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Ein schwarzer Abgrund hinter der glitzernden Fassade. Lässt Mabel sich mit hineinziehen?
Ev Winslow ist reich, beliebt und wunderschön. Alles, was ihre College-Zimmergenossin Mabel nicht ist. Umso mehr freut sich Mabel, als Ev sie einlädt, den Sommer mit ihr in Bittersweet zu verbringen, auf dem Landsitz der Winslows in Vermont. Mabel genießt die windzerzausten Segeltörns, das mitternächtliche Schwimmen, die Sommerfeste unterm Sternenhimmel. Und plötzlich hat sie alles, wovon sie je geträumt hat: Freunde, die erste Liebe und das Gefühl, dazuzugehören. Doch auf die ungetrübten, flirrenden Tage fällt ein Schatten, als Mabel eine schreckliche Entdeckung macht und sie entscheiden muss, ob sie aus dem Paradies vertrieben werden will – oder die dunklen Geheimnisse der Familie bewahrt, um endlich eine der Ihren zu werden.
Eine strahlende Familie, die das eigene Dunkel in den Abgrund reißen kann: Bittersweet erzählt von einer scheinbar idyllischen, glamourösen Welt und dem Wunsch einer Außenseiterin, Teil dieser Welt zu sein. Um jeden Preis.
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Seitenzahl: 612
Ev Winslow ist reich, beliebt und wunderschön. Alles, was ihre College-Zimmergenossin Mabel nicht ist. Umso mehr freut sich Mabel, als Ev sie einlädt, den Sommer mit ihr in Bittersweet zu verbringen, auf dem Landsitz der Winslows in Vermont. Mabel genießt die windzerzausten Segeltörns, das mitternächtliche Schwimmen, die Sommerfeste unterm Sternenhimmel. Und plötzlich hat sie alles, wovon sie je geträumt hat: Freunde, die erste Liebe und das Gefühl, dazuzugehören. Doch auf die ungetrübten, flirrenden Tage fällt ein Schatten, als Mabel eine schreckliche Entdeckung macht und sie entscheiden muss, ob sie aus dem Paradies vertrieben werden will – oder die dunklen Geheimnisse der Familie bewahrt, um endlich eine der Ihren zu werden.
Eine strahlende Familie, die das eigene Dunkel in den Abgrund reißen kann: Bittersweet erzählt von einer scheinbar idyllischen, glamourösen Welt und dem Wunsch einer Außenseiterin, Teil dieser Welt zu sein. Um jeden Preis.
Miranda Beverly-Whittemore, geboren 1976, verbrachte als Tochter eines Anthropologen einen Teil ihrer Kindheit in Senegal. Die Familie ließ sich in Vermont nieder, wo ihr Roman Bittersweet
Miranda Beverly-Whittemore
Bittersweet
Roman
Die Originalausgabe erschien erstmals 2014 unter dem Titel Bittersweet bei der Crown Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York.
eBook Insel Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4370.
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2015
© Miranda Beverly-Whittemore 2014
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Für Ba und Fa, dankbar für ihre Gastfreundschaft,
Bevor sie mich hasste, bevor sie mich liebte, wusste Genevra Katherine Winslow nicht, dass ich überhaupt existierte. Das ist natürlich leicht übertrieben; das Studentenwerk hatte uns in einem kleinen, stickigen Wohnheimzimmer zusammengesteckt, das wir im Februar schon seit fast einem halben Jahr gemeinsam bewohnten. Insofern muss sie mitbekommen haben, dass es mich gab (und sei es auch nur, weil ich jedes Mal, wenn sie ihre Kools oben auf dem Stockbett rauchte, zu husten anfing). Aber bis zu dem Tag, an dem Genevra – Ev – mich fragte, ob ich mit nach Winloch kommen wollte, betrachtete sie mich wie einen scheußlich bezogenen Sessel – etwas, das im Weg stand und im äußersten Notfall sogar benutzt werden konnte, aber nichts, was sie sich jemals selbst ausgesucht hätte.
Jener Winter war kälter, als ich es jemals für möglich gehalten hätte, auch wenn das Mädchen aus Minnesota auf unserem Flur meinte, das wäre »noch gar nichts«. Bei uns in Oregon war Schnee ein Geschenk, zwei Tage Puderzucker, die wir uns mit endlosen Monaten grauem, tropfendem Himmel verdienen mussten. Mir ging der eisige, über den Hudson heranpeitschende Wind durch Mark und Bein. Jeden Morgen das gleiche Spiel: Ich wagte kaum, die Nase unter meiner Daunendecke herauszustrecken, und wusste nicht, wie ich es bei dieser Kälte hinüber zu meinem Lateinkurs um neun Uhr schaffen sollte. Aus den Wolken rieselte es endlos weiß, Ev schlief tief und fest.
Sie schlief immer lang, mit Ausnahme des ersten Tags, an dem die Temperatur unter minus fünfzehn Grad rutschte. An diesem Morgen schlug sie ein Auge halb auf und sah mir zu, wie ich die dünnen Gummigaloschen überzog, die meine Mutter im Value Village ergattert hatte, sprang ohne ein Wort oben aus dem Stockbett, riss ihren Schrank auf und ließ ein brandneues Paar wasserdichte, fellgefütterte L. L. Bean-Boots vor meine Füße fallen. »Da, nimm«, befahl sie, während sie im seidenen Nachthemd vor mir stand. Wie sollte ich diese generöse Geste auffassen? Ich berührte das Leder – es war so herrlich geschmeidig wie es aussah.
»Das meine ich ernst.« Sie kletterte zurück ins Bett. »Bei so einem Scheißwetter gehe ich sowieso nicht raus.«
Von ihrer Großzügigkeit und dem Glauben, dass die Stiefel sowieso eingelaufen werden mussten, beschwingt (und angetrieben von der Angst, die mich immer begleitete, dass ich, die ärmliche Schmarotzerin, für unwürdig befunden und nach Hause geschickt werden könnte) wagte ich mich hinaus auf das Campusgelände. Zitternd trotzte ich gefrierendem Regen, Hagel und Schneegestöber, obwohl ich es mit meinen kurzen Beinen und ein paar Kilos zu viel nicht leicht hatte, voranzukommen. Ich warf einen schnellen Blick hoch zu Evs gertenschlanker Silhouette, die rauchend an unserem Fenster zu sehen war, und dankte dem Himmel, dass sie nicht zu mir hinunterblickte.
Ev trug einen Kamelhaarmantel, trank Absinth in Undergroundclubs in Manhattan und tanzte einmal nackt auf dem Eingangstor, weil sie eine Wette verloren hatte. Sie war in Internaten und Entzugskliniken aufgewachsen. Ihre perfekt geschminkten Freundinnen durchwehten unser stickiges Wohnheimzimmer wie die Ahnung eines besseren Lebens; wenn ich unter Leute kommen wollte, ging ich zu einem von der Wohnheimsprecherin organisierten Pfannkuchenessen und machte es mir danach mit Jane Eyre gemütlich. Manchmal vergingen ganze Wochen, in denen ich Ev überhaupt nicht zu Gesicht bekam. Durchkreuzte garstiges Wetter ausnahmsweise einmal ihre Pläne, erklärte sie mir, wie man durchs Leben kam: (1.) Trink bei Partys nur Hochprozentiges, davon wird man nicht fett (sie schürzte zwar die Lippen, wenn sie das Wort mir gegenüber aussprach, scheute sich aber nicht davor) und (2.) Mach die Augen zu, wenn du einen Penis in den Mund nehmen musst.
»Erwarte nicht, dass deine Zimmergenossin automatisch deine beste Freundin wird«, hatte meine Mutter mich kurz vor meinem Abflug an die Ostküste mit der forschen Stimme gewarnt, die sie einzig für mich reserviert hatte. Als ich im August zugesehen hatte, wie der Sicherheitsbeamte meine ausgeleierten Baumwollunterhosen durchwühlte, während meine Mutter mir zum Abschied panisch winkte, hatte ich ihren Kommentar unter »beleidigend« abgehakt. Ich wusste genau, dass es meinen Eltern nichts ausmachen würde, wenn ich im College versagte und zu ihnen zurückkehren musste, wo ich dann den Rest meines Lebens die Kleider anderer Leute reinigen durfte. Das war das Schicksal, das ich mir – zumindest in den Augen meines Vaters – sechs Jahre zuvor selbst eingehandelt hatte. Aber Anfang Februar verstand ich recht gut, was meine Mutter damit gemeint hatte: Mittellose Mädchen, die dank eines Stipendiums ein teures Privatcollege besuchen können, sollten nicht neben den Sprösslingen der amerikanischen Superreichen schlummern, weil so etwas unersättlichen Hunger weckte.
Das Semesterende war in Sicht und ich überzeugt, dass unsere Rollen fest verteilt waren: Ev tolerierte mich, während ich so tat, als würde ich alles, wofür sie stand, prinzipiell ablehnen. Insofern war es ein Schock, als ich in der ersten Februarwoche einen eleganten, elfenbeinfarbenen Umschlag in meinem Postfach fand, auf dem mein Name in geschwungenem Tintenblau stand. Es war eine Einladung zum Empfang der Collegepräsidentin aus Anlass von Evs achtzehntem Geburtstag, der Ende des Monats im Campusmuseum stattfinden sollte. Wie der Einladung zu entnehmen war, schenkte Genevra Katherine Winslow dem Museum einen Degas.
