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Was, wenn dein Seelenverwandter nur die Liebes deines Lebens nach dem Tod sein kann? »Bis mein Herz wieder schlägt« ist ein wunderschöner Roman über eine große, unmögliche Liebe, die doch die Zeit überdauert – und über all das, wofür es sich zu leben lohnt. Jedes Mal, wenn Emerys Herz stehen bleibt und sie sekundenlang klinisch tot ist – die Folge einer seltenen Erkrankung –, trifft sie Nick. Er hilft denen, die auf dem Weg ins Jenseits sind, sich zu verabschieden. Normalerweise sieht Nick jeden Menschen nur einmal, doch Emery begegnet er im Lauf ihres Lebens immer wieder. An dem Ort zwischen dieser und der nächsten Welt entsteht etwas zwischen den beiden, das groß ist und besonders und doch nur dort Bestand haben kann. Emerys Sehnsucht nach Nick lässt sie die Herzanfälle schließlich beinahe herbeiwünschen. Aber da ist auch noch Colin, der Bruder ihrer besten Freundin, der immer für sie da ist. Und der ihr ein Leben anbietet, in dieser Welt. Als sich Emerys Gesundheitszustand verschlechtert, muss sie eine unmögliche Entscheidung treffen. Ein Liebesroman für alle, die bei Die Frau des Zeitreisenden oder Rendezvous mit Joe Black Tränen in den Augen hatten Mitreißend, klug und tief bewegend erzählt Becky Hunter mehr als eine unglaublich schöne Liebesgeschichte: Sie erzählt von Freundschaft und Familie, davon, den eigenen Weg zu gehen, und von all den wunderbaren, unperfekten Momenten, die den Zauber unseres Lebens ausmachen. Entdecke auch Becky Hunters bittersüßen Roman »Das Chaos eines Augenblicks« über Freundinnen fürs Leben – und darüber hinaus.
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Seitenzahl: 473
Veröffentlichungsjahr: 2025
Becky Hunter
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Jedes Mal, wenn Emerys Herz stehen bleibt – die Folge einer seltenen Erkrankung –, trifft sie Nick. Er hilft denen, die auf dem Weg ins Jenseits sind, sich zu verabschieden. Normalerweise sieht Nick jeden Menschen nur einmal, doch Emery begegnet er im Lauf ihres Lebens immer wieder. An diesem Zwischenort entsteht etwas zwischen den beiden, das groß ist und besonders und doch nur dort Bestand haben kann. Emerys Sehnsucht nach Nick lässt sie die Herzanfälle schließlich beinahe herbeiwünschen. Aber da ist auch noch Colin, der Bruder ihrer besten Freundin, der immer für sie da ist. Und der ihr ein Leben anbietet, in dieser Welt. Als sich Emerys Gesundheitszustand verschlechtert, muss sie eine unmögliche Entscheidung treffen.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Anmerkung der Autorin
Danksagung
Als Emery das erste Mal stirbt, ist sie erst fünf Jahre alt. Sie spielt in einem Garten, ihrem eigenen, wie ich annehme. Es ist ein ziemlich unkonventioneller Garten, liebevoll instand gehalten und voller Kletterpflanzen, die sich an Holzgerüsten emporranken. Ein Plattenweg schlängelt sich durch das Gras bis zum Teich im hinteren Teil des Grundstücks, wo Insekten um die Lilien surren. Der Duft von frisch gemähtem Gras liegt in der Luft – allerdings nicht aus diesem Garten, der gepflegt verwahrlost ist, sondern von einem der Nachbargrundstücke, diskret verborgen hinter Hecken in der Illusion, man wäre ganz allein auf der Welt. Leise Musik dudelt aus dem leicht knisternden Radio in der Küche. Die Hintertür steht weit offen, um die Sommerbrise hereinzulocken.
Emerys Vater kümmert sich auf der Terrasse um den Grill. Die Würstchen zischen, als er sie auf den Rost legt. Ihre Mutter sitzt ein paar Meter daneben, den Sonnenhut tief ins Gesicht gezogen, ein volles Glas Rosé neben sich auf dem Beistelltisch. Kondenswasser perlt am Rand des Glases ab. Es scheint unberührt, denn all ihre Aufmerksamkeit gilt dem ausgedruckten Dokument auf ihrem Schoß.
Da ist auch noch ein zweites Mädchen, am Rand der Terrasse, nicht weit von der Stelle entfernt, wo Emery spielt. Sie ist schon älter, schätzungsweise zehn. Außerdem ist sie ziemlich groß und wirkt ein wenig schlaksig und unbeholfen. Den Teint und die Haarfarbe hat sie offenbar von Emerys Mum: olivfarbene Haut und dazu dichtes braunes Haar, das ihr wie ein Vorhang ums Gesicht schwingt. Sie liest in einem abgegriffenen Buch mit dem Titel Bist du da, Gott? Ich bin’s, Margaret. Allerdings blickt sie ständig auf und zu Emery hinüber, als wolle sie nach ihrer kleinen Schwester schauen, obwohl sie nicht ahnen kann, was gleich geschehen wird.
Widerstrebend wende ich mich Emery zu. Ich kann es nicht länger vor mir herschieben. Natürlich weiß ich, dass ich ihretwegen hier bin. Doch das Grauen liegt mir diesmal schwerer als sonst im Magen. Denn sie ist ja noch ein Kind.
Sie ist barfuß, kauert im Gras und betrachtet etwas auf dem Boden. In der einen Hand hält sie ein Stöckchen, mit der anderen stützt sie sich auf dem Boden ab. Eigentlich ist sie beinahe reglos, starrt nur vor sich hin, und auf ihrer kleinen Stirn entsteht eine Falte, als dächte sie über ein Problem nach, das sie nicht lösen kann. Dunkle Locken fallen ihr über die Schultern und umrahmen das herzförmige Gesicht. Bei seinem Anblick und der Unschuld, die sich darin spiegelt, krampft sich etwas in mir zusammen. Es ist ein schmerzhafter Stich, obwohl ich dachte, ich hätte dieses Gefühl längst in mir abgeschaltet. Aus reiner Notwendigkeit.
Mit plötzlicher Entschlossenheit springt sie auf, das Stöckchen noch immer umklammernd. Ich erkenne Grasflecken auf ihrer Latzhose, über deren Hosenbeine sie immer wieder stolpert, weil sie ihr ein bisschen zu lang sind.
»Emery?« Das ist ihr Vater. Mit zweifelnder Miene schaut er zu ihr hinüber, die Grillzange in der Hand. »Wo willst du hin?«
Das Gesicht ihrer Mutter ist halb im Schatten des Sonnenhuts verborgen, als sie aufblickt. »Lass sie doch, James.« In diesem Satz schwingt ein Seufzer mit, und ich kenne den Grund dafür. Es sollte keine Rolle spielen, wo Emery hingeht oder was sie tut. Schließlich kann ihr hier in ihrem Garten eigentlich nichts passieren. James sieht zwischen seiner Frau und seiner Tochter hin und her.
»Sie hat keine Schuhe an«, stellt er fest.
»Das macht doch nichts.«
»Am Teich gibt es Brennnesseln.«
»Tja, wenn sie sich verbrennt, wird sie lernen, in Zukunft nicht mehr barfuß draufzutreten, richtig?« Da Emerys Mutter sich wieder über ihr Dokument beugt, bemerkt sie die wortlose Missbilligung in den Augen ihres Mannes nicht.
Außerdem ist Emery sowieso schon losgelaufen. Sie rennt durch den Garten in Richtung Teich. Der Teich – vielleicht droht dort ja die Gefahr. Ich weiß nie genau, wie es passieren wird, nur dass es ganz bestimmt geschieht. Manchmal ist es offensichtlich: ein Krankenhausbett oder ein Auto, das zu schnell fährt. Aber oft tappe ich im Dunkeln. So wie heute. Da ist nichts als das Wissen, dass es bevorsteht. Unmittelbar. Ich sehe nur die kurzen Momente, ehe jemand stirbt, und kann mir so ein Bild von diesem Menschen in diesem Augenblick machen. Um den Zusammenhang zu verstehen. Glaube ich wenigstens, auch wenn ich nicht sicher sein kann. Schließlich hat mir ja nie jemand ein Regelwerk ausgehändigt.
Obwohl ich all das weiß, kann ich nicht verhindern, dass ich einen Satz auf sie zumache, versuche, sie festzuhalten und zu verhindern, dass sie sich dem Teich nähert. Denn ich will nicht mit ansehen müssen, wie dieses von Licht und Tatendrang strotzende kleine Mädchen nach Atem ringt, während Wasser in ihre Lunge dringt. Aber natürlich ist es zwecklos. Ich spüre den Ruck um die Taille, als mich etwas packt und zur Untätigkeit verdammt. Ich darf mich dem Schicksal nicht entgegenstellen.
Doch wie sich letztlich herausstellt, ist Ertrinken nicht das Problem.
