Bittet nicht um Gnade - Claire McGowan - E-Book

Bittet nicht um Gnade E-Book

Claire McGowan

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Beschreibung

Die forensische Psychologin Paula Maguire ringt mit allerlei persönlichen Problemen. Doch als sie gebeten wird, in einem grausamen Fall in ihrer Heimatstadt in Nordirland zu ermitteln, muss sie ihr eigenes Leben hintanstellen. Ein Neugeborenes wurde aus dem Krankenhaus entführt. Kurz darauf findet man die verstümmelte Leiche einer jungen Frau in einem Steinkreis – sie war schwanger, doch von dem Kind fehlt jede Spur. Das Ermittlungsteam um Maguire steht vor einem schrecklichen Rätsel. Doch niemand kann ahnen, dass die Antworten in Paulas eigener Vergangenheit zu finden sind, und dass sie die Nächste auf der Liste des Killers ist ...

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Seitenzahl: 584

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Buch

Die forensische Psychologin Paula Maguire ringt mit allerlei persönlichen Problemen. Sie ist schwanger und weiß nicht, ob das Kind von ihrem Chef oder ihrer Jugendliebe stammt. Doch als sie gebeten wird, in einem grausamen Fall in ihrer Heimatstadt Ballyterrin in Nordirland zu ermitteln, muss sie ihr eigenes Leben hintanstellen. Ein Neugeborenes wurde aus dem Krankenhaus entführt. Kurz darauf findet man die verstümmelte Leiche einer jungen Frau in einem Steinkreis – sie war schwanger, doch von dem Kind fehlt jede Spur. Das Ermittlungsteam um Maguire ist schockiert von der Grausamkeit des Täters. Als eine weitere schwangere Frau angegriffen wird, ist sich Paula sicher, dass es sich bei dem Mörder um eine Frau handelt – eine verzweifelte Frau, die ein Kind möchte? Doch niemand kann ahnen, dass die Antworten in Paulas eigener Vergangenheit zu finden sind und dass sie die Nächste auf der Liste des Killers ist …

Autorin

Claire McGowan wuchs in einem Dorf in Nordirland auf. Nach einem Studium der englischen und französischen Literaturwissenschaft an der Universität Oxford verbrachte sie einige Zeit in Frankreich und China und arbeitete im Wohltätigkeitssektor. Derzeit ist sie die Leiterin der britischen Crime Writers’ Association und lebt als freiberufliche Autorin in London.

Außerdem von Claire McGowan bei Goldmann lieferbar:

Am Rande des Abgrunds. Thriller ( auch als E-Book erhältlich)

Denn niemand wird dich finden. Thriller ( auch als E-Book erhältlich)

Claire McGowan

Bittet

nicht um Gnade

Thriller

Übersetzt von

Robert Brack

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»The Dead Ground«

bei Headline Publishing Group, London.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2015

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Claire McGowan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: plainpicture/Reilika Landen; FinePic®, München

Redaktion: Sandra Lode

MR · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-15515-5

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz:

Für Stav Sherez,

il miglior fabbro

Prolog

Ballyterrin, Nordirland, 1993

Es beginnt mit der kleinsten Sache der Welt: deinem Herzschlag. Wenn alles um dich herum ein einziger Horror ist, konzentrierst du dich ganz darauf. Auf den Puls. Das Leben. Du konzentrierst dich darauf und machst einfach weiter.

So sollte es natürlich nicht sein. Ein Anruf erfüllt dich mit Schrecken, und du weißt nicht, warum. Seit 1972 bist du nun Polizist, du hast die schlimmste Zeit des Nordirlandkonflikts miterlebt. Du hast Dinge gesehen, die deine grausigsten Albträume in den Schatten stellten. Ein Kind, das in einem Schnellimbiss in die Luft gejagt wurde – das Geld für den Tee befand sich noch in der abgerissenen Hand auf dem Fußboden. Eine Schießerei in einem Pub – überall zersplittertes Glas und Gehirnmasse, und aus der Musikbox dröhnte immer noch Country-Musik. Eine Frau, die von einer Brandbombe getroffen wurde und deren Haut ihr wie ein Schal vom Körper hing. Ja, du hast viel gesehen, mehr als du je glaubtest ertragen zu können. Das Leben ging trotzdem weiter. Entweder leben oder sterben. Aber das hier jetzt, das ist etwas, bei dem dir vor Angst richtig schlecht wird.

Der Anruf kommt in den frühen Morgenstunden, wie immer bei den schlimmsten Nachrichten. Nach so vielen Jahren bist du schlagartig hellwach und gehst sofort ran, damit Margaret nicht davon aufwacht. Aber sie rührt sich nie. Ihr Rücken neben dir ist wie eine unbewegliche Wand. Dann stehst du auch schon da und ziehst hastig deine Hose an. Draußen ist es stockdunkel. Vor der Tür zum Zimmer deiner Tochter hältst du kurz inne, hörst ihre regelmäßigen, tiefen Atemzüge. Lieber Gott, bitte lass sie einfach weiterschlafen und nie etwas davon erfahren. Um deine Frauen nicht aufzuwecken, ziehst du deine Stiefel erst unten am Fußende der Treppe an, im Mund ein trockenes Stück Toast. Du trinkst deinen Tee viel zu schnell und verbrennst dir dabei den Mund. Den ganzen Tag wirst du immer wieder mit der Zunge diese wunde Stelle an deiner Lippe berühren.

Am oberen Ende der Treppe bewegt sich etwas. Margarets Gesicht hebt sich bleich von ihrem verstrubbelten roten Haarschopf ab. Ihre Stimme klingt müde. »Was ist es diesmal?«

Du kannst es ihr nicht sagen. Möge Gott dir helfen. Du kannst ihr nicht sagen, dass ein Mann in einem Sumpf in Louth gefunden wurde, ein kleiner Ganove, dem sie den Hinterkopf weggeschossen haben, und dass du nun zu irgendeiner Farm fahren musst, um seiner Frau die schlechte Nachricht zu überbringen. Du kannst es ihr nicht sagen. Es ist Margarets schlimmster Albtraum, dass dir das Gleiche zustoßen könnte, dass du eines Tages nicht mehr nach Hause kommst. Seit Jahren schon bearbeitet sie dich, du sollst deinen Job aufgeben und dir was anderes suchen. Aber was sollte das sein? Was gibt es denn sonst noch zu tun? »Geht früh los heute«, murmelst du vor dich hin. »Bis später, Liebling.«

Sie steht noch kurz da, als wolle sie etwas sagen, dann wendet sie sich ab. Das ist das Letzte, was du von ihr siehst, dieses bleiche ovale Gesicht, das dort oben über dem Geländer schwebt. Später, wenn sie ganz verschwunden ist, wirst du versuchen, dieses Bild festzuhalten, ihr Gesicht in der düsteren Ungewissheit dieses Morgens, ihre trockene, brüchige Stimme, und wie sie sich abwendet, ein für alle Mal, und im Dunkeln verschwindet.

Du fährst durch verlassene Straßen, der winterliche Nebel hebt sich bereits, dein Atem dampft in der Kälte. Es ist Oktober, und bis acht Uhr wird es noch dunkel bleiben. Die Straße, die zur Farm führt, liegt schwarz vor dir, im Osten färbt sich der Himmel langsam rot. Roter Himmel am Morgen macht dem Schäfer Sorgen. Das wird deine Tochter sagen, wenn sie in einer Stunde aufsteht, um zur Schule zu gehen. Sogar die Tiere scheinen noch zu schlafen. Auf den schwarzen taubenetzten Äckern ist nur wenig Bewegung zu sehen. Bob Hamiltons Wagen steht schon in der Einfahrt, neben ihm sitzt ein nervöser junger Constable.

Bob steigt aus, stampft mit den Füßen, und sein Atem kondensiert zu weißen Wölkchen. Er ist jetzt Sergeant und lässt das gern alle spüren. Natürlich wurde er befördert. Natürlich wurde der loyale protestantische Orangeman Bob dir vorgezogen, du bist ja einer von diesen schwierigen Katholiken. Daran hat es nie Zweifel gegeben. Und es gibt auch keinen Grund, sich darüber aufzuregen.

Auf der anderen Seite des Innenhofs lehnt Mick Quinn von der Garda Síochána an seinem verbeulten Ford, der Beamte, der dich vorhin angerufen und die schlechte Nachricht überbracht hat. Er parkt ein Stück entfernt, als gäbe es hier eine unsichtbare Frontlinie, und bläst den Rauch seiner Zigarette in die eisige Morgenluft. Er arbeitet jenseits der Grenze im Süden, wo die Leiche des Mannes entdeckt wurde. Dein Einsatzbereich erstreckt sich bis dorthin, alles fließt ineinander, und diese frühmorgendlichen Anrufe kommen leider viel zu oft vor.

Mick ist ein großer, gutaussehender Mann, immer bester Laune, aber an diesem Morgen ist er bleich wie ein Laken. »Hallo, PJ.«

»Hallo, Mick. Gehen Sie rein?«

»Bin nicht zuständig, mein Lieber. Das müssen Sie durchziehen.«

Formell betrachtet seid ihr hier im Norden, also ist es deine Sache. Aber es wäre dir lieber, dieser Ire würde dich dabei begleiten als der dämliche Bob mit seiner roten Visage und seinem mürrischen Blick. Von dem Constable gar nicht zu reden, der noch grün hinter den Ohren ist und aussieht, als würde er jeden Moment in seine Mütze kotzen. Du gehst zu ihnen rüber.

