Bist du traurig, wenn ich sterbe - Nicolas Lunabba - E-Book

Bist du traurig, wenn ich sterbe E-Book

Nicolas Lunabba

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Beschreibung

Das berührende Zeugnis einer außergewöhnlichen Freundschaft – ein mutiger, kraftvoller Text über die Hoffnung, wenigstens einem Kind eine Zukunft zu geben Nicolas Lunabba war selbst ein «Problemkind», nun kümmert er sich als Sozialarbeiter um Jugendliche, deren kriminelle Karriere vorgezeichnet scheint. Nur zu gut kennt er die Gewalt, die Wut. Seine Erfahrungen lassen ihn Zugang finden zu ihnen, besonders zu einem Jungen: Elijah. Aber Nicolas wird nicht alle retten können, vielleicht sogar keinen. Er muss sich abgrenzen, um nicht zu zerbrechen. Doch er wagt es, Elijah bei sich aufzunehmen, an Elijah zu glauben. Einfühlsam und ehrlich beschreibt Nicolas Lunabba, wie sich zwischen den beiden vorsichtig eine Beziehung voller Höhen und Tiefen entwickelt, wie Elijah Vertrauen zu Nicolas fasst und umgekehrt. Nicolas Lunabbas literarisches Memoir ist ein wichtiger, hoch emotionaler Text über eine auseinanderdriftende Gesellschaft, über die Verletzlichkeit von Jungen und Männern, über strukturellen Rassismus und Klassismus.

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Seitenzahl: 323

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Nicolas Lunabba

Bist du traurig, wenn ich sterbe

 

 

Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat

 

Über dieses Buch

Das berührende Zeugnis einer außergewöhnlichen Freundschaft – ein mutiger, kraftvoller Text über die Hoffnung, wenigstens einem Kind eine Zukunft zu geben

Nicolas Lunabba war selbst ein «Problemkind», nun kümmert er sich als Sozialarbeiter um Jugendliche, deren kriminelle Karriere vorgezeichnet scheint. Nur zu gut kennt er die Gewalt, die Wut. Seine Erfahrungen lassen ihn Zugang finden zu ihnen, besonders zu einem Jungen: Elijah. Aber Nicolas wird nicht alle retten können, vielleicht sogar keinen. Er muss sich abgrenzen, um nicht zu zerbrechen. Doch er wagt es, Elijah bei sich aufzunehmen, an Elijah zu glauben. Einfühlsam und ehrlich beschreibt Nicolas Lunabba, wie sich zwischen den beiden vorsichtig eine Beziehung voller Höhen und Tiefen entwickelt, wie Elijah Vertrauen zu Nicolas fasst und umgekehrt.

Nicolas Lunabbas literarisches Memoir ist ein wichtiger, hochemotionaler Text über eine auseinanderdriftende Gesellschaft, über die Verletzlichkeit von Jungen und Männern, über strukturellen Rassismus und Klassismus.

Vita

Nicolas Lunabba, geboren 1981 in Lleida, Spanien, arbeitet mit Kindern und Jugendlichen in sogenannten Problemvierteln in Südschweden und erhebt regelmäßig seine Stimme gegen soziale Ungleichheit und strukturellen Rassismus. Für sein Engagement wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Martin-Luther-King-Preis und der Ehrendoktorwürde der Universität Malmö. Sein literarisches Memoir «Bist du traurig, wenn ich sterbe» stand über ein Jahr lang auf der schwedischen Bestsellerliste, wurde von der Kritik hoch gelobt und erscheint in Übersetzung in fünf Ländern.

 

Stefan Pluschkat, geb. 1982 in Essen, studierte Komparatistik und Philosophie in Bochum und Göteborg. Er übersetzt Romane, Kinder- und Sachbücher aus dem Schwedischen und Norwegischen und erhielt 2018 den Hamburger Förderpreis für Übersetzung.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Blir du ledsen om jag dör bei Natur och Kultur, Stockholm.

Der Verlag dankt dem Swedish Arts Council für die Förderung der Übersetzung.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Blir du ledsen om jag dör» Copyright © 2022 by Nicolas Lunabba 

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Nicolas Lunabba

ISBN 978-3-644-01796-2

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Elijah

1

Heute ziehst du hier ein.

Deine Sachen liegen auf einem Haufen im Flur, du schläfst in Trainingsklamotten auf dem Sofa. Wo du ab morgen die Nächte verbringen wirst, weiß ich nicht. Ich könnte die Matratze vom Dachboden holen, oder ich lasse dich weiter auf dem Sofa schlafen.

Ich will nicht, dass du hier bist.

Ich habe Angst, du könntest verstehen, wer ich wirklich bin. Seiten an mir entdecken, Dinge aus meiner Vergangenheit erfahren, über meine Familie, die dir nicht gefallen.

Ich habe Angst, dass du mir zu nahekommst. Dass du deine laute, fordernde Seite herauskehrst. Dass du mir meine so dringend benötigten nächtlichen Stunden in Einsamkeit raubst, den Zorn und Hass in mir weckst, dass unsere Beziehung daran zerbricht.

Ich traue mir selbst nicht. Dass du es tust, macht mir Angst. Angst davor, dass ich die Wut in mir nicht kontrollieren kann, wenn du sie triggerst, dass ich die Hand gegen dich erhebe. Dass alles vor die Hunde geht.

 

Als du vor ein paar Stunden herkamst, habe ich dich im Flur mit einer Umarmung begrüßt. Dich nach deinem Tag gefragt, dir zugehört und mich dann, unter dem Vorwand, ich sei müde, ins Schlafzimmer verzogen. Ich gab mir Mühe, kühl und distanziert, ja schroff zu wirken. Doch obwohl du sonst jede noch so kleine Stimmungsschwankung wahrnimmst, hast du nichts gemerkt. Hast nur breit gelächelt und dich umgesehen. Ohne zu merken, dass du hier nicht willkommen bist.

Eine Weile bist du durch die Wohnung gegeistert. Hast die Küche nach Essbarem durchstöbert, doch ohne Erfolg. Danach hast du dich im Wohnzimmer an den Computer gesetzt und bist schließlich auf dem Sofa weggedämmert.