»Autsch!« Wut liegt in ihrem Aufschrei, nicht Angst, nicht Schmerzen. Doch noch während sie erbost den Dorn in ihrem Fuß betrachtet, bemerke ich, dass sie blass wird. Es ist kein besonders großer Dorn. Nur ein winziges, stecknadelkopfgroßes Blutströpfchen quillt aus der Wunde. Kein Weltuntergang. Etwas, das Mami mit einer Pinzette herausholen und mit einem Küsschen heilen kann.
Doch in der Sekunde bevor sie zu Boden fällt, weiß ich es. Wie ich es immer weiß. Es ist vorbei. Einfach so. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen. Denn dieser winzige Dorn, dieser kaum sichtbare Einstich, hat genügt, um das Herz dieses kleinen Mädchens zum Stillstand zu bringen.
Sie stürzt und landet mit einem leisen Plumps auf dem sommerverdorrten Boden. Die Locken ergießen sich um ihr Gesicht. Nur wenige Zentimeter von ihren pummeligen schlaffen Fingern bleibt das Stöckchen liegen.
»Emery!« Der erste Schrei kommt von ihrer Schwester. Sie rennt durch den Garten. Ihre langen Beine überwinden mühelos die Strecke.
Ein Klappern ertönt, als die Grillzange auf der Terrasse landet und James ebenfalls losstürzt. Seine Frau ist dicht hinter ihm. Ihre Miene ist entschlossen, beinahe geschäftsmäßig, als sie sich an ihrem Mann vorbeischiebt. »Was ist los?«, fragt sie. »Emery?« Ihr Tonfall ist ein wenig barsch, so als rechne sie damit, dass die Kleine gleich wieder aufsteht. So als wolle sie ihnen nur einen Streich spielen. Dennoch höre ich die Panik, die in ihren Worten mitschwingt.
Das ist vermutlich das Schlimmste daran, obwohl ich meine Meinung dahingehend oft wieder ändere. Dennoch gehören die Schreie der Überlebenden, ihr Flehen, ihr Schluchzen – oder auch das gelähmte Schweigen, eine Leere, die sich über sie senkt – zu den Dingen, die ich am meisten verabscheue. Manchmal ist auch niemand da, wenn es zu Ende geht. Das ist genauso schwer.
Den Rest brauche ich nicht mehr mit anzusehen. Ich beobachte, wie die Mutter sich hinkauert und das Mädchen berührt. Ganz sanft, trotz ihrer entschlossenen Miene. Ich höre das Wimmern der Schwester, die über ihre Schulter späht. Und dann bin ich plötzlich an einem ganz anderen Ort. Und Emery ist es auch.
Erstaunt starrt sie mich aus ihren großen braunen Augen an. Sie trägt noch dieselbe Latzhose, die jetzt keine Grasflecke mehr hat und ihr auch nicht mehr zu groß ist. Offenbar sind ihr diese beiden Dinge im Garten nicht aufgefallen.
Unwillkürlich frage ich mich, wie ich wohl für sie aussehen mag. Ich bin ich, jedes Mal, und einige Details an mir sind konstant. Die Menschen können ihre Vorstellung von mir nicht komplett verändern. So behält zum Beispiel mein Haar stets seine Farbe – Braun wie eine Baumrinde –, und ich bin auch immer etwa gleich groß und schwer. Doch genauso wie sich meine Wahrnehmung äußerlicher Einzelheiten meiner Besucher hier verändert, gilt das, wie ich inzwischen feststellen konnte, auch umgekehrt.
»Wer bist du?« In ihrem Tonfall schwingt keine Angst mit, nur eine gesunde Portion Misstrauen.
Ich hole Luft. Eigentlich sollte ich diesen Teil des Ablaufs inzwischen aus dem Effeff beherrschen. »Ich bin hier, um dir zu helfen.« Ich bemühe mich, Ruhe und Selbstvertrauen in meine Stimme zu legen und nicht daran zu denken, wie klein sie noch ist. Daran, wie unfair es ist, dass ein Dorn ihr das Leben genommen hat. Manchmal ist dieser Punkt rasch abgehakt, zumindest bei denen, die mit dem Tod rechnen mussten und die Zeit hatten, sich damit abzufinden und Abschied zu nehmen. Diese Menschen brauchen oft nicht mehr als etwas Trost und ein paar aufmunternde Worte. Einige sind auch wütend. In diesen Fällen kann es ein wenig länger dauern. Wie wird es bei Emery sein? Was braucht sie, um ihren Tod besser akzeptieren zu können? Wie soll ich einem Kind helfen, seinen Frieden damit zu machen?
Ich spüre, wie mir etwas Saures in der Kehle aufsteigt, ein bitterer Geschmack. Vielleicht musste ich deshalb noch nie einem Kind helfen. Ich war einfach noch nicht so weit. Obwohl ich offen gestanden auch jetzt nicht das Gefühl habe, so weit zu sein. Allerdings ist es zwecklos, einen höheren Sinn in das Ganze hineingeheimnissen zu wollen. Das habe ich inzwischen aufgegeben. Zumindest habe ich es versucht.
Emery betrachtet mich mit schief gelegtem Kopf. Es ist eine sonderbare Geste, allerdings erscheint sie mir nicht vertraut, sondern vermittelt mir eher das eigenartige Gefühl, dass sie mir irgendwann vertraut werden wird. Jedenfalls bewirkt sie, dass sich meine Nackenhärchen aufstellen. »Wobei denn helfen?«, fragt sie.
Mein Mund wird trocken. Normalerweise ist meinen Besuchern mehr oder weniger bewusst, dass sie tot sind. Auch wenn wir nicht gemeinsam neben ihrer Leiche stehen und sie auch nicht zusehen müssen, wie ihre geliebten Angehörigen trauern oder in Panik geraten. Das wäre dem Prozess, »alles hinter sich zu lassen«, wohl kaum zuträglich. Was immer das auch bedeuten mag. Jedenfalls scheinen meine Besucher bei ihrer Ankunft bis zu einem gewissen Grad verstanden zu haben, was hier geschieht, so ungern sie es auch zugeben.
Liegt es am Alter der Kleinen, dass sie nicht erfassen kann, was allen anderen einleuchtet? Sie hat so wenig Lebenserfahrung. Alles muss so neu und seltsam für sie sein. Schlagartig werde ich mir meiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst. Das alles ist doch nur ein riesengroßer Mist. Man hat mich hierher abgeordnet, und nun soll ich ihr helfen, obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, wie das gehen soll. Ist das etwa fair ihr gegenüber? Dass ausgerechnet ich der Letzte sein soll, den sie vor ihrem Tod zu Gesicht bekommt? Auch wenn ich nur wenige Momente in ihrem Leben verbracht habe, bin ich felsenfest überzeugt davon, dass sie etwas Besseres verdient hat.
»Ich soll dir helfen, dich damit abzufinden …« Ihre kleinen, dichten Brauen ziehen sich zusammen, als sie die Stirn runzelt. Ja, gut, sie ist erst fünf. »Äh … ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass es dir gut geht.« Sie nickt langsam.
»Aha. Ich heiße Emery.«
»Richtig«, stimme ich zur. Ihr Name ist das Einzige, was ich bereits über sie weiß.
»Und das hier«, verkündet sie würdevoll, »ist voll schräg.«
Beinahe rechne ich mit der Frage, ob sie träumt. Menschen, die nicht loslassen können, klammern sich nämlich recht häufig an die Möglichkeit, dass sie vielleicht wieder aufwachen werden. Aber sie fragt nicht. Stattdessen schaut sie sich um, und als ihre Erinnerungen Gestalt annehmen, kommt allmählich unsere Umgebung ins Bild.
Es ist ein Schlafzimmer. Die beiden Betten sind mit zueinander passender Bettwäsche bezogen – die Decken blau-weiß gestreift, die Kopfkissen mit leuchtend blauen und violetten Blumen, dazu ein flauschiges weißes Sofakissen. Das ganze Zimmer ist eine sonderbare Kombination aus diskreter Eleganz und hoffnungsloser Übertreibung: Einerseits ist da die hellgrüne, verblasste Tapete, im Kontrast dazu nimmt ein grellbuntes abstraktes Gemälde in kühnen Farben die halbe Wand gegenüber von den Betten ein. In der Ecke gibt es ein Waschbecken mit einem kleinen Spiegel und einem hölzernen Regalbrett darüber, auf dem zwei Zahnbürsten in einem Plastikbecher stehen. Durch die geschlossene Tür weht ein leichter Geruch nach Frühstücksspeck herein.
Emery setzt sich auf eines der Betten und streckt die Hand nach der Lampe auf dem Nachttisch aus. Im Zimmer flackert ein gelbliches Dämmerlicht. »Hey, ich erinnere mich an dieses Zimmer«, sagt sie.