Hätte jemand beobachtet, wie ich den Umschlag im wuseligen Postraum schnell in der Tasche meines Parkas verschwinden ließ, hätte er wahrscheinlich vermutet, dass die bescheidene Mabel Dagmar sich der protzigen Dekadenz des Ganzen schämte; dabei war das Gegenteil der Fall – ich wollte das süße Gefühl der exklusiven Einladung ganz für mich haben und nicht plötzlich feststellen müssen, dass es sich um ein Versehen handelte oder in jedem Postfach eine lag. Das elegant strukturierte Büttenpapier wärmte mir den ganzen Tag lang die Hand, sobald ich in die Tasche fasste. Als ich in unser Zimmer zurückkam, ließ ich den Umschlag sehr offensichtlich auf meinem Schreibtisch liegen, wo Ev ihren Aschenbecher abzustellen pflegte, direkt unterhalb des einzigen Bilds, das sie aufgehängt hatte – eine Fotografie von mehr als sechzig Menschen, jung und alt, allesamt fast so schön und naturblond wie Ev und alle ganz in Weiß gekleidet, vor einem ausladenden Ferienhaus. Die weißen Kleider der Winslows waren leger, auch wenn Freizeitlook in meiner Familie anders aussah (Disneyland-T-Shirts, Bierbäuche, Heineken aus der Dose). Evs Verwandtschaft war schlank, gebräunt, lächelnd. Polohemden, gebügelte Baumwollkleider, kleine Mädchen mit weißen Häkelstrümpfen und süßen Flechtfrisuren. Zum Glück hatte sie das Bild über meinen Schreibtisch gehängt, da hatte ich ausgiebig Zeit, es voller Bewunderung zu betrachten.
Drei Tage vergingen, bevor sie den Umschlag bemerkte. Sie rauchte oben auf dem Stockbett – das Zimmer füllte sich mit beißendem Rauch, und ich musste, während ich direkt unter ihr meine Matheaufgaben machte, meinen Inhalator zum Atmen zu Hilfe nehmen –, als sie laut aufstöhnte, vom Bett sprang und sich die Einladung schnappte. »Du willst ja nicht etwa kommen, oder?«, fragte sie, mit dem Umschlag wedelnd. Allein die Vorstellung schien sie derart anzuwidern, dass sich die Winkel ihres Rosenknospenmündchens nach unten verzogen; bei jeder anderen hätte das hässlich ausgesehen, doch Ev war, selbst schlecht gelaunt und gerade aus dem Bett, ein ziemlich überwältigender Anblick.
»Vielleicht schon«, antwortete ich kleinlaut, ohne zu erkennen zu geben, mit wie viel Begeisterung und Angst mich die Frage erfüllte, was ich zu einem solchen Anlass anziehen sollte, ganz zu schweigen davon, wie ich etwas aus meinen schlaffen Haaren machen würde.
Ihre langen Finger warfen die Einladung zurück auf den Schreibtisch. »Es wird garantiert fürchterlich. Mom und Daddy sind sauer, weil ich keine Schenkung ans Met mache, deswegen darf ich natürlich auch niemanden von meinen Freunden einladen.«
»Klar.« Ich versuchte, nicht allzu verletzt zu klingen.
»So habe ich das nicht gemeint«, schnappte sie, wobei sie sich auf meinen Schreibtischstuhl fallen ließ und ihr Alabastergesicht stirnrunzelnd der Decke zuwandte, an der sie einen Riss im Putz musterte.
»Aber hast du mich denn nicht eingeladen?«, wagte ich zu fragen.
»Nein.« Sie kicherte, als sei das eine charmante, aber komplette Fehleinschätzung. »Mom lädt immer meine Mitbewohnerinnen ein. Das soll dem Ganzen einen … demokratischen Touch geben.« Sie sah den Ausdruck auf meinem Gesicht und fügte hinzu: »Ich will ja selbst nicht hingehen; es gibt keinen Grund, warum du dich verpflichtet fühlen solltest.« Sie fasste nach ihrer Mason-Pearson-Bürste, deren Wildschweinborsten ihr goldenes Haar mit einem satten Geräusch zum Glänzen brachten.
»Dann komme ich halt nicht«, sagte ich, aber die Enttäuschung in meiner Stimme verriet mich. Ich wandte mich wieder meinen Matheaufgaben zu. Es war sowieso besser, nicht hinzugehen – ich hätte mich garantiert lächerlich gemacht. Aber mittlerweile fixierte Ev mich, ohne den Blick abzuwenden, sie starrte mich geradezu an, bis ich es nicht mehr ertragen konnte. »Was?«, fragte ich mit etwas Verärgerung in der Stimme (aber nicht zu viel; ich konnte es ihr kaum übelnehmen, dass sie mich bei so einem eleganten Ereignis nicht dabeihaben wollte).
»Du kennst dich doch mit Kunst aus, oder?«, wollte sie mit plötzlicher Liebenswürdigkeit in der Stimme wissen. »Wolltest du nicht Kunstgeschichte als Hauptfach studieren?«
Ich war erstaunt – ich hätte nicht gedacht, dass Ev irgendeine Ahnung von meinen Interessen hatte. Und auch wenn ich in Wirklichkeit den Gedanken, Kunstgeschichte als Hauptfach zu wählen, schon aufgegeben hatte – zu viele Stunden Mitschreiben in dunklen Seminarräumen, Auswendiglernen fiel mir nicht leicht, und ich hatte mich gerade in Shakespeare und Milton verliebt –, in diesem Augenblick war mir klar, dass mein Interesse an Kunst mir diese Tür öffnen würde.
»Ich glaube schon.«
Und so stand ich also drei Wochen später in der großen verglasten Eingangshalle des Museums unseres Colleges, ein Seidenkleid in der Farbe des Meeres derart geschickt um mich drapiert, dass ich zehn Kilo leichter wirkte. Ev hatte sich bei mir untergehakt, statuengleich in champagnerfarbene Schantungseide gewandet. Sie sah aus wie eine Prinzessin, und für eine Prinzessin galt das Mindestalter für Alkoholkonsum natürlich nicht: Wir hielten volle Weingläser in der Hand, und keine der an uns vorbeiparadierenden Kuratorinnen, Professoren und älteren Studentinnen der Kunstgeschichte zuckte mit der Wimper, als sie uns beim Weintrinken sahen, alle darauf bedacht, Evs Lächeln zu gewinnen. Eine einzelne Geigerin entlockte ihrem Instrument in einer Ecke der Halle klagende Töne. Die Collegepräsidentin – eine Furcht einflößende Person, die ihre Haare in einer grauen Helmfrisur trug, ihre Lippen umspielt von einem Lächeln, das darin geübt war, Gelder für die Universität einzuwerben – in unserer Nähe. Um sich selbst ihrer Aufmerksamkeit zu entziehen, stellte Ev mich ihr vor, und ich war sehr geschmeichelt vom Interesse der Präsidentin an meinem Studium (»Ich bin mir sicher, wir können Sie in dem Milton-Oberseminar unterbringen«), versuchte aber trotzdem, von ihr loszukommen, um wieder neben Ev stehen zu können.
Ev flüsterte mir die Namen sämtlicher Gäste ins Ohr – woher sie die alle kannte, ist mir nach wie vor ein Rätsel, es lag wohl einfach daran, dass sie für so was geboren war –, und mir wurde bewusst, dass ich unerklärlicherweise der Ehrengast des Ehrengastes zu sein schien. Ev betörte jeden der Anwesenden mit ihrem Lächeln, aber nur mit mir teilte sie ihre geheimen Bemerkungen (»Juniorprofessor Oakley – der treibt's mit allen«, »Amanda Wyn – krasse Essstörung«). Während ich das Treiben beobachtete, konnte ich partout nicht begreifen, was Ev daran missfiel: der Degas (eine am Bühnenrand über ihre Spitzenschuhe gebeugte Ballerina), die uns schmeichelnden Erwachsenen, die Feier ihres Geburtstags und zugleich der Tradition. Sosehr sie darauf beharrte, sie könne es nicht abwarten, dass der Abend vorbei war, so sehr saugte ich das Ganze mit jeder Faser auf; ich wusste nur zu gut, dass ich morgen wieder in ihren Winterstiefeln durch den Schneeregen stapfen und beten würde, dass mein Stipendien-Scheck endlich eintraf, damit ich mir ein Paar Fäustlinge kaufen konnte.
Die Türen zum Eingangsportal öffneten sich erneut und die Präsidentin eilte hin, um die letzten, wichtigsten Gäste zu begrüßen, vor denen sich die Menge nun teilte. Weil ich so klein bin, musste ich den Kopf recken, um zu sehen, wer da kommen mochte – ein Filmstar? Eine berühmte Künstlerin? – Es musste jedenfalls jemand sehr Wichtiges sein, der bei dieser akademischen Elite für eine derartige Reaktion sorgte.
»Wer ist das?«, flüsterte ich auf Zehenspitzen stehend.
Ev leerte ihren zweiten Gin Tonic. »Meine Eltern.«
Birch und Tilde Winslow waren das glamouröseste Paar, das ich je gesehen hatte: Sie wirkten poliert und glänzend, als seien sie aus einem gänzlich anderen Stoff gemacht als ich.
