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Drei Wochen lang darf die überglückliche Schauspielerin Olivia Miller mit ihren drei Freunden Urlaub auf einer echten Luxusyacht machen. Doch schon bald bekommt die anfängliche Freude einen bitteren Beigeschmack. Als Olivia und ihr bester Freund Nicolas anonyme Drohbriefe erhalten und von dem auf derselben Yacht drei Jahre zuvor geschehenen Mordfall erfahren, ist der Friede vergessen und Olivia gerät in große Gefahr. Gefangen in einem Netz aus Lügen und unbeantworteten Fragen der Vergangenheit versinken die vier immer tiefer in ein Loch der Verzweiflung. Wer gehört zu Olivias Familie und wem kann sie wirklich trauen? Ist es vielleicht sogar möglich, dass sich der Mörder direkt vor ihr befindet?
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Lili Amalie, geboren 2003 in Halle an der Saale, veröffentlichte 2020 ihr erstes Buch "Bis Vergangenes vergessen wird". Schon immer zeigte sie eine große Faszination an jeglicher Art von Kreativität. So entstand im Sommer 2019 die Idee für die Geschichte der jungen Schauspielerin Olivia und deren Freunde. Mithilfe ihrer Fantasie möchte Lili Amalie den Lesern etwas Unterhaltung und eine Fluchtmöglichkeit aus dem immerzu stressiger werdenden Alltag schenken.
Für jeden, der es lesen möchte
Prolog
OLIVIA
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
NICOLAS
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
OLIVIA
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Epilog
Danksagung
Draußen tobte das Unwetter. Regen prasselte gegen die Fensterscheibe des Schlafzimmers. 03:28 Uhr. Ihr Bett schaukelte hin und her. Von oben war der Wind zu hören, wie er den Liegestuhl von einem zum anderen Ende des Decks schleuderte. Immer wieder erhellte ein Blitz den Raum. Ansonsten war es stockfinster. Kein Mond, keine Sterne.
Sie knipste die Nachttischlampe an. Ein schwacher Lichtstrahl fiel auf das Buch, das auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett lag. Sie nahm es in die Hand und schlug es auf. Das Lesezeichen war heraus gerutscht. Suchend blätterte sie in dem Roman. Das Papier fühlte sich feucht an. Im Sommer standen die kleinen Wasserteilchen förmlich in der Luft. Während sie noch gedankenverloren nach der richtigen Seite suchte, sah sie immer wieder besorgt nach draußen. Warum war sie gestern Abend nicht doch in den Hafen gefahren? Dort wäre es sicherer gewesen.
Funken. Sie flogen an der kleinen runden Glasscheibe vorbei. Kurz darauf wurde es dunkel.
Die Glühbirne flackerte noch ein letztes Mal auf, bevor das kleine Licht vollständig erlosch. Genervt legte sie das Buch zur Seite. Wo war ihr blödes Handy, wenn sie es einmal brauchte? Ihre Finger glitten über die Stelle des Bodens, an dem sie es vermutete. Es war vom Ladekabel getrennt, der Akkustand: 4%. Sie schaltete die Taschenlampe ein und versuchte, aus ihrem Bett aufzustehen. Barfuß schlich sie über den kalten Parkettboden in Richtung Tür. Mit dem Handy leuchtete sie sich den Weg. Oben musste mittlerweile alles hinüber sein. Über eine kleine Treppe gelangte sie ins Wohnzimmer. Vor dem Betreten des Außenbereichs bei Sturm hatte sie ihr Ex immer ausdrücklich gewarnt. Bei dem Gedanke an ihn wurde ihr schlecht.
Sie setzte sich auf das Sofa, das sich direkt neben der Treppe befinden musste. Soweit sie das mit der spärlichen Taschenlampe ihres Handys erkennen konnte, war draußen alles überschwemmt. Noch 3%. Sie schaltete den Bildschirm aus. Nun hatte sie nur noch das kleine, lichtspendende Ziffernblatt der Digitaluhr über dem Fernseher, die als einziger Gegenstand auf dieser Yacht batteriebetrieben war. Vorsichtig kletterte sie auf die andere Seite des Sofas. Hier musste doch irgendwo eine Decke liegen. Sie tastete den glatten Satinbezug ab. Nichts. Und jetzt war auch noch ihr Handy verschwunden. Das Licht der Uhr war nicht hell genug, um viel mehr als ein paar Umrisse erkennen zu können. Der Glastisch sah leer aus. Sicher hatte der Sturm die ganze Dekoration zu Boden gerissen. Das Schiff schwankte noch immer. Ihr Fuß berührte den Teppich. Unsicher kniete sie sich auf den Boden und suchte blind weiter nach dem Smartphone. Nach mehreren gescheiterten Versuchen legte sie sich auf den Bauch, in der Hoffnung, so besser unter den Tisch greifen zu können. Auch nichts. Als sie wieder aufstehen wollte, spürte sie einen dumpfen Schmerz. Sie hielt sich den Kopf.
Im Gefrierfach musste noch etwas Eis liegen. Sie hatte es gestern Abend vorbereitet, um sich ein paar Cocktails zu machen. Also stand sie auf und ging auf die Uhr zu. Dann bog sie links ab. Der Fußboden war kalt und rau, sodass es sie fröstelte. Mit der linken Hand stützte sie sich an der Wand ab, während sie mit der rechten noch immer die langsam, aber sicher wachsende Beule an ihrer Stirn massierte. Reflexartig bewegte sie den Lichtschalter nach oben. Es blieb dunkel. Sie versuchte, sich den Aufbau der Küche ins Gedächtnis zu rufen.
Der Kühlschrank sollte sich jetzt genau vor ihr befinden. Orientierungslos fuchtelte ihre linke Hand in der Luft umher, bis sie den Türgriff fasste. In der Küche war es stockfinster. So gut es ging, zog sie das zweite Fach von oben auf und nahm ein paar Eiswürfel heraus. Zum Glück war direkt neben dem Kühlschrank ein kleiner Handtuchhalter, der ihr alles Nötige gab, um das Eis einzupacken. Mit beiden Händen drückte sie es sich an die Stirn. Die Kälte tat gut. Jetzt, wo sie den Weg schon einmal im Dunkeln gegangen war, fand sie problemlos zurück zum Sofa. Decke und Handy waren noch immer spurlos verschwunden. Es donnerte. Aber inzwischen war es nicht mehr so laut wie vorhin noch. Der Regen wurde weniger und das Wohnzimmer hörte allmählich auf, sich zu bewegen. Trotzdem war der Sturm noch nicht vorbei. Sie richtete ihren Blick auf das Panoramafenster, auch, wenn dort logischerweise nicht viel zu erkennen war.