Das andere Bett knarzt unter meinem Gewicht, als ich mich setze. »Erzähl mal.«
Sie sieht mich an. Zum ersten Mal bemerke ich einen Anflug von Unbehagen. Normalerweise fühlen sich die Menschen wohler, wenn sie sich an früher erinnern. Nicht umgekehrt.
»Warum?«
»Möchtest du nicht reden?«
Sie zupft an dem flauschigen Kopfkissen hinter ihr, drückt es sich vor die Brust und betrachtet mich über den Rand hinweg. Da spüre ich es noch einmal. Ein Wiedererkennen. So als sei ich ihr schon einmal begegnet. Aber das stimmt nicht ganz. Denn der Blick, mit dem sie mich jetzt bedenkt, löst in mir ein Gefühl aus, als musterte mich eine ältere Version von ihr. Was unmöglich ist.
»Das ist ein BMB«, verkündet sie schließlich.
Trotz unserer Situation kann ich mir ein Lächeln nicht ganz verkneifen. »Meinst du ein B and B, Bed and Breakfast?«
»Genau. Wir waren dort im Urlaub. Mum, Dad, ich und Amber.«
»Amber ist deine Schwester?«
Sie nickt. »Meine große Schwester«, fügt sie überflüssigerweise hinzu. Aber man muss der Fairness halber einräumen, dass sie nicht wissen kann, wie viel ich weiß. »Ich durfte das Zimmer mit ihr teilen. Dieses Zimmer. Bis dahin durfte ich das nie, weil sie behauptet, dass ich sie wach halte. Sie sagt, dass ich schnarche.« Empört rümpft sie das Näschen. »Obwohl das gar nicht stimmt.« Sie drückt das Kissen fester an sich, und als sie weiterspricht, klingt sie so hilflos, dass es mir fast das Herz bricht. »Warum sind wir hier?« Ihre Stimme zittert leicht. Genau aus diesem Grund bemühe ich mich stets um professionelle Distanz und versuche, nicht zu viel über die Menschen nachzudenken. Darüber, wer sie sind und was sie verloren haben. Das ist meine einzige Möglichkeit, bei Verstand zu bleiben.
»Es ist eine Erinnerung. Deine Erinnerung.«
Zweifelnd verzieht sie das Gesicht. »Warum ist Amber dann nicht hier, wenn es meine Erinnerung ist?« Sie blickt zur Tür, als erwarte sie, dass ihre Schwester jeden Moment hereinkommt. So viel Hoffnung spiegelt sich in ihrem Gesicht, und da ist er wieder, dieser schreckliche Stich, den ich am liebsten nie mehr spüren würde, weil er so verdammt wehtut.
»Sie kann nicht kommen«, erwidere ich sanft. »Tut mir leid, aber es sind nur wir beide hier.« Andere Menschen erscheinen nie in diesen Erinnerungen. Vermutlich liegt das daran, dass sie nicht auf dieselbe Weise herkommen können. Vielleicht auch daran, dass in diesem Fall kein Platz für mich und meine Aufgabe mehr wäre. Allerdings glaube ich, dass die jeweilige Person durch diese Erinnerung eine Chance bekommt, an die Menschen zu denken, die ihr Leben zu etwas Besonderem gemacht haben. Und das ist sicher ein kleiner Trost.
Als Emery mich wieder ansieht, bemerke ich, dass ihr allmählich ein Licht aufgeht. »Ich will nach Hause«, flüstert sie.
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Nein, das stimmt nicht ganz. Eigentlich sollte ich ihr jetzt reinen Wein einschenken: Du kannst nicht mehr nach Hause. Ich habe die Worte im Ohr und weiß auch, welchen Ton ich anschlagen muss: verständnisvoll, aber entschieden. Doch sie bleiben mir in der Kehle stecken. Ich hole zittrig Luft. Auch die Erinnerungen um uns herum scheinen zu erbeben. Im ersten Moment glaube ich, dass es an mir liegt. Weil ich gerade den Verstand verliere, der das Letzte ist, was ich noch verlieren könnte. Aber Emery richtet sich auf. Ihr Blick huscht hin und her, und ihre Finger krallen sich mit aller Kraft um das Kissen.
»Was war das?«, fragt sie argwöhnisch.
»Keine Ahnung«, platze ich heraus, würde mich aber am liebsten ohrfeigen, als sie mich ängstlich ansieht. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sie sich besser fühlt. Deshalb darf ich niemals zugeben, etwas nicht zu wissen. Auch wenn es so ist. Ich habe keine Ahnung, warum diese Erinnerung so flüchtig zu sein scheint. Gerne würde ich es auf ihr Alter schieben, darauf, dass ihre Erinnerungen deshalb eben noch nicht so stabil sind. Aber ich bin nicht ganz sicher, ob es wirklich daran liegt.
»Tut mir leid«, erwidere ich. »Ich wollte dir keine Angst machen.«
»Vor dir habe ich auch keine Angst.« Bei ihr klingt das, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. »Du gehörst ja zu den Guten.«
Mühsam unterdrücke ich ein Auflachen. Zu den Guten. Vermutlich ist damit das Gegenteil von den Bösen gemeint. Es hat etwas seltsam Befriedigendes, dass sie mich als gut einstuft. »Wie kommst du darauf?« Ich kann mir die Frage nicht verkneifen.
Sie zuckt die Achseln. »Ich weiß es eben.«
»Warum hast du dann Angst?« Die Antwort liegt auf der Hand.
Sie nagt an ihrer Unterlippe. »Ich glaube, ich gehöre hier nicht hin.«
Ich gehöre hier nicht hin. Damit habe ich schon oft gerungen. Mit dem plötzlichen Tod. Damit, wer sterben soll und wer nicht. Und wann. Wer entscheidet das eigentlich?
Ich stehe auf, trete ans Fußende ihres Bettes und setze mich wieder. Obwohl die Erinnerung gerade noch so fragil war, fühlt sich der Teppich unter meinen Füßen recht fest an. Dann warte ich, bis sie Blickkontakt zu mir aufnimmt. Noch immer kauert sie sich hinter ihrem Kissen am Kopfende zusammen. »Dagegen, dass du hier bist, kann ich nicht viel tun.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. »Aber ich verspreche dir, dass alles gut wird.« Für gewöhnlich verspreche ich nichts dergleichen, sondern bin sehr vorsichtig mit irgendwelchen Zusagen. Weil ich nämlich keinen blassen Schimmer habe, was als Nächstes passiert. Also sollte ich auch nichts versprechen. Aber in diesem Fall tue ich es trotzdem.
Sie holt tief Luft und nickt. »Kann ich jetzt wieder zurück? Bestimmt machen sich alle schon Sorgen.«
Obwohl ich nicht sicher bin, was ich jetzt sagen soll, setze ich zu einer Antwort an. Doch etwas hält mich zurück. Diese Erinnerungen fühlen sich stets sehr real an, selbst wenn nie Menschen darin vorkommen. Auch jetzt höre ich unten Geschirr klappern, und unter den Geruch nach Speck hat sich Kaffeeduft gemischt. In dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken ist Emerys Scheitel zu sehen, und die Bettdecke unter meinen Handflächen fühlt sich weich an. All das habe ich erwartet. Allerdings habe ich nicht mit dem Dunst gerechnet, der sich nun über alles senkt wie Hitzeflirren über von der Sonne glühenden Asphalt. Das ist eine völlig neue Erfahrung für mich. Ebenso wie das Zittern.
Wenn die Menschen bereit sind, verblassen sie für gewöhnlich. Ich weiß nicht, wohin sie gehen oder was genau geschieht. Aber es ist fast, als lösten sie sich in der Erinnerung auf und würden ein Teil davon, bevor alles verschwindet. Emery nicht. Stattdessen werden ihre Konturen schärfer und heben sich von der diffusen Erinnerung ab.
»Was passiert da?« Ihre Stimme ist schriller geworden, was zeigt, dass sie im Grunde bloß ein verängstigtes Kind ist. Ich kehre wieder in die Gegenwart zurück, und mir wird klar, dass ich sie angestarrt habe. Emery betrachtet ihre Hände, die klar aus der nebeligen Erinnerung hervorstechen. »Was ist da los?« Ich denke daran, wie entschlossen sie aus dem Gras aufgestanden und durch den Garten gelaufen ist. Wo wollte sie hin? Ich würde sie gerne fragen, aber die Zeit ist zu Ende.
»Ich …« Ich schlucke, denn die Worte bleiben mir in der Kehle stecken. Denn eigentlich ist so etwas gar nicht möglich. »Ich glaube, unsere Zeit ist um.«
Sofort scheint sich die Anspannung in ihrem Körper zu lösen, und sie nickt, als sei diese Antwort absolut nachvollziehbar. Der Blick, den sie mir zuwirft, ist viel zu nachdenklich für ein so junges Geschöpf. »Sehe ich dich wieder?«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wenn ich jemanden sehe, ist das normalerweise das unwiederbringliche Ende. Aber bei ihr habe ich das Gefühl, dass es erst der Anfang ist.
