Blasse Helden - Arthur Isarin - E-Book

Blasse Helden E-Book

Arthur Isarin

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Beschreibung

»Wer Russland heute verstehen will, sollte Norris von Schirach lesen – ein kühnes literarisches Abenteuer.« Viktor Jerofejew

Anton zieht zu Beginn der 1990er Jahre nach Moskau. Hier hofft er jene Leichtigkeit und Freiheit zu finden, die er im Westen vermisst. Engagiert wird der 32-Jährige Deutsche von einem Rohstoffhändler, der für seine riskanten Geschäfte in der rapide zerfallenden Sowjetunion einen zuverlässigen Mr Fix-it sucht. Anton ist dafür der ideale Mann: Er hat keine politische Haltung, stellt keine moralischen Fragen und beherrscht die Kunst lässig-dionysischen Gleitens. Es verlangt ihn nach schönen Frauen, der hohen Kultur und, natürlich, Geld. Schnell erhält Anton Zugang zu den neuen Eliten des Landes. Er lässt sich treiben und führt als „blasser Held“ ein bizarres Leben. Sein lustvoller Gleitflug endet jäh, als Putin ein Jahrzehnt später die Szene betritt. Anton muss sich entscheiden.

Norris von Schirachs großer Roman über das Russland zur Jelzin-Zeit, zuerst erschienen unter dem Pseudonym Arthur Isarin, jetzt endlich im Taschenbuch.

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Seitenzahl: 381

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Über das Buch:

Das postsowjetische Russland der 1990er Jahre: ein Land in Auflösung, geprägt von Privatisierung, Oligarchen und skrupellosen Geschäftemachern. Als Anton zu Beginn des Jahrzehnts nach Moskau zieht, will er hier die Schwerelosigkeit und die Freiheit finden, die er im Westen vergebens gesucht hat. Engagiert wird der 32jährige Deutsche von einem Rohstoffhändler, der für seine riskanten Geschäfte in der rapide zerfallenden Sowjetunion einen zuverlässigen Mr Fix-it sucht. Anton ist dafür der ideale Mann: Er hat keine politische Haltung, stellt keine moralischen Fragen und beherrscht die Kunst lässig-dionysischen Gleitens. Es verlangt ihn nach schönen Frauen, der hohen Kultur und, natürlich, Geld. Schnell erhält Anton Zugang zu den neuen Eliten des Landes. Er lässt sich treiben und führt als „blasser Held“ ein bizarres Leben unter kultivierten Banditen, Künstlern, Geheimdienstleuten, Betrügern, korrupten Unternehmern, Kokotten und mittellosen Schönheiten. Im Winter 1999 wendet sich sein Schicksal. Putin betritt die Szene, und Anton muss sich entscheiden: mit dem Tschekisten paktieren oder alles hinter sich lassen?

Über den Autor:

Der Name Arthur Isarin ist ein Pseudonym. Der Autor wurde 1965 in München geboren. Er hat Philosophie, Politik und Ökonomie studiert und in England, USA, Russland und Kasachstan gearbeitet. Heute lebt er in Queensland, Australien. Blasse Helden ist sein erster Roman.

Arthur Isarin

(Norris von Schirach)

Roman

Knaus

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Copyright © 2018 beim Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22172-0 V006

Für meinen Sohn Maxim

Wo es nicht besser wird, da wird es schlechter, und vom Schlechten zum Guten ist es wiederum auch nicht weit.

Lermontow

Gleitet, ihr Sterblichen, lastet nicht!

Louise Schweitzer, laut Sartre

I

TANZBÄR

Wann immer der Generaldirektor Igor Pawlowitsch in das Bürogebäude kam, gab sich die Rohstoffabteilung hochmotiviert. Er allein entschied über monatliche Menge und Preis, die eines der größten Stahlwerke an sie lieferte. Anton bemerkte zu seinem Missfallen, wie auch er im Umgang mit dem Sibirier eine devote Haltung annahm.

Alles lief nach der bewährten Routine ab. Zu Beginn war das Konferenzzimmer noch voll von Antons Mitarbeitern, die sich bereithielten, Igor Pawlowitschs Fragen zu beantworten. Anton folgte wortlos dem Abgleich logistischer Details. Noch eine halbe Stunde, dann wäre seine Mitarbeit gefragt. Es war sein neunter Monat in Moskau.

Er hatte die Stadt wie durch eine Tapetentür betreten, und man stellte ihm eine kleine Wohnung aus den dreißiger Jahren in der für hiesige Verhältnisse engen Brjussow-Gasse zwischen Twerskaja und Tschaikowski-Konservatorium zur Verfügung. Das hohe graue Haus in bester Lage stammte vom Architekten des Lenin-Mausoleums, was als Erklärung für die düsteren Räume galt. Unter Stalin war das Gebäude verdienten Künstlern vorbehalten gewesen, woran der Straße zugewandte Reliefs in der Hauswand erinnerten. Die Wohnung im dritten Stock hatte zwei Zimmer, die in etwa gleich hoch wie breit waren. Aus den Fenstern blickte man auf Pappeln und auf ein Wohnhaus aus den zwanziger Jahren. Im Sommer wartete er manchmal auf dem klobigen Steinbalkon, bis die Klingel des Konservatoriums läutete, um dann erst in einen der Säle hinüberzugehen. Bis zum Büro in Kitai Gorod, einem der ältesten Viertel Moskaus, waren es zehn Minuten mit dem Wagen. Es unterschied sich völlig von seinem letzten Arbeitsplatz in Manhattan, wo er als Controller für eine Versicherungsgesellschaft gearbeitet hatte. Dort saß er im 28. Stockwerk über der Wall Street, hier im ersten Stock eines kleinen Bürohauses, das eben erst errichtet zwischen heruntergekommenen Mietshäusern stand.

Den November ’89 hatte er mit Freunden auf der Berliner Mauer verbracht, und als diese schließlich fiel, wünschte er sich nur noch, so weit wie möglich in den Osten einzutauchen.

Zurück in New York, begann er Russisch-Unterricht zu nehmen, knüpfte Kontakte zu Emigranten und aß an den Wochenenden Borschtsch in Brighton Beach. Einer seiner Onkel, ein Anwalt aus Köln, machte ihn auf einen Mandanten aus Moskau aufmerksam, und während seines nächsten Besuchs in Deutschland traf er sich zum ersten Mal mit Paul Ehrenthal.

Der etwas linkische Kaufmann mit baltisch-deutschen Wurzeln und einem ausgeprägten Hang zur Selbstdarstellung lebte seit Anfang der siebziger Jahre als Handelsvertreter in Moskau. Die Sowjetunion duldete seit ihren Anfängen einige wenige privatwirtschaftliche Organisationen, um unverzichtbare Importe abzuwickeln. Als die Wirtschaftsreformen Ende der achtziger Jahre Wirkung zeigten, hatten solche kommerziellen Strukturen aufgrund von Kapitalausstattung, Organisationsgrad und Netzwerk einen Vorsprung gegenüber den neu auftretenden Konkurrenten. Mitunter verzettelten sie sich jedoch in einem übermütigen Aktionismus, der in allerlei unsinnige Investitionen mündete. Auch Ehrenthal versuchte auf die für seine Verhältnisse meist zu schnellen Züge aufzuspringen. Tatsächlich erzielte er zunächst im Rohstoffbereich einige Anfangserfolge, wurde in letzter Zeit aber von smarten jungen Russen aus den lukrativeren Geschäftsfeldern verdrängt. Sie hatten bei dem trägen und zaudernden Ehrenthal leichtes Spiel.