»Haben Sie geklopft?«

Bob schüttelt den Kopf. »Keine Antwort.«

»Ist sie nicht zu Hause?«

»Nein, es ist …« Bob zögert. »Ihre Schwester hat versucht, sie anzurufen. Dann hat sie sich bei uns gemeldet, um mitzuteilen, dass niemand rangeht. Deshalb wollte sie, dass wir herkommen.«

Herrgott. »Wann war das?«

Er zögert. »Vor drei Tagen.«

»Sie ist seit drei Tagen allein hier? Was haben sie mit ihr gemacht?« Du weißt, dass ihr Mann von der IRA getötet wurde. Alles weist darauf hin. Vielleicht war er ein Verräter oder ist ihnen bei ihren Drogen- und Waffengeschäften ins Gehege gekommen. Vielleicht hat er sich auch einfach nur mit der falschen Person angelegt. So was kommt andauernd vor. Aber die Frau. Die müssen was sehr Schlimmes mit ihr gemacht haben, wenn sie seit drei Tagen nicht ans Telefon geht.

Dein Herz beginnt zu pochen. Konzentrier dich jetzt. »Wir müssen da rein.«

»Da wäre noch was.«

»Was denn?« Zum Donnerwetter, spuck es endlich aus, Bob. Hinter diesen dunklen Fenstern ist eine Frau, und was auch immer sie mit ihr gemacht haben, sie kann jedenfalls nicht mal mehr die Anrufe ihrer Schwester entgegennehmen. Und sie wissen das schon seit drei Tagen, drei vollen Tagen, bevor die Leiche ihres Mannes im Sumpf gefunden wurde, aber niemand hat etwas unternommen.

»Sie ist schwanger. Im siebten Monat, sagt die Schwester.«

Konzentrier dich.

Ein paar geschickt angesetzte Tritte, und die Tür gibt nach. »Himmelherrgott!«

Bob zuckt wegen deines blasphemischen Ausrufs zusammen, aber dann wird auch er bleich. Der Constable übergibt sich in ein Blumenbeet. Du hältst dir die Nase zu. Es riecht so, wie man es nach drei Tagen erwarten würde. Blut und Urin und irgendwas Schlimmeres, ein grauenhafter fleischiger Gestank, der dich geradezu anspringt und zu packen versucht.

»Mrs Rourke?« Du betrittst den Teppich im Hausflur, an dessen Wänden Familienbilder hängen. Hochzeitsfotos. Lächelnde Gesichter. »Hallo?« Du gehst ins Wohnzimmer, bemerkst die dort herrschende Unordnung, die umgeworfenen Stühle, den Fernseher, der mit einem Stiefeltritt zerstört wurde. Die Küche ist klein und geht vom Wohnzimmer ab, getrennt durch eine Milchglastür. Auf der anderen Seite kannst du etwas sehen, dunkle Umrisse. Der Gestank kommt von dort.

Ihr bleibt alle drei stehen, du, Bob und der arme Constable, der gerade mal zwanzig ist. Kevin heißt er. Ist erst seit einem Monat dabei. Du bleibst stehen, und dir wird klar, dass du derjenige sein wirst, der die Tür öffnet, um nachzuschauen, was auf der anderen Seite ist. Du gehst auf sie zu.

Zuerst sieht es aus wie eine zerhackte Fleischmasse. Deine Füße rutschen über den glitschigen, schmierigen Blutfilm, der den Linoleumboden überzieht. Im Raum scheint kein Sauerstoff mehr vorhanden zu sein. Es ist so kalt hier, dass du deinen Atem in der verpesteten Luft siehst. Du beugst dich zu der Leiche hinunter, oder was von ihr noch übrig ist. »Mrs Rourke?«

Sie ist tot. Es kann nicht anders sein, das ganze Blut – ihr zerschlagenes Gesicht ist ein rötlicher Brei aus Fleisch, ihre Kleider sind vollgesogen und schwarz. Und ihr Bauch – oh Jesus, nein, das ist noch viel schlimmer. Dieses Knäuel aus Haut und Blut auf ihrem Unterleib, das ist ihr Kind.

Das Baby ist violett angelaufen, seine kleinen Augen sind geschlossen. Es ist noch immer durch die bläulich verfärbte Nabelschnur mit der Mutter verbunden. Völlig erschöpft liegt es auf dem zerschundenen Bauch. Die Nägel der einen Hand der Frau sind blutverkrustet, man kann erkennen, dass sie versucht hat, sich in die eigene Haut zu krallen. Die andere Hand hängt über ihrem Kopf, mit einer Handschelle an den Griff einer Schublade gefesselt. Du siehst, was hier passiert ist. Sie wurde geschlagen und war dann drei Tage lang in der Küche eingesperrt. In dieser Zeit hat sie das Baby bekommen, und es war niemand da, niemand, der ihr helfen konnte. Neben ihr liegt ein blutiges Messer, und du siehst, was sie getan hat, als sie versuchte, das Kind aus dem Gefängnis ihres eigenen Körpers zu befreien. Ein kleines Mädchen. Du möchtest das kleine Ding unter deine Jacke stecken.

»Kevin!« Du rufst nach dem Constable. »Komm nicht hier rein, Junge. Sieh nicht her! Hol Mick – ruf einen Krankenwagen. Hier sind eine tote Frau und ein totgeborenes Kind …«

Du hörst ein Geräusch und drehst dich um. Auf den zerschlagenen Lippen der Frau bilden sich Bläschen. »Mrs Rourke? Oh Gott, ich glaube, sie …«

»Nein … Nein …« Die freie Hand tastet nach dem Baby. »Nicht tot, nicht …«

»Es tut mir leid, es ist nicht mehr …«

Die Frau bäumt sich für einen kurzen Moment auf und fällt dann wieder zurück in die blutige Pfütze. Ihre Hand rutscht vom blutbeschmierten Kopf des Babys, und du suchst an ihrem feuchten Hals nach dem Puls. Nichts. Nichts. Dein eigenes Herz schlägt in deiner Brust und erinnert dich daran, dass du noch lebst und dass du diese blutbesudelte Küche mit den Resopalschränken nicht mehr vergessen wirst bis zu dem Tag, an dem auch du dich zum Sterben hinlegst.

Du warst dir sicher, dass die Frau sterben würde. Wie hätte es auch anders sein können? Sie hat tagelang in dieser eiskalten Küche gelegen und ist verblutet. Schon allein der Flüssigkeitsverlust hätte sie umbringen müssen. Dann wäre sie wieder mit diesem traurigen kleinen Ding vereint, das sie geboren hat. Aber jetzt wartest du schon seit Stunden im Krankenhaus, und keiner ist mit dem Totenschein zu dir gekommen, damit du ihn unterschreibst. Du fragst dich, ob Margaret recht hat und sich in dir etwas verhärtet hat und ebenfalls gestorben ist.

Bob ist wieder zur Dienststelle gefahren, um mit den Ermittlungen zu beginnen. Niemand wird eine bestimmte Gruppe beschuldigen. Niemand wird etwas gesehen haben. Und in den Häusern, die du aufsuchen wirst, werden sie deinen katholischen Namen hören und dich vorwurfsvoll ansehen, was unausgesprochen heißt: Verräter, Kollaborateur, legitimes Ziel. Die Polizei kann schon froh sein, dass sie die Leiche des Ehemanns überhaupt gefunden hat, und die Dinge stehen weiß Gott schlecht, wenn man sich über eine halb kopflose Leiche freut, weil man dann keinen neuen Namen auf die Liste der Vermissten setzen muss. Du weißt genau, wie es für Brian Rourke gewesen ist. Seine schwangere Frau wurde zusammengeschlagen, sein Haus verwüstet, sie verbanden ihm die Augen und brachten ihn raus zum Wagen. Er hörte seinen eigenen Atem. Er wurde an einen abgelegenen Ort gebracht. Er musste durch die Dunkelheit gehen, sich auf den Boden knien, und dann wurde ihm in den Hinterkopf geschossen. Und auch sie wird jetzt tot sein. Die ganze Familie wurde in einer einzigen Nacht ausgemerzt.

Aber während du da sitzt, mit deiner Mütze in der Hand, und zusiehst, wie die Zeiger der Uhr sich langsam vorwärtsbewegen, kommt eine Ärztin aus dem OP. Alle im Wartezimmer schauen hoffnungsvoll auf, aber sie geht auf dich zu. Eine Frau im blauen OP-Anzug, müde und erschöpft. Auf ihrem weißen Kittel sind blutige Handabdrücke zu erkennen – ihre eigenen oder die von jemand anderem?