Plötzlich verschwindet sie. Anders als die anderen nicht in einem allmählichen Verblassen, sondern auf einen Schlag. Mit einem Ruck wird sie aus diesem Ort gerissen, als hätte sie überhaupt nie hier sein sollen. Und in dem kurzen Moment, bevor sich jemand Neues zu mir gesellt, flüstere ich in die Dunkelheit hinein: »Ja, ich denke schon.«
Emery wurde vom Weinen ihrer Mum geweckt, was seltsam war, weil ihre Mum sonst nie weinte. Manchmal wurde sie rot im Gesicht, und dann begannen ihre Augen merkwürdig zu glänzen. Aber sie schluchzte nie, und genau das tat sie jetzt. Deshalb hätte Emery am liebsten gar nicht die Augen aufgemacht. Denn wenn Mum weinte, musste etwas ganz, ganz Schlimmes passiert sein.
Sie spürte die Hände ihrer Mum auf der Brust. Dass es ihre Hände waren, wusste sie deshalb, weil sie nach dem komischen Handcremezeugs rochen, das sie immer benutzte. Sie wusste außerdem, dass sie draußen lag, denn der Boden unter ihrem Rücken fühlte sich hart und uneben an, und das Gras kitzelte sie an den nackten Füßen. Außerdem hatte sie den Geruch nach Gras und Erde in der Nase. Sie spürte die Sonne auf Gesicht und Armen, doch obwohl sie ziemlich warm schien, war ihr irgendwie kalt, und sobald sie das dachte, fing sie auch schon zu zittern an. Und davon tat ihr alles weh. Es war ein schrecklicher, scharfer Schmerz, den sie nie wieder spüren wollte. Hauptsächlich tat es dort weh, wo die Hände ihrer Mum sie berührten, aber eigentlich auch sonst überall.
Ihrer Mum stockte der Atem. »Emery?«
Emery schlug die Augen auf und schaute in das rot angelaufene Gesicht ihrer Mutter. Sie stellte fest, dass ihre eine Hand viel wärmer und klebriger war als die andere, und als sie hinsah, erkannte sie Amber, die kreidebleich war und ebendiese Hand umklammerte. Neben Amber lag das Stöckchen, mit dem Emery gerade gespielt hatte. Sie hatte es fallen gelassen, das wusste sie noch. Als sie gestürzt war. Und, autsch, ja, das war der Grund! Sie spürte den Dorn in ihrem Fuß.
»Du zerquetschst mir die Hand, Amber«, sagte sie. Beim Sprechen kratzte sie die Stimme im Hals.
Amber ließ los, und ihre Mum lachte, was aber fast wie ein Schluchzen klang. »James! James, es geht ihr gut!«
»Oh, mein Gott, oh, Gott sei Dank.« Die Stimme ihres Vaters klang atemlos und komisch. Er war nicht bei ihnen auf dem Boden, doch seine Schritte näherten sich. »Emery, kann ich …«
»Was machst du da?«, schrie ihre Mum. »Warum bist du nicht am Telefon und rufst einen Krankenwagen?«
»Schon erledigt. Sie kommen gleich«, zischte ihr Dad.
»Dann geh rein und frag nach, wie lange das noch dauert!« Der scharfe Tonfall ließ Emery zusammenzucken. »Tut mir leid«, sagte ihre Mum und streichelte ihr das Haar. »Entschuldige, Schatz.«
Emery starrte sie verwirrt an. »Was ist passiert?«
»Du warst …« Ihre Mum verstummte. »Wie lange dauert das denn noch, James?«, kreischte sie stattdessen.
Als Emery sich aufsetzen wollte, hinderte ihre Mum sie daran. Emery warf einen hilfesuchenden Blick auf Amber, die sie jedoch nur ansah. Ihre Augen waren riesengroß, so als breche auch sie gleich in Tränen aus. »Wozu brauchen wir einen Krankenwagen?«, fragte Emery. Sie wusste, was ein Krankenwagen war. Krankenwagen hatten Blaulichter und brachten schwer kranke Menschen zum Arzt, damit sie dort behandelt wurden. Krankenwagen waren etwas für Leute, die sich das Bein gebrochen hatten oder gleich sterben mussten. Emery betrachtete ihre eigenen Beine und wackelte probehalber mit den Zehen. Der Dorn brannte noch, ansonsten schien alles in Ordnung zu sein.
Trotzdem sah ihre Mutter sie weiterhin so seltsam an. Emery spürte, wie ihre Unterlippe zu zittern begann. »Was ist denn los mit mir?«
Ihre Mum schluchzte wieder auf, und als sie »Nichts, alles ist gut, Schatz« sagte, klang das wie eine Lüge.
Amber lächelte inzwischen. »Das wird sicher lustig, kleine Em.« Ihre Stimme klang irgendwie rau, so wie bei einem der Bösewichte im Film. »Vielleicht schalten sie ja das Blaulicht ein.«
»Aber warum? Es geht mir gut. Ich glaube, ich bin hingefallen. Und dann war da so ein Mann …«
»Ein Mann?«, unterbrach ihre Mum argwöhnisch.
»Ja. Ein Mann. Er war nett und hat gesagt, er würde mir helfen.« Emery biss sich auf die Lippe. »Aber ich glaube, er wusste auch nicht so recht, was er tun soll. Wir waren wieder im Bed em Breakfast. Bed and Breakfast«, verbesserte sie sich und wandte sich an ihre Schwester. »Weißt du noch, Amber? Wir haben in einem Zimmer geschlafen.«
»Liebes«, wandte ihre Mum zögernd ein. »Du warst die ganze Zeit hier im Garten.« Sie legte Em die Hand auf die Stirn, als wolle sie fühlen, ob sie Fieber hatte.
»Er war echt«, beharrte Emery.
»Also …«, meinte ihre Mum mit noch immer tränenerstickter Stimme. »Tja, das klingt wie …« Allerdings erfuhr Emery nie, wie das klang, weil ihre Mum den Satz nicht beendete. »James! Kannst du denen nicht sagen, dass sie sich beeilen sollen?«
»Ja, Alice. Was glaubst du, was ich hier mache?«
Emery blickte ihre Schwester an. »Er war echt, Amber«, wiederholte sie und schob die Unterlippe vor, um ihre Worte zu betonen. »Ich habe ihn gesehen.«
Amber strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Emery stellte fest, dass ihre Hand zitterte. Dann nickte sie. »Ich weiß.« Emery seufzte erleichtert. »Wie Kitty, stimmt’s?«, fuhr Amber fort. Enttäuschung machte sich in Emery breit, denn ihre Schwester hatte offenbar gar nichts verstanden. Kitty war doch nur eine Erfindung, eine Fantasiefreundin, während die Dinge hier ganz anders lagen.
Emery saß auf einem weiß bezogenen Bett, baumelte mit den Beinen und sah sich in dem langweiligen Zimmer um, während der Arzt mit ihren Eltern redete. Hier drinnen gab es nichts zu tun, und außerdem roch es komisch. Aus dem Nebenzimmer kamen sonderbare Geräusche. Inzwischen waren sie seit einer Ewigkeit hier. Zwei Leute hatten an Emery herumgefingert und sie in eine Maschine gesteckt, was ihr ziemliche Angst gemacht hatte. Danach, solange sie gewartet hatten, hatte Amber ein Stück Papier und einen Stift entdeckt, und sie hatten Tic-Tac-Toe gespielt, aber auch das war nach einer Weile langweilig geworden. Inzwischen sprach ein Arzt mit ihren Eltern. Es war nicht mehr die nette Ärztin von vorhin, die Emery gefragt hatte, was sie am liebsten mochte. Es hatte sich herausgestellt, dass sie fast die gleichen Sachen gut fanden. Erdbeereis zum Beispiel, aber kein Vanilleeis, weil das langweilig war. Außerdem saure Colafläschchen und Aristocats.
»Es ist ein sehr seltener Herzfehler«, erklärte der Arzt gerade. Er hatte eine ziemlich lange Nase und leichte Hasenzähne. Emery sah Amber an, die auf der anderen Seite ihrer Mum saß, während Dad im Zimmer auf und ab ging, und zog die Lippen zurück, sodass ihre eigenen Zähne vorstanden. Amber grinste zwar, wedelte aber mit der Hand, damit sie aufhörte. Obwohl sie eigentlich gar nicht so viel älter war, erzog sie gern an Emery herum.
»Das ist so ähnlich wie bei einem anoxischen Reflexanfall, bei dem ein Kind einfach zu atmen aufhört. Nur, dass in Emerys Fall eben das Herz aufhört zu schlagen.«
»Es hört auf zu schlagen?«, wiederholte ihr Dad, und Emery bemerkte, dass ihre Mum ihm einen warnenden Blick zuwarf. Also musste es etwas Schlimmes sein. Sie spürte, wie ihr Herz einen kleinen Satz machte, und legte die Hand auf ihre Brust. Aber sie konnte doch fühlen, dass es schlug. Sie wollte es den anderen sagen, nur dass niemand in ihre Richtung schaute. Sie griff nach der Hand ihrer Mum, die sie nahm und drückte.
