Vergangenheit zu haben, die im Nebel liegt.«

Moritz kannte das. Sie von einem einmal getroffenen Vorhaben abzubringen, klappte bei ihr fast nie. Jedes Mal, wenn sie ihn bei seinem Kosenamen nannte, bestand sie besonders energisch auf ihre Meinung.

Wenige Minuten später bog er in die Taubertstraße ein. Er hielt vor dem viergeschossigen Mietshaus mit der Nummer sechzehn. Hier hatte Cindy im Erdgeschoß eine Zweizimmer-Altbauwohnung.

Moritz sah seine, um eine Handbreit kleinere Freundin, schmunzelnd an. »Hast du noch die Flasche Chianti, die ich dir neulich mitgebracht habe?« Nachdem sie nickte, sprach er weiter. »Die machen wir heute leer. Ich glaube, das haben wir uns beide verdient.« Er stellte den Motor ab. Dann küsste er sie zärtlich auf die Wange, ohne ihre feurig fordernden Pupillen nur eine einzige Sekunde aus den Augen zu lassen.

Besuch bei Bernd

Die Bäume, vor dem Haus Taubertstraße 16, verhinderten, dass das wärmende Sonnenlicht in die Wohnung im Erdgeschoß drang. Moritz hatte auch die letzte Nacht bei seiner Freundin verbracht. Etwas quälte ihn an diesem Montagmorgen. Er kannte die Ursache hierfür aber nicht. Scheinbar hatte der Tod von Cindys Adoptivmutter ihn besonders mitgenommen.

Kurze Zeit später verließ er die Wohnung seiner Freundin. Er fuhr das Fahrzeug ein wenig umständlich aus der Parklücke. Dann schlug er die Richtung zum Polizeirevier ein. Der kleine karminrote Mittelklasse-Wagen, bog schließlich auf den Parkplatz vom Polizei-Abschnitt 25 ein. Auch heute Morgen konnte er, wie immer, keine Parklücke auszumachen. Die geringe Anzahl der Stellflächen verhinderte dies. Das Geld für eine Erweiterung fehlte. Wie vieles, das aus Geldmangel im Polizeirevier nicht angeschafft werden konnte.

Suchend hüpften seine Pupillen fieberhaft von einer Karosserie zur nächsten. Immer noch in der Hoffnung, eine schmale Stellfläche für das Gefährt zu ergattern. Da! Freudig bemerkte er eine Lücke in der blechernen Perlenkette. Im gleichen Augenblick schimpfte er jedoch über sich selber. Der Parkplatz vom Abschnittsleiter! Da konnte er nicht drauffahren. Die Stirn legte sich in Falten. Der ist doch in Urlaub, überlegte er ärgerlich. Dann durfte in seiner Abwesenheit wieder niemand diesen Platz benutzen. Typisch. Es sei denn … Es sei denn, der Leiter Fünfundzwanzig, wie ihn die Mitarbeiter nannten, hatte es diesmal jemandem erlaubt, dort zu parken. Wer sollte eine derartige Erlaubnis prüfen? Ihm fiel niemand ein.

Gleich darauf schoss das Fahrzeug in die freie Parklücke. Moritz wendete den Kopf nach allen Seiten. Nein, von den Büros aus konnte ihn niemand sehen. Mit eiligen Schritten begab er sich in sein Büro in der zweiten Etage.

»Hallo, Theo.« Moritz hob kurz die rechte Hand zum Zeichen des Grußes.

Der Angesprochene erwiderte die Begrüßung beiläufig, ohne die Augen vom Schreibtisch zu heben. Kriminalhauptkommissar Theo Hansen stand kurz vor der Pensionierung. Das Arbeitsverhältnis empfand der eine wie der andere sachlich, trocken, sowie hilfsbereit. Zwischen beiden Männern lag eine Generation. Ein enormer Abstand. Die Methoden bei den Ermittlungsarbeiten mussten zwangsläufig unterschiedlich sein. Hinzu kam, dass der Neunundfünfzigjährige die letzten fünfzehn Jahre nur im Innendienst zubrachte. Streitigkeiten, über die jeweilige Arbeitsweise des anderen, trugen sie früher in aller Heftigkeit aus. Heute akzeptierten sich die Männer. Nicht mehr, nicht weniger.