»DC Maguire?« Sie reibt sich die Augen hinter den Brillengläsern. »Das Kind ist leider tot, wie Sie vermutet haben. Es war wohl eine Totgeburt – die Mutter wurde geschlagen, und das hat die Sache in Gang gebracht.« Du nickst und erwartest als Nächstes: »Und wir haben alles für die Mutter getan, doch leider …«

»Sie wird jetzt noch keine Fragen beantworten können, aber wenn sie aufwacht, können Sie eine Identifikation versuchen. Sie muss die Täter gesehen haben, auch wenn sie Sturmhauben getragen haben.«

»Sie lebt?«

Die Ärztin nickt müde. »Ich weiß nicht, wie das möglich ist, aber es ist so. Wir denken, dass das Kind gestern geboren wurde. Sie muss bemerkt haben, dass es ihm schlecht ging wegen der Schläge, und sie hat versucht – nun ja, sie hat wohl versucht, sich selbst einen Kaiserschnitt beizubringen. Es hätte vielleicht sogar geklappt, wenn Sie früher dort gewesen wären. Ich glaube, sie hatte eine medizinische Ausbildung. Es war sehr grob durchgeführt, aber genau an der richtigen Stelle.«

Du denkst an dein eigenes Kind, das zu Hause in Sicherheit ist. Lieber Gott, bitte lass es in Sicherheit sein. Dein eigenes Kind, das rot und zappelnd geboren wurde wie ein junger Hund. »Kann sie noch mal eins bekommen?«

»Ich fürchte nicht.« Die Ärztin – Dr. Alison Bates steht auf ihrem Schild, was kein Name von hier ist, und ihr Akzent ist auch nicht von hier, sie muss wohl aus England stammen – fügt hinzu: »Die Blutungen waren zu stark, deshalb musste ich die Gebärmutter entfernen. Aber sie wird durchkommen.«

»Weiß sie es?«

Die Ärztin zögert. »Ich habe es ihr gesagt, aber sie ist sehr benommen. Sie – nun ja, wir mussten sie ruhigstellen. Sie war sehr verzweifelt. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.«

Die Ärztin lässt sich auf den Platz neben dir fallen und bleibt einen Moment lang dort sitzen. Eine kleine Frau mit dunklen Haaren. Sie sackt kurz in sich zusammen.

»Sie lebt.« Du kannst es einfach nicht glauben. Und einen Augenblick lang fragst du dich, ob es anders nicht besser gewesen wäre. Wenn es zu Ende gegangen und sie wieder mit ihrem Kind und ihrem Mann vereint wäre. An so etwas würdest du jetzt gerne glauben, aber in diesen Zeiten bist du dir da nicht mehr ganz sicher.

»Ja.« Die Ärztin fährt sich mit der Hand übers Gesicht. An ihren kurz geschnittenen Fingernägeln klebt getrocknetes Blut. »Ja.«

Aber es fühlt sich für euch beide nicht wie ein Erfolg an, obwohl ihr um ihr Leben gekämpft habt. Dann ertönt der Pieper der Ärztin, sie springt auf, flucht leise vor sich hin und läuft in den Korridor zurück, wo schon wieder viel los ist. Ihre Füße machen ein lautes rhythmisches Geräusch auf dem gefliesten Boden, und dann ist sie verschwunden.

Da du nicht weißt, was du sonst tun sollst, gehst du nach Hause. Jeder Zentimeter deines Körpers ist erschöpft und steif, das Blut der Frau klebt noch an dir, und du hast noch immer den Geruch der Küche dieser Farm in der Nase. Du siehst noch immer das Baby vor dir, seine fleckige violette Haut, etwas, das das Licht der Welt noch nicht erblicken sollte, wie ein Vogel, der zu früh aus dem Nest gefallen ist. Zur Unzeit herausgerissen – fällt dir dazu ein, ein Zitat aus den Hausaufgaben deiner Tochter. Sie nimmt gerade Macbeth in Englisch durch, und das passt: zur Unzeit herausgerissen.

Du parkst deinen Volvo vor dem Haus und stellst erstaunt fest, dass die Vorhänge nicht zugezogen sind. Es ist sechs Uhr abends und längst schon dunkel. Margaret hasst es, wenn die Vorhänge offen sind und »die Leute dir zugucken können«. Du schließt die Tür auf. Deine Tochter sitzt in ihrer braunen Schuluniform am Tisch, kaut an ihrem Füller in dieser für Teenager typischen abwesenden Art und hat die Schulsachen um sich herum verteilt. Ihre roten Haare sind verstrubbelt, und dir fällt auf, dass sie weder das Radio noch den Fernsehapparat eingeschaltet hat, was ihr gar nicht ähnlich sieht. »Wo ist deine Mutter?«

In der Küche ist es kalt, kein Abendessen im Ofen. »Paula?«

Deine Tochter schaut dich an, und zum zweiten Mal an diesem Tag merkst du, wie dir schlecht wird. »Sie war nicht da«, sagt Paula und ist kurz davor, in Panik auszubrechen, jene Panik, die sie offenbar niederkämpft, seit sie nach Hause gekommen ist. »Ich dachte, du wüsstest was. Ich dachte, du wüsstest vielleicht, wo sie ist.«

Dein Herz, denkst du ganz irrational. Konzentrier dich auf dein Herz. Es pocht in deiner Brust und klingt wie die Füße der Ärztin, die durch den Korridor eilen – eins-zwei, eins-zwei – und um ein Leben rennen.

Kapitel 1

Ballyterrin, 2010

»Jesus Christus!«

»Entschuldigung! Oh Gott, es tut mir leid.« Paula legte den Kopf auf den Tisch im Konferenzraum, unter den sie sich gerade übergeben hatte, direkt auf die Füße ihrer Vorgesetzten. Bob Hamilton, dienstältester Sergeant, und Detective Inspector Guy Brooking waren vor Schreck aufgesprungen, als sie sich, von Krämpfen erfasst, hastig nach vorn gebeugt hatte, und das mitten in einer Fallbesprechung.

»Ist nicht schlimm, Paula«, sagte Guy unbeholfen und zog seine teuren Budapester hastig aus dem verschmutzten Bereich auf dem Teppich. »Alles in Ordnung?«

Sie spürte, dass ihr der Schweiß auf der Stirn stand. »Äh, ich weiß nicht. Muss wohl was Schlechtes gegessen haben.«

»Gehen Sie ruhig und machen Sie sich frisch – wir sind hier sowieso in fünf Minuten fertig.«

»Gut.« Sie schleppte sich aus dem Konferenzraum. Ihr Magen rebellierte noch immer, und hinter sich hörte sie Bob Hamiltons anklagende Stimme: »Jetzt kotzt sie mir sogar schon auf die Schuhe, also ehrlich.«

Sie eilte zur Damentoilette und beugte sich eine Weile übers Waschbecken, bis ihr Magen sich wieder beruhigt hatte. Dann wusch sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser und spülte sich den säuerlichen Geschmack aus dem Mund, immer noch zittrig. Seit einem Monat musste sie sich jeden Morgen übergeben, aber heute war es zum ersten Mal auf der Arbeit passiert, und zum ersten Mal hatten andere es mitbekommen. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihr Vater, bei dem sie wohnte, es auch bemerkt hatte – dem ehemaligen Polizisten entging so schnell nichts –, aber bislang hatte er noch nichts dazu gesagt.

Paula hob ihren dicken grauen Pullover hoch und betrachtete ihren Bauch im Spiegel. Immer noch flach. Aber nicht mehr lange, es sei denn, sie traf eine Entscheidung, und zwar verdammt schnell. In Gedanken rechnete sie zurück. Wenn sie sich nur wegen des Zeitpunkts sicher sein könnte. Oder welcher Mann dafür verantwortlich war.

Die Tür ging auf, und sie zog den Pullover hastig wieder glatt.

»Paula, geht’s Ihnen gut?« Es war Avril Wright, IT-Analytikerin und die einzige andere Frau in ihrem Team der Einheit für ungelöste Vermisstenfälle, die in dieser nordirischen Stadt als grenzüberschreitende Dienststelle gegründet worden war. Ihre Aufgabe war es, alte Fälle wieder aufzugreifen, wenn es neue Hinweise oder Spuren gab. Außerdem wurden sie hinzugezogen, um die Koordination bei Ermittlungen in neuen Vermisstenfällen zu überwachen. Und genau darum war es heute leider mal wieder gegangen. »Der Boss hat mich geschickt, um nach Ihnen zu sehen.«

Avril war wie üblich wie aus dem Ei gepellt. Sie trug eine piekfeine Bluse und einen Bleistiftrock. Neben ihr kam Paula sich ziemlich schmuddelig vor. »Es geht schon.«

»Gehen Sie nicht nach Hause?«

»Nein, nein, doch nicht, wenn es um einen so wichtigen Fall geht.«

Avrils hübsches Gesicht verdüsterte sich. »Ich frage mich, wer so etwas tut. Ein kleines Baby!«

Paula starrte ihr eigenes bleiches Gesicht im Spiegel an. Sie wusste es auch nicht. Das war der schlimmste Teil ihrer Arbeit als forensische Psychologin: herauszufinden, wer zu einem grauenerregenden Verbrechen fähig war und warum. Die Psyche des Täters zu ergründen und ihn zu verstehen. Alles verstehen heißt alles verzeihen, sagten die Leute so. Aber sie fragte sich immer wieder, ob das wirklich stimmte. »Kommen Sie.« Sie strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Hier werden wir den Täter wohl kaum finden.«

Als sie aus der Toilette trat, sah sie Guy durch die Glasfront des Konferenzraums. Er kniete in seinem teuren grauen Anzug auf dem Boden und tupfte den Schmutzfleck mit einem Stück Küchenpapier ab. Die blonden Haare fielen ihm ins Gesicht. Er war mal ein ranghoher Beamter bei der Londoner Metropolitan Police gewesen, bevor er vor einigen Monaten nach Nordirland geschickt worden war, um diese Dienststelle zu leiten. Er hatte mehr Aufsehen erregt als erwartet, nicht zuletzt, weil er sie als Expertin aus London in ihre wenig geliebte Heimatstadt geholt hatte. Eigentlich war sie nur wegen dieses einen Falls hinzugezogen worden, der vor einigen Wochen ein traumatisches Ende gefunden hatte. Aber nun, einen Monat vor Weihnachten, war sie immer noch hier. Sie presste eine Hand auf ihren Bauch. Sie musste es ihm sagen. Aber, verdammt noch mal, das konnte sie nicht. Nicht heute. Nicht wenn ein so wichtiger Fall anstand.