»Das kann durch einen Schock ausgelöst werden«, fuhr der Arzt mit der großen Nase und den riesigen Zähnen fort, ohne ihren Dad zu beachten. »Es braucht kein besonders schmerzhaftes oder beängstigendes Erlebnis zu sein. Ein winziger Schreck genügt, um einen Spasmus zu verursachen.«
Spasmus. Emery hatte keine Ahnung, was das war. Etwas Schlimmes? Bei ihm klang es jedenfalls so.
»Die Erforschung dieser Erkrankung steckt noch in den Kinderschuhen, weshalb ich Ihnen, wie ich fürchte, nicht viel dazu sagen kann …« – bei diesen Worten murmelte ihre Mum etwas –, »aber wenn das Herz innerhalb von vier bis fünf Minuten wieder zu schlagen beginnt, dürfte es zu keiner Hirnschädigung kommen.«
Emery verzog zweifelnd das Gesicht. Was meinte er mit Hirnschädigung? War etwa ihr Gehirn verletzt? Sie hatte doch gar keine Kopfschmerzen. Vielleicht sollte sie das lieber sagen.
»Und wie können wir dafür sorgen?«, fragte ihr Dad. Seine Stimme hörte sich viel zu hoch an, fast quietschend. Außerdem konnte er nicht still stehen. Emery beobachtete, wie er auf und ab ging. Er trug noch die Shorts, die er im Garten angehabt hatte – die potthässlichen braunen –, und dazu Sandalen, obwohl man die Haare auf seinen großen Zehen darin sehen konnte. Emery fand, dass er in diesem weißen Zimmer ziemlich doof aussah.
»Zuerst einmal, indem Sie sich mit Wiederbelebungsmaßnahmen vertraut machen«, erwiderte der Arzt. »Außerdem müssten sämtliche Aufsichtspersonen und Lehrkräfte über ihren Zustand informiert sein und wissen, was zu tun ist.«
»Und was, wenn gerade niemand in der Nähe ist?«, fragte ihr Dad. Seine Stimme war ganz leise, als glaubte er, dass Emery ihn so nicht hören konnte, obwohl sie direkt daneben saß. Erwachsene taten das ständig, bei Amber allerdings seltener. Niemand sprach über Amber, wenn Amber dabei war, und erwähnte Dinge, die sie nicht wissen sollte. Deshalb musste Emery die Spionin sein, wenn sie und Amber ihren Eltern einen Streich spielen wollten. Das kam zwar nicht oft vor, nur wenn Emery Amber dazu überreden konnte, aber trotzdem.
»Wie gesagt, die Forschung steht noch ganz am Anfang. Aber wenn das Herz nicht von selbst wieder zu schlagen anfängt, dann …« Der Arzt verstummte, räusperte sich und sah kurz zu Emery herüber. Na gut, vielleicht hatte sie nicht jedes Wort verstanden, doch nun wusste sie, dass es etwas mit ihrem Herzen und ihrem Gehirn zu tun hatte und ziemlich schlimm sein musste, nach dem Verhalten ihrer Eltern zu urteilen. Emery hatte einen Kloß in der Kehle. Sie wollte ja keine Heulsuse sein, aber die Erwachsenen machten ihr Angst.
Ihre Mutter blickte sie ebenfalls an und wandte sich dann an Amber. »Könntest du mit deiner Schwester nach draußen gehen, Amber? Hier.« Sie kramte in ihrer Handtasche und holte zwei Pfund-Münzen heraus. »Geht und kauft euch etwas am Automaten.«
Amber nickte, nahm das Geld, sprang vom Bett und hielt Emery die Hand hin. Emery runzelte die Stirn. Sie mochte es zwar nicht, wenn man in ihrer Gegenwart über sie redete, hinter ihrem Rücken aber genauso wenig.
»Komm schon«, sagte Amber lächelnd. »Ich wette, die haben Freddos. Von dem Geld können wir Unmengen von Freddos kaufen.«
Emery griff nach Ambers Hand, denn eigentlich wollte sie unbedingt ein Freddo und hatte die Nase ziemlich voll von diesem Zimmer.
Auf dem Weg den Flur hinunter blickte sie ihre Schwester an. »Was haben die über mein Herz gesagt? Ist es kaputt?«
»Nein.« Allerdings stieß Amber das recht hastig hervor und machte dabei ein zweifelndes Gesicht. Emery hatte den Verdacht, dass vielleicht nicht einmal Amber es wusste, was verrückt war, denn Amber wusste sonst alles.
»Ich will nicht, dass es kaputt ist«, flüsterte Emery. »Und ich will auch nicht, dass mit meinem Gehirn etwas Komisches passiert. Warum sagen die solche Sachen?«
Amber legte den Arm um sie und drückte sie fest an sich. Eigentlich war Ambers Arm ziemlich dünn, fast so dünn wie ein Zweig, aber gerade fühlte er sich stark und beschützend an. »Der Arzt hat nur Unsinn geredet, kleine Em. Ärzte nehmen sich furchtbar wichtig, das weißt du ja«, erklärte sie in ihrem üblichen Brustton der Überzeugung.
Emery schürzte die Lippen, denn sie wusste das nicht. Aber wenn Amber fand, dass sie das wissen sollte, war es vielleicht besser, einfach so zu tun, als ob. Also nickte sie. Und es ging ihr doch gut, oder? Sie war nur hingefallen. Und jetzt veranstalteten die Erwachsenen ein Riesentheater darum.
»Machen wir Huckepack?«, fragte Amber und beugte sich vor, damit Emery auf ihren Rücken klettern konnte. Ambers Haare waren inzwischen so lang, dachte Emery. Viel, viel länger als ihre eigenen, obwohl sie sie schon seit einer Ewigkeit wachsen ließ. Ihre Mum sagte, das liege daran, dass Amber glatte Haare hatte, weshalb es bei Emery länger dauern würde, was ziemlich unfair war. Es war doch nicht ihre Schuld, dass sie Locken hatte.
Amber trug Emery in einen großen Raum, in dem viele Leute herumsaßen. Emery entdeckte den Verkaufsautomaten auf der anderen Seite. »Und was war das für ein Mann, den du gesehen hast?«, fragte Amber, und als Emery schwieg, bohrte sie weiter: »Du hast behauptet, du hättest einen Mann gesehen. Hat er sich um dich gekümmert, als du hingefallen bist?«
»Ich glaube schon.« Emery und Amber hatten zwar schon einige Babysitter gehabt, doch dieser Mann war so ganz anders gewesen.
»Wie heißt er?«
Emery schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Vielleicht hätte sie ihn fragen sollen.
»Sollen wir ihm einen Namen geben?«
Emery antwortete nicht darauf, sondern klammerte sich weiter an ihrer Schwester fest und wippte leicht im Rhythmus ihrer Schritte.
»Em? Wir könnten ja einen erfinden. Wie sah er denn aus?«
»Ich will nicht darüber reden«, erwiderte Emery in demselben Tonfall wie Amber, wenn sie über etwas nicht reden wollte, was neuerdings ständig vorkam, wobei Emery bloß nicht darüber reden wollte, weil Amber ihr nicht glaubte, dass der Mann wirklich da gewesen war. Und es deshalb in Ordnung fand, ihm einfach einen falschen Namen zu geben. Aber er war echt, weshalb es ganz und gar nicht in Ordnung war. Was, wenn ihm der erfundene Name nicht gefiel? Sie selbst würde keinen erfundenen Namen wollen. Manchmal wollte sie Rella genannt werden, weil es eine coolere Version von Cinderella war. Doch meistens war ihr Emery am liebsten.
»Okay«, erwiderte Amber. Sie schwieg einen Moment, doch als sie Emery vor dem Verkaufsautomaten auf die Füße stellte, fügte sie hinzu: »Alles wird gut, kleine Em. Das weißt du doch, oder?«
»Das weiß ich«, antwortete Emery mit Nachdruck. Sie glaubte es, weil Amber sie niemals angelogen hätte. Amber konnte sie mehr vertrauen als allen anderen. Im nächsten Moment fiel ihr ein, dass auch der Mann gesagt hatte, dass alles gut werden würde. Und aus irgendeinem Grund wusste sie, dass sie auch ihm vertrauen konnte.
Emery straffte die Schultern und ging zu ihrem Dad hinüber, der auf einem blauen Campingstuhl im Kreis einiger anderer Erwachsener um die Reste des Lagerfeuers vom Vorabend saß. Alle hatten dampfende Tassen mit Kaffee oder Tee aus ihren Thermosflaschen in der Hand. Jemand war in aller Frühe aufgestanden und zum Bäcker gegangen und hatte Gebäck und einen Stapel Zeitungen gekauft, die nun verteilt wurden. Emery fand, dass die Erwachsenen ziemlich mitgenommen aussahen. Aber sie wusste, dass letzte Nacht viel Wein getrunken worden war. Im Zelt hatten sie und Bonnie bis in die frühen Morgenstunden Gelächter gehört. Offenbar waren sie am ersten Tag ihres Campingurlaubs ziemlich aufgekratzt.
