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Rumänien, West-Karpaten Fliehen, einfach nur fliehen! Angéla Moreau ist in blinder Panik durch halb Europa gehetzt – denn auf keinen Fall darf der Mann sie einholen, den sie vor drei Jahren leichtgläubig geheiratet hat. Aber an den Abhängen der Trascǎu-Berge kommt ihre Flucht zu einem jähen Ende – und der Wald schließt sich um sie wie eine riesige Hand. Sie findet Unterschlupf im zerfallenden Gutshaus von Lucas Colaciescu; die altersschwarzen Tore fallen hinter ihr ins Schloss und sie glaubt sich sicher. Doch die Leute unten im Dorf meiden das Anwesen mit abergläubischer Furcht. Sie raunen, dass sich irgendetwas zwischen diesen Mauern verbirgt. Trotzdem setzt Angéla zögernd ihr Vertrauen in Lucas. Nicht ahnend, dass sich ein Verhängnis immer enger um sie zusammenzieht. Und dieses Mal kann sie nicht weglaufen. „Ich fühlte mich beim Lesen an die großen Vertreter der frühen Horrorliteratur erinnert – Bram Stoker, Horace Warpole, Mary Shelley und Washington Irving (…).“ E. Garrett, Literaturwissenschaftlerin
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
1. Auflage 2024
Texte: © Copyright 2024 Felicia Th. Grey. Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: © Copyright 2024 Lisa Ihsbo Coverdesign
Herausgeberin: B. Jaeschke, Haferberg 3, 21509 Glinde
Im Web: [email protected]
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
Der Inhalt
1. Der gebrochene Zweig
2. ›Restul vă‹
3. Du bist frei
4. So leicht zu töten
5. Ein Meer aus Farn
6. Im Mantel der Nacht
7. Der Heilige im Kerzenlicht
8. Ein Leichentuch aus Laub
9. Die Gebote Gottes
10. Tote Blätter im Wind
11. Schatten aus wirbelnder Tinte
12. Silberner Mond
13. Die Hand im Dunkel
14. Der gestürzte Engel
15. Das Tor steht offen
16. Epilog
Mein Dank – Mulțumirile mele
Über die Autorin
Tag 1, Mittag
Aus der Ferne war ihr die Bergkette wie eine Antwort auf ihre Gebete erschienen, beinahe wie ein Märchen: Höhenzüge in Smaragdgrün und Kupfergold, die sich emporreckten, um mit dem Blau des Himmels zu verschmelzen.
Doch aus der Nähe war es ein Albtraum.
Das rechte Vorderrad ihres Autos drehte durch und ein Stakkato von hochgeschleuderten Steinen hämmerte gegen den Wagenboden. Der kleine Citroën rutschte ein Stück zur Seite, tiefer in die ausgewaschene Fahrspur hinein. Angéla umklammerte das Lenkrad, gab zögernd Gas: Die Reifen griffen erneut, das Fahrzeug schüttelte sich und fand auf dem Geröll etwas Halt.
»Wer biegt auch in so einer Gegend von der Hauptstraße ab?« Sie sagte es laut, einfach nur, um eine menschliche Stimme zu hören. »Ich hätte bloß weiterfahren müssen, dann wäre ich jetzt schon längst angekommen. Irgendwo.«
Das Wort auf dem Schild hatte so ähnlich ausgesehen wie ›Zlatana‹ – aber eben nur ähnlich. Sie war dumm gewesen. Mal wieder.
Und jetzt? Sie musste unbedingt die nächste Stadt erreichen. Aber die Straße war seit heute Morgen immer schlechter geworden, hatte sich aufgelöst: erst in ein Schotterband, dann zu zwei steinigen Furchen, die ohne Ende weiterführten, hinein in die Wildnis der Trascău-Berge.
Das Auto rutschte und bockte, quälte sich mit jaulendem Motor den nächsten Hang hinauf, bis es endlich die Kuppe erreichte. Mit einem Aufatmen ließ sie das Fahrzeug ausrollen und löste die verkrampften Hände.
Das Stück Weges vor ihr war um nichts besser als der Teil, der bereits hinter ihr lag. Sand, Geröll, kaum mehr als zwei ausgespülte Kerben. Rechts und links drängte sich Unterholz an die Fahrspuren, beschattet von den tiefhängenden Ästen der Bäume.
Überall lauerte Wald. Nichts als Wald. Ein finster wartendes Grün – in genau jenem Farbton, der auch große Bereiche auf ihrer Landkarte bedeckte. Sie lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze, ließ den Blick wandern. Durch ein Seitenfenster. Durch die Frontscheibe und das andere Seitenfenster. Zum Rückspiegel. Ringsum war nichts zu sehen als das Schwanken der Zweige.
Sie öffnete die Verriegelung und drückte die Fahrzeugtür auf.
Kalte Luft schlug ihr entgegen. Sie strömte unterm Blätterdach hervor, trug mit sich den Geruch nach Harz und verrottendem Holz, so herb wie die Duftmarke eines Tieres. Sie spähte einen langen Moment ins Dickicht, warf dann die Autotür zu. Das Geräusch hallte zwischen den Baumstämmen. Irgendwo stoben ein paar Vögel auf. Dicke Äste krümmten sich über die Straße und oberhalb der Baumspitzen huschten dunkle Schatten vorüber. Sie sah ihnen nach – von oben musste das Fahrzeug aussehen wie ein verlorener blauer Käfer in einem Meer aus Grün.
»Nur kann dieser Käfer leider nicht fliegen.«
Sie dehnte den schmerzenden Rücken und horchte: Einige kleine Steine knirschten unter ihren Schuhsohlen. Zweige knarrten. Die Baumwipfel rauschten im Wind. Sonst war alles still; keine Motorengeräusche, kein Flugzeug am Himmel. Nicht einmal Vogelstimmen waren zu hören. Sie schaute den Weg entlang nach hinten, von wo sie gekommen war. Dort war nichts zu erkennen außer den zerrupften Vorhängen aus Tannengrün, die sich über die Straße neigten. Niemand folgte ihr.
Sie fröstelte. Wie spät mochte es sein? Die Uhr im Armaturenbrett war schon kaputt gewesen, als sie den Wagen letztes Jahr gekauft hatte. Kurz nachdem sie –
Sie zwang ihre Gedanken wieder in die Gegenwart. Die Uhrzeit war egal; das Tageslicht hielt sicher noch einige Stunden, genug um die nächste Stadt zu erreichen. Die Strecke zurück nach Bărlesti war jedenfalls zu lang, um sie vor Anbruch der Nacht zu bewältigen. Und die Tankanzeige – noch etwas, an das sie nicht denken wollte.
Vom Beifahrersitz zog sie ihren kleinen Rucksack herüber, fischte das Handy heraus. Ein einzelner Balken für die Signalstärke zitterte kurz – dann war er weg. Sie stopfte das Gerät zurück, holte stattdessen die Trinkflasche hervor und nahm einen Schluck; das Wasser war lauwarm und schmeckte nach Plastik.
Sie streckte sich noch einmal, fand in ihrer Jackentasche den letzten Rest Rosinenbrot vom Frühstück, biss ein Stück ab. Neben ihr im Gras landete ein kleiner, brauner Vogel, legte den Kopf schräg und schaute sie an. Sie warf ihm einen Brotkrümel hin, aber er stob erschrocken davon.
Mit einem Seufzen schob sie den Rucksack zurück ins Auto. Sie hatte eine halbe Scheibe Brot dabei und auf der Rückbank lag ihre Reisetasche; nicht sehr viel, um ein Leben neu aufzubauen.
Wie fremd jetzt alles war – noch vor vier Tagen hatte das Auto auf dem Boulevard vor ihrer Wohnung gestanden, eingeklemmt zwischen einem Müllcontainer und dem Zeitungsständer vor Didiers Kiosk – jetzt war Lyon weit weg.
Aber nicht weit genug.
Unwillkürlich rieb sie sich die linke Handfläche. Die Narben darin formten ein hässliches Muster, das hoffentlich bis zum Frühling verblassen würde. Nun, hier in der Berglandschaft Rumäniens würde niemand sie finden, sie wusste ja nicht einmal selbst, wo sie war. Im Unterholz knackte es. Ihr Kopf ruckte zur Seite: Nur Zweige, Büsche, die im Wind schwankten. Sie reckte sich noch ganz kurz und stieg dann schnell wieder ins Auto, ließ den Motor an. Irgendwo musste die Straße ja hinführen.