Der ehrbare hanseatische Kaufmann, wie er sich selbst gerne nannte, der mental immer ein erbsenzählender Handelsvertreter blieb, war längst vom neuen Russland überfordert und flüchtete sich in nostalgische Schwärmerei für die Sowjetunion der siebziger Jahre. Stetes Lamentieren und der Hang zum Belehren verrieten seine Bereitschaft, sich mit den Krümeln zufriedenzugeben, die die echten Oligarchen übrig ließen.

Ehrenthal war auf der Suche nach einem vertrauenswürdigen Mr Fix-it, der seine ebenso breitgefächerten wie unklugen Investitionen in Russland konsolidieren sollte. Die Sowjetunion zerfiel gerade rapide, und Anton nahm die Herausforderung an, zu groß war die Verlockung nach all den Charakteren und ihren Geschichten in der Neuen Welt. Er war jetzt zweiunddreißig Jahre alt und hoffte, in der Öde des Ostens, die so verblüffend sein Lebensgefühl spiegelte, eine Leichtigkeit zu finden, die er, wie er sich in aufrichtigeren Momenten eingestand, nie erlebt hatte.

Die Mitarbeiter verließen nach und nach den Raum, bis sich nur noch Igor Pawlowitsch und Anton gegenübersaßen. Ehrenthal hatte gerade noch vorbeigeschaut, um den Grußaugust zu geben. Er sagte dann immer denselben Satz.

»Mein lieber Igor Pawlowitsch, die Welt verläuft nicht linear.«

Der Sibirier nickte hierauf stets wortlos, und Ehrenthal ließ sie wieder alleine.

Vordergründig war bereits alles geklärt. Um von den nach Stahl lechzenden Chinesen weiterhin zu profitieren, würde das Kombinat die Liefermengen erhöhen. Nun glitten sie hinüber zum inoffiziellen Teil des Treffens. Den Übergang bildete etwas Small Talk. Igor Pawlowitsch widmete sich seit einiger Zeit der Großwildjagd und berichtete von den Mühen, die Big Five in Ostafrika zu erlegen, wobei sich Elefant und Nashorn die Waage hielten. Eine köstliche Schilderung über den verwegenen Transport der Trophäen im Privatjet nach Sibirien folgte.

Das Intermezzo belangloser Plauderei neigte sich dem Ende zu. Gleich würde der Generaldirektor des metallurgischen Kombinats kleinteilige Wünsche äußern. Die Verteilung der Bestechungssummen aus den diversen Vereinbarungen bildete den Höhepunkt der vierteljährlichen Treffen. Über die exakte Summe gab es keinen Zweifel, Anton hatte in den vergangenen Wochen alle diesbezüglichen Vorgänge stark vereinfacht und übersichtlicher strukturiert. Transparenz stand nun an vorderster Stelle, mühselige Interpretationsdifferenzen gehörten der Vergangenheit an.

Igor Pawlowitsch hielt sich bereits seit fast zwei Jahren an der Spitze des Kombinats. Dies lag nicht an seinen beruflichen Fähigkeiten. Vielmehr teilte der kluge Mann ohne Reue seine Kick-backs mit all denjenigen, die ihn im Gegenzug weiterhin am Leben ließen.

Das hemmungslose Plündern des ihm anvertrauten Unternehmens war höchst rational. Jeden Tag drohte Vertreibung. Sein Aktienpaket und sein Vertrag spielten dabei keine Rolle, nie gehörte einem etwas wirklich, weder damals in der Sowjetunion noch heute. Wer nicht von Beginn an alles zusammenraffte und unauffindbar verschwinden ließ, galt als Idiot. Igor Pawlowitsch war keiner. Wenn er sich noch sechs Monate hielt, würde sein Reinvermögen bei etwa fünfzig Millionen Dollar liegen.

Wie immer schob er sorgfältig einen kleinen Zettel mit Notizen in die Mitte zwischen sich und Anton. Dieser nickte betulich-konspirativ.

»Igor Pawlowitsch, wie sollen wir diesmal verfahren?«

Jetzt folgten detaillierte Instruktionen zu Überweisungen auf Konten von Offshorefirmen, deren Begünstigte sich nur sporadisch änderten. Der Gouverneur, zwei Minister, eine KGB-Tarnorganisation, zwei leitende Angestellte des Kombinats, ein lokaler Gewerkschaftsboss und ein paar Banker, die über Kredite entschieden. Dann kam er zu den Konten von Ehefrau und Geliebter in Zürich und Genf. Damit sie sich nicht begegneten, so sein jovialer Running Gag.

Als Nächstes folgte Igor Pawlowitschs ausgeklügelte Spezialität, die vierteljährliche Auftragsliste für zu bestellende Neuwagen. Welches Modell für wen als adäquate Aufmerksamkeit vorgesehen war, bildete einen zuverlässigen Indikator für die aktuellen Machtkonfigurationen in der Provinz und in Moskau. Danach kam noch Kleinkram, ein paar der günstigeren Rolex-Uhren und zwei Dutzend individuell gravierte Montblanc-Füller, Mitbringsel für das Fußvolk in den Ministerien, ohne deren Kooperation Anweisungen von oben nur schleppend umgesetzt wurden.

Bis zu diesem Punkt äußerte der Russe keine problematischen Wünsche. Anton begann sich bereits zu entspannen.

»Noch eine Bitte zum Schluss. Sie kennen doch meinen Sohn Pjotr?«

Der Deutsche nickte verständnisvoll. Familienangehörige standen für potentielle Katastrophen.

»Ein aufgeweckter Junge. Er soll nach Atom«, sagte der Generaldirektor.

»Sie meinen Eton.«

»Wie auch immer. Er ist begabt. Also ab nächstem Monat.«

»Spricht er denn Englisch?«

»Ein wenig. Den Rest kann er ja dort lernen.«

Anton stimmte zu. »Hierfür gibt es Agenturen. Aber das ist mit Aufwand verbunden. Rechnen Sie fürs Erste mit zweihunderttausend Dollar.«

»Der Junge ist es wert.«

Anton erinnerte sich vage an das hyperaktive Bürschchen, er war ihm im Moskauer oder im sibirischen Domizil des Generaldirektors begegnet. Ein Teil der Summe würde als Rücklage für das Schmerzensgeld der Erzieher dienen müssen. Er könnte den Sibirier jetzt warnen; die Auslagerung der Brut in Nobelinternate führte unweigerlich zu irreparablen Zerwürfnissen in den Familien. Bereits beim ersten Wiedersehen mit den Eltern wurden diese vom Nachwuchs als neureich gekleidete Emporkömmlinge erkannt, deren Tischmanieren zu problematisch waren, um weiter mit ihnen zu verkehren. Das Kalkül von Igor Pawlowitsch, das Kerlchen so auf eine tragende Rolle im zukünftigen Russland vorzubereiten, war an Einfalt nicht zu überbieten. Die einmal in Oxbridge oder an der LSE sozialisierten Blagen kehrten nie mehr ins Land ihrer grobschlächtigen Vorfahren zurück. Natürlich behielt Anton all dies für sich; es ging hier schließlich nicht um Familienberatung, sondern um ein rustikales Stahlgeschäft. Außerdem nahm er dem Sibirier die Schilderung der Safari ein wenig übel. Anton hatte gedacht, Nashörner gäbe es längst nur noch im Zoo.