Tilde war jung – sie sah zumindest viel jünger aus als meine Mutter. Sie hatte denselben Schwanenhals wie Ev, auf dem ein kantigeres, weniger anmutiges Gesicht als bei Ev saß, doch es stand außer Zweifel: Tilde Winslow war eine echte Schönheit. Sie war dünn, zu dünn, und obwohl ihr das jahrelange Kalorienzählen anzusehen war, gebe ich zu, dass ich nur bewundern konnte, wie sich die Entsagungen bei ihr ausgewirkt hatten: straffe Oberarme, faltenfreies Kinn. Die Wangenknochen zeichneten sich konturiert unter ihrer Haut ab. Sie trug ein Kleid aus smaragdgrüner Dupionseide, das in der Taille von einer Saphirbrosche in Größe einer Kinderhand zusammengehalten wurde. Ihr weißblondes Haar trug sie in einem Chignon.
Birch musste mehr als zwanzig Jahre älter sein als Tilde, er hatte den Spitzbauch des Übersiebzigjährigen, ansonsten war er jedoch in ausgezeichneter Verfassung. Sein Gesicht wirkte ganz und gar nicht großväterlich; er sah auf eine jugendliche Art gut aus, und seine kristallblauen Augen funkelten wie Juwelen unter den langen, dunklen Wimpern hervor, die Ev von ihm geerbt hatte. Während Tilde und er mit bestimmtem Schritt auf uns zukamen, schüttelte er rechts und links Hände wie ein Politiker und gab dazu launige Bemerkungen zum Besten, die bei der Menge für Erheiterung sorgten. Die Frau an seiner Seite war das komplette Gegenteil. Tilde verzog die Lippen kaum zu einem Lächeln, und als sie endlich bei uns waren, musterte sie mich, als sei ich ein zum Pflügen herbeigebrachter Ackergaul.
»Genevra«, begrüßte sie ihre Tochter, als sie sich überzeugt hatte, dass ich nichts zu bieten hatte.
»Mom.« Ich bemerkte die Anspannung in Evs Stimme, die dahinschmolz, sobald ihr Vater den Arm um ihre Schultern legte.
»Herzlichen Glückwunsch, Stupsnase«, flüsterte er in Evs perfektes Öhrchen und tippte ihr auf die Nasenspitze. Ev errötete. »Und wen haben wir hier?«, fragte er und streckte mir die Hand hin.
»Das ist Mabel.«
»Die Zimmergenossin!«, rief er aus. »Miss Dagmar, was für eine Freude.« Er verschluckte das scheußliche G in der Mitte meines Nachnamens und rollte das R am Ende ein klein wenig, sodass die Betonung auf der letzten Silbe lag. Zum ersten Mal klang mein Name wie etwas Besonderes. Er küsste mir die Hand.
Tilde schenkte mir ein halbes Lächeln. »Vielleicht kannst du uns ja sagen, Mabel, wo unsere Tochter in den Weihnachtsferien war.« Ihre Stimme klang nasal und dünn und hatte die Andeutung eines Akzents, ob Oberschicht oder ausländisch, war nicht herauszuhören.
Auf Evs Gesicht zeichnete sich ein Moment lang Panik ab.
»Ev war bei mir«, antwortete ich.
»Bei dir?«, fragte Tilde zurück, eine Vorstellung, die sie mit echter Belustigung zu erfüllen schien. »Und was hat sie da gemacht, wenn ich fragen darf?«
»Wir haben meine Tante in Baltimore besucht.«
»Baltimore! Das wird ja immer schöner!«
»Es war wirklich schön, Mom. Ich hab's dir doch gesagt, ich bin sehr gut versorgt worden.«
Tilde zog eine Augenbraue hoch und bedachte uns beide mit einem langen Blick, bevor sie sich der Kuratorin an ihrer Seite zuwandte und fragte, ob die Rodins derzeit zu sehen seien. Ev drückte mir die Schulter.
Ich hatte keinen Schimmer, wo Ev in den Weihnachtsferien gewesen war – mit mir zusammen jedenfalls nicht. Aber meine Antwort war nicht komplett gelogen – ich war in Baltimore gewesen und hatte die eine unglückselige Woche, in der das College-Wohnheim geschlossen war, bei meiner Tante Jeanne ausharren müssen. Mit zwölf war der Besuch bei Tante Jeanne – fünf Tage an der Ostküste, die einzige Reise, die meine Mutter und ich je zusammen unternommen hatten – der Höhepunkt meiner frühen Jugend gewesen. Meine Erinnerungen an den Besuch waren nicht sehr deutlich, da sie aus der Zeit Bevor-alles-anders-wurde stammten, aber schön. Tante Jeanne war mir extravagant erschienen, ein sorgenfreies Gegenstück zu meiner pflichtversessenen Mutter. Wir hatten Maryland-Krebse gegessen und uns im Diner Eisbecher gegönnt.
Aber entweder hatten sich Tante Jeanne oder meine Wahrnehmung in den Jahren seitdem verändert – jedenfalls stellte ich im Dezember meines ersten Studienjahres fest, dass ich mir lieber die Kugel geben würde, als wie sie zu werden. Sie wohnte in einer nach Katzen stinkenden Eigentumswohnung und wirkte irritiert, als ich fragte, ob wir nicht ins Smithsonian Museum gehen könnten. Sie aß Fertiggerichte vor der Glotze und döste über den mitternächtlichen Infomercials ein. Als Tilde sich von uns abwandte, fiel mir voller Grauen das Versprechen ein, das meine Tante mir am Ende meines Aufenthalts abgenommen hatte (und dazu brauchte sie bloß meine Mutter zu erwähnen, die ich so schmählich verlassen hatte): zwei ewig lange Wochen im Mai, bevor ich zurück nach Oregon flog. Ich träumte, Ev würde mich begleiten. Mit ihr könnte ich Der Preis ist heiß und das Kitzeln von Katzenhaaren im Rachen überstehen.
»Mabel studiert Kunstgeschichte.« Ev schob mich ein wenig ihrem Vater entgegen. »Sie liebt unseren Degas.«
»Wirklich?«, fragte Birch. »Du kannst ruhig näher rangehen. Noch gehört er uns.«
Ich betrachtete das auf einer einfachen Stafette stehende, gut ausgeleuchtete Gemälde. Wenige Schritte trennten mich von ihm, aber es hätten auch eine Million sein können. »Danke schön«, sagte ich zögernd.
»Und dein Hauptfach ist also Kunstgeschichte?«
»Und ich dachte, Sie wollten Englisch im Hauptfach belegen«, unterbrach die Präsidentin, die plötzlich neben mir auftauchte.
Derart im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehend lief ich rot an, als sei ich gerade beim Lügen ertappt worden. »Ach«, stammelte ich, »ich finde beide Fächer sehr interessant – wirklich –, aber ich bin ja erst im zweiten Semester, wissen Sie, und da …«
»Tja, ohne Kunst keine Literatur, was?«, kam Birch mir zu Hilfe und ließ ein paar von Evs Bewunderern in unseren Kreis. Er legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter. »Als diese junge Dame hier gerade mal fünf war, sind wir mit den Kindern nach Florenz geflogen, und sie war völlig hingerissen vom Haupt der Medusa in den Uffizien. Und Judith und Holofernes! Kinder lieben dieses grausliche Zeug.« Alle lachten. Und ich war wieder unsichtbar. Für einen Sekundenbruchteil sah Birch mir in die Augen und zwinkerte. Ich merkte, wie ich dankbar errötete.
Nach der Ansprache der Präsidentin, den Horsd'œuvres, bei denen wir nicht zugriffen, und den Geburtstagsmuffins, die in der Farbe meines Kleides verziert waren, nach Evs kleiner Rede, wie zu Hause sie sich hier im College fühlte und hoffte, Degas' Ballerina würde viele Jahre glücklich und zufrieden hier im Museum leben, erhob Birch das Glas und forderte die Aufmerksamkeit im Raum für sich.
»Bei uns Winslows ist es gute Sitte«, hob er an, als seien wir alle Teil seiner Familie, »dass jedes der Kinder mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter der Institution seiner Wahl ein Gemälde schenkt. Meine Söhne haben sich für das Metropolitan Museum entschieden. Meine Tochter hat eine ehemalige Frauenhochschule gewählt.« Das wurde mit lautem Lachen quittiert. Entschuldigend neigte Birch sein Glas der Präsidentin zu. Er räusperte sich, wobei das trockene Lächeln von seinen Lippen schwand. »Vielleicht entspringt diese Tradition dem Wunsch, jedem Kind bei seiner ersten Steuererklärung einen ordentlichen Steuerabzug mitzugeben« – wieder erntete er Lacher –, »doch der tiefere Sinn liegt in dem Wunsch begründet, durch unser praktisches Vorbild zu lehren, dass wir das, was wirklich eine Rolle spielt, nicht besitzen können. Land, Kultur, und, so schwer das Loslassen auch fallen mag, ein großes Kunstwerk. Die Winslows stehen für Philanthropie. Phila, Liebe. Anthro, Mensch. Die Liebe zum Menschen, die Liebe zum Mitmenschen.« Und damit wandte er sich Ev zu und erhob sein Champagnerglas. »Wir lieben dich, Ev. Und denke immer daran: Wir geben, nicht, weil wir es können, sondern weil wir müssen.«
Ein Glas Champagner zu viel, ein paar Häppchen zu wenig, und eine Stunde später verschwamm mir alles in der überheizten Eingangshalle vor Augen. Ich brauchte Luft, Wasser, irgendwas, sonst würden meine Knöchel auf den schmalen High Heels, die ich mir auf Evs Geheiß bei ihr geliehen hatte, jeden Moment unter mir wegknicken. »Ich bin gleich wieder da«, flüsterte ich ihr zu, während sie der Anekdote eines Kurators über dessen missglückten Urlaub in Cancún wie betäubt lauschte. Ich stöckelte den langen gläsernen Gang hinüber zum neogotischen Flügel des Museums und spritzte mir im Waschraum kaltes Wasser ins Gesicht. Erst dann fiel mir wieder ein, dass ich geschminkt war. Aber es war zu spät – mein ganzes Gesicht war verschmiert, Clownsmund, Waschbärenaugen. Ich zog bergeweise Papierhandtücher aus dem Spender und wischte so lange an meinem Gesicht herum, bis ich wenigstens nicht mehr wie eine gefährliche Geistesgestörte aussah, sondern nur noch, als hätte ich auf einer Parkbank übernachtet. Es war ja nicht so schlimm – wir wollten sowieso bald zurück auf unser Zimmer gehen. Vielleicht konnten wir uns eine Pizza kommen lassen.