Erst da bin ich aus dem Bett geklettert. Habe mich leise zu dir geschlichen und nach dir geschaut. Als ich deinen schlafenden Körper sah, durchfuhr mich ein eisiger Schauer. Was würden die Leute denken? Welcher normale, vernünftige Mensch lädt ein fremdes Kind zu sich ein? Lässt es bei sich schlafen? Bei sich einziehen?

Was hast du vor, Nicolas? Warum widmest du deine Zeit den Kindern fremder Leute? Welche abscheuliche Neigung treibt dich zu diesem Jungen?

Warum schaltest du nicht das Jugendamt ein, wenn es ihm so schlecht geht?

Ich höre die Stimmen. Ich beschwöre sie herauf, in der Hoffnung, dass ich mich vor lauter Selbstekel von dir distanziere, dich nach Hause schicke.

 

Jetzt sitze ich im Bett, den Laptop auf den Knien.

Draußen ist es stockdunkel. Auf Höhe des Fensters schaukelt eine Straßenlaterne und wirft einen Lichtkegel in die Nacht, im grellgelben Schein wirbeln Schneeflocken wie glimmende Glühwürmchen.

Sonst regt sich nichts.

Ich höre das Rauschen der Lüftung, der Wasserleitungen. Der Nachbar oben geht übers Parkett. Vorhin war er pinkeln, das Plätschern drang beklemmend klar an mein Ohr. Wenn ich mich konzentriere, vernehme ich meinen Puls. Ein dumpfes Pochen in den Schläfen. Als hätte mein Herz mein Hirn verdrängt.

2

Seit Jahren arbeite ich mit Kindern und Jugendlichen in den sogenannten sozialen Brennpunkten. Sie suchen meine Nähe. Das ist meine Gabe. Ich spiele Basketball mit ihnen, versorge sie mit Essen, wir erledigen zusammen Hausaufgaben, verbringen Zeit miteinander. Sie sehnen sich nach meiner Aufmerksamkeit, nach meinem Schutz. Ich nehme sie in den Arm. Wuschle ihnen durchs Haar. Denke daran, dass sie sterben könnten.

Zweiundzwanzig Kinder und Jugendliche in meinem Umfeld wurden ermordet, wurden selbst zu Mördern oder starben an einer Überdosis.

Ich sehe ihre Gesichter vor mir, wie sie voll Neugier und Angst zu mir aufblicken. Und dann, wenn ein Kind stirbt oder tötet, wie das Leuchten in den Augen erlischt.

An die Trauerfeiern habe ich nur vage Erinnerungen. Da sind nur Bruchstücke. Ein kleiner Kindersarg. Ein abgewetzter Fußball auf einem Berg aus Blumen. Ein gerahmtes Schulfoto. Dröhnende Stille. Wenn sehr junge Menschen beerdigt werden, ist es oft seltsam still. Als würden die Angehörigen die Luft anhalten. Bis plötzlich eine Mutter oder ein Vater schreit, als hätte sie der Blitz getroffen. So verzweifelt und herzzerreißend, dass die Einsicht des Verlusts auch mir ins Mark fährt.

Der Großteil der Kinder überlebt. Doch die meisten von ihnen treiben auf eine Zukunft zu, die sie brechen, ihre Träume und Pläne, ihr Selbstwertgefühl und ihren Körper zerschmettern wird.

Ich sehe, wie es geschieht. Ich weiß, was ich tun müsste, um die Katastrophe abzuwenden, und entscheide mich trotzdem bewusst dagegen.

Ich baue eine Bindung zu den Kindern auf. Gewinne ihren Respekt, ihr Vertrauen. Gebe ihnen das Gefühl, dass sie auf mich zählen, sich an mich wenden können, dass ich sie sehe, dass sie mir am Herzen liegen. Ich pumpe sie voll mit Stärke und Selbstvertrauen. Sage ihnen, dass sie für sich selbst einstehen müssen, weil sie svartskallar sind in diesem Land – «Schwarzköpfe», Ausländer, Kanaks, Kanaken –, weil das System gegen sie ist, doch dass sie genug Kraft in sich tragen, um sich zu befreien. Dass eine andere Zukunft möglich ist. Dass Veränderung möglich ist, dass sie sich verändern können und nicht bis in alle Ewigkeit wie Ratten leben müssen, dass sie schön sind, wichtig, so wie sie sind.

Doch weil sie längst gebrochen wurden von den Umständen, die sie überhaupt erst geformt haben, von der allumgreifenden Gewalt, und weil ich nicht vorhabe zu tun, was wirklich notwendig wäre – sie bei mir aufzunehmen –, sind diese Hoffnungsschimmer nicht mehr als ein Hinauszögern der Katastrophe, ein Verrat auf Raten. Lange habe ich erklärt, wie absolut irrsinnig es sei, dass in Schweden als widernatürlich, übergriffig, ja womöglich pädophil abgestempelt wird, wer sich für die Kinder anderer Leute verantwortlich fühlt, sich emotional an sie bindet. Ich legte mir Argumente zurecht – unter dem antisozialen Naturell der Schweden leiden junge Menschen im Allgemeinen und junge svartskallar im Speziellen. Bei jeder Gelegenheit gab ich meine Gesellschaftskritik zum Besten.

Das Problem war nur – mir dies einzugestehen, tat weh –, dass der pädagogische Ansatz, den ich als den ethisch vertretbarsten und effektivsten anpries, ein enormes Maß an Mitgefühl, Fürsorge und emotionaler Offenheit in der Begegnung mit den Kindern verlangte. Ein Ideal, dem ich nicht gerecht werden konnte.

Ich kann nicht der Mensch sein, den ich als Kind so dringend gebraucht hätte, der mich nicht allein gelassen hätte mit meinen dunklen Gedanken und Gefühlen, der mich gesehen hätte.