Der Citroën mühte sich einige hundert Meter vorwärts, dann senkte sich das Gelände langsam ab. Ein Bergsattel zwang die Straße scharf nach rechts und vorne öffnete sich ein kurzer Blick auf die gegenüberliegende Bergflanke: eine Felswand, atemberaubend in ihrer Wildheit, abweisend und harsch; daran geklammert windzerfetzte Bäume, und tief unten das tobende Weiß von einem Wildbach oder Fluss.
Mit feuchten Händen steuerte sie den Wagen um die Kurve; unter den Reifen knirschte Schotter. Kurz führte die Strecke mit mäßigem Gefälle geradeaus, doch hinter einer weiteren Biegung fiel der Weg jäh ab. Sie umklammerte das Lenkrad. Bloß langsam. Ganz langsam jetzt …
Das Heck des Fahrzeugs rutschte ein Stück zur Seite. Ihre Schultern verkrampften sich, sie ging vom Gas, ließ den Citroën weiterschleichen. Das Scharren von Kies unter den Rädern war unglaublich laut. Sie biss die Zähne zusammen, die Augen fest auf die nächste Kurve gerichtet.
Der Wagen rollte nun schneller und der Motor heulte schrill. Die Felswand rechts war steil und herabgestürzte Steine lagen auf der Fahrbahn. Bloß vorsichtig … Der Citroën tastete sich förmlich um eine weitere Biegung – und sie bremste ab.
Die Straße senkte sich in einem irrwitzigen Winkel abwärts.
Einen bitteren Moment lang wünschte sie, dass sie im letzten Jahr genug Geld gehabt hätte, um einen Jeep zu kaufen. Nicht diesen Kleinwagen.
Sie spähte nach vorne. Baumwipfel, so weit man sehen konnte. Wie viele Kilometer mochten es sein, zu einem Dorf, ein paar Häusern? Ihr Blick glitt zur Uhr des Armaturenbrettes, deren Zeiger auf ewig bei zwanzig vor eins standen.
Also, wie viel Stunden blieben ihr, bevor es dunkel wurde – vier, vielleicht fünf? Sie schüttelte den Kopf; sie konnte nicht umkehren, und hier stehen zu bleiben half auch nicht weiter. Nach Sonnenuntergang würde die Temperatur bis an den Gefrierpunkt sinken. Und in der Finsternis mochten Tiere um das Fahrzeug streichen. In diesen Wäldern gab es Wölfe und Bären. Sie schauderte. Totalement impossible.
Womöglich würde es Tage dauern, bis irgendjemand hier entlangkam – sie musste weiter. Sie holte tief Luft, gab behutsam Gas. Bloß die Ruhe bewahren. Ganz … langsam … vorwärts.
Die Reifen fraßen sich in den Schotter und sie hielt den Wagen eng am rechten Fahrbahnrand. Die Kurve nach links. Der Motor kreischte, als ihr Auto schneller rollte. Sie biss sich auf die Lippen, krampfte die Finger ums Lenkrad. Vor ihr bog die Straße scharf nach rechts ab. Sie tippte vorsichtig auf die Bremse. Sofort brach das Heck seitlich aus.
Das Fahrzeug schlingerte auf dem Kies, direkt der Kurve entgegen. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie war zu schnell. Sie versuchte eine zögernde Lenkbewegung.
Der Wagen gehorchte nicht.
Wie ein Schlitten rutschte er weiter – unaufhaltsam auf den Punkt zu, an dem die Straße abbog und wo geradeaus nichts wartete als leere Luft. Die Kante kam näher und näher und sie saß wie gelähmt … vielleicht noch fünf Meter, jetzt nur noch einer, ihr Mund formte stumm einen Schrei … nach vorne einen Herzschlag lang nur grauer Himmel … die Motorhaube senkte sich unerbittlich herab – einen endlosen Augenblick erstarrte die Welt, gefror in unirdischer Stille. Dann kippte das Auto über den Rand, riss sie mit sich, hinab in die Tiefe.
Ein Knirschen, die Vorderräder schlugen auf Geröll, jagten einen Stoß durch ihren Rücken, sie wurde nach vorne geworfen. Das Heck schwang zur Seite und der Wagen rutschte schräg den Abhang hinab, prasselnd, kreischend, das Gewicht des Motors zog die Fahrzeugschnauze wieder geradeaus … Sie sah die nächste Felskante, nur einen Augenblick, bevor das Auto über den linken Vorderreifen abkippte.
Die Welt rotierte in Zeitlupe. Ein schwerer Schlag auf das Wagendach, der Sicherheitsgurt schnitt in ihre Schulter, die Frontscheibe zerbarst zu einem Netz aus Glassplittern. Baumstämme ruckten heran. Der Wagen drehte sich weiter, ein mörderischer Ruck, Krachen von vorne. Ihr Kopf schleuderte zur Seite –
Der Schädel des riesigen Tieres zuckte herum, seine Ohren richteten sich auf. Rollende Steine. Brechendes Holz. Ein metallisches Kreischen. Vögel flogen auf, stoben in den Himmel. Dort hinten an der Biegung des Flusses.
Das Tier verharrte einen Moment. Dann setzten sich seine gewaltigen Pranken in Bewegung, brachten es lautlos den Hang hinab. Es war nicht weit dorthin.
Kalt. Es war entsetzlich kalt. Sie konnte die Augen nicht öffnen. Etwas verklebte ihre Augenwimpern und sie hob eine schwere Hand, um es wegzuwischen. Alles war verschwommen, Schatten und schwankendes Grün. Und ein Schraubstock presste ihre Lunge zusammen; sie konnte kaum atmen.
Kalt. Ein Vogel krächzte. Und eine eisige Schicht Schweiß prickelte auf ihrer Stirn. Langsam klärten sich Konturen: das Armaturenbrett, verbogenes Blech, Glassplitter, blitzend wie Eiskristalle. Sie war mit dem Wagen abgestürzt. Oh Dieu, das durfte nicht sein. Was sollte sie tun?
Mühevoll drehte sie den Kopf und ein glühender Nagel stieß durch ihren Schädel. Sie schloss die Augen, Übelkeit in der Kehle. Atmen. Langsam. Très prudent.
Der Sicherheitsgurt. Er schnürte ihr die Luft ab. Irgendwie hing sie schief. Nein – das Auto hing schief: Der Kühler wies tief nach unten und alles war zur Seite geneigt. Durch das Rissgeflecht der Frontscheibe schimmerte ein Baum, in dessen zerfetzte Rinde sich die Motorhaube gekeilt hatte.
Eisiger Wind zog durch die zerbrochenen Seitenscheiben. Einige Tannennadeln lagen auf dem Armaturenbrett wie eine seltsame Dekoration. Sie schloss kurz die Augen. Ganz ruhig bleiben.
Sie lag halb auf der Fahrertür, gehalten von dem Gurt, und um hier hinauszukommen – Ihre rechte Hand tastete nach dem Gurtschloss. Die Finger prickelten, waren fast gefühllos. Und sie bekam das Schloss nicht auf. Wieder und wieder drückte sie darauf – es gab nicht nach. Ein Schluchzen rang sich aus ihrer Kehle. Sie ließ sich zurücksinken, blinzelte.
Sie brauchte ihr Taschenmesser. Es musste in der Außentasche des Rucksacks stecken. Sehr langsam drehte sie den Kopf. Zwischen ihren Schläfen pulsierte ein dumpfes Dröhnen, doch der stechende Schmerz blieb aus.
Der Beifahrersitz war leer. Nur Glasscherben und ein paar welke Blätter. Vorhin hatte der Rucksack noch dort gelegen. Vielleicht war er hinausgeschleudert worden.
Was jetzt? Der Gurt – sie musste ihn entlasten, wenn sie hier herauskommen wollte. Sie presste ihren rechten Ellenbogen auf die Schmalseite der Rückenlehne, krümmte sich nach oben. Sie fingerte nach dem Gurtschloss, drückte, so fest sie konnte. Ein Klicken, der Gurt wurde schlaff und sie sank zur Seite. Endlich frei.