Er begleitete Igor Pawlowitsch zu dessen Fahrzeugkolonne vor dem Bürogebäude. Kein Minister konnte sich mit derart vielen Blaulichtern und Sirenen schmücken. Die beiden deuteten zum Abschied eine kurze Umarmung an. Während sich der Pulk entfernte, sog Anton die kalte Luft ein. Er fröstelte erleichtert; für die Ewigkeit von drei Monaten würden nun wieder Tausende mit Stahl beladene Eisenbahnwagons in die Häfen rollen. Vorausgesetzt, Igor Pawlowitsch verteidigte weiterhin seine Position und Eton zierte sich nicht allzu sehr.

Anton kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, um sich der Gestaltung des abendlichen Kontrastprogramms zum eben erlebten Zivilisationsbruch zu widmen.

Boshafterweise legte ihm Sergei, ein gewitzter Schlaukopf, der längst sein wichtigster Verbündeter in der Firma war, noch eine Zeitungsnotiz mit Meldungen zum Kombinat von Igor Pawlowitsch auf den Tisch. Eine Liste der altbekannten Widrigkeiten: monatelang ausstehende Gehälter, Tausende von Entlassungen, gewalttätige Streiks, horrende Steuerschulden und astronomische Forderungen von Energieunternehmen.

»Nicht zu vergessen gravierende Qualitätsmängel und keine Investitionen seit zwanzig Jahren«, murmelte Anton, des Themas längst überdrüssig, vor sich hin, während er die Nummer des Poeten Wiktor Jefimowitsch Landtsman wählte.

Wiktor war eine der kultiviertesten Personen, die Anton kannte. Mitte dreißig, schmächtig, abstehende Ohren, kleine Nase und stets flackernde Augen. Natürlich konnte er nicht vom Verkauf seiner Gedichte leben, weshalb er wie viele Künstler ein Business betrieb. Unter anderem importierte er einen Kräuterschnaps aus Finnland, den er landesweit als elitären Zusatz für Saunaaufgüsse verkaufte. Elitär diente als Steigerung von exklusiv und bedeutete sehr teuer, ein gängiges Verkaufsargument, das erfolgreich Qualität suggerierte. Wiktor lebte glücklich mit Frau und Tochter in einem heruntergekommenen Hochhaus, und Anton hatte den Eindruck, dass in dieser jüdischen Kleinfamilie ständig musiziert, vorgelesen und unfassbar schlecht gekocht wurde. Auf diese Weise gelang es ihnen, sich in den drei Zimmern gegen die brutale Tristesse der Satellitensiedlung zu stemmen. Wiktors Leben war so gut wie noch nie. Vor ein paar Jahren, als er noch ein Marinesoldat gewesen war, hatte er durch ausgiebigen Genuss von kontaminiertem Wasser auf einem Kriegsschiff eine Niere eingebüßt. Verglichen mit der Existenz beim Militär, fühlte er sich nun im Paradies.

Seine Gedichte handelten von Figuren aus Shakespeare-Stücken, die im heutigen Russland fiktiven oder realen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts begegneten. Puck traf dort in einer McDonald’s-Filiale an der Twerskaja auf Gogol. Wiktor ließ die Bändchen in winzigen Auflagen drucken und überredete Ladeninhaber, sie in Kommission zu nehmen. So behielt er seine Würde als verlegter Poet. Manchmal entdeckte Anton solch ein Exemplar in der Auslage eines Kiosks zwischen Pornofilmen und Pfefferspray.

»Hier ist Anton. Was läuft schlechter, die Gedichte oder deine kommerziellen Sünden?«

»Angenehme Überraschung, dich zu vernehmen. Poesie und Kommerz entwickeln sich gut, aber das spielt alles keine Rolle mehr.«

»Was ist passiert?«

»Kernsanierung!«

Anton erschrak, in Friedenszeiten war dies der meistgefürchtete Schicksalsschlag. Die verhasste Obrigkeit ordnete die Entvölkerung eines Wohnblocks an, um ihn räuberischen Baubrigaden zu überlassen, die dadurch uneingeschränkten Zugang zu den möblierten Wohnungen bekamen. Manchmal hinderte man die ehemaligen Bewohner mit offiziellen Verfügungen an der Rückkehr. Die Umsiedlung in noch unattraktiveren Wohnraum wurde dann mit akuten Baumängeln begründet. In letzter Zeit mehrten sich Gerüchte über die Zusammenarbeit von Bürokraten mit marodierenden Banden, die auf diese Weise ganze Wohnblocks übernahmen, um sie anschließend schnell zu verkaufen.

»Das musst du mir genau erzählen. Sollen wir heute essen gehen?«, fragte Anton.

»Gerne. Danach böte sich der Besuch einer Geburtstagsfeier in Eduards Wohnung an.«

»Was sind das denn für Leute?«

»Die übliche Versammlung mittelloser Geistesmenschen.«

»Klingt gut. Um acht hole ich dich Ecke Kropotkinskaja ab«, sagte Anton und legte auf.

Er freute sich auf einen Abend mit Wiktor. Auf diese Weise entkam er der Melancholie, die sich immer dann einstellte, wenn er ein paar Stunden lang postsowjetischen Generaldirektoren ausgesetzt gewesen war. Da ihn die Verkommenheit von Akteuren wie Igor Pawlowitsch an seine eigene erinnerte, hatte er sich ein ganzes Repertoire an Strategien zugelegt, um anschließend auf andere Gedanken zu kommen. Die Gesellschaft von Wiktor war als Gegengift zuverlässig wirkungsvoll. Bei profaneren Mitteln, wie etwa einer Flasche Grange, während ihn Tatjana Samoilowa als Anna Karenina auf dem Fernsehschirm rührte, oder einem Rendez-vous mit zwei oder drei begabten Kokotten gab es keine Gewissheit, ob er sich danach nicht noch fahler fühlte.

Das Interieur des Restaurants im Zentrum orientierte sich an einem populären Sowjetfilm, der in einer zentralasiatischen Wüstenlandschaft spielte.

»Meine arme Familie wollte eigentlich auf der Datscha ausharren, bis die Wohnung wieder zugänglich ist«, sagte Wiktor.

»Wie lange dauert diese Heimsuchung noch?«

»Mindestens acht Wochen. Oder drei Monate. Das ist bei unseren barbarischen Baubrigaden doch nicht abzuschätzen.«

»Haben die euch schon ausgeplündert?«

»Ein Vorarbeiter hat mich gleich gewarnt. Daraufhin habe ich ihm einen Batzen Geld gegeben, damit sie nicht sofort unsere Schränke aufbrechen oder die Küche klauen.« Wiktor schnitt eine gequälte Grimasse, die kopfschüttelnd in resignierendes Lachen überging. »Kurz darauf stellte sich heraus, dass er gar nicht für unsere Wohnung zuständig war. Dann musste ich noch einmal an den Richtigen zahlen.«

»Das Problem kenne ich. Wir schmieren auch dauernd die falschen Leute in den Behörden.«

»Der alte Mangel an Glasnost des Staatsapparats«, seufzte Wiktor.