Ihr Dad blickte zu ihr auf. Er trug seine alberne Pudelmütze, mit der er wie eine schräge, schlankere Version des Weihnachtsmanns aussah. Außerdem saß die Mütze schief, sodass die schwarzen Locken, die Emery von ihm geerbt hatte, auf der einen Seite herausgerutscht waren. Es war Emery ein Rätsel, warum sie ausgerechnet im April zelten gegangen waren. Wussten sie denn nicht, dass es da noch kalt sein würde? Die ganze Woche vor dem Ausflug hatte ihr Dad wie ein Besessener die Wetterberichte konsultiert, bis ihrer Mum eines Abends der Kragen geplatzt war: Wir fahren in den New Forest, James, nicht in die verdammte Arktis.
»Ich und Bonnie schauen uns ein bisschen um«, verkündete Emery. In der kühlen Morgenluft bildete ihr Atem eine Wolke vor ihrem Mund.
Ihr Dad zog die Augenbraue hoch. »Tatsächlich?«
»Ja.« Sie hatte es für die bessere Strategie gehalten, es ihm einfach mitzuteilen, anstatt um Erlaubnis zu fragen. »Wir nehmen die Fahrräder. Wir fahren nicht weit, nur rund um den Campingplatz.«
Beim Anblick seiner zweifelnden Miene machte sich Enttäuschung in ihr breit. Eigentlich hatte sie gewollt, dass Bonnie ihn fragte, weil er ihr wahrscheinlich nicht so schnell etwas abschlagen würde. Aber Bonnie war ein Feigling und hatte darauf bestanden, dass jede von ihnen mit ihren eigenen Eltern sprach. Und da Emerys Mum wie vom Erdboden verschluckt zu sein schien, blieb nur ihr Dad übrig. Eigentlich hätte Emery sich am liebsten heimlich aus dem Staub gemacht, doch Bonnie war strikt dagegen gewesen.
»Ich halte das für keine gute Idee«, erwiderte ihr Dad und wich ihrem Blick aus.
»Uns passiert schon nichts«, gab Emery so ruhig und geduldig zurück, wie sie nur konnte.
»Emery, du bist erst zwölf, deshalb ist es mir nicht recht, dass du allein in der Gegend herumfährst.« Ihr Alter war nicht der Grund, das wussten sie beide. »Wir gehen sowieso gleich reiten«, fuhr er fort. »Das wird sicher ein Spaß!« Emery war da nicht so sicher, denn sie hatte den Verdacht, dass ihr Dad ihr nicht erlauben würde, sich auf ein Pferd zu setzen, wenn sie erst dort waren. Und falls er sich doch überreden ließe, war die Chance, dass sie so schnell würde reiten dürfen, wie sie wollte, praktisch null.
»Ich will nicht reiten, sondern mit Bonnie Fahrrad fahren.«
Seine Miene verfinsterte sich noch weiter, wobei sich sein ganzes Gesicht solidarisch in Falten zu legen schien. Seine Augenbrauen waren meliert, was bedeutete, dass wohl auch sein restliches Haar bald grau werden würde. »Das ist eine nette Unternehmung für uns als Gruppe. Außerdem brechen wir gleich auf. Also reicht die Zeit nicht, um vorher noch allein loszufahren.«
»Dad! Das ist so unfair!« Der Einwand war kindisch, und Emery bereute ihren trotzigen Tonfall, sobald sie die Worte ausgesprochen hatte. Obwohl es stimmte: Es war unfair.
In diesem Moment erschien ihre Mum. Sie trug die Brille mit dem dicken Gestell, die sie sich vor einigen Jahren zugelegt hatte. Ihr Haar, das denselben warmen Braunton aufwies wie Ambers, hatte sie lässig oben auf dem Kopf zusammengebunden. Bekleidet war sie mit einem schlabbernden Hemd und einer Jogginghose, und sie erschauderte, als sie die Zeltklappe beiseiteschob. Emery wusste, dass sie erst spät am gestrigen Abend eingetroffen war. Wegen ihrer Arbeit hatte sie den ersten Tag des Ausflugs verpasst. Was nicht weiter ungewöhnlich war – sie arbeitete häufig in den Ferien. »Was ist denn los?«, fragte sie nun.
Emery verschränkte die Arme. »Dad erlaubt mir und Bonnie nicht, allein mit dem Rad eine Runde um den Campingplatz zu drehen.«
Seufzen. »Ach, James, mach dich doch nicht lächerlich. Natürlich können sie fahren.« Emery sah zu ihrer Mutter hinüber und spürte die Solidarität zwischen ihnen. Ja, ihre Mutter arbeitete die ganze Zeit, und, ja, viele der anderen Eltern hielten sie für ein bisschen »hochnäsig«, aber wenigstens verstand sie, worum es ging.
»Ich finde das zu gefährlich«, entgegnete ihr Dad spitz mit einem Blick auf ihre Mum. Obwohl Emery nur die Rückseite seiner Pudelmütze sehen konnte, konnte sie sich seinen Gesichtsausdruck genau vorstellen.
»Es ist absolut ungefährlich«, fügte ihre Mum mit einer wegwerfenden Handbewegung hinzu. »Deshalb haben wir uns doch für diesen Campingplatz entschieden. Er ist kinderfreundlich.«
»Du weißt genau, dass ich das nicht damit gemeint habe.« Kurz herrschte Stille, und Emery hatte plötzlich das Gefühl, dass alle Blicke auf ihr ruhten. Sie hielt Ausschau nach ihrer Tante Helen – noch eine Stimme der Vernunft, die sie unterstützen würde –, aber die war nirgendwo zu sehen. Wie sie Helen kannte, schlief sie noch.
»Du kannst sie nicht ihr Leben lang in Watte packen, James«, sagte Emerys Mum leise.
Emery trat von einem Fuß auf den anderen und spürte Hitze in ihrer Brust aufsteigen. Die anderen Erwachsenen taten zwar so, als hörten sie nicht zu, trotzdem wollte sie nicht, dass jeder von ihrer Krankheit erfuhr. Allerdings war bei genauerer Überlegung davon auszugehen, dass ihr Dad es bereits allen erzählt hatte, damit sie wussten, was im Notfall zu tun war. Bei diesem Gedanken verzog sie das Gesicht. Bonnie hatte sie eingeweiht, schließlich musste sie ihr erklären, warum ihr Dad so überfürsorglich war. Doch sie hatte es dargestellt, als sei es keine große Sache. Was es ja auch nicht war. Schließlich war es nur ein einziges Mal passiert, und sie konnte sich kaum noch daran erinnern.
»Bald ist sie ein Teenager«, sagte ihre Mutter. »Was willst du dann tun? Sie für den Rest ihrer Tage zu Hause einsperren?« Zwar war die Vorstellung, dass sie sich mit ihrem dreizehnten Geburtstag auf wundersame Weise in ein völlig neues Wesen verwandeln würde, dem man mehr Unabhängigkeit zugestand, absolut unsinnig, doch sollten ihr an diesem Tag auf einen Schlag mehr Freiheiten in den Schoß fallen, würde sie sich ganz bestimmt nicht dagegen sträuben.
»Außerdem«, fuhr ihre Mum weiter fort, »passiert es vielleicht nie wieder. Wir können unser Leben nicht immer in Wartestellung verbringen. Das tut niemandem gut.«
Sie erhob die Stimme, um ihrem Dad, der in dem Moment zu einer Erwiderung ansetzte, das Wort abzuschneiden, und sah zu den anderen. »Was sagst du dazu, Maureen? Findest du nicht auch, dass Bonnie und Emery ein bisschen zusammen Rad fahren können, während wir anderen uns fertig machen?«
Emery warf einen Blick auf Bonnies Mum, die ihr rotes Haar – sehr viel leuchtender als Bonnies Rotblond – auf Lockenwickler gedreht hatte. Da sie Maureen noch nie anders als perfekt zurechtgemacht gesehen hatte, war es, als erlebe man eine Schauspielerin ohne ihr Kostüm. Auch wenn Maureen bereits vollständig geschminkt war. Bonnie und Emery gingen immer zu ihr, wenn sie Make-up ausprobieren wollten. Sie hatte ihnen sogar schon beigebracht, wie man einen Lidstrich zog. Emerys Mum schminkte sich hingegen fast nie. Auf Emerys Frage nach dem Grund hatte sie geantwortet, das sei albernes Theater, mit dem man das Patriarchat unterstütze. Obwohl Emery das Wort »Patriarchat« im Wörterbuch nachgeschlagen hatte, verstand sie noch immer nicht, was genau das Problem von Lidstrich war.