Ein Blitz durchbrach die Dunkelheit und für den Bruchteil einer Sekunde war das ganze Deck hell erleuchtet. War da wer? Sie hätte schwören können, jemanden gesehen zu haben. Einen Schatten. Mitten auf dem Schiff. Sie sprang auf. Drückte ihre Nase an die Scheibe und riss verzweifelt die Augen auf. Doch da war nichts zu erkennen. Zögerlich ging sie zur Tür. Der Schlüssel steckte noch. Ihre Finger zitterten, ihr Atem war flach. Ganz ruhig, sagte sie sich, ganz ruhig. Sie schrak zusammen. Ein weiterer Donner erschütterte ihr Trommelfell. Trotz der Kälte bildeten sich kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn. Ihre linke Hand legte sich ganz vorsichtig um den Schlüssel. Ein ordentlicher Windstoß rüttelte das ganze Schiff durch. Ihre Hand rutschte ab. Reiß dich zusammen, sagte sie sich. Als sie den Schlüssel umdrehen wollte, bemerkte sie, dass die Tür bereits offen war. Ihr Herz raste. Sie drückte die Klinke nach unten. „Wer immer Sie sind, ich habe Sie gesehen!“, schrie sie gegen den Wind an. Ihre Stimme bebte. Nicht gerade sehr hilfreich, wenn man jemanden in die Flucht treiben wollte. „Ich bin bewaffnet!“, fügte sie also noch hinzu. Sie blickte nach links und dann wieder nach rechts. Niemand. Nur Wasser. Und absolute Finsternis.
Ihre Füße waren klitschnass. Gedanklich verfluchte sie sich für ihre Dummheit. Mit einem Ruck riss sie die Tür zu und setzte sich wieder auf die Couch. Sie schüttelte den Kopf. Als könnte irgendwer auf dieses Schiff kommen. Das war doch unmöglich. Das hatte sie sich sicher nur eingebildet. Es war halb vier Uhr in der Nacht und sie war mitten auf dem Atlantik. Wie es aussah, war das Zusammentreffen mit der Tischkante wohl doch nicht so harmlos gewesen. Verwirrt ließ sie sich nach hinten fallen. Sie schloss ihre Augen und lachte leise in sich hinein. Jetzt war bestimmt das ganze Wohnzimmer überschwemmt. Manchmal sollte man wirklich über therapeutische Hilfe nachdenken. Sie legte sich auf die Seite und zog ihre Beine an den Körper, das Eis noch fest an die Stirn gedrückt. Sie atmete tief ein und aus. Der Regen hörte auf. Urplötzlich. Zufrieden lächelte sie und entspannte sich wieder. Alles war gut. Und morgen früh würde sie zum nächsten Hafen fahren. Es war sowieso nicht mehr viel zu Essen da. Ja, das würde sie tun.
Ja, das hätte sie getan. Die Tür sprang auf. Ehe sie sich versah, hatte sie eine triefend nasse Wolldecke über dem Kopf. Sie schrie. Da war doch jemand draußen gewesen. Wo war das Handy? Sie konnte niemanden hören. Ihr Kopf schlug auf etwas Hartes. Nicht schon wieder der verdammte Glastisch. Sie schrie, schrie und weinte, versuchte sich aus dem festen Griff des Unbekannten zu befreien. Das Eis zerschlug an ihrer Stirn. Nun wusste sie nicht, ob es Wasser oder Blut war, das ihr das Gesicht hinunter lief. Ein stechender Schmerz schoss ihr durch den Kopf. Ihr Herz vollbrachte Höchstleistungen. Jemand riss ihr die Decke vom Kopf und packte sie an den Haaren. Für einen kurzen Moment konnte sie direkt in das Gesicht des anderen blicken. Sie erschrak. In dem Blick des Angreifers war Hass. Hass und Wut. Sie wollte etwas sagen, aber es ging nicht. Ab ihrem Hals fühlte sich alles wie gelähmt an. Als würde ihr jemand die Kehle zuschnüren. Und sie fiel. Die Treppe war steil und das Parkett war hart. Atmen, du musst atmen, dachte sie. Sie schloss ihre Augen. Es war vorbei.
„Das ist einfach unglaublich. Das ist - wow. Ich kann es nicht glauben. Ich - wow“
Meine Augen müssen strahlen. Wir sind auf einer echten Yacht. Es ist Sommer, es ist heiß, wir sind jung und wir sind auf einer Luxusyacht. Küche, Wohnzimmer und Steuerkabine. Ich liebe es jetzt schon.
Er wirft mir mahnende Blicke zu. Ich sollte mich etwas leiser freuen. Die Maklerin sieht mich auch schon ganz komisch an. Also rücke ich mir die Brille auf der Nase zurecht, die ich extra aufgesetzt habe, um erwachsener zu wirken.
„Und was haben Sie sonst noch so zu bieten?“, frage ich sie und versuche, es so selbstverständlich wie möglich klingen zu lassen.
„Folgen Sie mir bitte“, fordert uns die Maklerin auf.
Sie trägt einen engen, schwarzen Rock und eine weiße Bluse. Im Gegensatz zu mir hat sie flache Schuhe an, bei denen sie nicht andauernd aufpassen muss, nicht mit dem schmalen Absatz in eine der kleinen Holzritzen zu treten und hängen zu bleiben. Dafür sehe ich aber perfekt aus. Mein rotes Kleid in Kombination mit der diamantbesetzten Halskette, meine schwarzen High Heels und die Brille lassen mich nur so vor Reichtum und Erwachsensein glänzen. Mit hoch erhobenem Haupt betrete ich das Badezimmer.