Ich habe die dreißig überschritten. Ich lebe in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Stadtteil Möllevången, genannt Möllan, in Malmö. Hinter mir liegt nicht eine ernst zu nehmende romantische Beziehung, und die Zukunftsaussichten diesbezüglich sind nicht gerade rosig. Ich habe kaum Familie. Ab und zu treffe ich meinen älteren Bruder. Es gibt eine Tante in Ängelholm und einen Großvater mütterlicherseits in einem Altenheim. Sonst niemanden.

Ich bin ein ängstlicher Mensch. Seit jeher fühle ich mich klein und schwach. Deshalb habe ich mir dieses Leben ausgesucht.

Beziehungen gehe ich nur mit den Menschen ein, die mich nicht verletzen können. Ich bin berechnend: Wie nah kann ich jemanden an mich heranlassen, wie viele Gefühle darf ich mir erlauben, bevor ich Gefahr laufe, die Person zu lieben? Auf die Weise verliere ich nicht den Boden unter den Füßen.

Ich bin von Gewalt durchtränkt. Sie ist eine der Konstanten meines Lebens. Ich habe einen anderen Menschen zu Boden gedrückt und wie im Rausch auf ihn eingeprügelt, gehört, wie die Angstschreie unter mir verebbten, gespürt, dass ich weitermachen könnte, bis nur noch ein dunkler Fleck auf dem Asphalt übrig wäre. Dieses Gefühl, jemanden zu zermalmen. Und das Gegenteil: die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren. Zu wissen, dass mir jemand Schmerzen zufügen will. Noch heute versuche ich bei jedem Mann einzuschätzen, wie viel Gewalt in ihm steckt.

Mein Vater verschwand, als ich vier war. Die wenigen Erinnerungen an ihn sind mit Gewalt verknüpft.

Die Gewalt hat sich in mir fortgepflanzt. Wenn ich mich bedrängt fühle, kann sie mich jederzeit übermannen. Als ich vor ein paar Jahren an einer weiterführenden Schule arbeitete, ließ ich mich von einem Jungen namens Hassan derart provozieren, dass ich ihn blind vor Wut am Kragen packte und zu Boden warf. Ich presste ihn mit meinem Körpergewicht nach unten und schrie ihm ins Gesicht: «Mich fickst du nicht! Mich fickst du nicht!», während ich die Faust neben seinem Kopf in den Boden rammte.

Mit aller Macht versuche ich, meine Verletzlichkeit und Angst zu verbergen. Den emotional stabilen, besonnenen, rationalen, selbstbewussten, charismatischen, intelligenten Mann zu geben. Ich weiß, du bewunderst diese Figur, oder eher: Karikatur. Mein – und dein – Männlichkeitsideal setzt nicht nur voraus, dass wir stets die Fassade wahren, es verlangt auch, dass wir in jeder Beziehung der Stärkere sind. Die Oberhand behalten.

Wahrscheinlich arbeite ich deshalb mit sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Sie suchen meinen Blick, und wenn ich ihnen in die Augen blicke, weiß ich, dass ich jemand bin.

 

Natürlich ist meine Arbeit wichtig. Ich konnte vielen Menschen zu einem besseren Leben verhelfen. Doch um die Motive ist es düsterer bestellt. Ich habe keine Angst vor den Gettokids. Ihr lautes, aggressives Auftreten schüchtert mich nicht ein. Deshalb finde ich Zugang zu ihnen. Deshalb lassen sie vor mir ihre Schutzmauer fallen und zeigen sich verwundbar, sodass ich sie als die Menschen auffangen kann, die sie tief drinnen sind. Ich bekomme so viel und gebe so wenig. Niemals würden sie mir vorwerfen, dass ich sie im Stich lasse, obwohl ich ihr akutes Bedürfnis nach Liebe und Nähe bemerkt habe. Sie erwarten nichts von ihrem Umfeld. Ihr Selbstwertgefühl ist derart angeschlagen, dass sie sich für das Versagen anderer die Schuld geben. So gesehen hat man leichtes Spiel mit ihnen. Sie zehren lange von winzigsten Gesten der Zuneigung und Wertschätzung; im Grunde genügt es schon, ihnen unvoreingenommen zu begegnen, kein Arschloch zu sein. Sie wünschen sich nichts mehr, als sich mir um den Hals zu werfen, und tun alles dafür, nicht lästig, hilfsbedürftig oder schwach zu wirken.

Einige sind abgebrüht und verbergen das innere Chaos, erst die Zeit zeigt, wie gebrochen sie sind. Andere sind naiver, schmieren mir Honig ums Maul, sind naseweis, reißen Witze, lachen und geben ihr Äußerstes, damit ich sie sehe. Wieder andere sind aufmüpfig, respektlos, aggressiv und heischen ständig meine Aufmerksamkeit.

Sie sind getrieben von der Angst, ihre Unvollkommenheit könnte bestätigt und ihnen das letzte Quäntchen Macht und Respekt genommen werden. Dies ist einer der Gründe, warum sie einander töten. Warum Belanglosigkeiten wie Gerüchte, winzige Geldbeträge und verletzter Stolz mitunter zum Mord führen. Wobei, was heißt schon belanglos? Was anderen lächerlich erscheinen mag, ist für die Jugendlichen das letzte Wrackteil, an dem sie sich festklammern, um nicht zu ertrinken. Sie reden sich ein, die Lüge sei wahr, etwas Wertloses kostbar, sie hätten die Kontrolle über Dinge, die sie nicht beeinflussen können.

Sie besitzen nichts. Sie sind ziellos und verschlossen, schwanken zwischen Selbsthass und forciertem Übermut.

Auf Lob reagieren sie wie auf eine Ohrfeige – sie wenden sich ab, im Schock, aus Scham. Sie rotten sich in Gruppen zusammen und stürzen sich in Freundschaften, die von einem Loyalitätsgefühl ebenso geprägt sind wie von der Angst voreinander. Doch sie haben sonst niemanden, im Gegensatz zu den privilegierten Kindern, denen zahlreiche soziale Räume zugänglich sind, wo sie sich geborgen und zu Hause fühlen dürfen, wo ihre Integrität nicht angetastet wird. Räume, in denen nicht jede Begegnung mit einem Machtkampf einhergeht und Gewalt – oder deren Androhung – sie nicht bis zur Handlungsunfähigkeit lähmt. Und vor allem: Räume, in denen sie Anerkennung und Liebe erfahren dürfen. Zu Hause, in der Schule, im Freundeskreis, im Sportverein, im Jugendzentrum, in der Nachbarschaft, bei Oma und Opa – und, weiter gefasst, im öffentlichen Raum: im Supermarkt, im Schwimmbad, im Park, im Kino, in der Bücherei. Geraten sie in einen Konflikt oder verlieren aus anderen Gründen den Zutritt zu einem dieser Räume, haben sie den Verlust, die Auflösung, schnell verkraftet, schließlich stehen ihnen genug andere Türen offen.