»Also, ich finde, das ist eine prima Idee«, erwiderte Maureen. »Nur zu.«
Emery bemerkte, dass am Hals ihres Dads ein Muskel zuckte, wie immer, wenn er sich ärgerte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich bin immer noch nicht sicher, ob …«
»Colin kommt auch mit«, ertönte Maureens Stimme über die erkaltete Feuerstelle hinweg. Einige der anderen Erwachsenen blickten von ihren Zeitungen auf und fragten sich offenbar, was das ganze Tamtam sollte. Bonnie sah ihren Bruder giftig an. Aber Emery hatte nichts dagegen, denn sie probierte gerade aus, wie es sich anfühlen mochte, auf ihn zu stehen. Schließlich musste sie ja auf irgendjemanden stehen, und Bonnies älterer Bruder schien unter den gegebenen Umständen eine vernünftige Alternative zu sein.
Ihr Dad unterzog Colin mit seinem wirren Blondschopf und dem Guns-N’-Roses-Hoodie einer kritischen Musterung. Ganz offenbar war ein Vierzehnjähriger in seinen Augen nicht sonderlich vertrauenswürdig. Allerdings bezweifelte Emery, dass er selbst in diesem Alter sehr vertrauenerweckend gewesen war. Laut Tante Helen war er auf dem Ehrlichkeitstrip gewesen und hatte sofort zugegeben, wenn er mit jemandem in Streit geraten war, was ziemlich nervig gewesen sei, denn ihre Eltern hätten ihr nie geglaubt, wenn sie ihnen gesagt hatte, dass er Dreck am Stecken hatte. Schließlich würde er, so ihre Annahme, ja freiwillig mit der Sprache herausrücken, wenn dem so wäre. Nun nahm er die rote Pudelmütze ab und fuhr sich mit der Hand durch die Locken. »Ich würde mich wohler fühlen, wenn Amber auch mitkommt.«
Wie auf Kommando sahen alle gleichzeitig zu Amber hinüber. Sie saß, die langen Beine unter ihren schlabberigen Pulli gezogen, auf einem Campingstuhl. Vor Kurzem hatte sie sich einen Pony schneiden lassen, der ihr – wie Emery ihr schon mehrfach mitgeteilt hatte – ganz und gar nicht stand, und schien sich dahinter zu verstecken. Jedenfalls tat sie so, als könne sie die anderen nicht sehen.
»Wir brauchen keinen Babysitter«, empörte sich Emery. Als sie wieder zu ihrer Schwester hinübersah, bekam sie sofort ein schlechtes Gewissen. Aber Amber hatte sie offenbar gar nicht gehört und starrte konzentriert in das Schulbuch auf ihrem Schoß. Wahrscheinlich hatte sie keine Lust, mit Emery und Bonnie abzuhängen. Das war zumindest seit einiger Zeit ihre Antwort, wann immer Emery sie fragte. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich mit ihren Abschlussvorbereitungen wichtigzumachen, und eine richtige Langweilerin geworden. Emery hatte sich bereits geschworen, niemals so zu sein, wenn sie erst mal siebzehn war. Wo blieb denn da der Spaß im Leben, Partys und Knutschen mit Jungs und all so was?
»Amber?«, fragte Dad. »Begleitest du Bonnie und Emery?«
»Und Colin!«, rief Maureen.
Amber blickte ihren Dad an. Ein leicht verzweifelter Ausdruck stand in ihren Augen. Ihren bernsteinfarbenen Augen, auch wenn ihre Eltern steif und fest behaupteten, sie hätten das nicht ahnen können, als sie ihre Tochter Amber, also Bernstein, genannt hatten. »Ich kann nicht, Dad. Ich muss lernen.«
»Ich bin sicher, dass du …«
»Ich habe gesagt, dass ich nicht kann. Okay? Gleich, wenn wir zurück sind, habe ich Probeklausuren.«
Bei diesen Worten wechselte Emery einen Blick mit Bonnie, und die beiden grinsten, bevor sie sich rasch abwandten, um bloß die Verhandlungen nicht zu gefährden. Doch Amber regte sich immer gleich so auf, was es wirklich schwierig machte, ernst zu bleiben. Allerdings hatte ihr Dad keinen Grund, sich zu beschweren. Schließlich war er es doch, der ihnen ständig predigte, sie müssten an ihre berufliche Zukunft denken. Die Noten, die sie jetzt schrieben, hätten Auswirkungen auf ihr ganzes weiteres Leben. Warum wunderte er sich also?
»Geh einfach, Emery«, sagte ihre Mum leise mit einem leichten Nicken und dem Anflug eines Lächelns. In diesen Momenten liebte Emery ihre Mum. Und bevor ihr Dad weiter protestieren konnte, lief sie los und gab Bonnie ein Zeichen, ihr zu folgen. Mit einem triumphierenden Grinsen schlossen sie ihre Fahrräder auf, dicht gefolgt von Colin.
»Fertig?«, fragte Emery, blickte zwischen Colin und Bonnie hin und her und schwang ihr Bein über den Sattel. Ohne die Antwort abzuwarten, strampelte sie, so schnell sie konnte, los, bevor jemand sie zurückholen konnte. Als sie Colin hinter sich lachen hörte, warf sie ihm über die Schulter hinweg ein Lächeln zu und genoss ihre Freiheit.
Am Rand des Campingplatzes wurde sie langsamer. Colin hielt neben ihr, Bonnie ein paar Meter dahinter. »Und was sehen deine großen Pläne jetzt vor?«
Emery zuckte die Achseln. »Lasst uns einfach losfahren und den Campingplatz erkunden.« Skeptisch betrachtete sie die Zelte. »Obwohl ich ja gedacht hätte, hier gibt es etwas mehr zu entdecken.«
Colin schaute in Richtung des Kiespfads, der vom Campingplatz weg zur Straße führte. »Kommt, wir fahren ins Dorf.«
Bonnie, die inzwischen auf Emerys anderer Seite stand, verzog das Gesicht und wollte anscheinend widersprechen. Sich über Verbote hinwegzusetzen, war nicht gerade ihre Stärke. »Super«, erklärte Emery hastig – teils, weil sie Colin beeindrucken und ihm zeigen wollte, dass sie schon so erwachsen war wie er, aber auch, weil ein Ausflug ins Dorf ihrem Dad noch viel weniger gefallen würde als eine Runde um den Campingplatz. Noch ein Grund mehr.
Also traten sie und Colin wieder in die Pedale. Der Kies knirschte unter den Reifen, und sie ignorierten Bonnies »Leute!«. Sie würde schon nachkommen, das wusste Emery. Inzwischen schwitzte sie in ihrer Jacke, und die Sonne schien ihr warm ins Gesicht. Vielleicht war Zelten im April ja doch nicht so schlecht.
»Sag mal, büffelst du auch so viel wie deine Schwester?«, fragte Colin in scherzhaftem Ton.
Emery verdrehte die Augen. »Meine Prüfungsergebnisse zählen ja noch nicht mal. Also brauche ich mir darüber noch keine Gedanken zu machen.«
»Das wird sich bald ändern. Lange dauert es nicht mehr, bis der Druck anfängt, glaub mir«, erklärte er mit der geballten Weisheit eines Vierzehnjährigen. Emery konnte sich ein leises Prusten nicht verkneifen. Als sie das Ende des Pfades erreichten und nach rechts abbogen, um den Wegweisern zu Dorf zu folgen, musterte sie ihn. Eigentlich sah Colin gar nicht so schlecht aus. Er war recht groß und hatte kaum Pickel. Außerdem waren seine Augen von einem strahlenderen Blau als Bonnies, was gut war. Denn wenn sie die gleiche Augenfarbe gehabt hätten, wäre es Emery vorgekommen, als würde sie ihre beste Freundin küssen. Wobei sie noch nicht einmal mit Gewissheit sagen konnte, ob sie ihn überhaupt küssen wollte. Allerdings war das vielleicht eine Möglichkeit, die Sache mit dem ersten Kuss abzuhaken.
»Bestimmt lassen sie dich bald irgendwo ein Praktikum machen«, sprach er weiter. »Damit du anfängst, deine Zukunft zu planen.«
Emery schnaubte verächtlich. »Das mit der Zukunft lass mal meine Sorge sein.«
»Colin will Journalist werden«, ertönte Bonnies Stimme dicht hinter ihnen. Sie klang beinahe höhnisch. »Er hat sein Praktikum bei der Cambridge Evening News gemacht, richtig, Colin?«
»Ja. Na und?«
»Ständig hat er nur noch über Nachrichten gequatscht, und dabei haben die ihn bloß Tee kochen und Kekse holen lassen.«
»Das stimmt nicht«, stieß Colin hervor.
»Doch. Ich habe gehört, wie du es Mum erzählt hast.«
»Halt die Klappe, du blöde Ziege«, knurrte Colin. Inzwischen waren seine Wangen leicht gerötet, wodurch er jünger aussah. Eher so wie die Jungs in Emerys Klasse, obwohl er immer an die große Glocke hängte, dass er schon in der Zehnten war.