»Ist Chris noch nicht da, Theo?«

»Der holt sich gerade eine Portion Pommes.«

Moritz sah flüchtig auf seine Armbanduhr. Dann schüttelte er sich deutlich. »Der Junge hat eine Ernährungsweise.«

Mit einem leichten Quietschen öffnete sich die Bürotür. Ein weiterer Mitarbeiter des Morddezernats betrat den Raum.

»Hallo, Kocke.«

»Hallo, Rüdiger«, klang es gleichzeitig wie aus einem Munde.

Dann herrschte minutenlanges Schweigen. Jeder der Anwesenden blätterte scheinbar überaus interessiert in seiner Tageszeitung.

Wieder hallte das leise Quietschen der Bürotür durch den Raum. Da jeder im Büro annahm, das Chris mit seiner morgendlichen Portion Pommes frites hereinkam, machte sich niemand die Mühe aufzuschauen.

Es herrschte absolute Ruhe im Raum. Da jedoch nach dem leisen Quietschen, keine weiteren Geräusche ertönten, sah einer nach dem anderen, über den Rand seiner Zeitung, in Richtung Tür.

»Ich hoffe, ich störe nicht, meine Herren?« Die mit scharfem Unterton gesprochenen Worte, stammten aus dem Munde des Ersten Kriminalhauptkommissars.

Zügig, aber nicht besonders übereilt, falteten alle ihre Zeitung zusammen. Diese verschwanden dann, eine nach der anderen, in den Schubladen des jeweiligen Schreibtisches.

Dann bewegte sich der Erste Kriminalhauptkommissar, Horst Richter, mit gezielten langsamen Schritten, sowie auf den Rücken zusammengefalteten Händen, auf Theo Hansen zu. »Gratuliere zur Lösung des letzten Falles«, sprach er gleich darauf zu dem vor ihm Sitzenden.

Moritz kannte seinen Dienstherrn genau. Den weiteren Verlauf des Gesprächs vorherzusagen, konnten sicherlich die anderen Kollegen genauso. Der zuerst Angesprochene hatte in der Regel kaum etwas zu befürchten. Den, auf den es sein Vorgesetzter abgesehen hatte, kam meist immer zum Schluss dran.

Dann wandte sich der Erste Kriminalhauptkommissar, mit einer ebenso belanglosen Gratulation, an Rüdiger Bachmann. Gleich darauf schritt er auf Moritz zu.

Ich also, überlegte er. Na, mal sehen, was er will.

»Herr Wolff, leider gibt es keine Möglichkeit mich auch bei Ihnen für Ihren Einsatz zu bedanken. Woran, glauben Sie, kann das liegen? Arbeiten sie nicht konzentriert genug? Werden Sie auf der Arbeit abgelenkt oder lenken Sie sich gar selber ab? Was meinen Sie?« Bei diesen Worten bohrten sich die Pupillen des Vorgesetzten durch das dicke Glas seiner Brille.

»Sie werden es mir gleich sagen, Herr Richter.« Moritz wurmte es jedes Mal, wenn der Andere auf diese Art mit der Einleitung eines Gesprächs begann. Für ihn stand jedoch unmissverständlich fest: Es musste irgendetwas Schwerwiegendes vorgefallen sein. Sein Dienstherr erschien nur zu Arbeitsbeginn im Büro, wenn es dafür einen gravierenden Grund gab.

Horst Richter stand immer noch, mit verschränkten Händen auf dem Rücken, vor Moritz. Dabei sah er dem vor ihm Sitzenden, mit in Falten gelegter Stirn, sowie zusammengekniffenen Augen, mitleidig lächelnd an. Die, seiner Meinung nach freche Art und Weise, mit der Moritz ihm geantwortet hatte, gehörte sich nicht, fand er. »Herr Wolff«, bei diesen Worten lösten sich seine Hände vom Rücken, »ich bin der Meinung, dass Sie im Dezernat nicht voll ausgelastet sind …«

»Ist meine Aufklärungsquote nicht hoch genug?«, unterbrach er seinen Vorgesetzten mürrisch. Jeder im Raum kannte die Ermittlungsergebnisse der einzelnen Mitarbeiter. Moritz hatte seit mehreren Monaten die beste Quote aufzuweisen. Das musste auch dem Ersten Kriminalhauptkommissar bekannt sein.