Langsam eierte ich durch den Gang zurück, fühlte mich allerdings schon beim Gedanken an Schlafanzug und Salamipizza wieder wie ein neuer Mensch. Verblüfft sah ich, dass sich die große Halle vollständig geleert hatte – abgesehen von der Geigerin, die ihr Instrument einpackte, und den Kellnern, die die nackten Banketttische zusammenklappten, waren alle weg – Ev, die Präsidentin, Birch, Tilde.
»Entschuldigung«, sagte ich zu einem der Kellner, »wissen Sie zufällig, wo die Leute hin sind?«
Sein Augenbrauenring glitzerte im Licht, als er die Brauen mit einem Was kümmert's mich hochzog, das ich von meinen eigenen späten Abenden in unserer chemischen Reinigung nur zu gut kannte. Ich ging auf die Damentoilette und spähte unter den Türen hindurch, ob da jemand war. Tränen brannten mir in den Augen, aber ich kämpfte dagegen an. Albern. Ev war bestimmt auf dem Heimweg und suchte nach mir.
»Ja, aber, Kind, was machen Sie denn hier?«, rügte mich eine Kuratorin, die mich dort überraschte. »Das Museum ist geschlossen.« Wäre Ev bei mir gewesen, hätte sie nicht so mit mir geredet und ich mich nicht so pflichtschuldig verzogen. Ich nahm meinen Mantel, den letzten, vom Metallhaken im Foyer und trat hinaus in die Kälte.
Da standen in Sichtweite der Eingangstür mit dem Rücken zu mir Ev und ihre Mutter. »Ev!«, rief ich. Sie drehte sich nicht zu mir um. Der Wind musste meine Stimme verweht haben. Deswegen ging ich zu ihnen hin, wobei ich mich ganz auf meine Schritte konzentrierte, damit ich mir nicht noch den Fuß vertrat. »Ev«, sagte ich, als ich in ihrer Nähe war. »Da bist du ja. Ich habe dich schon gesucht.«
Beim Klang meiner Stimme schnellte Tildes Kopf nach oben, als sei ich eine lästige Fliege.
»Hey, Ev«, sagte ich zögerlich. Sie gab keine Antwort. Ich streckte die Hand nach ihrem Ärmel aus.
»Nicht jetzt«, zischte Ev.
»Ich dachte, wir könnten …«
»Was an nicht jetzt verstehst du nicht, hm?« Mit zornigem Gesicht fuhr sie zu mir herum.
Ich wusste, wann man wegzutreten hatte. Und ich kannte Ev gut genug, um zu wissen, dass sie ihr Leben lang hatte wegtreten lassen. Aber es passte so überhaupt nicht zu dem Abend, den wir gerade gemeinsam verlebt hatten – nachdem ich sie mit meiner Lüge gerettet und sie sich zum ersten Mal wie eine Freundin verhalten hatte –, und so blieb ich wie versteinert stehen, während Tilde Ev am Arm nahm und zu dem Lexus führte, mit dem Birch gerade vorfuhr.
An diesem Abend kam sie nicht nach Hause. Das war nicht weiter schlimm. Normal sogar. Ich hatte monatelang mit Ev in einem Zimmer gehaust, ohne das Geringste von ihr zu erwarten – keine Freundschaft, keine Unterstützung –, doch am nächsten Tag rieb mich ihre Zurückweisung so wund wie die hohen Schuhe, die sie mir geliehen hatte: Ich hätte die Blessuren vorhersehen, ihnen vorbeugen müssen.
Obwohl ich ihre Stiefel anzog und meine Füße von ihnen wärmen ließ, obwohl ich mir gestattete, mit jedem Schritt zu wünschen, dass die Kränkung des vergangenen Abends ein Ausrutscher gewesen war, wurde im Laufe des Tages alles nur noch schlimmer. Sechs Seminare, fünf Aufsätze, vier bevorstehende Mittsemesterprüfungen, ein Dreizehn-Kilo-Rucksack auf dem Rücken, erste Anzeichen von Halsschmerzen, von geschmolzenem Schnee durchweichte Hosenbeine und in mir eine dumpfe, nagende Einsamkeit. Als ich mich mit Einbruch des Abends durch unseren Flur schleppte, roch ich schon vor der Tür den Zigarettenrauch, dachte an die Bemerkung der Studentinnenvertreterin, dass sie uns das nächste Mal fünfzig Dollar Strafe aufbrummen würde, und gestattete mir ein Gefühl der Wut. Ev war wieder da, na und? Ich hatte Asthma. Ich konnte nicht in einem verrauchten Zimmer leben – sie wollte mich wohl buchstäblich ersticken. Der einzige positive Nebeneffekt meines Asthmamedikaments – nämlich die Entschuldigung für die Extrapfunde, die ich mit mir herumschleppte – würde mir auch nicht mehr helfen, wenn ich tot war.
Ich biss die Zähne zusammen und ermahnte mich, stark zu sein. Ich brauchte ihre verdammten Stiefel nicht. Ich konnte meinem Vater einfach einen Brief schreiben und ihn um ein Paar bitten (warum hatte ich das eigentlich nicht schon längst getan?). Ich brauchte keinen Degas-verschenkenden Snob, der wie ein Supermodel in meinem Zimmer herumlungerte und mich ständig daran erinnerte, was für ein Nichts ich war. Ich umfasste den Türknauf, ermahnte mich, meine Kritik so vorzubringen, wie Ev das tun würde: »Mensch, Ev, kannst du deine stinkenden Kippen vielleicht woanders rauchen?« (Meine Stimme würde ich ganz beiläufig klingen lassen, als ginge es um das Rauchen an sich und nicht die fünfzig Dollar), und stürmte ins Zimmer.
Meistens saß sie zum Rauchen auf ihrem Schreibtisch am Fenster, Zigarette im Mundwinkel hängend, oder im Schneidersitz oben auf dem Stockbett, wo sie in eine leere Colaflasche aschte. Aber sie war nicht da. Als ich meinen Rucksack fallen ließ, stellte ich mir fast schadenfroh vor, dass sie eine brennende Zigarette, die gerade das Laken in Brand setzte, im Bett liegen gelassen hatte, bevor sie zu einem glamourösen Ziel entschwand – dem Russian Tea Room, einer privaten Dachterrasse in Tribeca. Das gesamte Wohnheim würde in Flammen aufgehen, und ich mit ihm. Sie würde gezwungen sein, den Rest ihres Lebens an mich zu denken.
Und dann hörte ich es: Ein Schniefen. Ich warf einen Blick hinauf zum oberen Etagenbett. Die Bettdecke bebte.
»Ev?«
Leises Weinen wurde hörbar.
Ich ging näher hin. Ich hatte immer noch die durchnässten Jeans an, war aber wie festgewurzelt.
Ich stand in einem ungünstigen Blickwinkel da und verdrehte den Hals nach oben. Sie hatte sich tatsächlich unter der Decke verkrochen. Ich fragte mich, was ich tun sollte, als ein lautes, aus tiefstem Herzen kommendes Schluchzen darunter hervorkam. »Was ist denn los?«, fragte ich und stieg ein paar Sprossen hoch.
Ich erwartete keine Antwort. Und ich hatte auf keinen Fall beabsichtigt, ihr die Hand auf den Rücken zu legen. Hätte ich überlegt gehandelt, hätte ich mich das nie getraut – ich war zu stolz und zu verletzt, die Geste zu intim. Aber auf meine sanfte Berührung folgte eine unerwartete Reaktion. Erst weinte Ev noch stärker. Dann drehte sie den Kopf herum, sodass ihr Gesicht und meines sich mit einem Mal näher waren als je zuvor und ich jeden Millimeter ihrer überlaufenden hellblauen Augen sah, ihrer tränenverquollenen rosigen Wangen, ihrer fettigen blonden Haare, die zum ersten Mal, seit ich sie kannte, schlaff herunterhingen. Ihr Mund mühte sich, brachte aber nichts heraus, und ich konnte nicht anders: Ich legte ihr die Hand auf die heiße Stirn. Wie viel menschlicher Ev aus der Nähe wirkte.
»Was ist denn los?«, fragte ich, als sie sich endlich etwas beruhigt hatte.