„Nett“, sage ich.
Wobei das natürlich total untertrieben ist. Die ganze Wand besteht aus einem großen Spiegel, die Badewanne ist strahlend weiß genau wie alles andere. Durch das Fenster kann ich den Hafen sehen. Im Wasser spiegelt sich die Sonne. Nicolas sieht sich kritisch um. Jedoch gibt es da nichts Auffälliges zu sehen.
Er sieht gut aus. Auf mein Drängen hin hat er doch das blaue Jackett mit dem weißen Hemd darunter und der blauen Hose angezogen, anstelle einer viel zu kurzen Jeans. Wobei das ja mittlerweile tatsächlich in ist, Hosen nur bis zum Knöchel und darunter die bunten Ringelsöckchen. Okay, letzteres ist nur der Grund, warum ich Nico seit Jahren aufziehe. Wir waren damals bei einer Filmpremiere und er hatte vergessen, sich ein zweites Paar Socken mitzunehmen. Schlau, wie er war, war er aber mitten im Winter mit Socken auf den Balkon gegangen. Warum auch immer. Na ja, auf jeden Fall waren die Socken dann nass und wir mussten zehn Minuten später los. Was haben wir also gemacht? Zum Glück hatte ich in meiner Tasche immer ein zweites Paar Notfallsocken. Die habe ich ihm gegeben. Das einzige Problem dabei war nur, dass es meine Glücksbringer-Socken waren, die mir irgendwann mal eine Freundin geschenkt hatte. Und die waren eben bunt geringelt. Es sah wirklich zu lustig aus, wie er da stand, umzingelt von lauter erfolgreichen Regisseuren aus LA und anderen wichtigen Ländern. Ich glaube, sein Kopf hatte diesen ganzen Abend über eine Farbe ähnlich einer hochsommerlich reifen Tomate.
„Gut, dann werde ich Ihnen noch die Schlafzimmer zeigen und dann können wir über das Finanzielle sprechen“, unterbricht die Frau meine Gedanken.
Ohne etwas zu sagen, folgen Nicolas und ich ihr. Selbst unter Deck ist alles wunderschön hell und wohnlich.
Das erste Schlafzimmer hat ein breites Fenster und einen Parkettboden, der förmlich glänzt. An der Wand hängen Bilder vom Meer. Außerdem ist ein weißer Hochglanzschrank eingebaut. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich wirklich der Oberschicht zugehörig. Ich bin reich. Es ist unfassbar. Nicolas stupst mich von der Seite an.
„Wie findest du es?“
Was für eine dumme Frage. Weil aber die Maklerin schon wieder guckt, als seien wir kleine Kinder, die auf der Suche nach einem Süßwarengeschäft waren und sich verlaufen haben, nicke ich ihm nur zu.
„Wir reden später darüber.“
Dann setze ich wieder mein falsches Lächeln auf und gehe an der Maklerin vorbei in das zweite Schlafzimmer. Dazu muss ich erstmal die ordentlich gepflegten Treppenstufen nach ganz oben gehen. Über eine Leiter kommt man an den höchsten Punkt des Schiffes. Das Schlafzimmer hier ist wirklich umwerfend. Ein riesiges Doppelbett umgeben von einem Panoramafenster. Auch in diesem Zimmer muss das Parkett frisch gewachst worden sein. Es riecht nach Meer. Das wird auf jeden Fall mein Zimmer. Egal, was Nico sagt, das ist meins!
Als wir wieder an Deck sind, zieht die Maklerin eine Mappe aus ihrer Aktentasche.
„Hier stehen alle wichtigen Informationen zu der Luxusyacht, inklusive der Beträgen, die für einen Kauf notwendig sind. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich gerne an mich.“
Sie hört sich an wie eine Stewardess.
„Bitte Tische hochklappen, Sitze gerade stellen und die Fensterblenden öffnen. Wir starten in zwei Minuten. Ihr Team an Bord!“
Nicolas geht zuerst auf sie zu. „Vielen Dank für Ihre Zeit. Wir werden uns bald bei Ihnen melden. Immerhin sind wir einen bestimmten Standard gewohnt und je nachdem, welches Preisangebot der Verkäufer uns macht, werden wir entscheiden. Auf ein hoffentlich baldiges Wiedersehen.“
Er gibt ihr die Hand und wartet dann, dass ich das Gleiche tue. Also stöckle ich zu ihr hin, gebe ihr einen festen Händedruck und verabschiede mich.
Schon während wir das Boot verlassen, liegen mir tausend schöne Worte auf der Zunge. Jedoch muss ich noch einen Moment warten, bis das Taxi da ist - diese eingebildete Maklerin. Ich laufe vor. So schnell, wie es mir mit meinen schmalen Absätzen eben möglich ist. In dem Fall also eher langsam und wackelig. Der Hafen in Dover ist mit das Hässlichste, was ich je gesehen habe. Er ist so farblos, so grau und kalt.
„Olivia, pass auf!“, Nicolas hält mich am Arm fest.
Beinahe wäre ich unter die Räder des Essenslieferanten gekommen.
„Soll der doch aufpassen“, sage ich beleidigt. Nicolas schüttelt nur den Kopf. Das macht er immer, wenn er sich schlauer als andere fühlt. Ich finde, dadurch wirkt er nur etwas überheblich, aber ihm ist das egal. Ich bleibe vor dem Taxi stehen.
„Ist das unseres?“, frage ich ihn.
Er öffnet mir die Tür und nickt. „Zum Hauptbahnhof, bitte.“
Der Taxifahrer fährt los. Nicolas sitzt neben mir und sieht mich erwartungsvoll an.
„Es ist perfekt! Genau richtig.“
„Ich kann es schon vor mir sehen. Das wird der beste Trip meines Lebens.“ Nicolas Augen leuchten vor Freude.
Er ist ein extrem guter Schauspieler. Vor der Maklerin war er so kalt wie ein Eisklotz gewesen. So, als würde er tagtäglich solche Dinge sehen. Gut, es ist jetzt auch nicht so, dass er als erfolgreicher Regisseur total verarmt ist und in Berlin Kreuzberg in einem Hochhaus im zehnten Stock leben muss, in dem der Aufzug ständig seinen Geist aufgibt. Er wohnt mit seiner Frau seit einem Jahr in einem wunderschönen Haus in Notting Hill.