»Nun, die einen haben schwierige Fälle zu bearbeiten und andere haben etwas mehr Glück. Den fallen immer die einfachen Arbeiten zu. – Kommen wir zur Sache«, fuhr er nach einer kurzen Pause schroff fort. »Wenn ich Sie frage, ob Sie nicht ausgelastet sind, habe ich schließlich auch einen Grund für meine Annahme.«

Moritz wiegte verständnisvoll den Kopf erst vor, dann zurück. »Der würde mich interessieren.«

Hieraufhin zog sein Vorgesetzter ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Jackentasche. Ein kurzes Zurechtrücken der Brille, dann las er mit poetischer Ausdrucksweise vom Blatt ab:

»Es weht ein warmer Wind

in der kalten Stadt.

Es fährt ein stilles Kind

mit dem lauten Rad.

Es ist ein Guter blind

auf dem grauen Pfad.«

Verheißungsvoll bewegend, soeben das Ende der Welt verkündet zu haben, sah er hieraufhin zu Moritz hinunter. Der saß stillschweigend vor ihm. »Wissen Sie, wie ich an dieses Blatt Papier gekommen bin? Ich sag’s Ihnen. Sie haben es auf dem Kopierer liegen gelassen.«

Moritz erinnerte sich. Schmerzhaft schoss es ihm jetzt durch den Kopf. Insgeheim über sich selbst ärgernd, bereute er es, nicht besser aufgepasst zu haben. Da konnte er zu Hause noch solange nach dem Original suchen, wenn er es hier auf dem Kopierer liegen ließ. Gefunden hatte es garantiert seine Vorzimmerhexe, die einen umfangreichen Teil ihrer Arbeitszeit am Kopiergerät verbrachte. Vermutlich gab es für diesen Fund ein Extra-Lob vom Chef.

»Zukünftig möchte ich, dass Sie die verfassten Verse Ihrer Freundin, Lebensgefährtin oder was auch immer, hier nicht mehr Kopieren. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt, Herr Wolff. Im Übrigen gilt das natürlich für alle anderen hier im Raum genauso.« Bei diesen Worten ließ er seine Augen durch das Büro schweifen.

Moritz stellte sich ahnungslos, obwohl es für ihn überraschend kam. Der kommt erst gar nicht auf die Idee, dass die Dichtkunst von ihm stammen könnte, die er da vorlas. Umso besser, dann brauchte er sich nicht den spöttischen Kommentaren der Kollegen aussetzen.

Kurz bevor sein Vorgesetzter den Raum wieder verließ, dreht er sich noch einmal um. »Bald hätte ich es vergessen«, sprach er ein wenig amüsiert. »Es gibt noch etwas Dichterisches. Ein Elfchen nennt es ihre Freundin. Seine Augen tasteten das Papier in der Hand ab, bevor er die Worte vorlas.

»Urknall

unnahbare Ewigkeit

unzählige Sterne, Sternenhaufen

unser Weltenkrümmel Erde lebt

Unbegreiflich«

Sekundenlanges Schweigen. Schließlich reißt er temperamentvoll gestikulierend die Hände hoch, dabei lachte er verärgert. »Unnahbare Ewigkeit … Unnahbare Ewigkeit. Was für Worte!« Gleichzeitig verließ er mit langgestreckten Schritten das Büro. Sekunden später knallte die Tür ins Schloss.

Die anderen im Raum sahen achselzuckend zu Moritz hinüber.

Da öffnete sich die Tür ein weiteres Mal. Kommissar-Anwärter Christian Borck betrat kauend, mit einer Tüte Pommes frites in der Hand, das Zimmer. »Mein Gott, was habt ihr denn mit dem Alten gemacht? So habe ich den, um diese Uhrzeit, noch nie den Gang entlanglaufen sehen.« Da niemand auf die Frage antwortete, setzte er sich, ein wenig verständnislos, an den Schreibtisch, der direkt gegenüber von Moritz seinem stand.