»Fahren Sie mit ins Krankenhaus?«, fragte Gerard Monaghan, der Beamte der hiesigen Dienststelle der nordirischen Polizeibehörde PSNI, der ihrer Einheit zugeteilt worden war. Er hielt ihr den Mantel hin. »Dieser verdammte Schnee. Der Verkehr wird die reinste Hölle sein. Fiacra kümmert sich um die Autos.« Fiacra Quinn war ein junger Detective der Garda Síochána und repräsentierte den Süden. Er stammte aus Dundalk.

Um Himmels willen, konzentrier dich, Maguire. »Ich komme.«

Paula war lange Zeit der Ansicht gewesen, dass im General Hospital von Ballyterrin nie etwas Gutes passierte. Dorthin waren die zwei Leichen gebracht worden, die man in den Neunzigern gefunden hatte. Frauen, von denen sie eine Weile geglaubt hatten, es könnte sich dabei um ihre vermisste Mutter handeln. Die eine war an einem Strand in Wexford angeschwemmt worden, die andere hatten sie bei Neubauarbeiten ausgegraben. Zweimal war Paula in ihrer braunen Schuluniform hingebracht worden, um ihren Vater im Leichenschauhaus zu treffen. Die Fahrt im Auto irgendeines Lehrers, mit zitternden Händen, die sie zwischen ihre Knie klemmte, war beide Male nicht der Mühe wert gewesen. Von Margaret Maguire fehlte weiterhin jede Spur, und ihr Bild hatte sich in Paulas Gedächtnis eingebrannt, so wie sie am letzten Tag gewesen war, als sie in ihrem Morgenmantel die Küche aufräumte, während Paula, noch verschlafen und Müsli kauend, zur Schule aufbrach. Sie war erst dreizehn gewesen. Zum Abschied hatte sie kaum etwas zu ihrer Mutter gesagt – warum auch, Margaret war doch immer da, wenn sie nach Hause kam, und hatte schon eine Kanne Tee auf dem Herd.

Das Ballyterrin General Hospital war auch der Ort gewesen, an den Paula mit achtzehn gebracht worden war, nachdem sie eine Menge Tabletten aus dem Arzneischrank geschluckt hatte und ihr Magen ausgepumpt werden musste. Aber das war alles Aidans Schuld gewesen, oder? Nein. Nein, Maguire. Auch wenn sie allen Grund hatte, wütend auf ihn zu sein, war nur sie allein dafür verantwortlich.

»Wo müssen wir denn hin?« Sie hatten auf dem vereisten Schotterparkplatz geparkt, und nun bemühte sie sich, mit Guy Schritt zu halten, während er durch die Flügeltür im zweiten Stock des Krankenhauses eilte. Als ihr klar wurde, um welche Station es sich handelte, war es schon zu spät. Herrje, wie dumm von ihr. Die Entbindungsstation war der Ort, den sie heute lieber vermieden hätte.

Der ganze Bereich war abgeriegelt, überall standen uniformierte Beamte des PSNI herum. An diesem Morgen Anfang Dezember war die Stadt von einem dichten Schneegestöber überfallen worden. Sogar vor dieser Sache hier hatte schon überall Chaos geherrscht. Graue Schneeklumpen schmolzen auf dem Boden des Korridors, in dem viele Leute herumstanden, vor allem verwirrte Frauen in Nachthemden, wütende Männer und nervöse Schwestern. An den Wänden hing Adventsdekoration, aber die Stimmung war alles andere als festlich. Noch immer geschwächt und mit einem flauen Gefühl im Magen trottete Paula in ihren vom Matsch verschmutzten schwarzen Wildleder-Boots hinter Guy her. Wenn er auf hundertachtzig war, hatte keiner eine Chance, mit ihm mitzuhalten. Er erreichte die Polizeiabsperrung und hielt seine Dienstmarke hoch. »Detective Inspector Guy Brooking, Einheit für ungelöste Vermisstenfälle. Lassen Sie uns bitte durch.«

Nein, im General Hospital von Ballyterrin passierte nie etwas Gutes, und die Tatsache, dass hier ein Kind entführt worden war, überraschte Paula nicht im Geringsten.

Vor dem Kreißsaal sprach eine Frau in einem grauen Hosenanzug und roten hochhackigen Schuhen mit Gerard Monaghan. Es war keine Überraschung, dass er hier noch vor ihnen angekommen war, denn Guy achtete peinlich genau auf die Geschwindigkeitsbegrenzungen in der Stadt, während Gerard, wie alle Einheimischen, sie nur als dummen Scherz betrachtete. Er schaute beunruhigt auf, als Guy zu ihm trat. Diese Frau hier, Detective Chief Inspector Helen Corry, Leiterin der hiesigen Kriminalpolizei, war sein zweiter Chef. Gerards Arbeit für die grenzübergreifende Einheit für ungelöste Vermisstenfälle brachte es mit sich, dass er ständig in den Kompetenzkrieg der beiden geriet.

»Was haben wir hier?«, fragte Guy.

Helen Corry bemerkte ihre Anwesenheit, sprach aber weiter und führte ihren Satz zu Ende. »… und schauen Sie sich so schnell wie möglich die Videos der Überwachungskameras an. Wir müssen wissen, ob sich das Kind noch im Gebäude befindet. Drohen Sie, wenn es nötig ist.« Erst dann wandte sie sich den beiden Neuankömmlingen zu. »Inspector Brooking, Dr. Maguire. Wir haben hier gar nichts. Mir liegt die Entführung eines Neugeborenen vor, so wie es aussieht.«

Guy presste die Lippen zusammen, was ein Zeichen seines unterdrückten Zorns war. »Warum hat man uns nicht schon früher informiert?«

Helen Corry strich sich eine blonde Strähne hinters Ohr. Ihre Fingernägel waren im gleichen Rotton lackiert wie ihre Schuhe. »Sie haben natürlich zuerst die Polizei alarmiert, und wir sind gekommen.«

»Wir sind die Dienststelle, die zuallererst für Vermisstenfälle zuständig …«

»Sie sind ja jetzt hier, Inspector, nicht wahr? Und da wir in diesem Fall alle verfügbaren Kräfte einsetzen müssen, gehe ich mal davon aus, dass Sie uns dabeihaben wollen.«

Paula war dieses Kompetenzgerangel nur allzu bekannt. Sie warf Gerard einen fragenden Blick zu, doch er schüttelte nur hilflos den Kopf. Was seine beiden Vorgesetzten betraf, hatte er wahrscheinlich mehr Angst vor Corry.

Die meldete sich nun erneut zu Wort und sagte: »So wie ich das sehe, ist es Ihre Aufgabe, zu koordinieren und sich um eine schnelle Stellungnahme bei neuen Vermisstenfällen zu bemühen. Welche Maßnahmen schlagen Sie also bezüglich der Koordination in diesem Fall vor?«

»Nun, ich würde die Umgebung abriegeln …«

»Schon erledigt, wie Sie bemerkt haben … auch wenn Sie anscheinend hindurchgeschlüpft sind.«

»… ich würde dafür sorgen, dass Patienten und Angestellte das Haus nicht verlassen …«

»Auch bereits erledigt, allerdings können wir sie nicht unbegrenzt festhalten. Es wäre also ganz gut, wenn Sie mich jetzt gehen lassen, damit ich die Befragungen durchführen kann.«

Guy redete hastig weiter. »… Befragung sämtlicher Augenzeugen, Sichtung der Überwachungsvideos, Anfertigung von Skizzen, und dann würde ich meine Psychologin zu den laufenden Ermittlungen hinzuziehen.«

Helen Corry warf Paula einen ihrer typischen ausdruckslosen Blicke zu. »Gut, dass Sie sie gleich mitgebracht haben. Ich bin absolut damit einverstanden, dass Dr. Maguire hinzugezogen wird.«

»Auf Ihr Einverständnis kann ich verzichten«, murmelte Guy, aber erst, nachdem Corry schon außer Hörweite war, um die uniformierten Beamten, die den Bereich abriegelten, anzumeckern.

Gerard seufzte, und seine breiten Schultern sackten herab. »Es stimmt, was sie gesagt hat, Sir. Sie hat bereits all das angeordnet, was Sie auch getan hätten. Sie lässt sogar die Datenbank prüfen, um herauszufinden, ob was Ähnliches woanders vorgefallen ist. Für uns gibt’s nicht mehr viel zu tun.«

Guy drehte sich zu Paula um. »Eine Sache hat sie noch nicht getan. Sind Sie bereit, mit den Eltern zu sprechen?«

Damian und Kasia Pachek hatten sich in dieses Land verliebt, erklärte er während der Befragung. Sie liebten die grünen Berge Irlands, die Pubs, den humorvollen Gleichmut der Menschen. Sie liebten das alles so sehr, dass sie, als Kasia schwanger wurde, entschieden, ihr Kind in Ballyterrin zur Welt zu bringen, statt nach Krakau zurückzukehren, wie ihre Familie es gewollt hatte. Im Krankenzimmer lagen Postkarten auf dem Nachtschränkchen, ein immer noch in Plastikfolie eingewickelter Blumenstrauß, ein blauer Teddy im Bettchen, in dem bis vor zwei Stunden noch ihr neugeborener Sohn Alek gelegen hatte.