Blind tastete sie unter sich nach dem Türöffner. Sie schob zwei Finger hinein und zog. Ein Loch tat sich unter ihr auf, wie eine Falltür, und sie fiel ins Leere, prallte hart auf. Sie schnappte nach Luft, Steine bohrten sich in ihren Rücken. Nun klemmte sie zwischen Geröll und der halb geöffneten Fahrertür. Benommen zwängte sie sich nach hinten, wand sie sich unter dem Autowrack heraus, kam taumelnd auf die Beine.
Die Kopfschmerzen waren ein glühender Ring um ihre Stirn und der Boden schwankte. Sie stützte sich mit einem zitternden Arm gegen das Wrack. Der Wagen – was von ihm übrig war – hing schief zwischen einigen gesplitterten Bäumen. Nichts als eisiges Blech und scharfe Kanten.
Sie schaute den Abhang hinauf: ein tückisches Feld voll lockerem Geröll, halb verborgen unter Brombeerranken. Die Straße war nicht zu sehen, aber etwas weiter rechts war der Hang weniger steil. Vielleicht konnte man dort hochklettern. Die Straße war der einzige Weg aus dieser Wildnis heraus, die einzige Hoffnung. Sie musste es schaffen.
Aber erst brauchte sie ihr Handy, ihren Ausweis, ihr Geld. Sie machte ein paar tastende Schritte an den Überresten des Autos entlang. Die Heckklappe ragte unerreichbar empor, ihr Rucksack war nirgends in Sicht. Sie fuhr mit einer bebenden Hand über die Stirn. Oh Dieu, wie sollte sie weiterkommen? Ohne Geld war ihre Flucht zu Ende. Einen Moment ließ sie den Kopf gegen das Blech sinken. Und sie hatte gedacht, Gefahr drohe ihr nur von Menschen: von ihm. Und von solchen Kerlen wie an der Raststätte bei Bratislava …
Sie hatte keine Wahl, sie musste ihr Handy finden, Hilfe herbeirufen.
Die Steine unter ihren Sohlen waren wackelig. Als wäre hier einmal eine Lawine aus Geröll abgegangen und nur widerwillig zum Stillstand gekommen. Sie versuchte einen Schritt vom Auto weg – die fragile Gerölldecke kam in Bewegung, ihr linker Fuß rutschte weg. Sie schrie auf, taumelte zur Seite, ins Leere, überschlug sich, Zweige schlugen ihr ins Gesicht.
Dunkelheit.
Kalter Wind auf ihrer Haut. Etwas drückte hart in ihre Rippen und ihr Bein war ein einziger brennender Schmerz. Sie blinzelte mühsam: Um sie herum wogten braune und grüne Schatten. Es roch nach Pilzen. Und der Oberschenkel tat wirklich höllisch weh. Sie drehte den Kopf, Laub raschelte. Es waren Blätter. Welke Blätter und Grashalme, direkt vor ihren Augen.
Sie zog einen Arm näher, versuchte sich aufzurichten, aber Feuer zuckte durch ihr Bein und sie sank zurück, lag ganz still, den Blick in den fahlen Himmel gerichtet, während am Rücken die eisige Luft unter ihre Jacke kroch. Zaghaft langte sie nach hinten und zupfte den hochgerutschten Stoff nach unten. Kälte drang mit feinem Bohren in ihre Knochen und der Schmerz in ihrem Oberschenkel wurde mit jedem Atemzug schlimmer. Ihr war schwindelig und sie – ja, sie lag auf steinigem Boden, zwischen toten Ästen. Ihr Bein lehnte an dem schorfigen Stamm eines Nadelbaums. Er hatte ihren Sturz aufgehalten.
Sie stemmte den Oberkörper hoch, versuchte, von dem Stamm wegzurücken – schrie auf, als flammendes Stechen durch ihr Bein fuhr. Sie fiel zurück und holte keuchend Luft, Übelkeit presste ihre Kehle zusammen. Ihr Oberschenkel lehnte nicht an dem Baumstamm, sondern hing fest. Sie rang nach Atem, griff mit beiden Händen zum Knie und versuchte, ihr Bein von dem Holz wegzuziehen. Heißer Schmerz stieß durch ihren Oberschenkel, aber sie kam nicht frei.
Oh Gott, ein Astansatz hatte sich in ihr Bein gebohrt. Wie tief mochte das sein?
Sie war aufgespießt wie mit einer Lanze. Dunkle Flecken tanzten durch ihr Blickfeld, Panik schnürte ihr die Luft ab. Das war alles ein böser Traum. Das konnte nicht Wirklichkeit sein.
Mit zitternden Fingern wischte sie über ihre Augen. Sie musste irgendetwas tun, musste von diesem Baum loskommen. Sie brauchte – ein Werkzeug. Sie tastete hilflos ihre Umgebung ab, doch der erste Ast, den ihre suchende Hand fand, war dünn, morsch wie ein alter Knochen. Mon Dieu, bitte lass hier einen festen – ja, dieser Stock war stabil. Sie klemmte die Stockspitze wie einen Hebel zwischen ihr Knie und den Baumstamm, fasste das hintere Ende – und hielt mit einem Wimmern inne. Sie konnte das nicht. Warum war denn niemand hier, um ihr zu helfen?
Ihr eigener Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, sonst gab es nur Stille. Ihr war schlecht. Mit bebenden Fingern fasste sie den Stock fester, holte noch einmal tief Luft – und zog.
Ihr Schrei brach sich in der feuchten Luft unter den Fichten. Sie sank von dem Baum weg und krümmte sich schluchzend zusammen. Sie presste die Hand auf das Loch in ihrem Schenkel. Blut quoll heiß zwischen ihren Fingern hindurch, rann die zerrissene Jeans hinab, tropfte auf den Waldboden. Es färbte Moos und Grashalme, versickerte langsam in den Fichtennadeln.
Mit der rechten Hand versuchte sie, ihren Seidenschal aus der Jacke hervorzuziehen, aber die Finger waren gefühllos und es dauerte ewig, das bunte Tuch unter dem Kragen herauszukriegen. Zitternd wickelte sie den Schal um ihr Bein und zog mit einem Wimmern einen Knoten fest. Die blauen Töne der Seide leuchteten noch kurz in kühlen Farben, dann wandelten sie sich zu Violett, dann Purpur und schließlich Dunkelrot. Sie ließ sich schluchzend zur Seite sinken, auf den eisigen Boden. Wenn sie hier liegenblieb, würde sie erfrieren.
Quälend langsam kämpfte sie sich hoch, belastete ganz vorsichtig ihr verletztes Bein und blieb unsicher stehen. Der Hang hinter ihr war steil. Zu steil. Und die Straße dort oben war so unerreichbar wie der Mond. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. Niemand würde sie suchen. Sie war allein.
Riesige Bäume starrten schweigend auf sie herunter und in alle Richtungen erstreckte sich nichts als Wildnis. Sie drehte den Kopf. Von unten hörte sie Wasser rauschen. Wenn es überhaupt noch einen Weg aus dem Wald heraus gab, dann war es ein Fluss.
Die Luft roch nach Blut.
Das Tier verhielt unter dem Dach der Bäume, sein zottiges Fell düster wie die Schatten. Es hob die Schnauze, sah hinüber zum anderen Hang, zu der Halde losen Gerölls, witterte. Blut und der Geruch von feuchter Erde, dort wo herabrollende Steine das Mooskissen aufgerissen hatten. Es grub seine dolchartigen Klauen in die Erde und verschwand mit einem Sprung im Zwielicht zwischen den Bäumen. Seine mächtigen Pranken machten kein einziges Geräusch.
Beim ersten Schritt zuckte der Schmerz bis in ihre Hüfte. Sie keuchte, schleppte sich weiter, einen Schritt. Und noch einen. Sie wankte mit verzerrtem Gesicht vorwärts, wimmerte, wenn sie auf losem Gestein strauchelte. Das Hosenbein klebte nass an ihrer Wade. Buschwerk und Farne wurden immer dichter, verhakten sich, stellten sich ihr entgegen.