»Ist die Datscha denn winterfest?«

»Nicht wirklich. Wir sind zurück in die Stadt geflüchtet. Jetzt wohnt meine Frau mit dem Töchterlein bei ihren Eltern in deren winziger Wohnung.«

»Und du?«

»Mal hier, mal dort. Alles besser als auf dem Land. Da geht es niederschmetternd zu.«

»Du meinst, dort beschäftigt sich keiner mit deinen Gedichten«, grinste Anton.

»Die Zustände dort scheinen nur aus der Distanz witzig. Die kollektiven Besäufnisse der Dorfbewohner sind animalisch. Irgendwann fallen immer alle übereinander her.«

»Aber das hat doch Tradition.«

»Du hast keine Ahnung. Die gehen dann von Haus zu Haus, vergewaltigen alles, was sich bewegt, und plündern einander ihre Habseligkeiten.«

»Das ist aber doch allgemein bekannt. Was hat das denn mit euch zu tun?«

»Sie kommen dann auch zu uns und verlangen Geld für Wodka, werden extrem aggressiv. Gruppendynamischer Wahn eben, die erschlagen auch gerne mal jemanden. Der flächendeckende Alkoholismus führt auf dem Land zu einem bisher unerreichten Grad der Verrohung. Wir bekamen einfach Angst dort draußen. Die Verherrlichung des Landlebens ist ein tief im russischen Volk verwurzelter Irrglaube.«

»Nicht nur des russischen. Ein deutscher Freund von mir hat vor drei Jahren einen Bauernhof gekauft und ist bereits grenzdebil. Er braut jetzt seinen Kefir selbst. Vorher hat er bemerkenswerte Thesen über Schnittke verfasst«, sagte Anton.

»Das Landleben führt hier und anderswo zu nichts als tragischer Verblödung«, stimmte Wiktor zu.

»Eine menschenwürdige Existenz ist nur in den Großstädten möglich.«

»Wir haben uns die fixe Idee vom reinigenden Landleben von Tolstoi einreden lassen.«

»Dabei gibt es nirgendwo mehr Niedertracht und Gemeinheit als auf dem Land«, bemerkte Anton, der noch nie außerhalb von Großstädten gelebt hatte.

»Eben. Koste doch mal dieses vorzüglich marinierte Schaschlik vom Stör mit Granatapfelsoße.«

Sie bestellten mehr Pouilly-Fumé und rekelten sich auf orientalisch anmutenden Kissen. Vielleicht war dieses Erlebnisrestaurant durch das Regieteam eines der kriselnden Theater inszeniert worden. Das wache Mittagslicht Zentralasiens schien gedämpft durch hölzerne Fenstergitter auf gemauerte weiße Bänke. Ein Springbrunnen plätscherte in einem maurischen Innenhof vor sich hin. Der sowjetische Western Weiße Sonne der Wüste vermengte sich mit der Entführung aus dem Serail. Beflissene Kellnerinnen in Phantasietracht trugen Köstlichkeiten auf. Die Restaurantkultur Moskaus hatte bereits das Niveau westlicher Hauptstädte überflügelt.

Anschließend fuhren sie auf dem Weg zur Party langsam durch die Stadt. Sie unterhielten sich dabei unbeschwert, der Wein hatte die Widrigkeiten des Tages sanft verbleichen lassen, und Anton bog ständig falsch ab. Aus der Behaglichkeit des Fahrzeugs heraus verfolgten sie das Treiben entlang der Prachtstraßen. Auf den schwach beleuchteten Trottoirs ließen sich Details nur bei geringer Geschwindigkeit erkennen. Es begann leicht zu schneien. Hunderte von Frauen standen schlotternd am Straßenrand, während Polizeifahrzeuge sich ihnen näherten und wieder verschwanden. Seit Tagen waren die Zeitungen voll von Berichten über den Streit innerhalb der Ordnungskräfte wegen den von ihnen eingetriebenen Schutzgeldern der Prostituierten.

»Ich habe gelesen, dass achtzig Prozent der vierzehnjährigen Mädchen als Berufswunsch Callgirl angeben«, sagte Wiktor.

»Wird Zeit, dass sich die restlichen Einkommen denen der Nutten anpassen. Sogar die am Straßenrand machen in zwei Nächten mehr als ein Professor im Monat.«

»Wie mag es mit all denen da draußen weitergehen, wenn sich die Dinge hier normalisieren?«

»Die meisten werden heiraten und versuchen, irgendwie durchzukommen. So war es in Deutschland nach dem Krieg doch auch.«

»Mit vernarbten Seelen.«

»Ja, mit vernarbten russischen Seelen«, stimmte Anton zu. Die dahinplätschernde Konversation der beiden wurde immer wieder durch sonderbare Szenen draußen unterbrochen. Unter den Säulen des Tschaikowski-Konzertsaals hockten zwei Mädchen pinkelnd nebeneinander und unterhielten sich dabei. Eine der beiden winkte ihnen lachend zu.

»Die russische Seele war der Marketingeinfall einiger Schriftsteller im 19. Jahrhundert. Damit bediente man die Schwäche ausländischer Leser für Exotik«, sagte Wiktor.

»Wie prosaisch. Dabei klammere ich mich so an sie.« Anton sah ihn versonnen an.

»Wie viele halbwegs gebildete Westler tendierst du dazu, alles Russische kritiklos zu verherrlichen.«

»Da hast du recht.«

»Eine merkwürdige Form von Dekadenz, ausgerechnet das heutige Russland zu preisen.«

Heimelig knirschte der Schnee unter den Reifen, während sie die Moskwa entlangfuhren. Die uralte Schokoladenfabrik Roter Oktober auf der Flussinsel sah nach Weihnachtsmärchen aus. Eigenartig, dass sie noch nicht in ein Business Center umgewandelt worden war.

Die Wohnung mit Blick auf die Moskwa lag im siebten Stockwerk eines Häuserblocks aus den fünfziger Jahren. Von dem sich langsam nähernden Wagen aus musterten die beiden die eindrucksvolle Fassade. Noch immer kündete die Anlage im Stil des sozialistischen Klassizismus ungelenk vom Stolz und Glanz der Sowjetunion. Schon nach wenigen Jahren war dieser Baustil von einer Flut niedriger, kastenförmiger Chrustschowkas verdrängt worden. Angetrunken nahm Anton die sowjetische Architektur Moskaus immer als politische Parabel wahr: von der phantastischen konstruktiv-experimentellen Phase nach der Revolution über Stalins bizarr kleinteilig verzierten Zuckerbäckerstil bis zur bitteren Bankrotterklärung des Plattenbaus während Breschnews Jahren der Stagnation. Ein steter architektonischer Abstieg in die Biederkeit, der seinen Tiefpunkt in den jüngst entstandenen Bürokomplexen nach westlichem Vorbild erreichte.