Jetzt lag Kasia in ihrem kurzen rosafarbenen Pyjama auf dem Bett mit einer Infusion an der einen Hand. Sie weinte die ganze Zeit vor sich hin, auf eine monotone Art, die man bald schon nicht mehr wahrnahm. Ihr Mann saß auf einem unbequemen Plastikstuhl, starrte ins Leere und zerdrückte einen Pappbecher, in dem mal Kaffee gewesen war. Sie sind noch sehr jung, dachte Paula. Mitte zwanzig, nicht älter. Damian arbeitete als Techniker in einem Labor am Stadtrand, und Kasia war Yogalehrerin. So viel hatte Guy inzwischen von Gerard erfahren.

»Ich hab ihn weggegeben«, wiederholte Damian Pachek. Seine tränenüberströmte Frau sagte etwas auf Polnisch, er verdrehte verzweifelt die Augen, den Kopf in die Hände gestützt.

Guy sah Paula auffordernd an, und sie wandte sich an den jungen Mann. »Mr Pachek, ich weiß, dass das schwer für Sie ist, aber die Chancen stehen gut, dass wir Alek bald finden. Es tut mir sehr leid, dass wir das jetzt gleich tun müssen, wo Sie noch im Schock sind, aber in einem Fall wie diesem kommt es auf jede Minute an, und Sie dürfen keine Einzelheit vergessen. Ich werde Sie jetzt auf eine spezielle Art befragen, um Ihnen zu helfen, sich an möglichst viele Details zu erinnern.«

Der Mann nickte und fixierte noch immer einen unsichtbaren Punkt irgendwo vor ihm. Sein ganzer Körper zitterte. Paula holte tief Luft und setzte sich auf einen zweiten Plastikstuhl, Guy lehnte sich an die Wand. Sie spürte die Last der Verantwortung für dieses Kind, das schon am ersten Tag seiner Existenz aus dem Bettchen verschwunden war und das sie wiederfinden musste.

»Damian«, sagte sie leise, und er sah sie an. »Was geschehen ist, tut mir sehr leid, aber es ist nicht Ihre Schuld. Das hätte jedem passieren können.«

Kasia stöhnte auf dem Bett und sagte wieder etwas auf Polnisch. Damian strich sich mit der Hand übers Gesicht. »Sie sagt, ich hätte aufpassen sollen – ich hätte ihn nicht aus den Augen lassen dürfen.«

Paula warf einen Blick auf die Frau, die ihr Gesicht im Kissen vergrub und deren Schultern sich hoben und senkten. »Es ist nicht Ihre Schuld«, wiederholte sie. »Es ist die Schuld der Person, die gekommen ist und Alek mitgenommen hat, verstehen Sie? Dieser Mensch trägt die Verantwortung. Und Sie müssen mir jetzt alles sagen, jedes Detail, an das Sie sich erinnern können, um uns zu helfen, Ihren Jungen wiederzufinden.«

Tränen liefen ihm jetzt übers Gesicht. »Kasia hat geschlafen. Sie war ja so müde … Ich war auch müde, aber ich bin wach geblieben, weil ich so aufgeregt war.«

Paula nickte.

»Ich schaute ihn an … Alek … und ich war glücklich. Ich dachte darüber nach, dass ich meine Mutter anrufen muss, um ihr zu sagen, dass sie jetzt Babcia ist.« Er stockte. »Dann kam eine Krankenschwester und sagte, sie müsse Alek zu einer Untersuchung mitnehmen. Kasia hat ja geschlafen, also bin ich …« Ihm gingen die Worte aus, und er deutete mit einer Hand in den Flur. »Ich bin zum Telefon da draußen gegangen, weil ich Kasia nicht wecken …«

»Diese Krankenschwester«, unterbrach ihn Paula. »Es war also eine Frau?«

»Ja, sie trug diese Kleidung, so was mit Blau.« Er deutete mit der Hand auf seinen Oberkörper. »So wie sie tragen.« Sein Englisch, das am Anfang noch perfekt geklungen hatte, litt jetzt unter dem Stress.

»Damian, ich möchte, dass Sie sich genau erinnern. Beruhigen Sie sich und versuchen Sie es – jede Kleinigkeit ist wichtig.«

Der junge Mann stützte den Kopf in die Hände. »Sie kam durch die Tür. Ihre Füße waren ganz leise … ich hörte sie gar nicht, bis sie hier stand. Sie sagte … Moment … ›Baby muss untersucht werden‹. Dann hat sie das Bettchen nach draußen geschoben, die Wiege. Ich hatte keine Zeit zu denken. Okay, das ist seltsam, wissen Sie?«

»Ihre Stimme«, hakte Paula nach. »Sprach sie mit einem Akzent?«

Er schüttelte den Kopf. »Von hier, glaube ich. Wie bei Ihnen. Nicht wie bei ihm.« Er deutete auf Guy, der reinstes Oxford-Englisch sprach. »Sie war ziemlich groß, glaube ich. Schwarze Haare, blaue Uniform, wie eine Schwester.«

Paula kam ein Gedanke. »War es eine richtige Schwesterntracht, oder sah sie nur so ähnlich aus?«

Er dachte eine Weile nach. »Vielleicht. Ich hab nicht geschaut. Ich … ich weiß nicht.«

Paula konnte das nachvollziehen. Überwältigt von dem Ereignis der Geburt und dem Schlafmangel, fragte man nicht weiter nach, wenn jemand in Schwesterntracht auftauchte. Selbst wenn es keine echte war. »Sie sind zum Telefon gegangen, was ist dann passiert?«

»Ich bin gegangen, aber etwas hat mich zurückschauen lassen … und da sehe ich, das Ding …« Er machte eine hilflose Geste.

»Das Bettchen?«

»Ja … ich sah es im Flur, es drehte sich. Sie war nicht mehr da, und Alek … sie hat ihn rausgenommen – oh Gott.« Er begann heftig zu zittern. »Ich hätte hinterherlaufen können, aber ich wusste ja nicht … ich dachte, es ist okay.«

»Was ist als Nächstes passiert, Damian?«

»Ich … ich habe angerufen, und alle zu Hause sind so glücklich, weinen vor Freude, fragen, wann wir ihn bringen …« Er erbebte, gab irgendwelche Laute zwischen Lachen und Weinen von sich. »Dann komme ich zurück, er ist weg, aber ich hab keine Sorge. Ich warte vielleicht eine Stunde, gehe zur Schwesternstation, und sie sagen … Das ist alles. Mehr weiß ich nicht. Es tut mir leid.«

»Ist schon gut.« Sie ging zu ihm und berührte seinen Arm. Guy sah ihr aufmerksam zu. Sie trat zurück.

Er übernahm die Befragung. »Mr Pachek, wir werden alles tun, um Ihren Sohn wiederzufinden. Alle Krankenhausmitarbeiter werden befragt, wir werden die Überwachungsvideos überprüfen, sobald das möglich ist.«

»Wer tut so was?« Er hielt sich die Hände vors Gesicht und sprach wie durch eine Maske. »Wer nimmt denn anderen Menschen ein Baby weg?« Darauf wussten sie keine Antwort.

»Wir stellen einen Beamten ab, der die ganze Zeit über bei Ihnen bleibt und Sie auf dem Laufenden hält.« Nach diesem bescheidenen Zuspruch standen sie auf und gingen.

Guy lief eilig den Flur entlang und knöpfte dabei sein Jackett zu. »Was denkst du?«

Paula hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Ich hab schon von solchen Fällen gehört. Normalerweise handelt es sich um eine Frau, so wie er sagte. Eine, die kürzlich ihr Kind verloren hat oder sich verzweifelt danach sehnt, eins zu haben. Sehr wahrscheinlich wird sie Alek kein Leid zufügen, aber das Gefährliche bei einem Neugeborenen ist, dass die Entführerin es nicht ernähren und sich nicht richtig darum kümmern kann. Wir haben vielleicht nicht sehr viel Zeit.«

Er bog um die Ecke an der Schwesternstation. »Wir brauchen unbedingt diese Videoaufnahmen. Wenn darauf nichts zu sehen ist, müssen wir alle hier gehen lassen.«

»Befragen wir die Angestellten?«

»Wenn Corry uns lässt.« Er drehte sich abrupt zu ihr um, und der Blick aus seinen grauen Augen traf sie wie ein Blitz. Paula verlor beinahe das Gleichgewicht, als sie so plötzlich anhielt, dass ihre Stiefel über die glatten Krankenhausfliesen rutschten.

»Was ist?«

»Du solltest nach Hause gehen.«

»Wieso denn?«

»Weil du dich auf meine Schuhe übergeben hast.«

»Oh.«

»Du bist weiß wie die Wand, Paula. Im Moment kannst du hier nichts tun.«

»Aber …« Sie warf einen Blick zurück in das Zimmer, in dem das Ehepaar saß, überwältigt von dem Verlust, den sie gerade erlitten hatten.

»Wir tun alles, was in unserer Macht steht, versprochen. Warum fängst du nicht schon mal mit dem Täterprofil an? Corry will bestimmt so schnell wie möglich eins haben.«

»Okay.« Sie hielt inne. Mochte ja sein, dass sie selbst wie ein Gespenst aussah, aber da kam gerade eins auf sie zu. Ein Gespenst, das einfach keine Ruhe geben wollte.