Nicht so bei den gefährdeten Jugendlichen. Für sie gibt es nur eine Handvoll Räume, in denen sie sich sicher – oder zumindest nicht bedroht – fühlen können, weshalb sie diesen unverhältnismäßig hohen Wert beimessen. Der Gedanke, sie könnten ausgesperrt werden und welche Folgen der Verlust nach sich zöge, ist allgegenwärtig. Sie sind schlicht abhängig von den Räumen. Und deshalb bereit, einander zurück in den Abgrund zu ziehen, sobald jemand auch nur vage andeutet, sich andere Räume oder Gemeinschaften suchen zu wollen. Kinder, die einst Freunde waren, richten deshalb aus dem Gefühl, sie seien im Krieg mit der Welt, die Pistolen aufeinander.

 

An der Stelle komme ich ins Spiel.

Ich erkenne mich in ihnen wieder. Doch anders als die Kinder habe ich mich in diesem Gefühl nicht verirrt. Ich habe mir beigebracht, es zu kontrollieren, so wie man mit Zeit und Mühe ein wildes Tier zu zähmen lernt. Ich bin nicht mehr wie sie, nicht ständig auf der Hut. Das Ungleichgewicht unserer Beziehung führt dazu, dass ich kaum an mein eigenes Bedürfnis nach Anerkennung und Nähe denken muss. Die Kids nähren mich. Kein Tag vergeht, ohne dass sie mir zu verstehen geben, wie stark, klug und geschätzt ich sei. Und das verwende ich gegen sie.

Ich weiß, was ich sagen und tun muss, damit sie sich meinen Regeln unterwerfen. Manchmal bekomme ich mit, wie sie über mich reden, wenn sie glauben, ich könne sie nicht hören. Nick ist ein Ehrenmann, sagen sie. Er ist anders als die anderen. Wir sind ihm wirklich wichtig. Und sie haben recht. Sie sind mir wichtig, ich will nur das Beste für sie. Aber ich bin mir selbst noch wichtiger, ich will vor allem das Beste für mich.

Manchmal, wenn ich Kinder über längere Zeit, vielleicht jahrelang begleitet habe und wir einander wirklich kennen, bin ich fast versucht zu sagen, dass ich sie liebe. Mit dir ist es so, Elijah. Du bist mein Kind. Mein Junge. Aber ich bin auch mein eigenes Kind, mein Junge. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dir könnte etwas zustoßen, du könntest nicht mehr hier sein. Ich will dir helfen, neue Wege und Werte zu finden, die Kraft, dich freizuschlagen, aufzusteigen, loszufliegen, hinauf ins Licht. Doch es gibt Grenzen. Sie treten in Kraft, sobald der Preis für dein Wohl und deine Freiheit mir die Möglichkeit nimmt so zu leben, wie ich leben will. Auf dieser Grundlage spielen wir uns aufeinander ein. So sieht sie aus, die unausgesprochene Übereinkunft, an die ihr euch haltet, an der ihr euch orientiert. Ich behalte die Oberhand, und empfinde ich eine Beziehung als gefährlich, suche ich einen Weg, mich aus ihr zu lösen.

Kurzum: Ich nutze meine Position in der Altershierarchie aus. Kinder sind von Natur aus unterlegen. Ihren Körpern ist die Macht der Erwachsenen eingeschrieben. Das ist die erste Unterdrückung. Sie wissen, was von ihnen erwartet wird, wie sie sich verhalten, was sie sagen, denken, fühlen sollen. Sie wissen, was wertvoll und was wertlos ist, was passiert, wenn sie die Regeln und Normen der Erwachsenen untergraben. Wütende Stimmen, nadelspitze Blicke, erhobene Fäuste, abgewandte Rücken. Ignoranz, Erniedrigungen, Beleidigungen, Übergriffe. Kinder wissen, dass die Erwachsenen sie in die einsame Hölle der Scham verbannen können. Doch während die privilegierten Kinder intuitiv ahnen, dass die Unterdrückung und die Hilflosigkeit nur eine Etappe sind, dass sie als Erwachsene die gleiche Position einnehmen, die gleiche Macht besitzen werden, ist die Unterdrückung für die sozial benachteiligten Kinder existenziell. Sie wird Teil ihres Wesens. Sie ist nie vorbei.

3

Als ich dich das erste Mal sah, stand ich auf dem Basketballplatz während des Malmö-Festivals auf einer Bühne. Ich ließ den Blick schweifen, da fiel mir ein kleiner Junge auf, der sich durchs Getümmel pflügte.

Etwa tausend Menschen bewegten sich durch den Park, und der Grund, warum ausgerechnet du meine Aufmerksamkeit auf dich zogst, war deine freche Art. Das Kinn erhoben, bahntest du dir mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge und fuhrst die Leute mit Piepsstimme an, sie sollten dir Platz machen. Du wirktest furchtlos – oder so eingeschüchtert, dass du dachtest, du müsstest den Harten spielen. Schnurstracks steuertest du auf eine Gruppe älterer Jungs zu, die auf einer provisorischen Tribüne saßen und rauchten, und obwohl du einen Kopf kürzer warst, fordertest du sie zu einem Spiel heraus. Du hattest dich überschätzt, als Achtjähriger gegenüber Halbstarken.

Ich kletterte von der Bühne, klopfte dir auf die Schulter und fragte, ob du auch mit mir spielen würdest. Du stimmtest zu, und während du Tasche und Jacke ablegtest, wanderte dein Blick prüfend an mir hoch und runter. Ich bat die Umstehenden, das Feld zu räumen, und dann spielten wir, ich gewann, sieben zu null. «Noch mal», brülltest du, «komm schon, Mann, wir spielen noch mal.»