Mit leicht verzogenem Mundwinkel sah dieser den Kameraden an. Er bildete mit Christian Borck ein Ermittler-Team. Beide zusammen, der fünfundzwanzigjährige Chris, sowie er, hatten manches Problem gemeinsam gelöst. Hierbei unterstützten sie sich gegenseitig. Aufrichtigkeit, wie auch Zuverlässigkeit, damit konnten beide punkten. Zwar wirkte Chris, wie Moritz es nannte, immer ein wenig trottelig, aber das täuschte. Christian Borck hatte bei Lehrgängen, sowie Schulbesuchen hervorragende Noten aufzuweisen. Moritz überragte Chris etwas an Körpergröße. Das halblang gewellte braune Haar stand dem Kommissar-Anwärter. Ausschließlich die grünen Pupillen reizten manchen Kollegen, über deren Farbe zu witzeln. Besonders bei passenden Veranstaltungen hatte immer irgendeiner eine spaßige Bemerkung zu seiner Augenfarbe parat.

Die Hand von Theo Hansen griff zum Telefonhörer. Urplötzlich schlug die Bürotür auf. Der Körper vom Ersten Kriminalhauptkommissar versperrte den Durchgang im Türrahmen. Horst Richter rief zu Moritz hinüber: »Ich schaue auf die Uhr, Herr Wolff. In fünf Minuten ist Ihr Fahrzeug vom Chef-Parkplatz verschwunden! In fünf Minuten, hören Sie?!« Gleich darauf fiel die Tür ein weiteres Mal lautstark ins Schloss.

Das mechanische Nicken des Angesprochenen bekam Horst Richter gar nicht mehr mit. Die Gedanken von Moritz beschäftigten sich augenblicklich mit etwas anderem. Fehlten da womöglich noch weitere Blätter mit Gedichten? Lagen diese etwa an irgendeiner Stelle im Büro, überlegte er fieberhaft? Es konnte auch sein, dass sie bereits Bernd hatte, sein bester Freund, der Literatur-Agent. Er sah auf die Uhr. Nein, anrufen wollte er ihn nicht. Cindy hatte diese Woche Urlaub, somit hatte er jetzt deutlich mehr um die Ohren. Da konnte er ihn nicht noch am Telefon nerven. Trotzdem, schoss es Moritz durch Kopf, hatte Bernd die aktuellen Gedichte von ihm? Es ließ ihm keine Ruhe.

»Du, Chris, ich muss unbedingt zu meinem Freund fahren. Wenn der Alte nach mir fragen sollte, sagst du ihm einfach ich ermittle im Anger-Viertel. Falls er auf die Idee kommen sollte mich vor Ort aufzusuchen. Der ist heute ja zu allem fähig. Und ins Anger-Viertel traut er sich nicht. Mit seiner Aufmachung, diesem Designer-Anzug, hat er da schlechte Karten, das weiß er. Alles klar?«

Christian Borck schlang die letzten Pommes genüsslich hinunter. Dann warf die leere Pappschachtel in den Papierkorb. »Logisch, Kocke. Wie lange brauchst du?«

»Keine Ahnung. Sollte was sein, dann komm über’s Handy.«

Moritz zog die Schreibtisch-Schublade heraus, um den Notizblock hineinzulegen. Da bemerkte er die hellgrau kartonierte Schachtel, in der Cindys verpackte Kette lag. Verflixt, überlegte er, ich muss mich noch nach einem Goldschmied erkundigen, der die Halskette erweitern kann. Er öffnete nachdenklich die kleine Schachtel. Dann besah er sich die darin aufbewahrte Goldkette. Seine Hände tasteten das kalte Metall ab. Die einzelnen Glieder wechselten sich in Kontur sowie Beschaffenheit ab. Mal gab es massige, mal feinere Kettenglieder. In der Kettenmitte hing ein sorgsam geformtes Plättchen, mit drei kleinen unsymmetrisch angebrachten Diamanten, die den eingravierten Namen Maria umgaben. Die gelblich glänzende Kette entzückte ihn. Zeitlos schlicht konnte sie durchaus, mit einer anderen eingeschliffenen Bezeichnung, auch von einem Mann getragen werden. Oft überlegte er, sich ein Duplikat anfertigen zu lassen. Es scheiterte aber immer an der Überlegung, wenn er sich Gedanken über die Höhe der Kosten machte. Deshalb schob er die Schublade wieder seufzend zu. Gleich darauf verließ er das Büro.