Im unbeleuchteten Innenhof ließen sie den Wagen stehen und tasteten sich bis zur offenen Haustür vor. Routiniert hantierte Wiktor im Uringestank mit der defekten Lifttür, während Anton versuchte, die eingeritzten Worte auf dem hellbraunen Holzdekorplastik zu entziffern. Es ging um konventionelle Sexualpraktiken und die Diffamierung einzelner Hausbewohner. Ein Päderast im dritten Stock wurde mehrmals erwähnt.

Die Tür zur Wohnung war angelehnt. Anton kannte keinen der auf dem Flur herumstehenden Leute. Hier war nie renoviert worden, und die jahrzehntelange Patina eines russischen Intelligenzija-Haushalts begeisterte ihn. Derlei Wohnungen wiesen die immer gleichen Spuren von Mangelwirtschaft, profunder Bildung und Literaturexzessen auf. Kleine Bücherregale mit seitlich verschiebbaren Glasscheiben stapelten sich wabenartig bis unter die Decke. Jahresringen gleich, gaben die Buchrücken viel über die Vergangenheit der Bewohner preis. Die Kenntnis Zehntausender Seiten von Klassikern galt in diesen Kreisen als Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Interessant war eher, welche Werke nicht vorhanden waren. Der Zensurfilter hatte schmerzhafte Lücken in der Weltliteratur hinterlassen; Heinrich Mann, Remarque und Feuchtwanger waren hingegen immer vertreten. Die jüngst hinzugekommenen Nabokov-, Schalamow- oder Solschenizyn-Bände lagen nun neben Henry Miller und Jack Kerouac aus Platzmangel quer über den Reihen. Seit ein paar Jahren gab es nur noch die Zensur des Marktes.

Seitwärts bewegte sich Anton langsam weiter den schmalen Flur entlang. Nippes verriet mehr über die Bewohner. In einem Setzkasten lagen Streichholzbriefchen mit den Aufschriften von Restaurants aus europäischen Hauptstädten, San Francisco und Tokio. Mitbringsel aus den siebziger Jahren, einst prestigereiche Trophäen, die dem Besucher bereits im Flur das ultimative Statussymbol, wiederholte Reisen zum Klassenfeind, präsentierten. Der Aschenbecher aus einem verwanzten New Yorker Hotel war bis Mitte der achtziger Jahre auch bei Geistesmenschen mitunter kostbarer als eine Werkausgabe Dostojewskis.

Seit dem Tod seiner Eltern lebte Eduard hier mit regelmäßig wechselnden, sich stark ähnelnden Freundinnen. Wie schon sein unter Fachleuten international bekannter Vater wurde er Chemiker, wenngleich völlig erfolglos, wie er gerne vorbeugend bemerkte. Er war Ende dreißig, recht farblos, und es blieb unklar, woher das Geld zum Leben kam. Anton vermutete, dass er auf einer abgelegenen Datscha Giftcocktails für Gangster oder synthetische Drogen für die Hauptstadtjugend herstellte. Im Konservatorium traf er ihn manchmal in der Gesellschaft nur schwer einzuordnender Menschen. Er wirkte ruhig, und man hätte ihn für einen Langweiler halten können, wäre da nicht seine wahnhafte Liebe zu Maria Callas gewesen. Seine Hymnen auf die Griechin waren gefürchtet. Diese Ausfälle begannen immer gleich, erst redete er sich kompetent in zittrige Rage, wurde nach einer Weile immer hysterischer und gestenreicher, bis er schließlich nur noch erschöpft etwas von Pariser oder Londoner Aufnahmen stammelte. Worte wie Norma, Tebaldi oder Scotto konnten solche Anfälle auslösen und wurden von seinem Umfeld tunlichst vermieden.

Sein gutmütiges Wesen und der Umstand, dass er mit unzähligen originellen Menschen befreundet war, die über keine eigenen Räumlichkeiten verfügten, ermöglichten regelmäßige Partys in seiner Stadtwohnung. Er bereitete hierfür nichts vor und kümmerte sich um nichts, saß nur in einer Ecke und beobachtete entspannt das Treiben. Viele der Anwesenden wussten nicht einmal, wer er war, und ignorierten ihn. Er reichte Anton und Wiktor lächelnd die Hand, ohne aufzustehen. Wiktor setzte sich zu ihm.

Der dicke Mann, mit dem Anton in der Küche zusammenstieß, musterte interessiert die zwei mitgebrachten Flaschen. Während er sich die verklebten Haare aus der Stirn wischte, rang er nach Worten. Langsam schwollen die Backen, und er prustete los. »Ein Ausländer! Unsere Leute bringen keine solchen Tropfen mit. Sag was, damit ich weiß, woher du kommst. Mein Name ist Pawel, und ich habe heute Geburtstag. Das alles sind …«

Eine zierliche Brünette unterbrach ihn: »Hör nicht auf ihn und gib das gleich mal her.« Sie deutete auf die beiden Flaschen. »Ich bin Lena, und wir feiern tatsächlich den Geburtstag dieses Scheusals. Ist doch egal, woher du kommst. Verstehst du Russisch?«

Sie trug eines dieser schlichten grauen, sowjetischen Wollkleider, die man nur noch selten sah und die Anton sehr schätzte.

»Ein wenig. Ich mag dein Kleid.«

»Oh Gott. Dann bist du wirklich ein Ausländer. Wenigstens ist das Ding warm. Auf dich wirkt es also exotisch. Stehst du etwa auf kleine arme Russinnen in Sowjetkleidchen?«

»Mehr als auf alles andere.«

»Haha – so einen wie dich habe ich hier nicht erwartet.« Sie tippte ihm auf die Brust.

Er hatte das Gefühl, sie zu kennen, konnte sie aber erst nicht einordnen. Dann wurde ihm klar, dass sie ihn an die junge Petra Kelly auf den Schwarz-Weiß-Fotos der Illustrierten seiner Schulzeit erinnerte. Pawel verschwand kopfschüttelnd und singend mit einer der Flaschen.

»Was treibst du überhaupt in Moskau?«, fragte sie.

»Ich arbeite in Kitai Gorod für eine kleine Firma. Die beraten Unternehmen in Sibirien.«

»Netter Euphemismus. Endlich treffe ich mal einen von euch Verwesern!« Sie zwinkerte ihm zu. »Wenigstens siehst du nicht aus wie eines unserer korrupten Ferkel. Wahrscheinlich bist du hochkultiviert und sprichst vier Sprachen. Was ist der wahre Grund, warum du hier bist?«

»Die Frauen.«

»Die Frauen und das Geld also. Was ist wichtiger für dich?«

»Das Geld«, log Anton.

Sie schlängelten sich durch den Gang in das Wohnzimmer. Für einen Augenblick umspielte der grobe Stoff ihre Hüften. In der verrauchten Hitze des Zimmers waren um die zwanzig Gäste. Lena setzte sich auf ein Fenstersims und ließ die Beine baumeln. Sie glich jetzt einem lustigen Mädchen auf einer Schaukel. Ein paar Leute sangen den Refrain eines Schlagers mit, dann übertönten die Gespräche wieder die Musik. Neben ihnen erstarrte ein Pärchen in einer Umarmung.

»Was wirst du mit dem ganzen Geld machen, das du hier zusammenraffst?«

Damit er sie besser verstand, beugte sie sich etwas vor und hielt sich dabei an seiner Schulter fest. Verzückt sog er ihren Duft ein und betrachtete die Silhouette der kleinen Brüste.