Durch die zusammengebissenen Kiefer sog sie kalte Luft, schwer mit dem Geruch nach Moos und feuchtem Holz. Sie krampfte die Hand um einen niedrigen Ast und spähte nach vorne. Unter tiefhängenden Zweigen hindurch schäumte Wasser: der Fluss! Er war eingeengt durch die umgebenden Höhen, hineingestürzte Felsbrocken hinderten seinen Lauf, aber die Strömung drängte sich reißend und tobend an ihnen vorbei.Wie weit mochte die nächste Ortschaft sein? Hier am Fluss entlang?
Einen Moment ließ sie den Kopf sinken. Alles war so wild. Nicht so wie das Wäldchen hinter dem Hof von Grand-maman und Grand-père, in dem sie als Kind herumgestrolcht war. Dort hatte sie an langen, glücklichen Nachmittagen Insekten aufgespürt und beobachtet, wie das Sonnenlicht im Blätterdach spielte. Und wenn sie zurückkam, hatte Grand-maman einen Krug mit Limonade hervorgeholt und ihr dazu eine duftende Brioche in die Hand gedrückt.
Dieser Wald war anders … voller Schatten. Unheimlich, erstarrt in Lautlosigkeit. Keine Vögel sangen, nichts bewegte sich. Nur das sprudelnde Wasser, das um die Felsen tobte. Sie wandte sich zur Seite, den Fluss hinab, zwängte sich mühevoll durch Sträucher, durch Buschwerk, verhakte sich in Ranken. Bald hoben sich all die Zweige kaum noch von Gras und Kräutern ab, so düster war es. Lag das an dem dunklen Dach der Fichten oder – ihr Herz setzte aus. Das Licht, was da durch die Baumkronen sickerte, war beginnende Abenddämmerung … Sie musste da hinten am Hang bewusstlos gewesen sein.
Panik flatterte in ihrer Kehle; nicht mehr lange, dann würde die Nacht hereinbrechen.
Sie ging schneller, hastige Schritte, bei denen Schmerz durch ihren ganzen Körper schrie. Tote Äste ragten in ihren Weg, rissen an ihrer Kleidung, knorrig wie die Hände von Bettlern. Ein Rascheln. Hatte sich da etwas bewegt? Seitlich im Farn?
Nein, nichts als tanzende Flecke auf ihrer Netzhaut. Nur weiter; ihre Stiefel verhakten sich im Geflecht dürrer Stängel, sie stolperte. Buschwerk und wirres Geäst – ein endloses Spinnennetz, das sie nicht weiterkommen ließ, sie gefangen hielt; Zwielicht sickerte von allen Seiten durch die Zweige: ein fühlloses, alles erstickendes Verhängnis.
Ihr Atem keuchte laut. Es musste doch einen Weg hier heraus geben! Raus aus diesem grauenhaften Wald, zu einem Haus, mit einem Dach, mit Wärme, mit dicken Wänden zwischen ihr und der Nacht. Aber da waren nur die gefühllos aufragenden Bäume … Farnkraut, das in der Dämmerung seine Farbe verlor … und das kalte Rauschen des Wassers.
Sie taumelte weiter, immer weiter, unter den schattigen Stämmen der Buchen, die sie umringten wie eine Mauer. Eine Spur aus Blut blieb hinter ihr zurück, markierte ihren Weg in einem Labyrinth, aus dem es keinen Ausgang mehr gab.
Ihre Füße stolperten im toten Laub, die Knie zitterten. Die letzte Kraft floss aus ihr heraus, unaufhaltsam, mit jedem Schritt, in diesem Kampf gegen die lähmende Einsamkeit, gegen das Verlöschen des Lichts.
Vergeblich.
Das Halbdunkel sank herab, ohne Gnade, und mit dem Versinken der Sonne verging ihre Chance, lebend aus diesem klammen Tal herauszukommen.
Wieder eine Bewegung im Augenwinkel. Ein Zweig. Nur ein Zweig im Wind. Ihr Herz raste. Dann hinter ihr ein Knacken. Angst flutete durch ihre Adern, stieg in ihre Kehle wie Eis. Sie fasste haltsuchend nach einem Ast, drehte sich langsam um.
Es war ein Wolf.
Seine hellen Augen ließen sie nicht los. Und sein Blick verhieß den Tod. Sie würde sterben in dieser Nacht. Würde kein Dorf erreichen. Heute nicht. Nie mehr. Der schattige Wald um sie herum war ein riesiger Wall und was dahinter sein mochte, hörte auf zu existieren. Ihr Leben war zusammengeschrumpft auf dieses schummerige Stück Waldboden unter den Baumwipfeln. Hier würde es enden.
Das Tier rannte leichtfüßig durch die Dämmerung, ein Schatten unter Schatten. Der Duft frischen Blutes sang in seiner Nase, wurde mit jedem Schritt stärker, hing schließlich in einer schweren Wolke zwischen den Halmen der Gräser. Das Tier senkte die Schnauze zum Boden, dort wo das Blut die Erde getränkt hatte. Es witterte in einem größeren Bogen und seine Nackenhaare stellten sich auf. Ein Grollen stieg aus seiner Kehle. Andere Jäger hatten hier gesucht, hatten Witterung aufgenommen. Ihr Geruch lag noch in der Luft. Und sie waren zwischen ihm und seiner Beute. Das Tier entblößte gewaltige Fangzähne und stürmte los – ein schwarzer Schemen in der beginnenden Finsternis.
Ihre Augen huschten panisch die Baumstämme hinauf, suchten Zuflucht in der Höhe. Aber es waren Buchen und schlanke Nadelbäume, deren Äste erst hoch oben ansetzten. Verzweifelt umklammerte sie den Baumstamm neben sich, versuchte, an dem schorfigen Holz einen Halt zu finden, aber es war vergeblich. Ihre Finger glitten ab und im rechten Arm hatte sie gar keine Kraft.
Sie presste den Rücken an den Baum. Die raue Borke krallte sich in ihre Jacke. Ihr Fuß stieß gegen einen toten Ast. Hastig beugte sie sich vor und griff danach, hielt ihn zitternd vor die Brust. Der Herzschlag dröhnte in ihrer Kehle, in ihren Ohren, pulsierte durch ihren Schädel. Sie starrte mit aufgerissenen Augen ins Unterholz.
Ein Windstoß strich durch die Farnwedel, ließ sie ruhelos schwanken. Oh sacre ciel, etwas bewegte sich hinter diesem wogenden Vorhang, aber sie konnte es nicht erkennen. Würden die Wölfe erst angreifen, wenn es völlig finster war? Wenn sie nur noch den Absprung der Pfoten hören würde, bevor ein schwerer Körper gegen sie prallte und sich Zähne in ihre Kehle gruben? Oh, bitte nein, bitte nein, bitte nein.
»Haut ab! Haut doch ab!« Ihre schrille Stimme versickerte ungehört in totem Laub. Ihre Knie bebten, sie konnte den Ast kaum noch halten.
Dann eine Bewegung auf der Seite.
Der Wolf löste sich aus dem Zwielicht, Ohren angelegt, die gelben Zähne gefletscht. Das Knurren vibrierte in der Dämmerung. Und dann ein zweiter Wolf auf der anderen Seite, ein dritter schräg vor ihr. Die blassen Schemen der Jäger kamen heran, wechselten von rechts nach links und wieder zurück, umkreisten sie in immer enger werdenden Bögen.
Ein Windzug trug ihr Wimmern davon und der Ast war wie aus Stein in ihren Händen. Schatten tanzten vor ihren Augen. In der Ewigkeit zwischen zwei Herzschlägen starrte das linke Tier sie an, dann spannte sich sein Körper zum Sprung.
Im nächsten Augenblick wurde sie vom Aufprall zur Seite geworfen. Stinkender Atem schlug ihr entgegen. Der Ast drückte gegen ihren Hals, wurde ihr aus der Hand gerissen. Sie lag am Boden, der Wolf wirbelte zu ihr herum, duckte sich.
Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, da brach etwas Riesiges, Schwarzes aus den Büschen, rammte in den Wolf. Beide Körper verbissen sich ineinander, rollten über den Waldboden; Fauchen, Keuchen, brechende Äste – Angéla stemmte eine Hand ins Gras, warf sich zur Seite – Klauen rissen die Erde auf, kratzend, um sich tretend, wieder Fuß fassend, in rasender Wut. Blutige Zähne schlugen durch Fell, bohrten sich in Haut, in Muskeln, zerrissen Sehnen. Angéla rollte sich hektisch herum, weg von den kämpfenden Tieren … hörte ein schauriges Brüllen und das Aufjaulen des Wolfes, gefolgt vom grausigen Knirschen splitternder Knochen. Blut spritzte auf ihren Ärmel, in ihr Gesicht, und dann wandte sich das schwarze Tier vom Kadaver seines Gegners ab, drehte sich zu ihr um. Voller Entsetzen sah sie gelbe Augen; es kam näher –
Tag 1, später Abend
Er rammte die Schulter gegen die knorrige Eingangstür.
»Viktor!« Seine Stimme hallte von den düsteren Wänden wider. Mit einem Tritt stieß er die schwere Tür hinter sich zu. Das vom Alter schwarze Holz donnerte gegen die Steine der Laibung; der Aufschlag dröhnte durch die Halle, verklang dann in ihren Tiefen.
»Viktor!«
Aus den Schatten unterhalb der großen Treppe schälte sich die hagere Figur des Greises. Der schlurfte hastig näher, ließ seinen Blick über den reglosen Körper gleiten, den der andere vor der Brust trug – dann über die schlaff baumelnde Hand, über all das Blut; Grauen malte sich in seine Züge.
»Oh, heilige Maria! Lucas«, er bekreuzigte sich langsam, »was hast du getan?«
Lucas starrte mit zusammengezogenen Brauen auf den alten Mann herunter und schüttelte sich die Haarmähne aus den Augen. »Ich habe gar nichts getan!«
Er senkte den Blick hinab auf die Frau. Sie war bewusstlos. Dunkle Locken fielen ihr übers Gesicht, ließen die blasse Haut erahnen, schmutzig und verschmiert mit Blut. An ihrem Hals war ihr Pulsschlag kaum mehr als ein Flattern. Eine wattierte Jacke verbarg ihren Oberkörper, die Jeans aber glänzte feucht und dunkel im matten Licht.
»Es waren Wölfe.« Er lenkte seine Schritte zu dem düsteren Torbogen, der zu den Wirtschaftsräumen führte. »Hol’ meine Tasche!«
Er stieß die Tür zur Küche auf, neigte den Kopf unter dem Türsturz hindurch und trat ein. Die Petroleumlampe über dem Eichentisch ließ ihn geblendet die Lider senken. Vorsichtig legte er den schmalen Körper der Frau auf die zernarbte Tischplatte. Der Weg aus dem nächtlichen Wald war lang, doch sie war in seinen Armen so leicht gewesen wie eine Fee.
Eine Fremde im Haus zu haben war ein Problem. Ein großes Problem. Aber er hatte sie nicht zurücklassen können, halb verborgen von Gras und welkem Laub, so kühl und weiß wie eine der Statuen drüben auf dem Friedhof – wie ein zerbrochener Marmorengel, besudelt mit Blut.
Er presste die Lippen zusammen, öffnete ihre verdreckte Jacke und streifte sie von ihren Schultern. Ihr Bein sah schlecht aus. Sie hatte irgendeine Art Stoff um die Verletzung gebunden, doch der Druck auf die Wunde hatte nicht ausgereicht. Sie hatte viel Blut verloren und war vollkommen ausgekühlt; eine gefährliche Kombination.
Zügig streifte er die Stiefel von ihren Füßen, griff nach einem der Küchenmesser, trennte erst den Verband ab und dann die Jeans von ihren Beinen. Wo blieb Viktor mit der Tasche?
Blut rann herab auf die Tischplatte und Eisengeruch füllte den Raum. Er atmete flach und biss die Kiefer aufeinander. Draußen auf dem Gang erklang das eilige Tappen von Viktors Schritten, kam näher, dann öffnete sich die Tür und der Greis trat ein. Sein Atem ging keuchend und die Tasche schlug ihm gegen sein Knie. Nur zögernd trat er zum Tisch.
»Wirst du das schaffen, Junge? Soll ich helfen?«
»Ich habe alles im Griff«, knurrte er, »Keine Sorge. Mach eins der Schlafzimmer fertig. Und wir brauchen ein ordentliches Feuer. Sie ist eiskalt.«
Ihr Oberschenkel war dunkel verfärbt, darin ein eingerissenes Loch voller Rindenstücke und Schmutz. Mit einem Tuch säuberte er die Haut, reinigte sorgfältig die Wunde. Den Faden in die Nadel zu bekommen war mit seinen großen Händen schwieriger; er senkte die Augenbrauen, hielt die Luft an. Da, am reușit – geschafft.
Er vernähte die Verletzung mit kleinen Stichen, fand in einem Seitenfach seiner Tasche den Tiegel mit Heilsalbe. Der Duft von Schafgarbe, Schachtelhalm und Wegerich breitete sich aus. Er bedeckte die Stelle mit einem Verband, streckte den Rücken.
Auf dem Schnitt an ihrer Stirn hatte sich bereits Schorf gebildet. Er tränkte einen sauberen Lappen, wusch das verkrustete Blut aus ihrem Gesicht. Eine kleine Nase, auf der sich Sommersprossen vor der geisterhaften Blässe abzeichneten. Lange Augenwimpern, dunkel wie der zerzauste Haarschopf. Ah, das Mädchen war zart wie eine Elfe. Wie kam so ein Wesen in eine Schlucht, mitten in der Wildnis des Trascău? War sie allein unterwegs gewesen?
Sein Blick suchte ihre Hände. Schmal, mit schlanken Fingern, ohne Ring. Aber ein tiefer Kratzer auf dem linken Handgelenk, vielleicht von den Zähnen des Wolfes. So etwas entzündete sich fast immer.
Einen Moment lang legte er seine eigenen Hände wärmend um ihre kalten Finger. Ihre Handfläche – er stutzte und drehte langsam ihre Hand herum … Die Wülste mehrerer Narben zogen sich über Handteller und Fingerglieder. Unregelmäßig, als hätte sie in Glas gefasst.
Ein Gewicht lastete auf ihrer Brust, machte es schwer, zu atmen. Scharfer, stechender Schmerz biss Löcher in ihre Benommenheit, mahlend, ziehend. Es gab kein Entrinnen, kein Ausweichen, vor dem Brennen, vor den feurigen Kreisen, die durch ihr Bewusstsein zogen. Dunkelheit kroch näher, murmelnd wie ein Freund, und sog sie ein.
Zeit war vergangen.
Das Gewicht war etwas leichter geworden, das Stechen zu einem dumpfen Pulsieren verblasst, das durch ihr Bein und ihren rechten Arm tobte. Sie wollte sich bewegen, aber ihr ganzer Körper war schwer, wie mit Wasser gefüllt. Die Anstrengung schien zu groß und sie schlief wieder ein.
Als sie das nächste Mal erwachte, war die Finsternis gewichen. Orangefarbene und gelbe Flecken huschen hin und her. Eine dunkle Stimme schwebte irgendwo über ihr, murmelte Worte, die sie nicht verstand. Ihr Kopf wurde angehoben und eine Flüssigkeit rann über ihre Zunge. Ihre Kehle war wie Asche und sie schluckte mühsam; es schmeckte scheußlich.
»Așa că este bine. Restul vă.«
Neben ihr ragte eine große Gestalt empor, deren Gesicht sie in dem flackernden Licht nicht erkennen konnte, mit einer tiefen, warmen Stimme.
Wieso war es so dunkel? Ihr Blick irrte umher. Schatten tanzten über die Wände, streckten sich und sanken wieder zusammen – das Licht, es stammte von einem Feuer. Die Flammen zuckten in einem offenen Kamin und warfen ihren ruhelosen Schein auf eine hohe Decke mit geschnitzten Balken, auf schwere Holzmöbel. Wo war sie hier?
»Je suis oú?«, fragte sie in ihrer Muttersprache.
Der Mann zögerte. »Nu te înțeleg.«
Sie blinzelte, wechselte in die Sprache ihres Vaters: »Sprechen Sie Deutsch?«
Der Unbekannte nickte und suchte nach Worten. »Was ist dir passiert?«
»Wo bin ich?« Sie wollte sich in dem Bett aufsetzen, doch bohrender Schmerz ließ sie zusammenfahren. Sie zog ihren rechten Arm vor die Brust und hielt ihn mit dem linken fest, blinzelte gegen Tränen.