Wenig später fuhr er auf dem Stadtring in südlicher Richtung. Um rechtzeitig bei Bernd anzukommen, drückte er das Gaspedal etwas tiefer durch.

Das gläserne Bürogebäude, in dem sein Freund die Literatur-Agentur betrieb, wirkte ehrerbietig auf Moritz. Überraschenderweise ergatterte er direkt vor dem Gebäudekomplex einen Parkplatz. Somit brauchte er nicht in der Tiefgarage ewige Zeiten mit dem Wagen durch die engen Gänge fahren, um einen freien Platz zu finden. In der Empfangshalle betrat er den ankommenden Aufzug. Eine knappe Minute später spuckte ihn dieser im fünfzehnten Stockwerk wieder aus. Ein schmaler Gang, zwei Ecken, nach kurzem Läuten öffnete sich eine Tür.

»Du hast mir heute gerade noch gefehlt, Kocke.« Bernd Meitoschat empfing seinen Freund mit einem leichten Klaps auf der Schulter. »Cindy hat sich diese Woche frei genommen. Na ja, du weißt ja, wegen ihrer Mutter. Da brennt es soundso schon an allen Ecken und Kanten, wenn ich den Laden hier allein schmeißen muss. Wetten, dass ich das nicht lange durchhalte?«

»Oh, komm«, stöhnte Moritz, »versuch mal ohne das Wort Wetten auszukommen.«

Bernd Meitoschat forderte, mit einer kurzen Handbewegung, seinen Freund auf, Platz zu nehmen. Der sechsunddreißigjährige Literatur-Agent, mit dem dunkelblonden Haar, sowie dem unverkennbaren Bauchansatz, zwang sich in den viel zu kleinen Sessel hinter dem Schreibtisch. Sein Hemd über dem Bauch spannte sich dabei angsteinflößend. Moritz befürchtete, dass die Knöpfe jeden Augenblick wie Geschosse in alle Richtungen durch das Zimmer sausen könnten.

»Was ist, Kocke, hast du keine Manuskripte dabei?«

»Deswegen bin ich ja hier. Einige Manuskripte hatte ich dir zur Durchsicht schon geschickt. Ein paar andere habe ich noch zu Hause herumliegen. Und zwei Originale hat der Kadi vorhin im Büro vor versammelter Mannschaft vorgelesen.« Moritz erzählte ihm von dem Vorfall, der sich heute Morgen ereignete.

»Mit Kadi meinst du den Richter, deinen Chef?«

»Weißt du doch Bernd. Der Ausdruck ist unverfänglicher, als sein richtiger Name. Und der Kadi ist schließlich ein Richter in islamischen Ländern, also …«

»Mir wäre es lieber, wenn du deine Manuskripte nicht auf Raten einreichst. Du bekommst von mir eine Aufstellung von den Ausarbeitungen, die schon vorhanden sind.« Bei diesen Worten räkelte sich Bernd Meitoschat genüsslich in seinem kleinen Sessel. Die Hände verschränkte er hinter dem Kopf.

Moritz hoffte nur, dass die Knöpfe an dem Hemd wenigstens solange halten, bis er das Büro wieder verließ. »Hast du nicht mal was von einer Diät erzählt?«, fragte er nachdenklich.

Bernd Meitoschat sah seinen Freund mit besorgter Miene an. Dann klatschte er die Hände wohltuend auf den Bauch. »Mücken-Allergie«, sprach er.

»Du hast eine Mücken-Allergie?«, staunte Moritz. »Davon hast du mir nie etwas erzählt.«

»Vor Jahren hat mich mal eine Mücke in den Bauch gestochen. Die Schwellung ist bis heute nicht zurückgegangen.«

Moritz verzog seine Mundwinkel, schwieg aber.

Der Literatur-Agent beugte sich wieder nach vorn. »Ich hätte dich im Laufe des Tages angerufen. Wir müssen unbedingt miteinander sprechen …«

»Wegen den Gedichten? Hast du endlich einen Verleger gefunden?« Moritz Augen glänzten vor Erregung.