Erst schien es, als würde sie wieder zu schluchzen anfangen. Doch dann angelte sie sich eine neue Zigarette aus der Packung und zündete sie an. »Mein Cousin«, schniefte sie, als sagte das schon alles.
»Wie heißt dein Cousin?« Ich glaubte, unbedingt wissen zu müssen, was Ev das Herz gebrochen hatte.
»Jackson«, flüsterte sie, wobei sich ihre Mundwinkel wieder nach unten verzogen. »Er ist Soldat. War Soldat«, korrigierte sie sich, und die Tränen fingen von Neuem an zu fließen.
»Ist er gefallen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er ist letzten Sommer nach Hause zurückgekehrt. Etwas seltsam hat er sich schon verhalten und so, aber ich hätte nie gedacht …« Und sie weinte. Sie weinte so sehr, dass ich schnell Parka und Jeans abstreifte, mich neben sie ins Bett legte und ihren bebenden Körper festhielt.
»Er hat sich erschossen. In den Mund. Letzte Woche«, brachte sie schließlich, Stunden später, wie es schien, heraus, als wir nebeneinander unter ihrem dicken, roten Kaschmirplaid lagen und gemeinsam an die Zimmerdecke starrten, als würden wir das ständig tun. Trotz der schrecklichen Nachricht war ich erleichtert zu hören, was vorgefallen war; ich hatte mir alles Mögliche ausgemalt, dass der Cousin vielleicht eine Post gestürmt und alle Anwesenden erschossen hatte.
»Letzte Woche?«, fragte ich.
Sie drehte das Gesicht zu mir, so dass ihre Stirn meine berührte. »Mom hat es mir erst gestern Abend erzählt. Nach dem Empfang.« Ihre Nase und Augen liefen in Vorwarnung einer weiteren Runde Tränen rosa an. »Sie wollte nicht, dass ich mich aufrege und alles ›ruiniere‹.«
»Oh, Ev.« Mitgefühl und Vergebung erfüllten mich. Deswegen hatte sie mich also draußen so angefahren – sie war außer sich gewesen.
»Wie war Jackson denn so?«, drängte ich, und sie schluchzte wieder. Es war so seltsam und wunderbar, dort neben ihr zu liegen, ihre flachsblonden Strähnen an meiner Wange zu spüren, zuzusehen, wie große Tropfen über ihr zartes Gesicht kullerten – ich wollte nicht, dass es vorbeiging. Ich wusste, dass ich sie wieder verlieren würde, wenn wir nicht weiterredeten.
»Er war ein guter Mensch, irgendwie. Letzten Sommer, weißt du? Da lief der Hund seiner Mutter, Flip, hinaus auf die Schotterstraße, und dieser Idiot von einem Handwerker kam mit, was weiß ich, neunzig Sachen um die Kurve gebrettert und fuhr den Hund an und das machte ein fürchterliches Geräusch« – sie schauderte – »und Jackson, der ging hin und hat Flip auf den Arm genommen – ich meine, alle anderen haben geschrien und geheult, es waren nämlich ganz viele kleine Kinder mit dabei –, aber er hat den Hund genommen und auf den Rasen getragen und ihm die Ohren gestreichelt.« Sie kniff die Augen wieder zu. »Und hinterher hat er eine Decke über ihn gebreitet.«
Ich betrachtete das Bild der versammelten Winslows über meinem Schreibtisch, auch wenn das ungefähr so albern war, wie die Speisekarte eines Diners aufzuklappen, in dem man schon sein Leben lang einkehrt; ich kannte jeden blonden Kopf, jede schlanke Wade, als sei ihre Familie meine eigene. »Das Foto, das ist bei eurem Ferienhaus, oder?«
Sie sprach den Namen aus, als sage sie ihn mir zum ersten Mal. »Winloch.«
Ich merkte, wie ihre Augen sich von der Seite her in mein Gesicht bohrten. Den nächsten Satz sagte sie mit Bedacht. Mein Herz setzte zwar kurz aus, aber ich unterdrückte jede Vorfreude und redete mir ein, dass ich nie wieder etwas von der Sache hören würde:
»Wissen sie denn, dass wir kommen?«, fragte ich, als Ev mir den Rest des Kitkat, das ich im Speisewagen gekauft hatte, zurückgab. Der Zug hatte schon vor Ewigkeiten zweimal gepfiffen und war nach Norden weitergefahren. Zurück blieben nur der verwaiste Bahnsteig und wir.
»Natürlich«, gab Ev verstimmt, aber mit einer Spur von Zweifel zurück, als sie sich wieder auf ihrem Koffer niederließ, der unter dem Vordach des Bahnhofsgebäudes lag. Sie warf einen herablassenden Blick auf meinen orangegebundenen Klassiker, Miltons Das Verlorene Paradies, und sah dann zum zwanzigsten Mal auf ihrem Handy nach, ob es immer noch keinen Empfang hatte. »Und jetzt haben wir nur noch sechs Tage bis zur Inspektion.«
»Wie, Inspektion?«
»Von unserem Ferienhaus.«
»Und von wem wird es inspiziert?«
An der Art, wie sie geradeaus an mir vorbeiguckte, merkte ich, dass meine Fragen sie nervten. »Von Daddy natürlich.«
Ich versuchte, meine Stimme so liebenswürdig wie möglich klingen zu lassen. »Du klingst irgendwie besorgt.«
»Na logisch bin ich besorgt«, antwortete sie mit einem Schmollmund, »weil ich die alte Bruchbude nicht erbe, wenn wir sie nicht innerhalb einer Woche tipptopp auf Vordermann bringen. Und dann darfst du nach Hause fahren und ich muss wieder mit meiner Mutter unter einem Dach leben.«
Es war abzusehen, dass sie mich anschnauzen würde, egal, was ich von mir gab, und so behielt ich sämtliche Fragen, die mir im Kopf herumspukten –»Das soll heißen, ich muss vielleicht trotz allem nach Hause? Du meinst, ausgerechnet du sollst Großputz in einer alten Hütte machen?« – für mich und richtete den Blick lieber auf einen Schwarm Meisen, der im Gebüsch hinter den Gleisen von einem Zweig zum nächsten hüpfte, und atmete die frische Luft des Nordens tief ein.
Mit einer Einladung beginnt etwas; im Grunde ist sie aber eher eine Geste als ein wirklicher Anfang. Eine Tür geht auf und steht offen, aber man darf noch nicht eintreten. Heute weiß ich das, aber damals glaubte ich, alles hätte schon angefangen; mit allem meine ich die Freundschaft, die, nachdem sie in der Nacht, in der Ev mir von Jacksons Tod erzählt hatte, Funken gefangen, den ganzen Frühling über gelodert hatte und nun heiß und anhaltend zwischen mir und Ev brannte. Ev hatte mir beigebracht, wie man tanzt, mit wem man redet und wie man sich anzieht, während ich ihr Nachhilfe in Chemie gab und sie davon überzeugte, dass sie keine Fünfen mehr kassieren würde, wenn sie sich bloß ein bisschen anstrengte. »Sie ist mein Superhirn«, gab sie warmherzig mit mir an, und mich freute der Satz, weil wir darin als Zweiergespann vorkamen, das Arm in Arm über den Campus spazierte, Wodka Tonic auf Erwachsenenpartys trank und sich lieber zusammen die halbe Nacht Bogart-Filme reinzog, als mit ihren Kifferfreunden abzuhängen. Von der Juni-Perspektive aus betrachtet kam es mir vor, als hätte sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit an jenem Februartag festgesetzt, an dem Ev die drei verheißungsvollen Worte gesagt hatte: »Komm doch auch.«
Im Laufe des Frühjahrs hatte meine Mutter in zahlreichen, auf die Rückseite alter Reinigungsquittungen gekritzelten Briefen und verstohlenen Anrufen bei uns im Wohnheim immer wieder angedeutet, dass ich der neu gewonnenen Großzügigkeit des Lebens gegenüber misstrauisch bleiben sollte. Wie praktisch alles, was von ihr kam, fand ich ihre Warnungen deprimierend, beleidigend und vorhersehbar – sie war davon überzeugt, dass Ev mich nur benutzte (»Aber wozu denn bloß?«, fragte ich ungläubig. »Wozu sollte jemand wie Ev um Himmels willen jemanden wie mich benutzen?«). Aber ich vermutete auch, dass meine Mutter das sein lassen würde, sobald mein Vater unseren Sommerplänen zugestimmt hätte – widerstrebend, aber immerhin. Als Ev Mitte Mai ihr Winloch-Foto abnahm und ich den Großteil meiner Sachen in einer Holzkiste auf den Dachboden im fünften Stock des Wohnheims geschafft hatte, waren unsere Sommerpläne in Stein gemeißelt, jedenfalls, was mich anging.