Wenn man das Haus betritt, steht man sofort in einem riesigen Wohnzimmer. Sie haben dort eine weiße Ledercouch vor einen überdimensionalen Flachbildfernseher gestellt. Und Nicolas hat sich eine kleine Fitnessecke eingerichtet mit einem Laufband, einer Rudermaschine und Hanteln. April ist eher künstlerisch begabt und so steht auf der anderen Seite des Sofas eine Staffelei, worauf ich jedes Mal aufs Neue eines ihrer Aquarellkunstwerke bewundern kann.
Ich mag sie. Es hat Ewigkeiten gedauert, bis Nicolas endlich die Richtige gefunden hat und ich muss zugeben, die meisten seiner Freundinnen waren… na ja, nicht gerade das Gelbe vom Ei. Aber April ist toll. Sie ist total lieb und fürsorglich und hat ein großes Herz, was ich sehr zu schätzen weiß. Sie ist Modedesignerin und ziemlich erfolgreich. Das Kleid, was ich gerade anhabe, ist sogar von ihr.
„Fünf Pfund macht das dann“, der Taxifahrer dreht sich erwartungsvoll zu uns um.
Ich krame in meiner Tasche nach meinem Geldbeutel und ziehe einen Schein hervor. Mit einem Dankeschön verabschieden Nico und ich uns und gehen geradewegs in das große Bahnhofsgebäude.
„Mit dem Zug geht es eben schneller“, hatte er gesagt, als wir unseren Ausflug geplant hatten, „Keine Ampeln, kein Stau, nichts.“
„Also nehmen wir die Yacht?“, frage ich ihn.
Er sieht mich an, als hätte ich mich genau in diesem Moment in ein Gespenst verwandelt oder als hätte ich gefragt, ob Audrey Hepburn Schauspielerin war.
„Natürlich nehmen wir sie. Was ist das für eine Frage?“
Zufrieden sehe ich mich um. Der Bahnhof in Dover ist ziemlich klein, somit gibt es keine Probleme, den richtigen Steig zu finden. Der Zug wartet schon.
„St. Pancras International Station, London“
Ich ziehe aus meiner Handtasche die Fahrkarten und halte Ausschau nach Wagen 2. Dort haben wir zwei Sitzplätze mit Tisch reserviert. Nicolas muss noch etwas am Drehbuch für seinen neuen Auftrag arbeiten und ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, da ich in Gedanken nur bei unserem heutigen Termin war.
Der Zug steht noch fünf Minuten, also haben wir genügend Zeit, an unsere Plätze zu gelangen. Es ist kühl. Wie immer. Im Winter ist es in den Zügen total stickig, weil sie denken, bei der Kälte draußen wollen die Leute es gemütlich warm haben und im Sommer fahren sie die Temperatur auf gefühlte minus Zehn Grad nach unten, sodass ich mir jedes Mal fast eine Erkältung hole. Der Sitz ist aus dunklem Leder. Meine Füße schmerzen von den unbequemen Schuhen. Ich ziehe sie aus und spüre den weichen Teppichboden unter meinen Sohlen.
„Hast du zufällig noch eine Jacke oder einen Pullover dabei?“, frage ich Nicolas.
Er öffnet seinen Aktenkoffer, nimmt sein Laptop heraus, ein zerfleddertes Heft, was wohl das Script darstellen soll und eine Federmappe. Er sieht sich suchend um. Schließlich zieht er einfach sein Jackett aus und gibt es mir.
„Mir ist sowieso viel zu heiß.“
Dankbar nehme ich es an und breite es wie eine Decke über mir aus.
Eineinhalb Stunden. So viel Zeit habe ich, um zu schlafen, dann sind wir da. Zufrieden sehe ich aus dem Fenster. Genau das habe ich mir gewünscht. Vor ungefähr neun Jahren wurde ich nach mehreren gescheiterten Versuchen endlich an der Schauspielschule in Berlin angenommen und konnte mir dort drei Jahre Zeit nehmen, alles Wichtige, was ich als Schauspielerin brauchte, zu lernen und Spaß zu haben. Und den hatte ich wirklich. Ich denke oft an die Zeit zurück. Schon während meiner Studienzeit habe ich Nicolas bei einigen seiner Produktionen unterstützt. Er studierte an der gleichen Uni wie ich Regie. Befreundet sind wir aber schon viel länger. Ich glaube, bald sind es fünfzehn Jahre. Ich habe die Kunst schon immer geliebt und er scheinbar auch. Wir lernten uns damals bei einem Theaterprojekt kennen und wurden uns immer sympathischer. Beste Freunde.
Unser größter Traum war es, wenn wir mal reich wurden, eine Motoryacht zu kaufen und damit um die ganze Welt zu reisen. Natürlich dachte zu dieser Zeit niemand daran, dass das je wirklich wahr werden würde. Aber doch, das ist es. Es war ein langer und anstrengender Weg, aber wir haben es geschafft. Vor zwei Jahren hatte er seinen Durchbruch. Sogar einen internationalen Filmpreis räumte der Film ab.
Regie: Nicolas Corner.
Sein Name hat nun eine Bedeutung. Genau wie meiner.
„Die Schauspielerin Olivia Miller ist nun auch bei uns und international auf den Kinoleinwänden zu sehen.“
Ich frage mich oft, ob das alles nur ein wunderschöner Traum ist, der nicht zu Ende geht. Mein Leben ist nahezu perfekt. Ich schließe meine Augen. Das Geräusch des Tippens auf den Tasten von Nicolas ist beruhigend. Ich merke, wie ich langsam einschlafe.
„Olivia.“
Was? Was ist los? Sind wir schon da? Ich reibe mir die Augen. Hinter der Fensterscheibe sind Häuser und Straßen zu erkennen. Nicolas sitzt immer noch unverändert da, obwohl er mittlerweile den Laptop durch einen Stift ersetzt hat und in sein Script kritzelt. Ich strecke mich kurz und lege das Jackett neben ihn auf den Tisch. Er klappt das Drehbuch zu und hebt seine Tasche auf seinen Schoß. Während er alles einpackt, ziehe ich meine schicken, schmerzenden Schuhe an.