«Wir können gleich weiterspielen», sagte ich. «Erst mal muss ich was essen, gewinnen macht hungrig.»

Ich überredete dich, mich zum Imbissstand zu begleiten, kaufte uns Burger und Limo, und dann gingen wir zum Kanal hinunter und ließen uns auf der Treppe nieder. Musik, Gelächter und Geschrei von der Kirmes und vom Basketballplatz dröhnten uns in den Rücken. Vor uns spiegelte sich der Sternhimmel im schwarzen Wasser. Deine freche Art war wie verflogen, du schlangst dein Essen in dich hinein, wichst meinem Blick aus.

Doch kaum hatten sich deine Schüchternheit und dein Hunger gelegt, plappertest du drauflos. Erzähltest, wie scheiße deine Schule sei, von deinen Lieblingsspielern, deinem großen Traum, eines Tages in der NBA zu spielen. Die Veranstaltung war längst zu Ende, als wir irgendwann aufstanden und du auf deinem zu großen Fahrrad davonschlingertest. Du hattest jemanden gefunden, an dem du dich festklammern konntest. Und genau das hast du seit jenem Abend getan. Dich festgeklammert und nicht mehr losgelassen.

4

Gestern, an deinem ersten Morgen bei mir, weckte mich ein Gefühl von Panik. Bis fünf Uhr hatte ich am Laptop gesessen und geschrieben. Doch erst jetzt, als ich fünf Stunden später die Augen aufschlug, dämmerte mir, was ich getan hatte.

Brutal zu sein, war nicht meine Absicht gewesen. Doch dass ich dir nichts zu essen, dir weder Bettwäsche noch ein sauberes Handtuch gegeben und mich dir gegenüber kühl und abweisend verhalten hatte, war genau das gewesen – brutal.

Du hattest die ganze Nacht in derselben Position geschlafen. Oder, was heißt geschlafen – du warst wie ausgeknockt gewesen. Ich wusste es, weil ich am Abend nach dir geschaut hatte; du hattest auf der Seite gelegen, zusammengerollt zwischen zwei Sofakissen, den Kopf auf einer Hand. Und als ich jetzt einen Blick ins Wohnzimmer warf, lagst du noch immer so da.

Ein gutes Zeichen, dachte ich. Dass du tief und fest schliefst, ließ darauf schließen, dass du dich hier sicher fühltest. Wenigstens dein Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit hatte ich gestillt, und diese Dinge waren doch sicher wichtiger als menschliche Wärme und Nahrung.

Ich untermauerte meine Theorie mit der einzigen Referenz, die mir zur Verfügung stand: mir selbst.

Als ich klein war, hatten mich schreckliche Albträume heimgesucht, wann immer große Veränderungen anstanden oder mir etwas Angst machte. Zwischen meinem achten und zwölften Lebensjahr litt ich unter Nachtschreck-Attacken. Gebadet in Tränen, Schweiß und Urin fuhr ich aus dem Bett hoch, wankte benommen ins Zimmer und versuchte zu vertreiben, was auch immer mir auf den Fersen war. Oder ich saß in der Dunkelheit und starrte ins Nichts, und obwohl mir vor Müdigkeit die Augen zufielen, wagte ich nicht einzuschlafen und halluzinierte vom Tod oder einer Zukunft in völliger Einsamkeit.

 

Dass deine erste Nacht bei mir so ruhig verlaufen war, beruhigte mich. Nichts und niemand hatte mich dazu verpflichtet, dich bei mir einziehen zu lassen, ich hätte dir genauso gut sagen können, du solltest zu Hause wohnen bleiben, wir könnten uns weiter unter der Woche treffen. Ich hatte eine gute Tat vollbracht. Ich durfte nicht zu hart mit mir ins Gericht gehen. Sicher, ich hatte mich gestern mies verhalten. Dass ich Schuld und Reue empfand, geschah mir nur recht. Doch alles an der Situation war neu und aufreibend.

Ich ging in die Küche, wärmte in der Mikrowelle eine Tasse Kaffee auf und setzte mich ans Fenster. Das Glas war voller Eisblumen. Durch die mit Schimmel überzogene Lüftungsluke zog es kalt herein. Draußen, über dem Fixerpark schräg links gegenüber, hing dichter Nebel. Dächer und Gehsteige waren schneebedeckt.

Da kam mir eine Idee; ich würde dich überraschen. Gleich nach dem Aufstehen. Mit einem Luxusfrühstück, vielleicht im Hilton. Ich würde dich damit überrumpeln. Die Erinnerungen an das Schlechte durch etwas Schönes ersetzen.

Gesagt, getan. Als du wach wurdest, saß ich mit einem Buch neben dir auf dem Sofa. «Wir haben was zu feiern!», rief ich und zwickte dir in die Wange. Du stemmtest dich auf die Ellbogen und lächeltest müde. «Wie wär’s mit dem Frühstücksbüfett im Hilton? Wäre doch nice, oder? Aber wir müssen uns beeilen. In vierzig Minuten machen die zu.»

Eine Viertelstunde später betraten wir das rappelvolle Hotelrestaurant. Gäste verdrehten die Köpfe, das Bildungsbürgertum musterte die zwei Typen in Joggingklamotten: einen verlebt wirkenden Erwachsenen mit kahl geschorenem Schädel und einen Jungen, der gierig, in beiden Händen einen Teller, das Büfett stürmte und einen Glücksschrei ausstieß.

5

Auf einer Straße, die du von deinem Fenster aus sehen kannst, wurde vorletzte Woche ein Mann erschossen. Er stieg gerade aus seinem Auto, als ihn zwei Schüsse trafen, einer in den Bauch, einer in die Leiste. In den sozialen Medien kursiert ein verwackeltes Video, mit einer Handykamera von einem Balkon aus aufgenommen. Eine Polizistin und ein Polizist beugen sich über den Mann, der sich am Boden krümmt wie ein Wurm am Angelhaken. Ein erschütternder Anblick. Die beiden versuchen, ihn festzuhalten, ihn zu beruhigen, ihm das Leben zu retten. Ob du einen Mordversuch bezeugst, ob du die Tat von deinem Fenster mitangesehen hast, weiß ich nicht. Ich habe dich nicht danach gefragt, und du hast mir nichts dergleichen erzählt.