Insofern überraschte mich der Anruf, der an dem Juniabend, bevor Ev und ich den Zug nach Norden nehmen wollten, in der Wohnung der Winslows an der Upper East Side einging. Ev und ich gabelten uns, auf dem antiken Himmelbett in ihrem Zimmer liegend, Thaihäppchen aus Asia-Boxen in den Mund, in dem Apartment, wo ich seit zwei glückseligen Wochen schlafen durfte, alle störenden Geräusche, die von der 73. Straße heraufkamen, durch Doppelfenster und dicke lila Vorhänge ausgesperrt (was für ein Unterschied zu Tante Jeannes grässlichem Alte-Jungfern-Kabuff, in dem ich gezwungenermaßen die letzten zwei Maiwochen verbracht und jeden Tag bis zu meinem Aufenthalt in Manhattan gezählt hatte). Mein Koffer lag aufgeklappt auf dem Boden. Auf dem Orientteppich standen bunte Einkaufstüten herum: Prada, Burberry, Chanel. Unsere halbe Stunde joggen hatten wir schon auf den beiden nebeneinander stehenden Laufbändern in der Suite ihrer Mutter absolviert und unterhielten uns gerade darüber, welchen Film wir uns heute im Vorführraum anschauen sollten. An diesem Abend waren wir besonders müde, weil wir kurz vor Schluss noch ins Met gedüst waren, damit Ev mir die Schenkungen ihrer Familie zeigen konnte, wie sie es ihrem Vater versprochen hatte. Ich hatte vor zwei Gauguins mit dunkelhäutigen Schönheiten gestanden, und mir fiel nichts Blöderes ein als: »Aber ich dachte, du hättest drei Brüder.«
Ev drohte mir lachend mit dem Finger. »Da hast du recht, aber der Dritte ist ein Vollidiot, der seins versteigert und den Ertrag an Amnesty International gespendet hat. Mom und Daddy hätten ihn am liebsten von der Dachterrasse geschmissen.« Besagte Dachterrasse befand sich über dem siebten Stock, der vollständig vom 370-Quadratmeter-Apartment der Winslows eingenommen wurde. Ich war zwar naiv, was das Vermögen der Winslows anbelangte, aber mir war mittlerweile klar, dass sich ihr Status nicht in der Mahagonieinrichtung oder den unbezahlbaren Kunstgegenständen manifestierte, sondern im Blick aus dem Apartmentgebäude auf den Central Park, den man aus fast allen Fenstern der Wohnung genoss: ein grünes, unglaubliches und voller Leichtigkeit lebendiges Idyll inmitten einer überbevölkerten Metropole.
Wie luxuriös der Sommersitz der Familie erst sein musste, konnte ich mir nur ausmalen.
Beim zweiten Läuten des Telefons ging Ev mit einer Stimme wie poliertes Kristallglas dran: »Bei Winslow, was kann ich für Sie tun?«, schaute einen Augenblick verwirrt drein, fing sich dann aber wieder. »Mrs. Dagmar«, tönte sie mit ihrer Erwachsenen vorbehaltenen Stimme. »Wie schön, dass Sie anrufen. Sie wollen sicher mit Ihrer Tochter sprechen?« Sie hielt mir das Telefon hin, ließ sich zurück aufs Bett fallen und widmete sich der neuesten Vanity Fair.
»Mom?« Ich drückte den Hörer ans Ohr.
»Zuckermaus.«
Auf der Stelle roch ich den süßen Pistazienatem meiner Mutter, doch jede Art Heimweh wurde umgehend von der Erinnerung daran unterdrückt, wie diese Telefonate zu enden pflegten.
»Vater hat erzählt, morgen wäre es soweit.«
»Ja.«
»Zuckermaus«, wiederholte sie. »Dein Vater hat das Ganze mit Mr. Winslow arrangiert, und ich brauche dich vermutlich nicht daran zu erinnern, wie großzügig sie sind.«
»Nein, brauchst du nicht«, gab ich zurück und merkte, wie sich in mir die Stacheln aufstellten. Keine Ahnung, wie Birch meinen unfreundlichen Vater davon überzeugt hatte, dass ich meine drei Monate Frondienst im Geschäft nicht abzuleisten brauchte, jedenfalls hatte es funktioniert, wofür ich unendlich dankbar war. Trotzdem fand ich die Andeutung, mein Vater wäre es gewesen, der »das Ganze arrangiert« hatte, an der Grenze zur Beleidigung, da er nur sehr widerstrebend zugestimmt hatte. Augenblicklich wurde ich wieder daran erinnert, dass meine Mutter sich immer auf seine Seite schlug, sogar wenn (besonders wenn) ihr noch der rosa Abdruck seiner Hand im Gesicht brannte. Meine Augen folgten dem verschlungenen Muster von Evs Teppich.
»Hast du ein Mitbringsel für die Gastgeberin? Kerzen vielleicht? Seife?«
»Mom.«
Als sie die Schärfe meiner Stimme hörte, blickte Ev auf. Lächelnd schüttelte sie den Kopf und wandte sich wieder der Zeitschrift zu.
»Mr. Winslow hat deinem Vater gesagt, da oben gäbe es keine Verbindung.«
»Was für eine Verbindung?«
»Na, du weißt schon, kein Handy und kein Internet.« Meine Mutter wirkte ein wenig aufgebracht. »Das ist ja wohl eine der Regeln in unserer Familie.«
»Okay«, sagte ich. »Du, Mom, ich muss jetzt –«
»Wir müssen uns also schreiben.«
»Gut. Tschüss, Mom.«
»Warte.« Ihre Stimme klang auf einmal bestimmt. »Es gibt noch etwas, was ich dir sagen muss.«
Gedankenverloren fiel mein Blick auf einen kräftigen Riegel, der innen an Evs Schlafzimmertür angebracht war. In den zwei Wochen, seit ich in diesem Zimmer schlief, war er mir nicht weiter aufgefallen, aber jetzt fing ich doch an, mich darüber zu wundern, wie stabil er aussah: Warum in aller Welt konnte ein Mädchen wie Ev Interesse daran haben, irgendeinen Aspekt ihres perfekten Lebens auszusperren? »Ja?«
»Noch ist es nicht zu spät.«
»Wie meinst du das?«
»Du kannst deine Meinung noch ändern. Wir würden uns sehr freuen, dich zu Hause zu haben. Das weißt du ja, oder?«
Ich prustete beinahe laut los. Aber dann dachte ich an ihren angebrannten Hackbraten, der einsam und allein in der Tischmitte stand, und nur mein Vater war da, um ihn mit ihr zu essen. Schlaffe grüne Bohnen in braunem Saft aus der Mikrowelle. Rum und Cola. Es brachte nichts, ihr meine neu gewonnene Freiheit auf die Nase zu binden. »Ich muss jetzt Schluss machen.«
»Eine Sache noch.«
Ich musste mich sehr beherrschen, das Gespräch nicht wutentbrannt zu beenden. Ich war ja wohl liebenswürdig zu ihr gewesen, oder etwa nicht? Ich hatte ihr jetzt lang genug zugehört. Wie sollte ich ihr jemals klarmachen, dass mir Winloch ohne Handy und Internet im Vergleich zu diesem Gespräch mit ihr, das mit allem beladen war, dem ich zu entkommen versuchte, geradezu paradiesisch vorkam?
Ich merkte, wie sie nach den richtigen Worten suchte, während nur ihr lauter Atem in der Leitung zu hören war. »Sei lieb«, sagte sie schließlich.
»Lieb?« Ich spürte, wie sich ein Kloß in meiner Kehle bildete. Ich wandte Ev den Rücken zu.
»Sei du selbst, meine ich. Du bist ein lieber Mensch, Zuckermaus. Das hat Mr. Winslow auch zu deinem Vater gesagt. Du bist ein ›Juwel‹, hat er gesagt. Und, na ja …« Sie machte eine Pause; ich merkte, wie ich gegen meinen Willen nach ihren Worten gierte. »… ich wollte nur, dass du weißt, dass ich das auch denke.«
Wie schaffte sie es bloß, bei mir in Sekundenschnelle Selbsthass auszulösen? Mich daran zu erinnern, dass ich das, was ich getan hatte, nie ungeschehen machen konnte? Der Kloß, den ich in der Kehle hatte, drohte mir die Luft abzuschnüren. »Ich muss jetzt wirklich Schluss machen.« Ich legte auf, bevor sie protestieren konnte.
Aber es war zu spät, ich konnte nichts dagegen tun, und die Tränen flossen heiß und zornig.
»Mütter sind einfach miese Zicken«, sagte Ev einen Augenblick später.
Ich drehte ihr den Rücken zu und versuchte, mich wieder zu fassen.
»Weinst du etwa?« Sie klang entsetzt.
Ich schüttelte den Kopf, aber sie merkte es trotzdem.
»Armes Mäuschen«, tröstete sie mich mit samtweicher Stimme, und bevor ich wusste, wie mir geschah, hielt sie mich in den Armen und drückte mich an sich. »Ist schon gut. Vergiss den ganzen Mist, den sie zu dir gesagt hat. Scheiß drauf.«
Ich hatte mich Ev bisher noch nie verletzlich gezeigt, weil ich mir sicher gewesen war, dass sie mich nicht würde trösten können. Doch sie hielt mich ganz fest und redete besänftigend auf mich ein, bis meine Tränen versiegten.
»Sie ist einfach – sie ist nicht –, ich habe einfach nur Angst, so zu werden wie sie«, brachte ich schließlich heraus, etwas, das ich noch nie laut ausgesprochen hatte.
»So gesehen haben deine und meine Mutter etwas gemeinsam, auch wenn es absolut das Einzige ist.« Ev lachte, hielt mir ein Taschentuch hin und dann einen Pullover aus einer der Tüten auf dem Boden, azurblau und kuschelig weich: »Zieh den an, Süße. In Kaschmir sieht die Welt gleich anders aus.«
Jetzt blickte ich über den verlassenen Bahnhof von Plattsburgh hinweg und war trotz Evs schlechter Laune von nachsichtiger Liebe erfüllt.