»Ich will einen Film drehen, sobald ich genug verdient habe. Aber das wird noch dauern. Zurzeit schreibe ich am Drehbuch. Und was machst du?« Er glaubte, ohne derlei Storys sich nicht in solcher Gesellschaft behaupten zu können.

»Wenn ich nicht male, mache ich Musik mit Freunden. Wir leben und arbeiten in einer Gruppe. Genau genommen bin ich ein Hippie. Wusstest du, dass es in Russland Hippies gibt?«

»Ja. Am Alten Arbat. Berufshippies wie auf Ibiza. Ihr liegt mal wieder zwanzig Jahre zurück.«

»Darum geht es ja. Wir müssen das im Schnellgang nachholen, sonst läuft es wieder so wie mit der Renaissance.«

Sie sah ihn ernst an. Dann lachten beide. Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und spürte weiter ihrem Geruch nach.

»Warst du auf der Akademie?«, fragte er.

»Nein. Studiert habe ich Biologie.«

Gab es überhaupt noch junge Menschen, die einem normal bezahlten Beruf nachgingen, für den sie sich mit einem Studium qualifiziert hatten? Doch kaum jemand schien mit dieser Situation zu hadern.

»Lebst du in einer Kommune?«

»Ja. Soviel ich weiß, ist es die Einzige in Moskau.«

Sie turtelten im Lärm des feuchtwarmen Zimmers. Lena wollte mehr über sein Filmprojekt hören, woraufhin er so überzeugend phantasierte, dass er nach einer halben Stunde selbst daran glaubte. Nach einem flüchtigen Kuss betrachteten sie einander amüsiert.

Jemand kreischte auf dem Flur und stürmte ins Zimmer. Alle blickten auf. In der Tür stand aufrecht ein Bär und sah sich halb souverän, halb verwundert um. Einige wichen zurück, andere begrüßten das Tier euphorisch. Nun erschien auch der Bärenführer im Türrahmen, ein schmächtiger, linkischer Stallknecht.

Lena verdrehte die Augen. »Armer Meister Petz. Keine Party mehr ohne irgendeine idiotische Showeinlage. Entweder das verblödete Lenin-Stalin-Duo oder so ein Tanzbär.«

Der Bär lief auf allen vieren und schnüffelte unbeeindruckt von dem Gekreische herum. Der Bärenführer hielt bereits ein Glas Wodka in der Hand und rief Kommandos, die das Tier ignorierte. Die Ersten trauten sich, es zu streicheln, während andere es bemitleideten. Alles beruhigte sich wieder, und der Bär setzte sich umständlich auf das Sofa neben einen schlafenden Mann.

Lena nahm Antons Hand, und sie drängten sich an den Regalen im Flur vorbei in die Küche. Von dem offenen Fenster aus blickten sie auf die Moskwa hinunter.

»Diese schaurige Brühe«, sagte Lena.

Erst wollte er ihr zustimmen und sich ein wenig über die Ausgesetztheit des Individuums in der Welt empören. Aber dann sagte er die erprobten Schopenhauer-Sätze doch nicht, vielleicht berührte ihn die Ödnis da unten ja auch. Das Auftauchen des Bären war ein unerbittlicher Katalysator gewesen, jetzt sah alles nach geschundener Natur aus. Der halb gefrorene Fluss kroch durch die in rötlichen Granit gefasste Uferbefestigung, und täglich schütteten Lastwagen schwarzbraune Ladungen an Schnee und Eis von einer Rampe hinunter; die Strömung war zu schwach, um das Gebirge abzutragen. Weiter flussaufwärts ragte die gestrandete sowjetische Raumfähre Buran aus dem Gorki Park, sie war jetzt Teil eines jämmerlichen Vergnügungsparks.

Lenas Atemwolke legte sich stoßweise über die Szene. Es war tröstlich, wie die Elfe neben ihm ähnlichen Gedanken nachhing; es zeichnete sich eine zarte Seelenverwandtschaft ab. Einige wonnige wortlose Minuten folgten. Wenn er in den Armen einer Russin war, konnte die Welt da draußen gar nicht feindlich genug sein. Innig bewahrten sie ihn dann vor Abgründen und Dämonen. Männliches Schutzbedürfnis. Er glaubte, die Frauen täten dies unbewusst, es war ihre ureigene Art von Gesten und Zärtlichkeiten, die ihn rettete.

Als sie sich umdrehten, saß der Bärenführer mit reduzierter Mimik am Küchentisch, trank Wodka und versuchte mit Selbstgesprächen Aufmerksamkeit zu erregen. Da es den beiden nicht gelang, neben diesem Fremdkörper an den feinen Nuancen der Zutraulichkeit weiter zu flechten, setzten sie sich zu ihm. Der Fremdkörper nickte ihnen zu.

»Wie bist du und der Bär überhaupt hierhergekommen?«, fragte ihn Lena.

»Wir wohnen an der Moschaika in einer Datscha. Wenn uns jemand bucht, erfahren wir das von der Agentur Bär und Mehr. Dann fahren wir in meinem Schiguli in die Stadt.«

»Mit Mischka auf dem Beifahrersitz?«

»Ja, da sitzt er am liebsten«, gähnte er.

Der Typ, halb Buchhalter, halb Sittlichkeitsverbrecher, starrte auf die Flasche, trank mechanisch weiter und ignorierte nach Säuferart die beiden routiniert. Lena schüttelte den Kopf, und sie standen auf. Im Flur küssten sie sich lange.

»Lass uns verschwinden, unten steht mein Auto.«

Sie nickte und ging ihre Tasche holen. Dann küsste sie ihn wieder. »Glaub bloß nicht, nur weil ich ein Hippie bin, geht das mit uns so schnell.«

Im Wohnzimmer ließen sich ein paar Mädchen mit dem stinkenden Bären fotografieren. Wiktor saß neben Eduard. Sie tranken den mitgebrachten Pouilly-Fumé und tauschten in der Minute bis zu fünf Worte aus. Im Gedränge auf dem Flur stützte sich Lena auf Antons Schulter, während sie ihre Stiefel anzog.

Die kalte Luft draußen war wunderbar. Sie schlenderten umschlungen zu dem Mercedes, dessen Umrisse erst sichtbar wurden, als sie fast dagegenstießen. Während Anton neben ihr stand, glitt Lenas zierlicher Körper in das erhellte Innere der Festung. Er wunderte sich, wie sehr ihn diese Szene erregte.

Der Motor lief, es wurde langsam wärmer. Im Radio sagte Schirinowski, der Westen nütze die Schwäche Russlands schamlos aus.

»Da hat er recht. Mit der Filmgeschichte hast du mich schwach gemacht«, sagte Lena lachend. »Wahrscheinlich ist alles eine Lüge, aber eine schöne.«

»Wenn überhaupt, dann eine Notlüge.«

Auf einem anderen Sender sang die wunderbare Schanna Aguzarowa über den Schnee. In dem großen Sitz wirkte Lena noch kleiner. Mit einer einzigen fließenden Bewegung schwang sie sich zu ihm hinüber. Als er ihren Hals küsste, fröstelte sie. Er fischte einen Mantel von der Rückbank und legte ihn über ihre Schultern. Leicht gegen das Lenkrad gelehnt, saß sie jetzt auf ihm und musterte ihn triumphierend. Ein famoser Bogen spannte sich vom ersten Kontakt vor zwei Stunden bis zu diesem Moment.