Guy folgte ihrem Blick und machte ein abfälliges Geräusch. »Um Himmels willen, ich hab doch allen gesagt, dass niemand die Presse unterrichten soll.«

»Er weiß immer alles«, sagte Paula müde. »Ich weiß auch nicht, wie das kommt. Er riecht sofort, wenn etwas in der Luft liegt, wie ein Hund.«

Aidan war noch einige Meter von ihnen entfernt am Ende des Flurs hinter der Polizeisperre, wo viele Beamte und Patienten sich versammelt hatten. Er sprach heftig gestikulierend mit einem Polizisten an der Absperrung und hatte sie noch gar nicht bemerkt. Sie wusste genau, dass sie ihn jetzt nicht ertragen konnte, nicht wenn Guy neben ihr stand, nicht mit der tickenden Zeitbombe in ihrem Bauch. Sie warf Guy einen hilflosen Blick zu. »Kann ich hier irgendwo raus? Ich will nicht …«

Er schien das zu verstehen. »Um die Ecke ist das Treppenhaus. Zeig deine Marke und sag, dass du von mir kommst. Ich kümmere mich um O’Hara. Er hat hier nichts verloren.« Er zögerte. »Hör mal, Paula, wenn es dir wieder besser geht, sollten wir reden. Über … alles. Über das, was mit uns vor einem Monat passiert ist.«

Sie erstarrte einen Moment. Er konnte es doch nicht wissen, oder? Nein, sie hatte mit niemandem darüber gesprochen, und die einzige Person, die etwas davon geahnt hatte, war in London. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, klar, machen wir.«

Sie bog um die Ecke, gerade noch rechtzeitig, um mitzubekommen, wie Aidan O’Hara, Redakteur der hiesigen Lokalzeitung und ihr Ex-Freund, auf Guy zukam und seinen Presseausweis hochhielt. Er hatte sich rasiert, seit sie ihn vor einem Monat zum letzten Mal gesehen hatte, blutend auf einer Trage liegend, mit einer Schusswunde am Arm, die ein verzweifelter Mann ihm beigebracht hatte. Das war am Halloween-Abend gewesen. Sie waren zusammen in Gefahr geraten und beinahe umgebracht worden, als sie herauszufinden versuchten, was diesem Mädchen zugestoßen war, das man tot aus dem Kanal gezogen hatte.

Er sah jetzt anders aus. Nüchtern, gesund, energiegeladen. Sie strich sich mit den Händen über den Bauch. Verdammt, Aidan O’Hara, fahr doch zur Hölle. Dann drehte sie sich um und rannte davon, bevor er sie bemerkte.

Kapitel 2

Paula nahm auf dem Weg ins Erdgeschoss mehrere Stufen auf einmal. Unten wimmelte es von Polizisten und von Leuten, die wissen wollten, was passiert war und wann sie endlich gehen durften. Sie hielt ihre Dienstmarke hoch und eilte durch die Schwingtür in die Notaufnahme. Nur eine einzige Person konnte ihr jetzt noch helfen.

Über ihr Verhältnis zu Dr. Saoirse McLoughlin war sie sich nicht ganz im Klaren. Ja, sie war einmal ihre beste Freundin gewesen, während der ganzen Schulzeit. Aber dann hatte Paula mit achtzehn Ballyterrin den Rücken gekehrt, mit der Absicht, nie mehr zurückzukommen. Es würde noch eine Weile dauern, bis Saoirse ihr die vielen Jahre des Schweigens verzeihen konnte, aber immerhin waren sie wieder lose in Kontakt gekommen.

Paula entdeckte ihre frühere beste Freundin, als sie gerade den blauen Plastikvorhang beiseiteschob und aus einer Behandlungsnische trat. Als sie Paula in der Menge bemerkte, kam sie zum Empfang, die Hände in die Taschen ihres weißen Arztkittels gesteckt. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, und ihre schmalen Handgelenke waren zu sehen.

»Ich mach mal eine Pause, Ricky«, sagte Saoirse zu dem jungen Mann hinter dem Tresen, dessen Nasenring im Licht der Leuchtstoffröhren aufblitzte.

»Weiß irgendjemand, wann die Leute da gehen dürfen?« Er deutete ins Wartezimmer, wo alle Plätze besetzt waren. Einige der Anwesenden trugen weiße Bandagen, andere waren blutbefleckt oder verletzt. Kinder rannten zwischen den Stühlen herum. Es war furchtbar laut.

Mit dem Neuschnee war der übliche Prozentsatz an verstauchten Knöcheln, Rodelunfällen und Verletzten von Fahrzeugkollisionen hereingekommen. Das und die Tatsache, dass die Polizei alle Ausgänge blockierte, ließ den Warteraum aus allen Nähten platzen.

»Ich werde mit denen reden. Es ist absolut unakzeptabel, dass unsere Arbeit derart behindert wird.« Saoirse warf Paula einen Blick zu, die sich als eine von denen angesprochen fühlte und sich unbehaglich umschaute. Saoirse deutete mit dem Kopf auf eine Tür. »Komm mit, ich hab fünf Minuten Zeit, wenn hier sowieso niemand rein- oder rausdarf.«

In ihrem kleinen Büro angekommen, schloss sie die Tür und setzte sich an den Schreibtisch. »Ganz schönes Durcheinander. Die Verwaltung ist kurz vorm Durchdrehen.«

»Hm.« Paula lehnte sich gegen den Aktenschrank. Ihr Herz pochte noch immer heftig wegen des Spurts durchs Treppenhaus. »In derartigen Fällen wird den Babys meistens kein Leid zugefügt. Jedenfalls nicht absichtlich. Kannst du mir noch irgendwas sagen, das mir beim Täterprofil helfen könnte? Nach was sollen wir suchen?«

Saoirses Gesichtsausdruck änderte sich. »Der Kleine wird frieren, und er wird hungrig sein. Wenn ein Neugeborenes nicht warm gehalten wird und seine Milch bekommt, dann kann es sehr schnell kritisch werden. Glaubst du, sie sind immer noch im Krankenhaus?«

»Nein, sie sind bestimmt schon längst weg. Ich nehme an, die Leute können bald gehen. Die Überwachungsvideos müssen noch überprüft werden, denke ich.«

»Glaubst du, es war jemand vom Personal? Es heißt ja, eine Schwester hätte den Kleinen mitgenommen.« Gerüchte verbreiteten sich schnell in einem Krankenhaus.

»Ich weiß es nicht. Es ist ziemlich einfach, eine Schwesterntracht zu stehlen oder sich etwas anzuziehen, das ähnlich aussieht. Ich gehe trotzdem davon aus, dass es sich um eine Person handelt, die sich hier gut auskennt. Sie wusste, wie der Ablauf ist und wie man hier schnell rauskommt, ohne angehalten zu werden.« Und es war ganz bestimmt eine Frau, die sich verzweifelt nach einem Kind sehnte, aber das wollte Paula nicht sagen. Sie wollte Saoirse auch nicht danach fragen, ob sie Fortschritte dabei gemacht hatte, endlich schwanger zu werden. Sie konnte die Antwort schon am angestrengten Gesicht ihrer Freundin ablesen.

»Ich kann gar nicht glauben, dass so etwas bei uns passiert.« Saoirse schüttelte den Kopf. »Hier ist doch so viel los – wie kann da jemand einfach mit einem Baby rausspazieren?«

»Ich weiß auch nicht. Wir gehen davon aus, dass sie schnurstracks nach draußen gegangen sind. Ich meine … oh.« Paula hielt inne.

»Alles in Ordnung?« Saoirse sprang auf und hatte ihr Ärztinnengesicht aufgesetzt. »Du bist ja ganz blass.«

»Ja, ich …« Oh Gott, jetzt ging das schon wieder los. Sie machte eine hastige Handbewegung. »Hast du irgendeinen Behälter, schnell …«

Saoirse griff nach einer Metallschale, und Paula übergab sich hinein. Grünlicher Schleim landete auf einem Papiertuch. Mehr hatte sie nicht mehr im Magen.

Saoirse sah sie befremdet an. »Bist du krank?«

»Ist schon okay.« Paula tupfte sich mit zitternden Händen den Mund ab.

»Ist das schon mal passiert?«

»Ein paarmal.«

»Seit dieser Geschichte?«

Saoirse wusste, dass es Paula nicht leichtgefallen war, die Ereignisse des letzten Monats zu verarbeiten. Sie hatte sie mehrmals besucht, als Paula nach ihrem Schock und einigen Verletzungen wieder genesen war. Hatte ihr Süßigkeiten gebracht, sie aufgeheitert, war nett zu ihr gewesen. So etwas konnte Saoirse gut und blieb dabei ganz unaufdringlich. Ihre Mutter hatte sie gut erzogen.

Saoirse schaute sie weiterhin an, und Paula spürte, wie die Übelkeit wieder in ihr aufstieg. Diesmal musste sie sich nicht übergeben, aber der Drang war da. »Ich hab Aidan gesehen«, sagte sie. »Ein Stockwerk höher. Auf einmal kam er rein. Ich bin weggerannt.«

»Nicht schon wieder. Was ist denn bloß los mit euch beiden?«

»Nichts! Wir haben nur ein paar Worte gewechselt.« Das eigentliche Problem war gewesen, dass ihnen die Worte gefehlt hatten. »Seit dieser Sache haben wir kaum miteinander gesprochen – du weißt schon.« Mit dieser Sache war die Nacht auf einer abgelegenen Farm gemeint, als draußen das Feuerwerk knallte und drinnen Schüsse. Sie schob die Erinnerung beiseite.