»Sei lieb«, hatte meine Mutter mich ermahnt.
Ein Befehl.
Eine Warnung.
Ein Versprechen.
Lieb sein konnte ich. Jahrelang war ich das sanftmütige, unschuldige Mädchen mit den großen Augen gewesen, und wenn ich ganz ehrlich sein soll, war das oft weniger anstrengend als die Alternative. Sogar wenn ich jetzt daran dachte, wie die Freundschaft zwischen Ev und mir entstanden war, war mir natürlich klar, dass mein Liebsein den Grundstein dafür gelegt hatte – wäre ich nicht lieb gewesen, hätte ich nie die Hand nach der schluchzenden Ev ausgestreckt.
Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendjemand auf dem Weg war, um uns abzuholen. Evs Groll hatte sich in völlige Passivität verwandelt. Es würde bald dunkel werden. Ich ging ein Stück die Gleise entlang in Richtung eines stetig wiederkehrenden metallischen Hämmerns, das ich die letzte halbe Stunde über gehört hatte.
»Wo willst du hin?«, rief Ev mir hinterher.
Ich kam mit einem zahnlosen, mürrischen Bahnarbeiter in schmierigen Arbeitshosen wieder. Er ließ uns in die kleine Bahnhofsvorsteherstube, bevor er sich wieder trollte.
»Hier ist wenigstens ein Telefon«, sagte ich.
»In ganz Winloch gibt es nur im Speisesaal ein Telefon, und da ist um diese Uhrzeit niemand«, fauchte sie, aber sie wählte die Nummer trotzdem. Es klingelte immer und immer wieder, und gerade als ich die Hoffnung aufgeben wollte, sah ich durch das spinnwebverhangene Fenster einen roten Ford-Pick-up vorfahren, auf dessen Pritsche ein schwanzwedelnder gelber Labrador stand.
»Evie!« Ich hörte die Stimme, bevor ich den Mann selbst sah. Er klang jung und enthusiastisch. Als wir aus der Stube traten, kam er, die gebräunten Arme ausgebreitet – »Evie!« –, um die Ecke. »Ich bin so froh, dass ihr da seid!«
»Ich bin nur froh, dass du endlich da bist«, kanzelte sie ihn ab und stürmte an ihm vorbei. Er war groß und braungebrannt, seine Hautfarbe das Gegenteil von Evs, und sah nur ein paar Jahre älter aus. Dennoch hatte er etwas Erwachsenes an sich, als hätte er schon mehr erlebt als wir beide zusammen.
»Du bist ihre Freundin?«, fragte er, spielte mit seinem Basecap und sah ihr grinsend hinterher, während sie ihren Koffer zum Parkplatz schleppte.
Ich schob Das verlorene Paradies in meinen ausgebleichten Leinenbeutel. »Mabel.«
Johns viertüriger Pick-up war alt, aber offensichtlich sein ganzer Stolz, übertroffen nur von der Liebe zu seinem gelben Labrador, der bei unserem Anblick triumphierend von der Ladefläche herunterbellte. Ev mühte sich ab, ihren Koffer hinaufzuwuchten, bis John ihn mit einer Hand auf die Pritsche hob – in der anderen hatte er meinen Koffer. Er stellte beide neben den übermütigen Hund, der mittlerweile Evs Ohr leckte. »Abby, sitz«, befahl er, während er das Gepäck mit Riemen festzurrte. Der Hund gehorchte.
Ev stieg mit nach wie vor finster zusammengezogenen Brauen auf der Beifahrerseite ein. »Hier drin stinkt's.« Sie kurbelte das Fenster herunter, aber ich hatte trotzdem bemerkt, dass Abbys schlabbernde Liebkosung sie zum Lächeln gebracht hatte.
Ich drehte mich auf dem Rücksitz nach der Hündin um. »Das macht ihr nichts da draußen?«
John drehte den Schlüssel im Zündschloss um. »Hier drin würde sie anfangen zu jaulen.« Als der Motor grummelnd ansprang, zögerte seine Hand über dem Radio und fiel dann zurück aufs Lenkrad. Ich hätte gern Radio gehört, aber Ev hatte weiterhin auf Kaltfront geschaltet.
Die ersten zwanzig Kilometer fuhren wir schweigend über die von leuchtendem Grün beschirmte Landstraße. Ich drückte die Stirn an die Scheibe, um die frischen Ahornblättchen zu betrachten, die in der Brise schwankten. An jeder Biegung bot sich ein verlockender Ausblick auf die aufgewühlte Wasseroberfläche des riesigen Lake Champlain. Ich überlegte, welcher Bruder John wohl sein mochte. Er kam mir nicht unbedingt wie jemand vor, der dem Met ein Bild gestiftet hatte, und musste also der »Vollidiot« sein, den Ev erwähnt hatte – sie konnte ganz offensichtlich nichts an ihm leiden, nur Abby war eine Ausnahme.
»Willst du dich gar nicht entschuldigen?«, fragte Ev John, als wir uns in die Warteschlange an der Fähre einreihten, die uns von New York State hinüber nach Vermont bringen würde. Von einer Überfahrt hatte ich nichts geahnt und musste mich schwer zurückhalten, meine Begeisterung nicht zu zeigen, als der Schlickgeruch des Sees zu uns hochwehte. Hinaus aufs offene Wasser, das kam mir in diesem Augenblick genau wie das Richtige vor.
John lachte. »Wofür?«
»Wir haben zwei Stunden am Bahnhof rumgesessen.«
»Und ich habe zwei Stunden gebraucht, um herzukommen«, gab er sehr freundlich zurück und stellte Elvis an. Bisher hatte ich nur Männer kennengelernt, die angesichts von Evs Schmollmündchen sehr kleinlaut wurden.
Auf der Fähre stieg ich hinauf zum Passagierdeck. Es war ein klarer Abend. Der Himmel verfärbte sich orange und die Wolken loderten wie Feuer.
Ich war froh, dass ich John und Ev im Pick-up zurücklassen konnte, weil ich davon ausging, dass sie ein wenig Zeit für sich brauchten, um ihre Geschwisterstreitigkeiten auszubügeln. Ich schlug Das verlorene Paradies auf. Mein Gespräch mit der Collegepräsidentin bei Evs Geburtstagsfeier hatte mir einen Platz im eigentlich für ältere Studierende reservierten Milton-Seminar gesichert, und ich wollte das Buch bis Semesterbeginn einmal durchhaben, damit ich es dann unter Anleitung der Professorin, die mir hoffentlich sagen würde, was eigentlich genau drin stand, noch einmal lesen konnte. Der Text hätte allerdings genauso gut auf Chinesisch geschrieben sein können; die Blankverse enthielten Unmengen kursiv gesetzter Worte und ewige Endlossätze, aber ich wusste, dass es ein bedeutendes Buch war. Den Gedanken, etwas zu lesen, das so profund wie der Kampf zwischen Gut und Böse war, fand ich toll. Und ich konnte mich mit John Miltons Tochter identifizieren, die dem Diktat ihres blinden, brillanten Vaters folgen und alles für ihn niederschreiben musste. Das war meine Kindheit, nur glamouröser: Bei mir waren es statt kostbarer Worte anderer Leute schmutzige Kleider gewesen.
Doch gerade, als ich die erste Zeile wieder las – »Des Menschen erste Schuld und jene Frucht/Des strengverbotnen Baums« –, hörte ich es bellen, hob den Blick und sah John und Abby, die zu mir aufs Passagierdeck stiegen. Auf einem Schild neben ihnen stand HUNDE VERBOTEN, aber ein auf der Fähre arbeitender Mann tätschelte Abby den Kopf und schüttelte John die Hand, bevor er unter Deck verschwand. John trat hinaus in den böigen Fahrtwind und kam, eine Hand an Abbys Halsband, auf mich zu.
»Woher kommst du?«, überschrie er den tosenden Wind.
»Oregon.« Eine Möwe ließ sich an uns vorbeitragen. Die Haare wurden mir ins Gesicht gepeitscht. »Ev und ich kennen uns vom College.« Wir blickten zusammen hinaus aufs Wasser. Der See war so groß wie ein kleines Meer. Ich nahm den Finger aus dem Buch und sah den Seiten zu, die heftig flatterten, bevor sie von allein zuklappten.
»Hat Ev irgendwas?«, fragte ich.
Er ließ Abby los, die sich zu seinen Füßen hinlegte.
»Hat sie schlechte Laune wegen der Inspektion?«, angelte ich nach Informationen.
»Inspektion?«
»Die Inspektion von ihrem Ferienhaus, in sechs Tagen.«
John machte den Mund auf, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder.
»Was?«, fragte ich.
»An deiner Stelle würde ich mich aus dem ganzen Familienkram raushalten«, sagte er nach langem Zögern. »Versuch einfach, deinen Urlaub zu genießen.«
Ich war noch nie im Urlaub gewesen. Aus seinem Mund klang es wie ein schmutziges Wort.
»Du bist anders als die Mädchen, die Ev bisher mitgebracht hat«, fügte er hinzu.
»Wie meinst du das?«
Sein Blick folgte der Möwe. »Weniger Koffer.«
In dem Augenblick erschien Ev mit drei Domino-Eis in der Hand. Vermutlich ihre Version einer Entschuldigung.