 

Du verlässt Nydala, den Stadtteil, in dem du aufgewachsen bist, nur ungern. Ein paarmal in der Woche fährst du zur Sporthalle, um Basketball zu spielen, und einmal im Jahr besuchst du das Malmö-Festival.

Hinter Nydalas Grenzen, fernab der dir vertrauten Straßen, Gebäude und Menschen, betrittst du ein Kraftfeld. Du siehst es nicht, spürst nur den Druck, der auf deinen Körper wirkt und dich beklommen macht. Für Außenstehende ist es schwer nachvollziehbar. Warum zieht ihr nicht weg, wenn euch dort das Leben schwer gemacht wird? Doch für Marginalisierte verläuft der psychologische Prozess andersherum: Wenn ich nicht einmal hier, an meinem Lebensort, sicher bin, was erwartet mich dann anderswo? Du bist nicht nur Gewalt und Demütigungen ausgesetzt, sondern bekommst auch all das vor Augen geführt, was dir verwehrt bleibt: Geld, Status, Macht, soziale Mobilität, Glück, Freiheit.

 

Nach dem Malmö-Festival fuhr ich regelmäßig zu dir, holte dich vorm Haus ab und brachte dich zum Training, um sicherzustellen, dass du dort ankamst.

Wie ein kleiner Tourist hast du hinter mir auf dem Gepäckträger gesessen, dich an mir festgehalten und den Kopf hin und her geworfen, gebannt von den Ecken der Stadt, die zugleich fremd und vertraut, nah und unerreichbar waren.

Es war kein Zufall, dass ich dich ausgerechnet ins Hilton mitnahm, den Wolkenkratzer im Zentrum der Stadt, dieses Sinnbild von Luxus und Überfluss. Jetzt wird mir das klar. Ich wollte ein Muster brechen, eine neue Zeitrechnung einläuten. Jetzt bist du bei mir. Diese Straßen und Orte gehören auch dir.

Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, war genauso von Klassengrenzen durchschnitten wie Malmö. Sie umkesselten unsere Millionenprogramm-Siedlung, bildeten unverrückbare mentale Barrieren. Die Straßen der Reichen säumten unsichtbare Schilder: Zutritt für Unbefugte verboten. Alles war dort anders. Die Körper, die sich so unbeschwert und frei bewegten. Die Kleidung. Die Gärten. Die Autos. Ich fühlte mich wie ein Fremdkörper. Hatte Todesangst, jemand könnte mir auf die Schliche kommen und mich verjagen.

Heute bin ich ein anderer, habe einen festen Job, eine Eigentumswohnung. In gewisser Weise habe ich die Fähigkeit eingebüßt, jene Signale und Bedrohungen zu deuten, für die du so empfänglich bist. Aber wenn ich dich anschaue, sehe ich es: Wie du dich in weißen Räumen, umgeben von fein gekleideten, wortgewandten Erwachsenen, in dich selbst zurückziehst, meinen Blick suchst, ängstlich wirst, wachsam.

Bist du mit deinen Freunden zusammen, markiert ihr eure Präsenz, indem ihr euch groß macht, pöbelt, stört und zerstört. Ihr benehmt euch wie Idioten, wenn ihr euch im Rudel bewegt und öffentliche Plätze belagert. Wenn ihr das Gefühl habt, jemand würde auf euch herabschauen.

Als ich selbst Teil eines solchen Rudels war, habe ich auch den harten Kerl gespielt. Habe Sachen demoliert, Erwachsene zur Weißglut gebracht, war großkotzig, habe gestohlen, gegrölt – und damit das Bild der Außenwelt bestätigt. Heute bin ich der Erwachsene, der vom Rand aus zusieht und den Pulk verunsicherter, ängstlicher junger Männer beobachtet, die gefährlich wirken – die gefährlich sind, wenn man sie bedrängt. Ich erstarre, weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Sie sind, wie ich einmal war, ich verstehe sie. Vielleicht verspüre ich deshalb den Impuls, sie zurechtzuweisen, zu beschützen, ihnen zu sagen, sie sollen still sein.

Es ist, als wollten sie mich persönlich blamieren, mich in ein schlechtes Licht rücken. Mir Steine in den Weg legen, wenn ich versuche, das auf uns svartskallar projizierte Fremdbild zu humanisieren. Es tut mir weh, dass sie den Blick der Gesellschaft derart internalisiert haben, dass sie glauben, sich so verhalten zu müssen. Dass sie sich von etwas abstoßen, woran sie tief im Herzen teilhaben wollen.

6

Immer öfter kamst du in die Sporthalle, wenn du wusstest, dass ich dort war. Und du brachtest zwei Freunde mit, Abbe und Josef.

Während ich das Basketballtraining leitete, drücktet ihr euch an der Seitenlinie herum und lauschtet, sogt meine Worte auf, ahmtet meine Bewegungen nach.

Ihr saht so konzentriert aus und wart mit so viel Tempo und Hingabe dabei, dass die anderen über euch lachten.

Doch genauso konntet ihr für Unruhe sorgen. Ihr wart albern und laut. Die kleinsten Dinge brachten euch aus der Fassung. Ein missglückter Pass, die Ermahnung eines anderen Trainers, die ungerechte Entscheidung eines Schiedsrichters – schon kippte eure Stimmung. Ihr pöbeltet und schlugt andere Kinder, manchmal auch Erwachsene.

Abbe, der seit Kurzem in einer Pflegefamilie lebte, war der Rädelsführer. Die überschüssige Energie schlug Funken um ihn, und sein Gesicht war wie entzweigespalten von seinem zahnspangigen Dauergrinsen. Seine Doppelnatur, mal verschmitzt, mal aggressiv, brachte die Erwachsenen abwechselnd zum Lachen und zur Weißglut.