»Zeig her.« Der Mann beugte sich vor. Angéla erstarrte, aber er löste bedächtig ihre verkrampften Finger, tastete über ihren Arm, verharrte oberhalb ihres Handgelenks.
Er roch nach Tannennadeln und Regen.
»Ah, so schmale Knochen brechen leicht. Ich mache Verband.«
Eine Weile suchte er in einer altmodischen Tasche herum, dann schob er ihren Ärmel nach oben und wickelte eine feste Binde um ihren Unterarm. Das Hemd, das sie trug, war viel zu groß. Wer hatte es ihr angezogen?
»Mhm, Sie leben sicher nicht alleine in diesem Haus?«
»Nein.« Er zog ihren Ärmel hinunter. »Viktor ist auch hier.«
Heiße Röte stieg in ihr Gesicht. Vielleicht war es in dem Zwielicht nicht zu sehen. »Danke für den Verband«, stammelte sie. »Sind Sie Arzt?«
Er schüttelte langsam den Kopf. In dem ungewissen Licht glänzten silberne Strähnen in seinem dunklen Haar.
»Hier gibt es kein Arzt. Kein Krankenhaus. Eigentlich gar nichts.« Seine Stimme war ein leises Schnurren. »Deshalb frage ich mich: Wie kommst du in meinen Wald?«
2. Tag, Nachmittag
Graues Tageslicht fiel in den Raum. Ihre Augenlider waren schwer. Zu schwer, um sie offen zu halten. Und sie fror. Es waren die gleichen eisigen Schauer, die sie im Wald geschüttelt hatten, in der Dämmerung. Wo ihre Verfolger kamen. Dort, jenseits der Zweige, die hinter ihr zusammenschlugen. Ihr Atem rasselte, sie floh weiter, durch sperriges Buschwerk, kämpfte sich durch Ranken und Gestrüpp. Plötzlich fehlte der Boden unter ihren Füßen und sie stürzte mit einem Schrei eine Böschung hinunter, hinein in das schneidend kalte Wasser eines Flusses. Die Strömung riss an ihr, zog sie in die Tiefe. Sie schlug um sich, aber etwas drückte sie nieder, unbarmherzig. Sie konnte sich nicht wehren.
»Laisse-moi!« – Lass mich los.
»Shhh, ganz ruhig.«
Sie hatte die Stimme schon einmal gehört. Eine Hand legte sich an ihre Stirn, strich kühl über ihre Haut.
Sie riss die Augen auf, Angst in der Kehle – hatte sie nur geträumt? War sie noch immer in dem Haus in Marseille? War sie gar nicht entkommen, sondern –?
»Ganz ruhig. Niemand tut dir etwas, du bist sicher.« Die Stimme war die einzige Wärme in einer Welt aus Eis.
Sie blinzelte, wagte wieder zu atmen. »J’ai si froid.«
»Du hast Fieber. Ich hole Stein von Ofen.«
Der Unfall, die Wölfe. Es war nur ein Albtraum gewesen. Oder nicht? Die dunklen Deckenbalken über ihrem Bett trugen Schnitzereien. Sie kamen ihr bekannt vor. Ebenso der Kamin, aber der wurde jetzt fast gänzlich verdeckt von den breiten Schultern des Mannes, der dort kniete. Auch an seine schulterlangen Haare konnte sie sich erinnern: schwarze Wellen mit einigen grauen Strähnen. Mit ruhigen Bewegungen schlug er etwas in ein Tuch ein, dann richtete er sich auf. Mon Dieu.
Ihre Augen wurden groß, als seine lang gestreckte Gestalt in die Höhe wuchs, bis sein Scheitel über den Türrahmen hinausragte. Dabei war er trotz seiner Schulterbreite sehnig, nahezu hager. Er drehte sich zu ihr herum und sein Gesicht war – eigenartig. Er hielt den Kopf gesenkt, aber sie konnte sehen, dass die Proportionen – irgendwie ungewöhnlich waren. Die Augen ließen sich unter den buschigen Augenbrauen nicht erkennen.
Mit wenigen Schritten stand er neben ihrem Bett, ragte baumhoch über ihr auf. Sie wollte wegrücken, doch ein scharfes Ziehen im Arm ließ sie zusammenzucken.
»Vorsicht mit dein Arm. Er ist gebrochen.« Er sank neben ihr in die Knie, schob heiße Steine unter ihre Bettdecke. Bald kroch wohltuende Wärme über ihre Haut, drang in ihre schmerzenden Muskeln.
Er langte nach einem Becher auf dem Nachtschrank und hielt ihn an ihren Mund. »Trink das.«
Der Inhalt roch wie nichts, was sie jemals getrunken hatte. Sie drehte den Kopf weg. »Ich mag das nicht.«
Sein Blick wurde wachsam. Unter seinen schweren Lidern bohrten sich helle Augen in die ihren. »Trink das.«
Sie zögerte. Der Geruch war unvertraut – vielleicht Heilkräuter? Verstohlen spähte sie zu der Tasche, die neben ihrem Bett auf einem Stuhl stand; er war Arzt oder so etwas. Sie nahm den Becher, nippte zögernd an dem dampfenden Gebräu und seine Haltung lockerte sich.
»Was ist das für Tee?«
»Das ist – salix daphnoides, filipendula ulmaria. Ist Medizin.«
Ihre zitternden Hände schmiegten sich um das heiße Gefäß. Sie starrte in die Flüssigkeit, vermied seinem Blick. Das Schweigen war drückend.
»Ich bin Lucas Colaciescu.« In einer eigentümlichen Geste berührte er mit drei Fingern die Stirn.
Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem vorsichtigen Lächeln. »Ich heiße Angéla – eigentlich Angélique. Angélique Moreau.«
Er hob die Augenbrauen. Sie hatte noch nie Augen von so hellem Braun gesehen, fast wie Karamell. Warum wirkte er überrascht? Ihr Name war nicht ungewöhnlich.
»Angelica«, murmelte er leise, »Aceasta este uimitoare.« – Das ist erstaunlich.
»Die Frau muss verschwinden, Lucas!« Viktors drängende Worte mischten sich mit dem Brodeln des Wasserkessels. »Du hättest sie nie hierherbringen dürfen!«
Lucas Augen verengten sich. Er füllte einige Löffel Kräuter in die alte Teekanne. »Du meinst, ich hätte sie im Wald sterben lassen sollen?«
»Nein, nein. Das wollte ich nicht sagen.«
Hinter ihm fuhr sich der Alte mit den Händen durch die schütteren Haare; ein schmales, knisterndes Geräusch.
»Wir könnten sie zu Tereza fahren. Die kann sich um sie kümmern.«
Lucas fuhr herum und lehnte sich auf den Tisch, das Gesicht nur wenige Handspannen von Viktors erschrockenen Augen entfernt.
»Tereza würde ich höchstens einen kranken Hund anvertrauen!« – vorausgesetzt, er hinge nicht an dem Tier. »Das Mädchen wäre so gut wie tot!«
»Vielleicht stirbt sie ohnehin. Und was machen wir dann mit ihr?«
Lucas’ Zähne knirschten aufeinander, als kalte Wut in ihm aufstieg. Viktor rappelte sich hektisch von seinem Stuhl hoch und wich zurück. »Oh, äh, das war nicht so gemeint. Beruhige dich, Junge. Wir behalten sie hier. Kein Problem.«
Lucas löste die verkrampften Fäuste. Er trat einen Schritt von dem Tisch zurück, atmete durch. »Ich lasse nicht zu, dass sie stirbt.«
Er drehte sich weg und stürmte aus der Küche, hinein in die Dunkelheit des Hauses.
Die Sonne ging unter in einem düsteren Brand von Farben. Lucas saß an ihrem Bett, horchte auf die viel zu schnellen, viel zu flachen Atemzüge. Fieber hielt sie gepackt und verzehrte ihre Kräfte. Wie oft schon hatte er an Krankenlagern gesessen? Bei Greisen und Kindern, bei Männern und Frauen. Man rief ihn, wenn im Dorf jemand krank wurde oder verletzt war – und wenn die Fahrt zum Spital in Aiud zu lange dauern würde. Ansonsten hielten sich die Leute von ihm fern. Mit gutem Grund.