Als wir wieder an Land und Winloch endlich nahe waren, vergaß ich sämtliche Sorgen um die Inspektion. Die Hot Dogs vom Imbiss waren fettig, die Moskitos blutdurstig und Ev immer noch verstimmt, aber wir waren zusammen in Vermont, auf einer Landstraße, die sich durch offenes Farmland schlängelte. Zwielicht umhüllte die Welt.
Wir tankten an der einzigen Tankstelle seit vielen, vielen Kilometern, und die windzerzauste Abby gesellte sich zu mir auf den Rücksitz, wo sie sofort ihren schweren Kopf auf mein Knie bettete und einschlief. Wir fuhren weiter, an einem verbarrikadierten Pferdestall, Schildern zu einem Weingut und einem verlassenen Eisenbahnwaggon vorbei, und als das letzte Licht schließlich von der Nacht geschluckt wurde, bogen wir auf einen zweispurigen Highway, der sich unter dem Sternenhimmel nach Süden entrollte. Irgendwann passierten wir einen langen, über offenes Wasser führenden Fahrdamm, so, wie ich mir die Florida Keys vorstellte, gleichzeitig rissen die Wolken auf. Der Mond erleuchtete ein gelbes Band auf dem See und ließ die Umrisse der Adirondacks dunkel vor dem lilaschwarzen Himmel hervortreten.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Ev. Erst dachte ich, sie spräche mit mir, aber sie wusste ja, wie es meiner Mutter ging und hatte mich noch am Vorabend ihretwegen trösten müssen.
John antwortete, während meine Gedanken sich noch überschlugen. »Wie immer.«
Aha, dachte ich. Er ist wohl doch nicht Evs Bruder.
Ich wollte, dass sie weiterredeten. Aber Ev stellte keine weiteren Fragen und wir überquerten den Damm schweigend.
Auf der anderen Seite des glitzernden Wassers empfing uns wieder völlige Finsternis. Die Straße, die bald zur Schotterpiste wurde, verschwand mit einem Mal im Wald. Birkenstämme leuchteten geisterhaft auf. Johns Scheinwerfer erhellten momenthafte Ausschnitte von Scheunen und Bauernhäusern. Er bretterte mit dem Wahnsinnstempo von jemandem, der die Strecke in- und auswendig kennt, um die Kurven. Ev kurbelte ihr Fenster wieder herunter, um die duftende Nacht hereinzulassen, und das sanfte Zirpen von Grillen umfing uns und wurde überwältigend laut, als wir auf eine riesengroße Lichtung im Wald kamen. Die milchige Laterne des Mondes begrüßte uns wieder.
Nach einer besonders rasanten Kurve – ich hörte, wie der Schotter unter den Reifen wegspritzte – verlangsamten wir das Tempo. »Wir sind da!«, jubelte Ev. Um uns war dichter Wald. An einen Stamm genagelt war ein kleines Schild, auf dem in handgemalten Lettern WINLOCH und PRIVAT stand. Unser Scheinwerferlicht fiel auf eine gefährlich aussehende, mit Warnhinweisen gepflasterte Piste: BETRETEN VERBOTEN! JAGEN VERBOTEN – ZUWIDERHANDLUNGEN WERDEN STRAFRECHTLICH VERFOLGT! MÜLL ABLADEN VERBOTEN. Das sah überhaupt nicht wie das großartige Anwesen aus, das Ev mir geschildert hatte. Das Rascheln des Laubs erinnerte mich an einen Vampirfilm, den ich einmal gesehen hatte. Ein Schauder lief mir den Rücken herunter.
Mit einem Schlag kam mir der Gedanke, dass meine Mutter wahrscheinlich recht gehabt hatte: Ev hatte mich nur hierher in die Einöde gebracht, um mich jetzt am Straßenrand abzuladen und mir einen grausamen Streich zu spielen, so ähnlich wie damals Sarah Templeton in der sechsten Klasse, die mich zu ihrem Geburtstag eingeladen hatte, nur um mich dann in dem Augenblick, als ich bei ihr vor der Tür stand, wieder auszuladen – vor den Augen unserer Klassenkameradinnen –, ich sei »zu dick, um in die Achterbahnsitze zu passen«. Der Zweifel, den meine Mutter in mir gesät hatte, begann in mir zu wachsen – ich war eine Närrin, dass ich geglaubt hatte, Ev hatte mich wirklich für einen vergnügten Sommerurlaub zum Feriensitz ihrer Eltern gebracht.
Aber Ev lachte befreiend, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Gott sei Dank bist du da«, sagte sie, und die Wärme ihrer Stimme und die Weichheit des azurblauen Kaschmirpullis brachten mich wieder zu Sinnen.
John stellte wieder das Radio an. Country. Der Wald schluckte uns, während ein Mann sein gebrochenes Herz beweinte.
Einmal bremsten wir unvermittelt. Ein Waschbär stand mit erhobenen Vorderpfoten und im Scheinwerferlicht gleißenden Augen mitten auf dem Weg und wartete darauf, dass wir ihn anfuhren. Aber John stellte Licht und Radio aus, und wir saßen mit leise grollendem Motor da, während das Tier mit seinem kurios gemusterten Fell im Unterholz verschwand.
Wir kamen an einem Grüppchen unbeleuchteter Ferienhäuser vorbei, dann an Tennisplätzen und schließlich einem großen, imposanten Gebäude, das weiß im Mondlicht leuchtete. Wir bogen rechts auf eine Seitenstraße ab – eigentlich müsste man sie richtiger als Waldweg bezeichnen –, auf der wir uns noch vierhundert Meter hielten, bevor an ihrem Ende ein kleines Häuschen in Sicht kam.
»Hunde sind verboten, aber für Abby mache ich eine Ausnahme«, bot Ev an, als John vor dem Cottage anhielt.
»Abby braucht keine Extrawurst.«
»Ist keine Extrawurst«, gab sie zurück, wobei sie John in die Augen sah.
Er führte Abby zum Pinkeln in den Wald. Die Nacht überwältigte uns: das rhythmisch dröhnende Zirpen der Grillen, das Plätschern der unsichtbaren Wellen. Der Mond versteckte sich hinter einer Wolke. Hinter uns spürte ich eine große Fläche, die der See sein musste.
»Was müssen wir denn bis zur Inspektion alles machen?«, fragte ich Ev leise.
»Das Häuschen bewohnbar machen. Jetzt haben wir nur noch sechs Tage, bis meine Eltern kommen, und ich weiß noch nicht mal, in was für einem Zustand die Bruchbude ist.«
»Und was ist, wenn wir das so schnell nicht schaffen?«, bohrte ich.
Ev legte den Kopf schief. »Keine Sorge, Miss Mabel.« Sie sah mir in die Augen. »Wir müssen nur ein bisschen saubermachen. Damit alles wieder tipptopp aussieht.«
Der Mond trat hinter den Wolken hervor. Ich betrachtete das alte Cottage vor uns – ein nicht zu entzifferndes Schild war daran genagelt, das mit dem Buchstaben B begann. Im fahlen Licht wirkte das Holzhäuschen heruntergekommen und altersschwach. Ich hatte das Gefühl, dass wir mit sechs Tagen lange nicht hinkommen würden. »Und wenn wir das nicht schaffen?«
»Dann ziehe ich zu meiner Mutter, der Hexe, und du kannst den Sommer in Oregon verbringen.«
Als ich meine Augen an jenem ersten Morgen in dem Häuschen aufschlug, das den seltsamen Namen Bittersweet trug, tanzten die Schatten von Zweigen zum Takt des Gluckerns unten aus der Bucht über die weiße Holzdecke. Aus dem Fenster sah ich einen Kleiber am Stamm einer Rotkiefer hinauflaufen und vor Freude über sein Würmerfrühstück zwitschern. Die Luft von Vermont war kühl und ich war allein.
Die Ankunft in völliger Dunkelheit hatte für einen enttäuschenden ersten Eindruck gesorgt, der durch die drohende Inspektion und mein Schicksal im Falle unseres Versagens noch weiter getrübt wurde. Im Haus selbst hatte ich auf den ersten Blick nur tropfende Wasserhähne und schäbige, bunt zusammengewürfelte Möbel gesehen; über allem hing ein modriger Schimmelgeruch. Es hatte nach viel Arbeit ausgesehen.
Doch jetzt am Morgen, als ich die glänzenden Messingbetten, gestärkten Bettbezüge und den Duft von Kaffee aus der Küche wahrnahm, sah alles ganz anders aus. Ich war an einem friedlichen, ländlichen Ort gelandet, einem Ort mit Baguettes und rosa Grapefruits und tropfenden Honigwaben auf dem Brötchen, idyllisch und sonnendurchflutet auf eine Art, die ich noch nie kennengelernt, mir aber seit Ewigkeiten erträumt hatte.
Evs Bett, das genau wie meines aussah, war leer und die zerwühlte Daunendecke zur Seite geschoben. Sonnenstand und Vogelgesang nach zu schließen konnte es nicht später als acht Uhr sein. In den neun Monaten, die ich nun mit Ev zusammenwohnte, hatte ich sie noch nie vor zehn aufstehen sehen. Ich rief zweimal nach ihr, erhielt aber keine Antwort. Ich fragte mich, wo sie sein mochte, bevor ich mich wieder in die Federn sinken ließ, die Augen zumachte und erfolglos den süßen Schlaf zurückzulocken versuchte.