„Wie viel Uhr ist es eigentlich?“, ich suche mein Handy.
Er schaut auf seine Armbanduhr. „Kurz nach sechzehn Uhr. Na toll. Das wird eine lange Nacht, April wird sich aufregen.“
„Ach Quatsch. Sie wird alle zwei Stunden aufstehen, dir einen Kaffee machen und sagen, du sollst nicht mehr so lange arbeiten“, ich lache.
Er schüttelt mal wieder nur den Kopf.
„Gut, dass du meine Frau besser kennst als ich.“ Immer, wenn er etwas wie „meine Frau“ sagt, wird er ein kleines Bisschen rot. Die beiden sind erst seit ihrem Umzug nach Notting Hill verheiratet. Er ist so glücklich. Ich freue mich wirklich für ihn. Und auch nur das. Ich schlucke. „Okay. Alles aussteigen bitte“, sage ich und lasse ihm den Vortritt.
„Haben wir ein Taxi oder fahren wir mit der Tube?“
Denn wie jedes Mal, wenn wir etwas zusammen unternehmen, habe ich keine Ahnung, wann, wo, wie und was genau passiert. Nicolas ist ein totaler Planungsfreak, der sich immer gerne um alles kümmert.
„Das Taxi müsste schon draußen warten“, klärt er mich also auf.
Der Bahnhof in London ist viel schöner als der in Dover. Und vor allem sind hier Menschen. Ich mag Menschen. Wir laufen nach unten in die große Eingangshalle und nach draußen ins großartige London. Diese Stadt war schon immer einer meiner größten Traumlebensorte. Tatsächlich steht unser Taxi schon da. Eigentlich war es echt überflüssig, eins zu bestellen, da wir mit der Bahn sicher schneller gewesen wären. Trotzdem ist ein Taxi natürlich bequemer und erst recht nicht so stickig wie die überfüllten Wagons der städtischen U-Bahn.
„Hast du denn noch so viel zu tun?“, komme ich auf das Thema von vorher zurück.
Ich suche meinen Gurt. Nicolas stirbt theatralisch mehrere Tode, um mir meine Frage zu beantworten.
„Wenn ich nach Hause komme, muss ich erstmal etwas essen!“, sagt er.
Ich nicke. Auch mir knurrt langsam der Magen. Hoffentlich hat Lucas meinen Zettel, den ich ihm heute Morgen ans Schlüsselbrett gehängt habe, gelesen und war einkaufen. Aber durch den ganzen Stress, den er momentan hat, ist es gut möglich, dass er mich mal wieder vergessen hat.
Der Taxifahrer biegt links ab in meine Straße. Die Häuser hier erinnern mich etwas an Italien, wo ganze Straßenzüge bunt sind. Unser Haus ist hellblau. Früher war hier mal ein Filmstudio, jetzt ist es unser geliebtes Loft. Ich steige aus dem Auto und verabschiede mich noch von Nicolas.
„Wir telefonieren. Und arbeite nicht so viel.“
Er verdreht die Augen, lehnt sich über meinen Sitz zur Tür und zieht sie zu.
Ich schlendere über den kleinen Aufgang zur Tür, schließe auf und blicke in meine wunderbare Wohnung. Gleich links neben dem Eingang hängt das Schlüsselbrett, mein Zettel ist tatsächlich nicht mehr da. Ich hänge den Schlüssel auf und ziehe meine Schuhe aus. Meine Tasche werfe ich einfach daneben. Barfuß durchquere ich das kleine Wohnzimmer, gehe unter der schwarzen Metalltreppe hindurch und in die Küche. Ich öffne den Kühlschrank. In Gedanken schicke ich Lucas tausend Entschuldigungen für meine Vorurteile. Aus der Schublade nehme ich einen Löffel und gehe dann mitsamt dem Joghurt zurück aufs Sofa. Nebenher fahre ich mein Laptop hoch und schreibe Lucas auf dem Handy eine Nachricht.
Danke für den Joghurt :) Ich liebe dich, bis morgen.
Keine neuen E-Mails. Sehr gut. Dann kann ich mich ja, sobald der Joghurt gegessen ist, umziehen und meinen Text nochmals durchgehen. Um 19:30 Uhr beginnt die Vorstellung.
Wir spielen Shakespeare, Ein Sommernachtstraum. Ich wurde für die Helena besetzt, die natürlich Ewigkeiten in der Maske verbringt. Meine Blicke schweifen durch den Raum. An den Schiefersteinen über dem Kamin hängt ein Foto von Lucas und mir. April hat es letztes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt aufgenommen, der Abend war so schön.
Verträumt sehe ich nach oben. Von der Decke schweben leuchtende Lampions und auf der Fensterbank stehen Kakteen und Kerzen. Ich stehe auf und gehe über den warmen Holzboden zur Wendeltreppe und nach oben ins ‚Schlafzimmer‘. Eigentlich ist es eher wie eine Bühne. Durch das schwarze Metallgeländer kann man von hier aus fast die ganze Wohnung betrachten. Der Architekt hat sich wirklich Mühe gegeben, all meinen Wünschen gerecht zu werden.
Lucas absoluter Traumberuf eben!
Ich öffne den Reißverschluss meines Kleides, schlüpfe aus dem engen Stoff und werfe es aufs Bett. Hinter den Türen meines dunklen Holzkleiderschranks befinden sich eine blaue Jeans und eine schwarze Bluse, die ich gleich anziehen werde. Theoretisch brauche ich doch nur etwas, was ich auf dem Weg von hier zum Theater und wieder zurück tragen kann.
Die kleine Uhr über unserem Bett zeigt 17 Uhr an. Ich bin spät dran. Schnell werfe ich mir Hose und Bluse über, flitze die Treppenstufen nach unten, ziehe meine Turnschuhe an, reiße den Schlüssel und fast das ganze Schlüsselbrett von der Wand und verlasse dann das Haus.
Der Wecker klingelt. 7:30 Uhr.