Er tauchte ein Tuch in kühles Wasser, wrang es aus und legte es auf die Stirn des Mädchens.
Als damals seine Eltern verunglückten – wie viele Jahre war das jetzt her? Bald zwanzig – an der Straße nach Valea Mânâstirii, da war niemand gewesen, um zu helfen. Heute standen in der Bibliothek etliche Bände, gefüllt mit dem Wissen zu Medizin und der Heilkraft von Pflanzen. In ihnen lag Macht über so viele Krankheiten.Aber nicht über alle. Nein, nicht über alle.
Er legte einen Finger auf ihr Handgelenk, fühlte den hastigen Puls, strich dann die Narben in ihrer Hand entlang. Entweder hatte das Mädchen – Angelica – viel Pech, oder sie brauchte jemanden, der auf sie aufpasste.
Er beugte sich vor und studierte ihr Gesicht. Das Fieber hatte ihre Haut mit schwacher Röte überzogen. Unter ihren Augen lagen Schatten und die Wangenknochen traten stärker hervor als noch am Tag zuvor. Sie war zu dünn, als hätte sie schon lange nicht mehr ausreichend gegessen. Er hob die Kerze näher an ihr Gesicht. Auf ihrer Stirn und um den Mund zeichneten sich ganz feine Linien ab. Welche Sorgen plagten sie? Und was hat sie hierhergeführt, in diese abgelegene Gegend – allein?
3. Tag, Vormittag
Sie wachte mit einem Schreck auf. Die Klinke der Tür: Sie wurde heruntergedrückt. Es war nicht die riesige Gestalt von Lucas, die hereinkam, sondern ein fremder Mann, gehüllt in eine Lammfelljacke. Sie rutsche tiefer unter die Bettdecke. Der Fremde hielt ein Tablett in den Händen, schlurfte einige Schritte ins Zimmer. Dünne Büschel weißen Haares standen von seinem Schädel ab und sein rundes Gesicht hätte sympathisch gewirkt, wäre es nicht so verkniffen gewesen.
Der Alte sah sie nicht an. Brummend stellte er einen Becher und einen Teller auf den Tisch neben ihrem Bett.
»Oh, danke. Sind – sind Sie Viktor?«
Der alte Mann wandte sich wortlos Richtung Tür, knallte sie hinter sich zu, dass Angéla zusammenzuckte. Sie horchte ängstlich, und - Dieu merci – seine Schritte entfernten sich: Er würde nicht zurückkommen.
Sie setzte sich vorsichtig im Bett auf, zitternd vor Schwäche. Mühselig drehte sie sich herum und spähte auf den Nachttisch. Ein schlichter Teller mit einer dicken Scheibe dunklen Brotes, darauf Salamistücke. Ein dunkelblauer Becher, aus dem der Duft von Pfefferminztee aufstieg. Ihr verletzter Arm schmerzte, aber sie konnte die Brotscheibe mit der bandagierten Hand halten. Sie kaute langsam, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Der Raum war schmucklos. Gekalkte Wände, ein riesiger Kamin, rußgeschwärzt, in dem noch immer Glut schwelte, daneben eine Truhe und unter dem Fenster ein schwerer Tisch. Die Tür war aus groben Holzbohlen gezimmert und stammte, wie der Fensterrahmen, anscheinend aus einer Zeit, als man Nägel noch beim Schmied bestellte, statt sie aus dem Baumarkt zu holen. Auch die Möbel schienen handgefertigt und sehr alt, mehr zweckmäßig als schön. Sie runzelte die Stirn. Etwas fehlte … ah, es hing keine Lampe unter der Decke, dafür stand ein Kerzenhalter auf dem Tisch und einer neben ihrem Bett. Es gab hier keinen Strom. Dieses Haus musste einsam gelegen sein wie ein Kloster.
Und – und sie war allein hier mit zwei Männern, die sie nicht kannte. Die nächste Ortschaft konnte wer weiß wie viele Kilometer entfernt sein und ihr tapferes Auto, das die riesige Strecke quer durch Europa durchgehalten hatte, war nur noch eine Menge Schrott. Sie brachte den Bissen Brot in ihrem Mund kaum herunter.
Ungelenk angelte sie mit der linken Hand nach dem Becher, nahm einen kleinen Schluck. Oui, thé de menthe.
Warum hatte dieser Viktor ihr das Essen gebracht? Unbehaglich blickte sie zur Tür, rieb den Daumen über eine winzige Scharte im Porzellan des Henkels. Vielleicht war Lucas weggefahren und sie war mit dem Alten allein im Haus. Sie schaute wieder zur Tür, kaute an ihrer Unterlippe. Dann stellte sie den Becher weg. Es half nicht: Sie musste aufstehen und ein Bad suchen.
Sie schlug das Federbett zurück und setzte sich auf die Bettkante. Mit vorsichtigen Bewegungen zupfte sie die etwas dünnere Wolldecke vom Bett und legte sie sich um die Schultern. Die Kälte des Bodens biss in ihre Fußsohlen, aber sie stand auf und humpelte die paar Schritte zum Fenster. Sie beugte sich dicht an die trübe Glasscheibe, prallte zurück: Auf der anderen Seite des dünnen Glases klaffte ein Abgrund, ein riesiges Loch, in das das Haus hineinzukippen schien.
Nach einem tiefen Atemzug trat sie wieder näher. Nein, kein Loch. Direkt unterhalb des Fensters sackte das Gelände steil ab, hinein in ein weites Tal. Das Kronendach des Waldes erstreckte sich unter einem blassen Himmel – harmlos, als hätte im Halbdunkel seiner Zweige nicht vor Kurzem der Tod auf sie gelauert. Mit bebenden Händen zog sie die Decke etwas enger zusammen. Weit, weit hinten schoben sich schroffe Berghänge wie eine Mauer vor den Horizont, darüber schwebte, stumpfgelb vor hellem Grau, der abnehmende Mond.
Sie senkte den Blick von der wilden Landschaft auf den Tisch, gegen den sie lehnte: eine vom Alter gezeichnete Holzplatte voller Kerben und Flecke, ein schlichter Kerzenhalter, ein Buch mit vergilbten Seiten. Sie drehte es ein Stück zu sich herum: ›Goethe‹ stand darauf, in schnörkeligem Druck. Titel und Untertitel waren Deutsch. Wie hatte das wohl seinen Weg in diese Wildnis gefunden?
Sie drehte den Saum der Decke zwischen ihren Fingern, spähte zur Tür. Alors, sie würde jetzt einfach da hinaus gehen. Bestimmt war dieser grässliche Viktor ganz woanders. Offensichtlich hatte er ja wenig Interesse daran, sich um sie zu kümmern. Vielleicht war er nicht einmal mehr im Haus, sondern stand mit einem Eimer Wasser draußen und putzte sein Auto. Oder war unterwegs zu ein paar Freunden, um ein Bier zu trinken. Und überhaupt, sie hatte Tausende von Kilometern ganz alleine zurückgelegt und würde sich nicht von einem alten Mann Angst einjagen lassen.
Oder nur ein kleines bisschen.
Die Türklinke war kalt in ihrer Hand, geschmiedet aus angelaufenem Metall, darunter ein massiver Riegel. Nur widerwillig schwang die Tür auf zu einem dämmerigen Flur, in dem sich rissige Holzdielen nach beiden Seiten streckten, gerahmt vom kahlen Putz der Wände. Aber rechts endete der Gang schon wenige Schritten weiter an einer Tür, ähnlich der ihren. Scheu wandte sie sich nach links.
Nicht lange und die rechte Wand öffnete sich, bildete eine Empore, an deren Ende eine mächtige Holztreppe abwärts führte, hinab ins Schummerlicht einer Halle. Der Takt einer Standuhr klang empor, dumpf wie der Herzschlag eines Riesen.
Sie beugte sich fröstelnd über das Geländer. An der Wand neben der Treppe hingen düstere Gemälde – nichts als umrahmte Schatten – und an ihrem Fuß erstreckte sich ein See aus Dunkelheit. Dahinter ein Tor, so massiv, als wäre es einst gezimmert worden, um einen fackelschwingenden Mob aufzuhalten.