»Warum denn nicht? Ich dachte, er hätte dir bei deinem Fall geholfen.«

»Hat er auch. Aber vorher ist etwas zwischen uns vorgefallen, worüber wir nie richtig gesprochen haben.«

»Habt ihr miteinander geschlafen?«

Das war Paula total peinlich. Wie dämlich. Sie war jetzt dreißig, nicht mehr zwölf. »Mehr oder weniger.«

Saoirse setzte sich wieder an ihren Tisch und schob die Hände in die Taschen ihres Kittels. »Und?«

»Und seitdem muss ich dauernd kotzen.«

Der Gesichtsausdruck ihrer Freundin änderte sich nur minimal. Man musste sie schon sehr genau kennen, um die leichte Anspannung um ihren Mund zu bemerken. »Ich verstehe. Das ist doch großartig.«

»Ist es das?«

»Wieso nicht?« Saoirse sah sie fragend an. »Ich weiß ja, dass ihr eure Schwierigkeiten miteinander habt. Aber irgendwas muss da ja sein, dass du wieder darauf zurückkommst. Du warst achtzehn, als das alles anfing, und es geht immer noch weiter.«

»Du hast recht. Da ist irgendwas. Ich weiß nur nicht, was. Außerdem bin ich nicht ganz sicher, ob er wirklich der Vater ist. Da war nämlich noch jemand anders. Ungefähr zur gleichen Zeit. Äh …« Sie deutete unbestimmt nach oben. »Der … äh … Inspector.«

»Brooking! Um Himmels willen, der ist doch total alt!«

»Er ist vierzig!«

»Er ist verheiratet!«

»Getrennt!« Obwohl sie gar nicht so sicher war, ob das im Augenblick wirklich stimmte. Als es passiert war, hatte sie gedacht, er würde sich scheiden lassen. Nur war Tess, Guys Frau, dann alles andere als erfreut darüber gewesen, dass Paula mit ihm geschlafen hatte.

Saoirse sah sie missbilligend an. »Weißt du, heutzutage kann man sogar in Irland Kondome kaufen.«

»Weiß ich auch. Aber manchmal gehen die eben kaputt, okay?« Dabei hatte sie gar keines benutzt, als sie mit Aidan zusammen gewesen war, sondern sich von ihrer Lust, ihrer Angst und ihrer Trauer betäuben lassen. Mein Gott, was war sie doch für eine Idiotin.

»Und was willst du jetzt tun?«

»Keine Ahnung. Was kann ich denn tun?«

»Es behalten. Oder es nicht behalten. Viele Möglichkeiten gibt’s ja nicht.«

Paula wich ein klein wenig zurück. Was hatte sie denn von ihrer katholischen Freundin erwartet, die sich seit fünf Jahren um etwas bemühte, was ihr in ein paar rauschhaften Nächten einfach zugefallen war? »Wenn ich es nicht will … was kann ich dann machen? Tut mir leid. Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.«

Saoirse seufzte und zog ihre Schreibtischschublade auf. »Am besten gehst du dorthin.« Sie reichte ihr eine grüne Broschüre. »Dort können sie dir genau sagen, welche Optionen du hast.«

Frauenzentrum Ballyterrin, las Paula. Entscheidungshilfen für Frauen, Beratung durch Dr. Alison Bates. Außerdem war darauf das Foto einer ernst dreinblickenden Frau zu sehen, mit zurückgekämmten grauen Haaren, die einen weißen Kittel trug. »Aber das ist doch illegal … hier bei uns.«

»Puh. Sie macht das ja ganz offensichtlich nicht hier, aber sie kann dich nach England vermitteln. Sie ist selbst Engländerin. Lebt aber schon seit vielen Jahren hier. Treibt beide Seiten in den Wahnsinn, wie du dir vorstellen kannst. Die Hardcore-Katholiken und die Presbyterianer genauso – die stehen fast jeden Tag vor der Beratungsstelle und blockieren den Eingang.«

Das Hochglanzpapier fühlte sich auf einmal eigenartig an. »Ich weiß nicht, ob ich … Ich weiß überhaupt nicht, was ich will.« Abtreibung. Sie brachte das Wort nicht mal über die Lippen.

Saoirse bewegte die Maus, um den Computer zum Leben zu erwecken. Sie schien den Drang zu verspüren, etwas zu tun, Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen, als Ärztin, nicht als Freundin. »Ich kann dir einen Termin besorgen, wenn du willst. Soll ich auch einen Termin zur Schwangerschaftsuntersuchung für dich vereinbaren? Dann hast du mehrere Optionen.«

Optionen. Wahlmöglichkeiten. So redeten sie alle. Warum hatte sie dann aber das Gefühl, überhaupt keine Wahl zu haben, so als würde sie einen Flur entlanglaufen, in dem es nur eine einzige verschlossene Tür gab?

»Äh, nein. Nicht jetzt.«

»Aber du musst doch …«

»Ich kann nicht, Saoirse. Jetzt noch nicht.« Sie steckte die Broschüre sorgsam in ihre Manteltasche. Sie schämte sich ganz furchtbar. »Trotzdem vielen Dank. Vor allem, weil du ja …«

Saoirse stand abrupt auf. »Wie weit bist du denn? Grob geschätzt.«

»Zwei Monate, denke ich.« Tatsächlich wusste sie es sehr genau. Es war entweder sechs oder acht Wochen her, je nachdem, welcher Mann in Frage kam.

»Hm, hm. Dann solltest du dich sehr bald entscheiden. Sonst wird es richtig eng.«

Als Paula vom Krankenhaus zurückkam, fühlte sie sich erschöpft, ausgelaugt, und ihr war kalt. Die Überwachungsvideos waren gesichtet worden und hatten gezeigt, dass die Entführerin das Gebäude sofort verlassen hatte. Als die Absperrung durch die Polizei wieder aufgehoben wurde, entschied sie, dass sie ausnahmsweise einmal Guy Brookings Anweisungen befolgen und nach Hause gehen wollte. Ihr Vater stand in der Küche und stellte den Teekessel auf den Herd. Auf dem Tresen stand eine Schachtel mit Keksen.

»Hat Pat die gebacken?« Paulas leerer Magen knurrte.

»Klar«, sagte PJ Maguire und humpelte auf seinen Krücken herum. Aufgrund einer alten Verletzung war sein linkes Bein steif, und er hatte es sich vor einigen Monaten noch mal schlimm gebrochen. Der Gips war erst vor kurzem abgenommen worden. »Du bist doch nicht etwa in diesen Wildlederschuhen draußen im Schnee rumgelaufen?«

Paula verdrehte die Augen. »Doch. Und?«

»Du wirst dir noch mal den Tod holen. Ich nehme an, du warst im Krankenhaus.«

Paula zog ihren Mantel aus und nahm sich zwei Kekse. Sie hatte sich schon längst damit abgefunden, dass ihr Vater, der dreißig Jahre als Polizist bei der Royal Ulster Constabulary gedient hatte, alles mitbekam, was in der Stadt passierte. »Sie haben es also schon in den Nachrichten gebracht?«

Er trank einen Schluck von seinem Tee. »Ja, Gott schütze sie. Eine schlimme Sache.«

»Hast du schon mal von so einem Fall hier in Irland gehört?« Sie nahm den großen braunen Becher mit Tee, den er ihr hinhielt, und tunkte einen Keks hinein.

»Ein- oder zweimal.« Er humpelte zum Tisch hinüber. »Wenn es sich um ein ganz kleines Baby handelt, ist es meistens eine Frau. Sie fühlen sich besonders zu solchen kleinen Dingern hingezogen. Das Traurige ist nur, dass die Babys sterben, weil sie nicht mit ihnen umgehen können. Ihr müsst den kleinen Kerl so schnell wie möglich finden.«

»Sie wollen natürlich ein Profil haben«, sagte Paula seufzend und strich sich die roten Haare zurück, in denen sich auf dem kurzen Weg vom Auto zur Haustür einige Schneeflocken verfangen hatten. Der Schnee würde über Nacht vermutlich liegen bleiben. »Es ist ja in Ordnung, dass sie eins haben wollen, aber wenn es dann vorliegt, machen sie einem deswegen die Hölle heiß.«

»Profile«, meinte PJ verächtlich. »Ein bisschen gesunder Menschenverstand reicht auch.«

Das würde bedeuten, dass ihr Job zum größten Teil überflüssig war, aber Paula sagte nichts dazu. Sie kaute an ihrem Keks. »Die schmecken gut. Dank Pat habe ich ein paar Kilo zugenommen, seit ich hier bin.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, wünschte sie auch schon, sie hätte es nicht getan. In Wahrheit war sie dünner geworden, vor allem seit sie sich ständig übergeben musste.

»Sie hat heute nach dir gefragt. Du solltest dich mal bei ihr melden.«

»Hm, hm.« Paula mochte Pat O’Hara wirklich sehr gern. Sie war die beste Freundin ihrer Mutter gewesen, und sie kannte sie schon ihr ganzes Leben lang. Aber Pat war auch Aidans Mutter, und das war etwas, womit Paula im Moment überhaupt nicht umgehen konnte.