Ich schlage irgendwo links neben mein Bett nach ihm, in der Hoffnung, ihn für immer auszuschalten. Leider bringt das nichts. Jetzt liegt er auf dem Boden, doch still ist das Ungetüm trotzdem nicht. Ich ziehe mir die Schlafmaske vom Gesicht. Viel zu hell. Unsere weißen Fensterläden sind nur zur Dekoration da, man kann sie weder öffnen noch schließen. Ich rolle mich förmlich aus dem Bett und drücke den Aus-Knopf der immer lauter piependen Uhr. Dann drehe ich mich wieder auf die andere Seite.
Lucas ist nicht da. Wahrscheinlich sitzt er unten und liest. Das macht er immer, bevor er zur Arbeit geht. Meistens sind es Bücher über Architektur, Biografien von Architekten oder sonstige Bauliteratur. Dafür steht er dann eine Stunde früher auf als ich. Sowas sind Dinge im Leben, die ich nicht verstehe. Aber das ist seine Sache.
Die Vorstellung gestern Abend war ein echter Erfolg. Das Publikum war begeistert und ich zufrieden. Heute ist die letzte Aufführung, dann ist meine Spielzeit vorbei und ich habe Sommerpause.
Gähnend stehe ich auf und gehe die Treppe nach unten. Lucas sitzt am Esstisch, der wie immer total überladen ist. Ordner, Akten, mein Script, eine angefangene Schokoladentafel, zwei befüllte Tassen Tee, ein Joghurt und ein Stück Käsebrot. Ich setzte mich vor eine der dunkelroten Tassen und nehme mir den Joghurt. Es hat eben auch gute Seiten, einen Freund zu haben, der so früh aufsteht. Er bereitet mir fast jeden Morgen mein Frühstück zu.
„Morgen“, ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange und gehe in die Küche, um mir einen Löffel zu holen.
„Guten Morgen“, sagt er, „Wie war die Vorstellung?“
„Gut. Aber was viel wichtiger ist, die Yacht ist super!“, ich setze mich ganz aufgeregt wieder zu ihm, „Wir müssen sie kaufen!“
Er schlägt sein Buch zu: „Wenn du sagst, sie ist gut, dann sollten wir das wohl. Was meint Nicolas?“
„Nico findet sie auch toll.“
Lucas hält sehr viel von ihm. Er weiß, dass Nicolas und ich schon seit Ewigkeiten befreundet sind und dass er immer für mich da war. Ich schraube den Deckel des Joghurtglases auf und tauche meinen Löffel in die rosarote Substanz. Er fährt sich mit den Fingern durch seine dunkelbraunen Haare. „Ich freue mich wirklich, dass dich das scheinbar so glücklich macht. Allerdings muss ich leider ins Büro, können wir später reden?“, er steht auf und trägt seine Tasse in die Küche, wo sie sofort in der Spülmaschine landet.
„Klar“, ich mustere ihn von oben bis unten.
Er rückt sich seine Brille auf der Nase zurecht und zupft ein wenig an seiner Krawatte, die meiner Meinung nach überhaupt nicht zu der schwarzen Hose und dem dunkelblauen Hemd passt. Aber in Dingen Mode habe ich nichts zu sagen. Als er meinen Blick bemerkt, klappt er die Spülmaschine zu und lässt den Müsliriegel, der eben noch auf der Küchenzeile lag, in seiner Hosentasche verschwinden.
„Ist was?“, er sieht an sich herab, „Warum starrst du mich so an?“
„Ach nichts“, sage ich, stehe auf und drücke ihm einen Kuss auf den Mund.
„Ich liebe dich“, lachend nimmt er seine Aktentasche und geht dann aus der Tür.
Nachdem ich meinen Joghurt ausgelöffelt habe, verlasse auch ich das Wohnzimmer, um mich im Bad fertig zu machen.
Ich stehe vor dem Spiegel und habe die Zahnbürste in der Hand. Unter meinen grünen Augen befinden sich tiefe Schatten. Trotz der dunklen Haut sind sie nicht zu übersehen. Ich muss nachher unbedingt noch Nicolas anrufen. Oder nein, ich gehe einfach vorbei. April und ich haben uns schon Wochen nicht mehr gesehen und ich muss mit ihr unbedingt über die Yacht reden! Meine Haare sind total zerzaust. Neben Lucas fühle ich mich immer unglaublich hässlich. Vor allem morgens, was findet er an mir?
Ich spüle mir den Mund aus. Dann ziehe ich meinen Schlafanzug aus und gehe in die kleine Duschkabine. Das Wasser auf der Haut ist angenehm. Heute habe ich Zeit.
Mittlerweile ist es schon neun Uhr. Nach einer ausgiebigen Dusche und Exkursion in meinen Kleiderschrank, bin ich startklar. Das Leben als Angestellte am Theater ist so entspannt. Tagsüber bin ich quasi ein freier Mensch, sobald alle Proben und die ersten Vorstellungen abgeschlossen sind.
Ich kann machen, was immer ich will. Also schnappe ich mir meinen Schlüssel, ziehe meine Sandalen an und nehme meine Tasche, um zu April und Nico zu spazieren. Die beiden wohnen am anderen Ende von Notting Hill, somit kann ich gleich etwas für meinen Körper tun. Die Straßen sind voll. Wie immer in London. Im Sommer ist jedoch Hauptsaison. Unzählige Touristen, Paparazzi und Stadtbewohner blockieren Gehwege, machen Fotos von Häusern oder sind auf der Suche nach Prominenten. Meistens erkennt man mich nicht. In dem Film, den die ganze Welt gesehen hat, habe ich einen riesigen Afro und braune Kontaktlinsen. Das ist jedoch nicht schlimm. Ich brauche diesen ganzen Trubel nicht, ich will nur von meiner Berufung leben können. Und das am besten in London. Das war schon immer mein Traum. Und wenn ich nun hier durch die überfüllten Straßen laufe und all die verschiedenen Menschen treffe, weiß ich, das ist mein Leben.
Mein Handy klingelt. Unbekannt.
„Hallo?“, frage ich in den Hörer.