Um seine maßlose Erregung zu verbergen, küsste er ihre Wangenknochen und begann dann verlegen an einem der Ohrläppchen zu knabbern. Sie erbarmte sich seiner schmerzhaften Erektion, öffnete den Reißverschluss und massierte ihn etwas mit ihrer kleinen kühlen Hand.

»Bleib so, bis ich zurückkomme«, flüsterte sie.

Sie glitt zurück auf den Beifahrersitz, zog die Stiefel aus, schlüpfte eine Bewegung später aus der schwarzen Strumpfhose, kletterte wieder hinüber und nahm auf ihm Platz. Sie musterte ihn wohlwollend, seinen Küssen wich sie dabei kess aus. Dann richtete sie sich auf, schob den Slip zur Seite und ließ den Flehenden millimeterweise vor. Dabei sah sie ihn konzentriert an. Als er ganz in ihr verschwunden war, verharrte sie einen Augenblick nachdenklich und lobte dann seine Behutsamkeit. Sie sagte, sie sei immer wieder überrascht und ein wenig stolz, welch große Schwänze in ihr Platz fänden. Er war auf die Hitze eifersüchtig, die sein Glied umgab. Zwei seiner Finger erkundeten Wirbel für Wirbel ihres gekrümmten Rückens. Dann umschloss jede Hand eine Pobacke und folgte den leichten Trabbewegungen ihres Beckens. Sie verlangsamte den Rhythmus ein paar Mal, damit er nicht kam. Irgendwann verlor er die Kontrolle über seine Beine und stemmte sich gegen das Gaspedal. Die Orgasmen gingen im aufheulenden Motor und Gelächter unter.

Als er wieder zu sich kam, steckte sie feixend ihre Zunge in sein Ohr und flüsterte: »Ist dir schon einmal aufgefallen, dass nur während dem Orgasmus alle Menschen gleich sind? Eigentlich bin ich gegen Sex im Auto, aber diese Kiste gleicht einem Wohnzimmer. Jetzt weiß ich endlich, warum solche Früchtchen wie du mit getönten Scheiben rumfahren.« Er nickte zustimmend und lauschte vergnügt ihren Schilderungen über Sex an merkwürdigen Orten angesichts der sowjetischen Wohnungsnot.

»Meine ersten Erfahrungen machte ich auf einem Matratzenlager während dem obligatorischen Einsatz zur Kartoffelernte. Und du?«, fragte Lena.

»Auf einem Matratzenlager während einem Skikurs.«

»Cool, Skifahren war bei uns nicht drin. Ich habe Hunger. Lass uns Sushi essen gehen«, sagte sie schließlich. Er war sofort einverstanden; einige der Restaurants, die rund um die Uhr geöffnet hatten, waren erstaunlich gut.

Da Lena ihrer Freundin Bescheid geben wollte, gingen sie noch einmal hinauf. Selbst den Gestank im Treppenhaus bemerkten sie jetzt nicht mehr. Es war halb vier, doch es schien kaum jemand gegangen zu sein. Im Flur saßen zwei oder drei Männer an die Wand gelehnt und schliefen, aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen. Lena suchte ihre Freundin, und Anton blickte langsam in die Runde. Seine Augen mussten sich erst an das helle Licht gewöhnen. Nur noch ein Pärchen stand in der Mitte des Raumes, alle anderen saßen oder lagen zwischen Dutzenden von Flaschen. Alles wirkte friedlich, jemand zupfte auf einer Gitarre und sang leise. Anton nickte ihm zu. Ein melancholischer Gitarrenspieler war immer ein Glücksfall für fortgeschrittene Besäufnisse. In Russland tauchten sie an traumversunkenen Orten auf wie etwa dem Grab von Pasternak in Peredelkino. Er würde dort mal mit Lena hinfahren. Eine wohlige Leichtigkeit durchdrang ihn, während er auf sie wartete. Er ließ die berückend idyllische Szene, die er gerne festgehalten hätte, auf sich wirken. Hinter dem Sofa entdeckte er den schlafenden Bärenführer. Nur der Bär fehlte.

Anton ging rasch in die Küche und ins Schlafzimmer. Kein Bär. Er klopfte an die verriegelte Badezimmertür, zwei Stimmen protestierten gleichzeitig. Als er sich nach dem Bären erkundigte, wurde drinnen schallend gelacht. »Glaubst du, der sitzt mit uns in der Wanne?«

Zurück im Wohnzimmer, stellte er sich in die Mitte des Raumes. »Wo ist der Bär? Wo ist Mischka?«

Es dauerte lange, bevor jemand reagierte. »Wo wird er schon sein? Zu Hause bei dem Säufer.«

Der Bärenführer richtete sich lallend auf, strauchelte, fiel vornüber auf den Couchtisch und warf beim Hinuntergleiten ein paar Flaschen um. Obwohl Anton ihn schüttelte, nickte er wieder ein.

Da tauchte Pawel mit hochrotem Kopf lachend neben ihm auf, bückte sich schwankend und schleifte den Bärenführer wortlos an den Beinen durch die Wohnung bis vor die Badezimmertür, die nach längerem Klopfen geöffnet wurde. Ein Pärchen stand vor der Wanne, er mit einem Handtuch um die Hüften, während sie hüpfend hinter ihm in einen Slip schlüpfte. Auf dem Wannenrand brannten zwei Kerzen. Pawel rang nach Luft, noch immer hielt er schubkarrengleich in jeder Hand einen Fuß des Bärenführers, der vor sich hin sabberte.

»Du versoffenes Schwein! Wo ist dein Bär?«

Anstatt die Antwort abzuwarten, gab er einem danebenstehenden Mann kurze Anweisungen. Dieser packte schnell den Bärenführer unter den Armen, wuchtete ihn hoch, und die beiden warfen den schlaffen Körper in die volle Wanne. Ruckhaft kehrte Leben in ihn zurück. Ein immer wütenderer Pawel ohrfeigte ihn jetzt rhythmisch; sobald dieser aber munter wurde und mit den Handflächen auf das Wasser schlug, wurde er wieder hinuntergedrückt. Dem Geburtstagskind schien das Quälen des Säufers große Lust zu bereiten. Erst der überraschend aufgetauchte Wiktor konnte ihn beruhigen.

Inzwischen drängten sich immer mehr Gäste auf den Pfützen des Badezimmers und redeten laut durcheinander. Der Bärenführer versuchte verzweifelt aus der Wanne zu klettern, doch ohne hinzusehen, stieß ihn Pawel mit seiner fleischigen Pranke zurück. Dabei erörterte er gelassen mit Wiktor und Anton die Situation.

»Wir gehen jetzt alle los und suchen ihn. Denn sobald es hell wird, trifft Mischka auf die erste Babuschka, die ihren Köter ausführt. Und kurz darauf dreht halb Moskau durch.«

Während er weiterhin mit der linken Hand den Kopf des Bärenführers festhielt, sinnierte er noch einen Moment über die möglichen Entgleisungen der Situation nach. Schlagartig fühlten sich die anderen nüchtern.