Die ersten Male begleitete Abbes Cousin ihn in die Halle. Er war in meinem Alter, saß meist an der Seitenlinie und starrte auf sein Telefon oder beobachtete gelangweilt die Kinder auf dem Spielfeld. Er trug eine kugelsichere Weste. Die Schulterriemen zeichneten sich unter der Trainingsjacke ab. Einmal fragte er, ob es in der Sporthalle freie Stellen gebe, ob ich ihm vielleicht einen Job klarmachen könne. «Ich kann gut mit Kindern, trotz allem», erklärte er wenig überzeugend. Kurz darauf wurde ihm nicht weit von meiner Wohnung ins Gesicht geschossen. Er überlebte.

Josef war der Jüngste und Stillste von euch. Intelligent, aber mit etwas Dunklem in sich. Höflich, ohne kriecherisch zu sein. Außerdem war er das vielleicht größte Basketballtalent, das ich je gesehen hatte. Meist holte ihn sein Vater ab, doch ich konnte nie mit ihm reden, da er immer im Auto vor der Halle wartete.

Jeder von euch besitzt riesiges Talent. Abbe ist zwar etwas klein, aber blitzschnell. Du bist ein bisschen pummelig, aber wendig wie ein Dachs und geschickt mit dem Ball wie sonst niemand in deiner Altersklasse. Doch Josef stellt euch beide in den Schatten. Als Erwachsener wird er über zwei Meter groß sein. Er hat lange Gliedmaßen – scheint fast nur aus Extremitäten zu bestehen – und kommt schon jetzt, mit nicht mal dreizehn, an hohe Körbe. Wegen eurer verschiedenen, von der «Norm» abweichenden Eigenschaften – die vor allem damit zu tun haben, dass ihr svartskallar in einem weißen Mittelschichtsumfeld seid – geltet ihr als Outsider in euren Mannschaften. Ihr fallt auf, weil ihr über die Stränge schlagt. Ihr schlagt über die Stränge, weil ihr auffallt.

Um Konflikten vorzubeugen, bugsierte ich euch oft zu einem Korb im hintersten Winkel der Halle und forderte euch zum Zweikampf heraus, Mann gegen Mann. Manchmal spielten wir stundenlang. Mit extremer, fast brutaler Intensität. Ihr schnaubtet vor Wut, wenn ihr gegen den erwachsenen Mann verlort. Doch indem ich immer weiter mit euch spielte, gewann ich Stück für Stück euer Vertrauen.

Oft saßen wir auch in der Umkleide und quatschten; meist dann, wenn man euch aus der Halle geworfen hatte. Ihr vertrautet mir alles Mögliche an. Nach einer Weile ging ich dazu über, euch regelmäßig in die Stadt mitzunehmen. Wir aßen Döner am Möllevångstorget, lachten über die überdrehten Marktschreier, hingen im Park herum und spielten auf allen möglichen Basketballplätzen der Stadt. Ich hatte euch im Griff.

7

Dass deine Mutter trinkt, weiß ich schon seit einer ganzen Weile. Ich bin ihr bei Turnieren begegnet, aber jedes Mal auf Abstand gegangen, habe sie gemieden.

Was den Sport angeht, unterstützt sie dich nach Leibeskräften. Auch das weiß ich. Sie spricht mit deinen Trainern, ermöglicht dir, an Trainingslagern teilzunehmen, sorgt jedoch immer wieder für Probleme.

Sie applaudiert an den falschen Stellen, jubelt gegen den Rhythmus des Spielverlaufs. Einmal schlief sie während eines Spiels ein. Du liefst die Seitenlinie auf und ab und brülltest verzweifelt: «Wach auf, Mama! Wach auf!» Die Jungs aus deiner Mannschaft kichern und tuscheln über dich, ihre Eltern belächeln deine Mutter. Es macht mich wütend. Ich verabscheue die Erwachsenen, die deine Mutter und dich verurteilen. Ich verabscheue mich selbst, weil ich nichts dagegen unternehme, nicht einschreite.

Du verfügst weder über die Sprache noch das Wissen, um deine Welt in Worte zu fassen. Und obwohl ich sehe, wie sehr du dich quälst, springe ich dir nicht bei. Wenn du aus Angst vor der Sprachlosigkeit meine Nähe suchst, gehe ich auf Abstand. Ich werde vorsichtig, verschanze mich. Klammere mich an unser gemeinsames Ziel: trainieren, trainieren, trainieren.

Jedenfalls bis zum letzten Winter. Dann wurde alles anders.

Du wirktest niedergeschlagen und in dich gekehrt. Nicht beim Training und solange ich dir Aufmerksamkeit schenkte, dann warst du wie immer. Doch kaum waren deine Gedanken an keine konkrete Beschäftigung geknüpft, drifteten sie ab. Zu deiner Mutter. Zu deinen Sorgen, weil sie trank. Weil du ihre Sucht normalisiert hattest, co-abhängig geworden warst. Weil es nur einen einzigen Ausweg für dich gab: mit ihr zu brechen.

Dass du es selbst erkanntest, deutete ich als gutes Zeichen. Als unausweichlichen Befreiungsschlag. Andererseits würdest du versuchen, den Verlust zu kompensieren, die Leerstelle zu füllen, und das jagte mir Angst ein.

Ich hatte es schon oft beobachtet. Irgendwann wagen sich Kinder aus dysfunktionalen Familien ins offene Wasser hinaus; sie lassen ihre Boje los, sobald sie eine andere erspäht haben. Sie visieren dich an und schwimmen auf dich zu.