Ein Kratzen ist zu hören. „Spreche ich mit Olivia Miller?“
Eine Männerstimme. Ich nicke. Noch bevor ich bemerke, dass mein Gesprächspartner diese Geste wohl gar nicht hören kann, spricht er weiter. „Josephine gab mir Ihre Nummer. Es ist schon eine Weile her, aber sie meinte, Sie seien ein ganz besonderer Mensch. Sie wollte Sie gerne noch treffen.“
Die anfangs freundliche Stimme verwandelt sich in ein seltsames, fast unheimliches Flüstern. Verwirrt drehe ich mich im Kreis herum, auf der Suche nach den versteckten Kameras. Als ich keine finde, beschließe ich, dass sich der Anrufer irren muss. „Tut mir leid, ich denke, Sie haben sich verwählt. Ich kenne keine Josephine“, sage ich höflich.
Ein Räuspern ist zu vernehmen.
„Oh, ich denke schon.“
Ein letztes Husten, Rascheln, aus.
Diese Art von Telefonstreichen erlebe ich selten. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Wieder im Hier und Jetzt stelle ich mein Handy auf lautlos und packe es zurück in meine Handtasche. Josephine. Kopfschüttelnd gehe ich weiter. Was für einen interessanten Humor doch manche Menschen haben.
Ich stehe vor einem großen, modernen Penthouse. Ringsherum befindet sich nicht viel mehr als ein spießig kurzgemähter Rasen. Nicolas wohnt am Ende einer Sackgasse. Über einen schmalen Kiesweg gelange ich zur Eingangstür, die, genau wie das Haus, strahlend weiß ist.
‚April und Nicolas Corner‘ steht auf dem Klingelschild geschrieben.
Ich drücke auf den kleinen, silbernen Knopf. Nach wenigen Sekunden öffnet mir April die Tür.
„Hey Olivia, lange nicht gesehen!“
Sie umarmt mich und macht mir erfreut Platz zum Eintreten.
„Wie geht es dir?“
„Gut, danke. Und dir?“
Ich ziehe meine Schuhe aus. Auf der Staffelei steht ein neues Bild, ein Entwurf für ein Abendkleid, wie ich das von hier erkennen kann.
Sie schließt hinter mir die Tür. „Mir geht es auch gut. Ich freue mich, dass du da bist.“
Meine Blicke suchen den Raum nach Nicolas ab, aber er scheint im Moment nicht da zu sein. Als könnte sie meine Gedanken lesen, zeigt April in Richtung Büro. „Er hat sehr viel zu tun im Moment. Ich hoffe, das ist bald vorbei“, sie gibt mir ein Zeichen, mich zu setzen.
Das Sofa ist unbequemer als unseres. Das Leder sieht zwar gut aus, aber mit einer gemütlichen Decke würde es auch meinen faulen Körper erfreuen.
„Ich habe gehört, wir machen alle Urlaub auf einer Yacht?“
„Ja, das werden wir sowas von. Du wirst es lieben. 350 Tausend Pfund. Das nenne ich ein Schnäppchen!“, sage ich mit einer fast arrogant klingenden Stimme.
Aber sie weiß, wie ich das meine. Jeder von uns vier wird etwas dazu steuern und wir haben uns das nach dieser harten Arbeit wirklich verdient. „Erzähl mir alles!“, fordert April mich aufgeregt auf.
Also erzähle ich es ihr. Während ich von unserem Besuch auf dem luxuriösen Schiff schwärme, werden ihre Augen immer größer und ich freue mich immer mehr und mehr darauf. Immerhin hat es einige Yachten gedauert, bis wir die Richtige gefunden haben. Mal waren wir nicht ganz zufrieden, mal wollte der Verkäufer sie uns nicht überlassen.
April ist begeistert.
„Nicolas sagt, in zwei Wochen können wir schon los?“ Ich nicke.
„Heute ist die letzte Vorstellung und Lucas kann sich freinehmen, wann immer er will, weil er ja selbstständig ist. Bei dir klappt das auch?“
„Ich arbeite jeden Tag zwölf Stunden, irgendwann darf ich mich doch wohl auch mal ausruhen, oder?“
Sie steht auf und geht zu der kleinen Küchenzeile. „Willst du auch einen Tee?“
„Aber sicher, danke.“
Während sie heißes Wasser aufsetzt, begutachte ich ihr mal wieder makellos perfektes Aussehen. Selbst ohne Make-Up ist ihr Gesicht umwerfend. In ihren blauen Augen spiegelt sich das Licht der Sonne. Ein paar Strähnen ihrer kastanienbraunen Haare, die zu einem Dutt zusammen geknotet sind, liegen auf ihren gesund geröteten Wangen. Auf ihre vollen Lippen hat sie etwas Lippenbalsam aufgetragen. Ihr Schlüsselbein trägt ein kleines Tattoo, ich war dabei, als sie es stechen lies. Ich habe einen Violinschlüssel an der unteren rechten Rippe. Da sie an das Gute im Leben glaubt, hat sie ein vierblättriges Kleeblatt. Ein kleines Kreuz baumelt ihr um den Hals. Darunter trägt sie ein viel zu großes Hemd, unten zu einem Knoten zusammengebunden. Die Hotpants, die perfekt an ihrem schlanken Körper anliegen, hat sie selbst designet. Sie sind seitlich mit weißen Swarovski-Perlen besetzt, das weiß ich, weil ich bei der Wahl selbst dabei war. Alles in allem beschreibt das Outfit perfekt ihren Charakter. Sie hasst Langeweile, ist relativ sportlich, hat ihren eigenen Willen und ist einfach cool. Mit ihr kann man wirklich alles machen.
„Olivia. Hallo…“, Nicolas wirft sich neben mich auf die Couch, „mal wieder!“
„Ich freue mich auch.“
Er sieht müde aus. Fast schlimmer als ich. Seine Augen sind halb geschlossen, er trägt eine Jogginghose und sein ganzer Anblick. Kaputt.
„Ich freue mich so sehr, wenn das alles hier endlich vorbei ist. Lange mache ich das nämlich nicht mehr mit.“
Während meines Sprints gestern zur Underground und der Fahrt zur Waterloo-Station haben wir noch einmal telefoniert und beschlossen, dass wir das Angebot annehmen wollen. Natürlich in Absprache mit Lucas und April. Sie bringt uns zwei Tassen Tee und einen Kaffee und setzt sich auf Nicos Schoß.