»Ich …« Sie wollte noch etwas zu dem Fall sagen und ihren Vater um seine Meinung dazu bitten, aber da kam ihr der Keks schon wieder hoch. Um Himmels willen, nicht schon wieder. »Ich … muss … warte kurz.« Sie schlug sich die Hände vors Gesicht, rannte die Treppe hoch und warf sich vor der Toilette auf die Knie. Als die Übelkeit nachließ, lehnte sie den Kopf an die hässlichen grünen Badkacheln.

»Alles in Ordnung, Liebes?«, fragte PJ beunruhigt von unten.

»Ja.« Ihre Stimme klang schwach und belegt. »Ich hab … bloß was Schlechtes gegessen.« Wie vielen Leuten wollte sie das heute noch erzählen?

Sein beredtes Schweigen war sogar hier oben deutlich zu spüren. PJ konnte man nicht so leicht hinters Licht führen. »Na, dann komm wieder runter. Ich mach dir eine Wärmflasche.«

Paula schloss die Augen und dachte an Guy Brooking, der groß und aufrecht in seinem grauen Anzug durch die Flure schritt und Befehle gab. Und an Aidan O’Hara in seiner zerrissenen Jeans und dem Bruce-Springsteen-T-Shirt, einen Stift hinters Ohr geklemmt, immer auf der Jagd nach neuen Storys. Und sie wünschte sich, sie hätte keinen von beiden je getroffen.

Kapitel 3

»Morgen, alle zusammen. Die Infos fürs Briefing liegen schon bereit.«

Als die Angehörigen der Einheit für ungelöste Vermisstenfälle am frühen Morgen nach und nach eintrafen, sich den schmutzigen Schnee von den Schuhen traten und ihre Schals abnahmen, waren sie nicht im Geringsten überrascht, dass Guy Brooking sie mit hochgekrempelten Hemdsärmeln empfing und die ausgedruckten Info-Blätter schon fein säuberlich auf dem Konferenztisch gestapelt hatte. Seit seiner Entgleisung Ende Oktober, als seine Tochter von zu Hause weggelaufen war und sie alle von einer Entführung ausgegangen waren, bemühte Guy sich darum, seine Autorität wiederherzustellen. Mit großem Einsatz bearbeitete er die nicht aufgeklärten Vermisstenfälle, mit denen das Team sich befassen sollte. Im letzten Monat waren die Arbeitstage sehr lang gewesen. Sie hatten die alten Akten durchgesehen, Hinweise aufgegriffen, leicht verunsicherte Familienmitglieder der Verschwundenen befragt und sich auf alle neu eintreffenden Fälle gestürzt. Glücklicherweise hatte es sich dabei größtenteils um Schulkinder gehandelt, die sich mit ihren Eltern gestritten hatten und nach einer Nacht wieder auftauchten. Nichts Besonderes, bis die Sache mit dem entführten Baby passiert war, und manchmal fragte Paula sich, ob sie vielleicht mehr Schlechtes als Gutes bewirkten. Wenn sie die Verschwundenen ohnehin nicht finden konnten, warum stocherten sie dann in der Vergangenheit herum wie in einem trüben Teich?

Als sie sich setzte, bemerkte sie den dunklen Fleck auf dem Teppich und vermied es, die anderen anzusehen. Hoffentlich konnte sie ihren Mageninhalt heute bei sich behalten. Die anderen saßen bereits auf ihren Plätzen, Avril hatte ihren Laptop aufgeklappt, Fiacra fummelte an seinem iPod herum, Gerard trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte, während Bob Hamilton sich in ein Stofftaschentuch schnäuzte. Das kleine Team war erst seit ein paar Monaten zusammen und hatte praktisch täglich mit beschränkten Finanzmitteln, Anfeindungen der Bürger und Missgunst von Seiten der regulären Polizei zu kämpfen, die jetzt Police Service of Northern Ireland (PSNI) hieß und eine schlau eingefädelte Wiederbelebung der früheren Royal Ulster Constabulary (RUC) darstellte.

Guy hatte ein Bild der vermissten Person in den Projektor gelegt, wie es seine Angewohnheit war. Dadurch wurden die Teammitglieder gezwungen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Das hier ist das einzige Foto, das es bislang von Alek Pachek gibt«, sagte er. »Der Vater hat es mit seinem Mobiltelefon kurz nach der Geburt aufgenommen.« Auf dem verschwommenen Bild war ein winzig kleiner Junge mit geschlossenen Augen zu sehen, der den Mund geöffnet hatte und schrie. Jemand hielt ihn in den Armen – wahrscheinlich die Mutter. Paula erkannte den rosafarbenen Stoff ihres Pyjamas. »Können Sie uns kurz auf den aktuellen Stand der Ermittlungen des PSNI bringen, Sergeant Hamilton?«

Bob Hamilton brauchte wie immer etwas zu lange, bis er die Fakten zur Hand hatte. Er war ein altgedienter Beamter der RUC und sollte die Einheit übernehmen, wenn Guy irgendwann einmal zurück nach London beordert wurde. Wann immer das sein sollte. »Äh … genau. Nach dem Vorfall wurde das Krankenhaus abgeriegelt und durchsucht. Das Baby und sein Entführer hatten das Gebäude allerdings bereits verlassen, also wurde es wieder freigegeben. Die Kameras in der Lobby haben den Täter beziehungsweise die Täterin aufgenommen, wie sie das Gebäude Richtung Parkplatz verlässt. Bisher gibt es keine Informationen von den Verkehrsüberwachungskameras, und niemand auf der Station hat etwas bemerkt. Miss Wright hat den Filmausschnitt, glaube ich.« An seiner trockenen, zurückhaltenden Ausdrucksweise war nicht erkennbar, dass Avril in Wahrheit seine Nichte war. Sie warf Paula einen kurzen Blick zu und lächelte flüchtig. Typisch Bob.

Guy wartete, aber das war alles, was Bob dazu zu sagen hatte, also ergriff er wieder das Wort. »Wie es scheint, hat die Kriminalpolizei sich des Falls angenommen, aber ich möchte trotzdem alle unsere Möglichkeiten in diesem Zusammenhang einsetzen. Avril, suchen Sie doch bitte in den Akten nach ähnlichen Fällen. Es wäre ja möglich, dass die gleiche Täterin das schon mal gemacht hat.« Avrils blonder Schopf bewegte sich auf und ab, als sie nickte und ihre Tastatur bearbeitete.

»Schauen Sie auch nach versuchten Entführungen«, warf Paula ein. »Oftmals gehen einer erfolgreichen Tat mehrere Versuche voraus. Als müsste der Täter noch üben.«

Guy schaltete den Projektor aus. »Es sieht leider so aus, als müssten wir mal wieder mit denen auf dem Berg konkurrieren, aber wir sollten trotzdem nichts unversucht lassen.« Mit »denen auf dem Berg« war die örtliche Zentrale des PSNI gemeint, in der Chief Inspector Corry das Sagen hatte. Paula konnte Guys Unbehagen nachvollziehen. Die Finanzierung ihrer grenzübergreifenden Polizeieinheit war nicht gesichert, weshalb sie sich ständig für ihre Existenz rechtfertigen und zeigen mussten, dass sie schnell handeln, ermitteln und Erfolge erzielen konnten. Falls Helen Corry alle neuen Fälle an sich zog, hatten sie kaum eine Chance.

Avril Wright hob schüchtern die Hand. »Möchten Sie das Überwachungsvideo sehen, Sir? Ich habe es vom Krankenhaus bekommen.« Sie drehte den Laptop um. Nun schauten alle auf eine Schwarz-Weiß-Aufnahme des Flurs der Entbindungsstation. »Das da ist das Zimmer der Pacheks.« Auf dem Bildschirm war eine große Frau in einer Schwesterntracht zu sehen, die schnurstracks auf das Zimmer zuging. Sie hielt einen Moment vor der Tür inne, machte sie dann auf und trat ein. Eine Minute später kam sie wieder heraus und schob das Kinderbettchen vor sich her. Der Vater hielt der Kidnapperin die Tür auf. Die Frau ging den Flur entlang und verschwand. Ihr Gesicht war während der ganzen Zeit von der Kamera abgewandt.

»Und das noch.« Avril klickte wieder auf den Bildschirm. »Eine Aufnahme aus dem Wartebereich im zweiten Stock. Das ist direkt vor der Station. Schauen Sie dort in der Ecke.«

Zuerst war es schwer zu erkennen, aber es war die gleiche Gestalt, die dort hinter einem Stuhl stand. Und dann nahm sie das Baby hastig aus dem Bettchen und schob es in etwas Schwarzes, das wie eine Schultertasche aussah. Als würde sie einen gefangenen Fisch verstauen. Niemand schien es zu bemerken. In einer Ecke stritt sich ein Mann mit der Frau am Empfangstresen.

»Sie hat das Baby in eine Tasche gepackt?« Paula starrte auf den Bildschirm.

»Ja. Und jetzt sehen Sie mal hier.« Die Eingangstür des Krankenhauses ging auf. Die Frau lief eilig hinaus und hatte die Tasche an sich gepresst. Avril hielt das Bild an. »Danach verschwindet sie aus unserem Blickfeld. Sie hat gerade mal zwei Minuten gebraucht, um rauszukommen. Sie ging durchs Treppenhaus nach unten, hat nicht den Aufzug benutzt. Sie hatte kein Auto auf dem Parkplatz geparkt. Sie hat sich das Kind gegriffen und war schon weg, bevor irgendjemand etwas bemerkte.«

»Sie muss aber ein Auto gehabt haben«, sagte Fiacra nachdenklich. »Auch Neugeborene sind nicht leicht. Und es hatte geschneit.«