Sie bretterten den Gehweg neben der Straße entlang, um die Fußgänger herum, bis sie eine kopfsteingepflasterte Gasse erreichten. Als Colin abrupt abbremste, fuhren Emery und Bonnie fast hinten auf. Emery schaute das Sträßchen hinunter, das von unzähligen altmodischen Souvenirlädchen und Cafés gesäumt wurde. Sie öffneten gerade. Und – ja! »Los, wir kaufen uns ein Eis!« Emery richtete ihr Rad aus und strampelte los. Über dem Eingang der Gelateria spannte sich eine blau-weiße Markise. Der Pappaufsteller vor der Tür zeigte einen feisten Italiener.
»Du kannst Gedanken lesen«, meinte Colin hinter ihr. Ein Glück, dass Emery daran gedacht hatte, für alle Fälle ihr Taschengeld einzustecken.
Die drei lehnten ihre Räder an einen der Metalltische auf der Terrasse und gingen hinein. Bonnie nahm zwei Kugeln Pfefferminz-Schokostreusel, ihre Lieblingssorte, Colin nur Schokolade, was Emery langweilig fand. Sie entschied sich für Ingwer-Ananas, weil das so geheimnisvoll klang.
»Das willst du wirklich essen?« Argwöhnisch beäugte Colin das gelbe Eis.
»Na klar.«
Er verzog das Gesicht. »Dann bist du mutiger als ich.«
Emery lachte auf und versuchte, lässig ihr Haar über die Schulter zu werfen – was jedoch offenbar misslang, weil Bonnie sie zweifelnd ansah.
Sie setzten sich auf eine der Bänke vor dem Café. Emery musterte Colin über ihre Eiswaffel hinweg. »Und du willst ernsthaft Journalist werden?«
Er zuckte die Achseln. »Na ja, schon. Wahrscheinlich.«
Es wunderte Emery immer wieder, dass es Leute gab, die tatsächlich wussten, was sie einmal werden wollten. Amber war auch so. Sie war fest davon überzeugt, dass sie als Physiotherapeutin arbeiten würde, eine rein willkürliche Entscheidung, obwohl sie noch nicht einmal mit der Schule fertig war.
Sie warf einen fragenden Blick auf Bonnie. »Aber du weißt noch nicht, was du werden willst, oder?«
Bonnie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Wenigstens ein Mensch, der auf ihrer Seite stand.
Nachdem sie ihr Eis aufgegessen hatten, seufzte Emery. »Wir sollten lieber zurückfahren.« Wenn sie nicht gleich eine Ewigkeit wegblieb und somit ihre Vernunft unter Beweis stellte, würde ihr Dad während des restlichen Urlaubs vielleicht ein bisschen lockerer werden.
Als sie auf ihre Räder stiegen, sah Colin Emery herausfordernd an. »Wer als Erster zu Hause ist?«
Sie brauste davon, bevor er Los! sagen konnte. Grinsend entfernte sie sich immer weiter, ohne die Frau zu beachten, die ihr nachrief, sie solle besser aufpassen, und fuhr lachend im Höllentempo um die Kurve und auf den Kiespfad zurück zum Campingplatz. Hinter sich hörte sie, dass Bonnie, die abgehängt wurde, wie immer entnervt maulte. Colin lachte ebenfalls und versuchte, zu ihr aufzuschließen.
Auf halbem Wege den Kiespfad entlang überholte er sie. Emery spürte, wie ihre Beine brannten, als sie sich bemühte, den Rückstand wettzumachen. Als sie sich kurz umsah, stellte sie erleichtert fest, dass Bonnie nur noch ein kleines Stück hinter ihnen war und weiter mithielt.
Sie war praktisch auf gleicher Höhe mit Colin, als sie, ohne langsamer zu werden, auf den Campingplatz fuhren. »Hey, wartet auf mich!«, rief Bonnie, doch im Eifer des Gefechts achteten sie nicht auf sie.
Fast hatten sie es geschafft. Emery war sicher, dass gleich da vorne ihre Zelte standen. Also trat sie noch fester in die Pedale, obwohl ihre Oberschenkel vor Schmerz schrien. Und, ja! Sie war noch immer auf gleicher Höhe mit Colin. Ein Stück voraus erkannte sie ihre Gruppe. Ihr Dad stand auf und drehte sich zu ihnen um, auch wenn sie aus dieser Entfernung seine Miene nicht ausmachen konnte. Ernsthaft? Hatte er tatsächlich die ganze Zeit auf sie gewartet?
Da sie für einen kurzen Moment abgelenkt war, gelang es Colin, sich erneut einen Vorsprung zu verschaffen. Als er sie grinsend überholte und sich umdrehte, fiel ihm das blonde Haar in die Augen. Emery verzog finster das Gesicht und versuchte, noch schneller zu treten. Die unebene Stelle auf dem Weg sah sie erst, als es zu spät war. Mit voller Geschwindigkeit prallte sie dagegen. Das Rad rutschte unter ihr weg.
Sie spürte einen heftigen Aufprall, als sie auf dem Boden aufschlug. Obwohl sie sich bemühte, den Sturz mit den Händen abzufangen, wurde ihr Kopf ruckartig zurückgerissen, sodass ein scharfer Schmerz durch ihren Nacken fuhr. Ihre Zähne schlugen so fest aufeinander, dass ihr Schädel zu vibrieren schien. Sie spürte ein Stechen im Mund und hatte den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge.
Und dann, für eine kurze Sekunde, war da gar nichts.
Emery blinzelte mehrmals. Die Schmerzen waren verschwunden, ebenso wie der Blutgeschmack. Ihr Kopf tat nicht mehr weh, und als sie ihre Hände betrachtete, fehlte jede Spur von der Erde, auf die sie kopfüber gestürzt war.
Außerdem war sie, wie sich herausstellte, nicht mehr auf dem Campingplatz, sondern mitten in einem Wald. Im nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich hoch oben in der Luft befand, auf einer hölzernen Plattform auf halber Höhe eines Baumes. Eine leichte Brise zupfte an ihren Locken. Sie stand im Schatten, doch durch das Blätterdach über ihrem Kopf strömte Sonnenlicht herein und warf dunkle und helle Flecke auf den Waldboden unter ihr. Irgendwo in der Nähe hörte sie jemanden lachen. Es war das fröhliche Lachen eines Kindes. Sie drehte sich um, konnte jedoch nicht ausmachen, woher es kam. Denn es war ja niemand da.
Niemand außer ihm.
»Ich hab’s gewusst«, stieß sie hervor. Er stand etwa einen Meter von ihr entfernt und hatte die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben. Jeans. Aus irgendeinem Grund erschien es ihr sonderbar, dass er ausgerechnet Jeans tragen sollte. Als sie an sich herunterschaute, stellte sie fest, dass sie noch dieselbe Jacke anhatte wie heute Morgen.
»Was hast du gewusst?«, fragte er im Plauderton, als sei ihre Begegnung absolut alltäglich. Seine Stimme war leise, und er hatte einen Akzent. Schottisch? Sie war ziemlich sicher, dass es sich um einen schottischen Akzent handelte. Er war zwar nur leicht, aber eindeutig. Warum um alles in der Welt hatte er einen schottischen Akzent?
»Ich wusste, dass du nicht nur ein Produkt meiner Fantasie bist«, sagte sie.
Er musterte sie forschend. Seine Augen waren von einem hellen Graugrün und wirkten ein wenig geheimnisvoll. Allerdings musste sie der Fairness halber einräumen, dass in dieser Situation wohl jeder geheimnisvoll gewirkt hätte. Außerdem war er groß. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie es damals so empfunden hatte, weil sie selbst noch so klein gewesen war. Aber er war tatsächlich groß, und wenn er einen Schmollmund zöge, sähe er aus wie dieser Schauspieler, auf den Bonnie so stand. David irgendwas, ein Typ mit tollen Wangenknochen, markantem Kiefer und Wahnsinnsaugenbrauen, alles noch betont von seinem dunklen Haar.
»Emery«, sagte er. Es hörte sich fast an, als wolle er den Klang ihres Namens ausprobieren.
Sie trat von einem Fuß auf den anderen. Da sie nicht wusste, wo sie hinschauen sollte, entschied sie sich für sein Kinn. »Ja. Ich dachte, wir hätten das beim letzten Mal schon geklärt.« Sie sprach zu schnell, und es gelang ihr nicht, so herablassend zu klingen wie beabsichtigt. Aber was sollte sie auch sagen? Jahrelang hatte sie darüber nachgegrübelt, ob es wirklich passiert war, und sich gefragt, wer dieser Mann gewesen sein mochte. Ein Engel, ein Geist, ein Gespenst? Zu guter Letzt hatte sie sich beinahe überzeugt, dass sie sich das Ganze nur eingebildet hatte. Und jetzt stand er vor ihr. Und redete mit ihr.