„Guten Morgen.“
Darauf folgt eine ausgiebige Knutscherei, die ich auch mal wieder zu gerne mit Lucas hätte. Man könnte schon behaupten, dass ich manchmal neidisch auf ihr Glück bin. Aber das schlucke ich sofort runter, denn Neid gehört sich als gute Freundin nicht und ich gönne es ihnen ja. Trotzdem reicht es für mich jetzt auch wieder. „Leute, ich bin auch noch da. Auf der Yacht gibt es genug Zeit, euch zu feiern, aber jetzt heißt es für dich, Nicolas: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Husch, husch, ab auf dein Zimmer.“
Er verdreht die Augen, tut dann aber das, was ich ihm gesagt habe. Als er weg ist, kann ich endlich anfangen.
„Also April. Was hast du geplant?“
Schon seit Langem will sie ihm einmal zurückgeben, was er für sie macht und unsere Reise auf der Yacht ist dafür der perfekte Zeitpunkt.
„Es soll etwas Besonderes werden. Ich dachte, vielleicht könnten du und Lucas… eventuell“, sie sieht mich fragend an.
„Natürlich. Wir gehen einfach in irgendeinem Hafen Essen oder so“, ich zwinkere ihr zu.
„Danke, du bist ein Schatz. Also ich dachte daran, etwas zu kochen und dann gemeinsam während des Sonnenuntergangs bei Kerzenschein auf dem Meer zu essen. Und dann gehen wir irgendwann nach drinnen.“
Ich schmelze dahin. So etwas Schnulziges habe ich ja noch nie gehört, aber irgendwie ist es auch schön. Und Nicolas steht sowas von auf Romantik, dass es fast schon abschreckend ist.
„Das klingt nach einem traumhaften Plan“, sage ich, „Falls ich dir helfen kann, frag einfach, ich bin da.“
Ich sehe auf die Uhr.
„Oh verdammt, tut mir leid, ich muss los. Ich muss noch einkaufen gehen und dann ins Theater, weil wir vor der letzten Vorstellung immer noch etwas länger brauchen.“
Ich stehe auf und umarme April zum Abschied. „Bis in zwei Wochen!“
„Ich freue mich.“
„Nächste Haltestelle: Dover Hauptbahnhof.“
Ich schrecke hoch. Gleich sind wir da. Gleich beginnt die aufregendste Zeit meines Lebens. Gleich geht es los.
Komischerweise finde ich Dover plötzlich den schönsten Ort der Welt. Überall, wo wir vorbei kommen, sind unendlich weite Wiesen und Felder. Die Wolken am Himmel zeichnen ein märchenhaftes Muster, das die Stadt warm und beschützt wirken lässt.
Immer wieder erhasche ich einen Blick auf das blaugrüne Meer, dessen Wellen sich heute ruhig und leicht vom Wind tragen lassen. Dunkelgrüne Wälder, Vögel und sogar ein Fuchs, der schnell ins Dickicht flieht, machen die Idylle vollkommen. Durch das gekippte Fenster weht ein warmer Luftzug, der sanft meine Haare streift.
Ich wende meinen Blick zu Lucas, der in der Zwischenzeit unser Gepäck von den Ablagen, die sich über den Sitzen befinden, auf dem Boden abgestellt hat. Nicolas und April sind auch schon bereit, den Zug zu verlassen. Ich binde mir meine Jacke um die Taille und helfe dann Lucas mit den Koffern. Wir haben zwei XL-Versionen. Immerhin sind wir drei Wochen weg.
Der Ausgang befindet sich in Fahrtrichtung links. Als der Zug hält und die Türen sich öffnen, falle ich fast nach draußen. Vielleicht hätte ich doch nicht so viel einpacken sollen.
„Gib her.“ Lucas nimmt mir den Koffer ab und trägt ihn nach draußen.
Ich laufe planlos hinterher und sehe zu, wie sein Bizeps unter der Belastung größer und größer wird, was wirklich sehr interessant aussieht. Er geht an April vorbei und holt seinen Koffer aus dem Wagon, während Nico versucht, Aprils und seinen eigenen gleichzeitig zu tragen. Nur irgendwie gelingt ihm das nicht. Ich kichere leise. Nico steckt in der Tür fest.
„Oh je, vorsicht!“
April steht erschrocken hinter ihm und weiß nicht, wie sie helfen soll. Ich gehe auf ihn zu und nehme ihm eine der großen Reisetaschen ab.
„Danke“, murmelt er nur.
Mir war schon vorher klar, dass sie fast nichts wiegt. Männer packen prinzipiell nichts und gleichzeitig alles ein. Wahre Zauberer.
Nach dieser sehr schweren Geburt können wir endlich los. Jetzt ist alles nur noch ein Kinderspiel. Fröhlich schlendernd ziehe ich meinen Trolley zum Parkplatz. Dort wartet auch schon das Taxi. Kurz bevor ich das Auto erreiche, fällt mir etwas auf. Wie soll jemals unser aller Gepäck hier rein passen?!
„Ich habe zwei Taxen bestellt“, sagt Nico, als er meinen nachdenklichen Blick sieht, „Das andere kommt sicher gleich. Nehmt ihr doch das hier. April und ich kommen nach.“
Ich nicke.
„Lucas? Kommst du?“
Der Fahrer steigt aus. „Gehören Sie zu Familie Corner?“
Ich nicke erneut. „Wir möchten gerne zum Hafen.“ Mit trübem Blick nimmt er mir den Koffer ab und wirft ihn in den Kofferraum. Ich drehe mich um und steige in den Wagen.
Im Auto ist es warm und stickig. Ganz im Gegensatz zum Zug lassen sich die Fenster hier nicht öffnen, was ein wenig angsteinflößend ist. Ich lege meine Hand zwischen mich und Lucas und warte darauf, dass er sie nimmt. Seine Hände sind kühl und rau, aber ich verspüre ein Gefühl von Geborgenheit. Und Liebe. Es hat tatsächlich