Ich war auf der Hut. Beim kleinsten Anzeichen, dass du mich noch mehr bräuchtest als zuvor, würde ich handeln müssen. Mit Worten und Taten würde ich dir unmissverständlich zu verstehen geben: bis hierher und nicht weiter. Eigentlich ein Kinderspiel. Ich musste nur wachsam sein und den Abstand zu dir an deiner wachsenden Verzweiflung kalibrieren. Solltest du zu anhänglich werden, würde ich den Kontakt abbrechen, mich für einige Wochen oder Monate von dir fernhalten, deine Nachrichten unbeantwortet lassen und Orte meiden, an denen wir uns begegnen könnten. Ich würde dich verunsichern, einen Graben zwischen uns aufreißen, mich von dir entfremden. Solltest du auf deine tapsige Art das Gespräch suchen, würde ich schnell das Thema wechseln, einen Witz reißen oder einfach gehen. Es würde dich verletzen, doch die Botschaft wäre unmissverständlich, und du würdest meine Bedingungen akzeptieren. Noch nie war dir jemand eine verlässliche Stütze gewesen, es gab niemanden, auf den du bauen konntest. Du hattest kein Vertrauen in andere Menschen. Nicht mal in dich selbst. Du würdest meinen Verrat schnell vergessen, redete ich mir ein.

Dann kam alles anders. Am Ende brach ich das Schweigen.

Es war Freitagabend. Über der Halle lag der übliche Lärmteppich. Nach dem Training setzten wir uns auf die Turnbank beim Handballtor und zogen unsere Straßenschuhe an. Du warst still, in dich gekehrt, hattest dir die Kapuze ins Gesicht gezogen und beugtest dich vor, um die Schnürsenkel zu binden. Da regte sich ein Impuls in mir. «Wie geht’s dir, Bruder?», fragte ich. «Alles okay, Bro», antwortetest du schnell und fummeltest weiter an deinen Schnürsenkeln herum. Ich legte dir eine Hand auf die Schulter. «Wie geht’s dir wirklich, Elijah?» Du erstarrtest. Dann richtetest du dich langsam auf und sahst mir in die Augen. Fingst an zu weinen. Dein Gesicht verzerrte sich, Tränen liefen dir über die Wangen. Ich hatte dich nie zuvor weinen sehen. Dein Brustkorb bebte, du schnapptest nach Luft, deine Unterlippe zitterte. Ich nahm dich in den Arm, du presstest dein Gesicht an meine Schulter. Als wir uns voneinander lösten, weintest du immer noch, aber du verbargst dein Gesicht nicht mehr.

Die Mädchenmannschaft trainierte gerade. Zwei Mädchen waren am nächsten Korb stehen geblieben. Sie starrten dich an. Weil sie jemanden weinen sahen. Weil sie jemanden weinen sahen, der seine Trauer nicht versteckte. Als mir klar wurde, dass Fremde dich in deinem verwundbarsten Zustand beobachteten, zerbrach auch in mir etwas.

«Mir geht’s nicht so gut, Nick», schluchztest du. «Mir geht’s überhaupt nicht gut. Wegen Mama. Weil sie trinkt. Ich sage ihr, sie muss aufhören, aber sie hört nicht auf. Und das macht mich so verdammt traurig. Ich will, dass es ihr gut geht, aber das Trinken ist ihr wichtiger als alles andere, wichtiger als ich.»

«Ich verstehe, wie schwer das sein muss», sagte ich. «Und ich finde es verdammt mutig, dass du darüber sprichst. Es ist gut, dass du ihr erklärst, wie es dir damit geht, was du fühlst.» «Schon, aber es hilft ja nichts. Sie sagt nur: ‹Ja, ja, ich weiß, kein Grund zur Sorge.› Oder dass sie aufhören wird, aber so viel Stress bei der Arbeit hat. Manchmal will ich überhaupt nicht mehr nach Hause. Ich will einfach bis in die Nacht draußen bleiben und erst zurück, wenn sie schläft, oder gar nicht mehr zu ihr. Ich packe das nicht mehr.» «Ich verstehe», sagte ich. Wir schwiegen einen Moment. Dann fuhr ich fort: «Vielleicht sollte ich mal mit ihr reden. Willst du das? Wir können auch zusammen mit ihr reden. Vielleicht versteht sie dann, dass ich hier bin, dass ich für dich da bin, für euch. Dass sie mich jederzeit um Hilfe bitten kann. Wir sagen ihr, dass du manchmal zu mir kommen kannst, dann hat sie mehr Zeit für sich. Was hältst du davon?» Du sahst mich an, holtest tief Luft. «Kann ich echt zu dir?», fragtest du. «Klar kannst du das.» «Vielleicht kann ich an den Wochenenden zu dir kommen», sagtest du, «wenn keine Schule ist und so.» «Ja», sagte ich. «Wir finden eine Lösung.» «Vielleicht kann ich auch bei dir schlafen, wenn wir ein Spiel hatten, und am nächsten Morgen hau ich wieder ab.» «Das besprechen wir mit deiner Mutter.» Du wischtest dir mit dem Ärmel die Tränen weg. Ich nahm dich in den Arm. «Geht’s dir jetzt ein bisschen besser?» «Ja», sagtest du. «Mir geht’s besser.»

8

Weil der Aufzug außer Betrieb war, nahmen wir die Treppe zu eurer Wohnung im fünften Stock. Du kichertest nervös. Wir waren aus dem Stadtzentrum hergeradelt, und während der gesamten Fahrt durch den Nieselregen hattest du geredet wie ein Wasserfall. Bestimmt hattest du Angst, ich könnte dich nach dem Treffen mit deiner Mutter mit anderen Augen sehen. Doch ich war mit den Gedanken woanders. Mir war klar geworden, worauf das Treffen hinauslief, unter welchen Vorzeichen es stattfand. Ich war nicht nur hier, um mit deiner Mutter zu reden, um ihr Vertrauen zu gewinnen und euch meine Hilfe anzubieten. Ich kam auch her, um sie dort zu treffen, wo sie am verwundbarsten war, in ihrem Zuhause, und um sie damit zu konfrontieren, dass sie ihr Kind vernachlässigte. Das Treffen ließ sich auch so betrachten: als Auftakt einer Entführung, als raffinierter Raubzug, mit mir als Kidnapper ihres Sohns.

Spielte sie nicht mit, würde sie dich noch weiter von sich wegstoßen.

Sie hatte keine Chance. Ich hatte dir gesagt, du könntest jedes Wochenende einen Tag zu mir nach Hause kommen. Doch insgeheim ahnte ich schon da, das war nur der Anfang.