Ein Luftstrom wehte von unten herauf, feucht und kühl. Sie zog die Decke dichter um ihre Schultern und humpelte weiter, den Flur entlang. Die Bodendielen prickelten eiskalt unter ihren Füßen. Sie passierte Tür um Tür, jede von ihnen geschlossen; in die Rahmen hatten längst vergangene Hände Blätter und Ranken geschnitzt. Zögernd blieb sie stehen. Aber da – ein Stück den Flur entlang stand ein Hocker an der Wand und darauf ein Wasserkrug. Sie öffnete die Tür daneben einen Spalt und spähte hinein. Oui, la salle de bain.
Sie glitt in den Raum und erstarrte.
Ein mannshoher Badeofen harrte in einer dunklen Ecke neben dem Fenster. Ein Koloss aus stumpfem Metall, die Feuerklappe von Flammenzungen verrußt. Unter seinen stämmigen Beinen brütete er Schatten und Staub.
Sie presste die Faust vor den Mund. Über der Badewanne ihrer Großmutter hatte eine Heiztherme gehangen. Ein riesiges Gerät, scheinbar abgeschaltet, das manchmal – völlig unvorhersehbar – mit brausendem Tosen zum Leben erwachte. Als Kind hatte sie sich immer davor gefürchtet, hatte sich im Bad die Ohren zugehalten und gehofft aus dem Raum heraus zu sein, bevor das Ungeheuer aufwachte. Und Jahre später, als sie geheiratet hatte, da hatte das Haus einen Heizungskeller und Edouard …
Sie zuckte vor der Erinnerung zurück. Das war jetzt vorbei. Es war vorbei.
Sie presste die Lippen aufeinander und zog die Tür hinter sich zu. Neben dem grässlichen Ofen stand eine Badewanne auf Klauenfüßen, so alt wie alles in dem Raum. Seit Jahrzehnten schien hier nichts erneuert worden zu sein. Sie benutzte die Toilette und behielt aus dem Augenwinkel den Ofen im Blick. Ihre Füße schmerzten vor Kälte. Auf wackeligen Beinen wusch sie sich mit eisigem Wasser, so gut es eben ging. Sie zitterte jetzt am ganzen Körper. Einen Moment blickte sie auf die Zahnbürste unter dem halb erblindeten Spiegel, griff dann nach dem Kamm, der daneben lag. Sie würde ihn später zurückbringen. Wenn sie sich ausgeruht hatte.
Draußen auf dem Gang kam sie nur ein paar Schritte weit, bis sie sich gegen die Wand stützen musste. Der Weg zurück zu ihrem Zimmer verlor sich in der Ferne wie in einem umgedrehten Fernglas. Sie taumelte, Arme und Beine so schwer, als wären sie mit Sand gefüllt. Die Decke glitt von ihrer Schulter und eiskalte Luft strich über ihre Haut.
Unten schlug die dicke Holztür zu und Lucas Stimme klang herauf. Das war gut … gut. Sie war nicht mehr allein … in diesem Haus … mit Viktor.
Sie kämpfte sich noch ein Stück weiter. Dann knickten ihre Beine ein. Sie rutschte seitlich an der Wand hinunter und prallte mit einem Knie auf die Holzdielen. Die Stimme unten verstummte, Schritte stürmten die Treppe herauf. Lucas erschien vor ihr und sein Gesicht verzerrte sich. Er rief etwas – sie verstand die Worte nicht – und dann ragte er über ihr auf. Sie krümmte sich zusammen – er würde sie schlagen … sie presste die Augen zu, vergrub schützend den Kopf in den Armen. Einen unendlich langen Augenblick schien die Drehung der Welt anzuhalten, ihr Herzschlag ein wildes Trommeln in ihrer Kehle. Dann brummte seine Stimme, dicht über ihr. Sie krampfte die Wolldecke um sich, aber er hob sie nur vom Boden und trug sie zurück in ihr Zimmer.
Der Kamm blieb auf den Dielen liegen.
Lucas zog all die Decken über das Mädchen und wendete sich hastig zum Kamin. Er legte ein Holzscheit nach. Dann noch eins.
Bei allen Heiligen, sie hatte ihn angesehen mit riesigen Augen – wie ein Reh, dessen Tod nur einen einzigen Herzschlag entfernt ist, einen einzigen Sprung klauenbewehrter Pranken.
Sie hatte Angst vor ihm. So wie alle anderen auch.
Er schloss die Augen, grub die Hände in die Hosentaschen. Jeder hier in der Gegend benahm sich vorsichtig in seiner Nähe, als wäre er ein Gas-Tank, unter dem ein Feuer brennt. Alle gingen ihm aus dem Weg. Alle bis auf Viktor. Angelica aber kannte ihn nicht. Sie hatte keinen Grund, ihn zu fürchten.
Er legte ein weiteres Scheit in die Glut, zwang sich zu ruhigen Bewegungen. Warum konnte diese Handvoll Frau, die er da im Wald gefunden hatte, ihn nicht für einen normalen Menschen halten? Wahrscheinlich spürte sie, dass etwas mit ihm nicht stimmte, dass er –
»Bitte entschuldigen Sie.« Ihre Stimme drang kaum unter den Falten der Decke zu ihm durch. Er drehte den Kopf.
»Ich wollte nicht in Ihrem Haus herumschnüffeln, ich habe doch nur das Bad gesucht.«
Er runzelte die Stirn. Was wollte sie ihm sagen? Schnüffeln – riechen? Das ergab keinen Sinn.
Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken, suchte nach Worten. Diese Sprache war so fern wie jene Kindertage, als Großmutter ihm im Garten deutsche Märchen vorgelesen hatte. Und Angelica? Sie war wie das Mädchen in einer dieser Geschichten, das im Wald ein Schloss findet – aber es war nicht das Schloss eines Prinzen.
Nun, sie entschuldigte sich für irgendetwas. Und sie hatte Angst vor ihm. Er drehte sich zur Tür und senkte den Kopf. »Ich werde dir nichts tun.«
Das hoffte er wenigstens.
3. Tag, Stunden später
»Na, mein Junge, was hast du gefunden?«
Viktor stand neben einem dampfenden Topf am Herd, die Lesebrille über die Stirn geschoben, und sah ihm entgegen. Lucas drückte die Küchentür hinter sich zu. Er richtete sich auf, schälte sich aus seiner regennassen Jacke und hängte sie über eine Stuhllehne. Der Duft von Rindfleischsuppe hing unter den geschwärzten Balken der Decke und sein Magen zog sich zusammen.
»Gefunden? Hm, viele Dinge: die Spur von dem Bären, mit dem wir letztes Jahr Schwierigkeiten hatten, eine Menge Pilze …« Er trat näher an den Herd, wo die Hitze durch seine Kleidung sickerte bis auf seine Haut. Viktors Augenbrauen sanken missmutig herab.
»… dann noch einen toten Wolf … und ein zerschmettertes Auto. Ist ziemlich tief abgestürzt und dann in den Bäumen hängengeblieben.« So wie das Wrack in den Tannen hing, kopfüber, mit zerknüllter Motorhaube, abgerissenen Reifen, über einem Leichentuch aus Glassplittern, war es ein Wunder, dass das Mädchen da lebend herausgekommen war.
»Dann war sie alleine unterwegs?«
Er nickte. »Aber jemand war da. Später. Vielleicht einen Tag nach dem Unfall.«
»Nun, irgendwer hat die Spuren an der Straße entdeckt und ist nachsehen gegangen.« Viktor zuckte die Schultern. »Nichts Besonderes.«
»Nein. Das ist nicht alles.«
Kleidung, zerrissen und in den Schlamm getreten. Ein Buch mit herausgefetzten Seiten. Die Reisetasche selbst ins Unterholz geschleudert. Es waren Spuren blanker Aggression gewesen.
Er suchte Viktors Blick und hielt ihn fest. »Sag niemandem, dass sie hier ist. Sie ist noch immer in Gefahr.«
Viktors knochige Hände hoben sich beschwichtigend. »Ich sage das nicht gerne, aber hier im Haus ist sie auch in Gefahr. Ich weiß es, du weißt es auch. Du musst –«
»Nein!« Mit einem Blick auf Viktors erschrockenes Gesicht stopfte er seine Hände in die Taschen seiner Jeans, presste die Kiefer zusammen.