Bernd kniff die Lippen zusammen, wiegte den Kopf kaum merklich hin und her. »Nein, das ist es nicht.« Man merkte ihm an, wie schwer es ihm fiel, die wahren Worte zu finden. »Mensch Kocke, wir haben doch schon tausend Mal darüber gesprochen. Was meinst du, wieviel Leute heute Dichten und ihre Geistesblitze an den Mann oder an die Frau bringen wollen? Die Verlage werden mit solchen Sachen überschüttet. Das kann sich schon kein Mensch mehr durchlesen, was die meisten Verlage da täglich auf den Tisch bekommen …«

»In Ordnung, in Ordnung«, unterbrach Moritz ihn. »Das habe ich auch verstanden. »Aber schließlich lass ich alles über dich laufen. Du kennst die Kniffe und Tricks, damit sich die Lektoren Manuskripte ansehen. Außerdem hast du gute Beziehungen.«

Bernd Meitoschat stöhnte laut. »Glaubst du ernsthaft, dass jemand von denen ein Buch herausbringt, nur weil er mich kennt? Unabhängig von den Verkaufsaussichten?! Mach dir doch nichts vor, Kocke. So ohne weiteres geht das nicht. Vielleicht hast du Glück. Vielleicht hast du wirklich irgendwann einmal Glück. Du kannst mich auch noch so zuschütten mit deinen poetischen Werken, die Verkaufsaussichten werden dadurch nicht besser. Es tut mir leid, wenn ich dir das mal wieder so klar ins Gedächtnis zurückrufen muss. Aber anscheinend muss man das bei dir ab und zu mal.«

»Ich bleibe bei meiner Meinung«, sprach Moritz fest entschlossen, »wenn du nur wolltest …«

Laut stöhnend, dabei die Augen verdrehend, kam die genervte Antwort. »Wetten, dass …«

»Ohne Wetten, Bernd.«

»Ich wollte dich wegen etwas ganz anderem sprechen.« Die Augen des sechsunddreißigjährigen Literatur-Agenten taktierten Moritz vorsichtig. »Du erinnerst dich, wie du hier vor zehn Jahren, kurz nach meiner Büro-Eröffnung, hereinspaziert kamst und mir deine Gedichte angeboten hast? – Gut. – Du erinnerst dich hoffentlich auch daran, dass ich dir empfahl, den Schwerpunkt deiner Schreiberei auf etwas anderes zu lenken? – Gut. – Aber du warst natürlich bockig. Schreiben über was anderes, kannst du nicht, hast du gesagt.«

»Das stimmt doch auch. Ich mag zwar das Romantische im Gedicht, aber deswegen kann ich noch lange keine Liebesromane schreiben.«

»Hast du es denn schon einmal probiert?«

»Ich interessiere mich nicht dafür, Bernd. Schließlich kann ich nicht über etwas schreiben, wofür ich mich nicht interessiere, oder?!«

»Richtig. Aber es hat auch niemand von dir verlangt Liebesromane zu schreiben, oder?!«

»Auf was willst du hinaus?«

»Hast du es schon mal mit Krimis versucht? Du sitzt schließlich an der Quelle. Ich kann mir keinen geeigneteren Kandidaten vorstellen, als dich.«

»Bist du etwa der Meinung, was da täglich über die Leinwand und den Bildschirm flimmert, hat auch nur im Entferntesten was mit normaler Polizeiarbeit zu tun?« Moritz sah ihn fragend an. »Wenn du wüsstest, wie nervtötend mir diese Routinearbeit manchmal vorkommt.«

»Aber einen Kurzkrimi hast du damals geschrieben. Erinnerst du dich noch?«

»Natürlich erinnere ich mich. Du hast mich deswegen ja lange genug bedrängt. Und was ist daraus geworden? Konntest du ihn verkaufen?«

»Nein, leider. Aber das ist kein Qualitätsurteil. Auch in diesem Bereich ist der Markt überlaufen. Viele Verlage arbeiten mit Haus-Autoren. Da hat man keine Chance, selbst wenn du noch so gute Ware ablieferst. Zumindest dauert es ziemlich lange bis es da zum Erfolg kommt. Ich will dich nicht vollends entmutigen.«

»Wolltest du mich deswegen anrufen?«