Der Bär war auch nicht im Treppenhaus. Eine Gruppe von etwa zwanzig vorwiegend jüngeren Leuten tastete sich im stockfinsteren Hof der Wohnanlage vorwärts. Auch der schlotternde Bärenführer war unter ihnen und versuchte Autorität zurückzugewinnen, indem er im lächerlich schwachen Lichtkegel seiner Taschenlampe nach Spuren suchte.

Schnell fiel die Gruppe auseinander. Während einige Nachzügler Wodka trinkend ein sogenanntes Bärenlied anstimmten, stürmte Pawel mit einem Stoßtrupp voran und stand bereits am Eingang eines kleinen Parks. Anton und Lena schmiegten sich etwas abseits aneinander, ein Student erinnerte an Turgenews Schilderung einer Bärenjagd, und der Bärenführer bettelte erfolglos um Wodka.

»Erst findest du dein Tier. Was für ein Schwachsinn, einen Bären nach Moskau zu bringen«, schimpfte Lenas Freundin.

»Bären gibt es traditionell auch in zoologischen Gärten und im Zirkus. Städtische Bären sind keine Seltenheit«, sagte der Säufer.

Boris, ein stiller Institutsdozent, gab dem Bärenführer eine Kopfnuss. »Hat dein Bär jetzt vielleicht Hunger? Wann hast du ihn zum letzten Mal gefüttert?«

»Wann er das letzte Mal gefressen hat? Lassen Sie mich kurz überlegen …« Er bekam wieder eine Kopfnuss, diesmal von Swetlana. Und noch eine von Rita.

Der Bärenführer versuchte, sich zu rehabilitieren. Überraschenderweise wartete er mit zoologischen Theorien auf. »Grundsätzlich geht von domestizierten Bären keine Gefahr für die Allgemeinheit aus. Allerdings müssen etwaige Kontaktpersonen mit elementaren verhaltenstypischen Profilen vertraut sein …«

Jetzt erhielt er mehrere Kopfnüsse und einen Tritt, der ihn aber eher anspornte. Er referierte nun über die Kunst waidmännischer Fährtensuche.

»Ich hätte dich gleich ersäufen sollen. Jetzt werde ich dich eben erschlagen«, brüllte Pawel.

Wiktor, Anton und Boris stemmten sich gegen das wild entschlossene Geburtstagskind. Der Bärenführer wurde noch ein paar Mal bedroht und trollte sich schließlich.

Vor dem offenen Tor des Parks trafen alle aufeinander und fingen an zu diskutieren. Es war kalt und dunkel, und nur das Mondlicht ließ am Ende der Allee ein Denkmal erahnen. Die Gruppe ging schweigend in den Park, so wie man eine Kirche betritt. Ein Mädchen bekreuzigte sich, während eine andere sie dabei kopfschüttelnd beobachtete. Am Denkmal angekommen, entwickelte sich eine Debatte, wer die Person auf dem Sockel sei, in welchem Park man sich überhaupt befinde und ob man nicht besser Mülltonnen absuchen sollte. Anton dachte an Sushi und mehr Sex mit Lena. Jemand versuchte, die Gefahr eines im Zentrum Moskaus herumlaufenden Bären herunterzuspielen.

»Gehen wir zurück, das verängstigte Tier wird schon mit den Ordnungskräften kooperieren.«

»Idiot. Erschießen werden sie Mischka.«

»Die Natur wird sich gegen die Zivilisation behaupten.«

»Lasst uns doch den Bärenführer noch einmal verprügeln.«

»Gute Idee. Zurück in die Wanne mit ihm. Pawel, was meinst du? Es ist doch dein Geburtstag.«

Pawel überlegte. »Der Bär war entsetzt über unser Benehmen. Ich meine, die vielen Leute, die schlechte Luft und die importierte Popmusik.«

Lena unterbrach ihn: »Ihr Jungs bleibt jetzt hier und haltet einfach mal die Klappe. Wir Mädels gehen alleine los und flüstern Mischkas Namen. Ich meine, zärtlich. Wir hauchen seinen Namen in die Mondnacht. Immerhin ist er ein männliches Wesen.«

»Klingt rührselig, entbehrt aber nicht eines gewissen Zaubers«, murmelte Wiktor in Antons Ohr.

Pawel maulte den abziehenden Frauen noch etwas von Gefühlsduselei nach, unzufrieden damit, dass er seine Führungsrolle eingebüßt hatte. Aber auch die übrigen Männer fügten sich. Etwas verschämt rückte die Hammelherde näher zusammen und blickte dumpf um sich, bevor sie wieder über das Denkmal zu diskutieren begannen.

Die Frauen schwärmten in alle Richtungen aus. Ein nächtlicher Park in Moskau während der neunziger Jahre hatte etwas Furchteinflößendes. Einige verschwanden zu zweit im nebligen Schwarz, andere staksten alleine los. Die meisten kannten sich aus Uni, Klinik oder Institut. Eine Verkäuferin und eine Sekretärin, die beide promoviert hatten, waren auch dabei.

Schön und mutig saß der Bär auf einer kleinen Anhöhe, wo er den Mond betrachtete. Vielleicht war er auch einfach nur müde und hungrig. Jedenfalls ließ er sich bereitwillig kraulen und Zärtlichkeiten zuflüstern. Dann wurde er an seiner Leine zurück zum Denkmal geführt.

Einer der schon wieder lärmenden Männer hatte eine Wodkaflasche mitgenommen, die sofort geleert wurde. Sie verstummten erst, als sich der Tross näherte. Der gut gelaunt wirkende Bär war umringt von wildvergnügten Frauen, die ihrer Verachtung für die einfältigen Männer freien Lauf ließen. Auf der Treppe des Hauseingangs lag der schlafende Bärenführer.

Der Bär saß jetzt in der Küche, fraß unter Aufsicht alle möglichen Köstlichkeiten und furzte dabei unmäßig. Im Wohnzimmer wurde wieder getanzt, und jemand versuchte ein Taxi zu organisieren, um mehr Wodka zu holen. Der Bärenführer wurde verhört, musste die Lebensumstände des Tieres im Detail schildern und erhielt sporadisch Ohrfeigen. Jemand forderte die Freilassung Mischkas, ohne zu sagen, wie dies geschehen sollte. Andere schlugen vor, man solle sofort eine Verifizierung der Aussagen des Bärenführers an seinem Wohnort vornehmen. Wiktor nickte zustimmend, nicht weit davon gäbe es auch ein Rasthaus, das sich zum Frühstücken anböte. Die meisten waren sofort einverstanden und begannen Details des Ausflugs zu diskutieren. Der übel zugerichtete Bärenführer protestierte nur noch leise.

Anton und Lena hatten andere Pläne. Sie fuhren durch das aufhellende Moskau und küssten sich an jeder roten Ampel. Bei Miso-Suppe und Sushi betrachteten sie still schweigend die von der Nacht gezeichneten Gäste. Ein paar Nutten saßen an der Bar und starrten auf den Fisch in der Vitrine. Zwei dicke Verkehrspolizisten gaben die Bestechungseinnahmen der Nachtschicht für einen Berg von Yakitori-Spießen aus. In der Nische daneben lümmelten fünf minderjährige Kleinkriminelle in Trainingsanzügen. Mit am Tisch der Milchgesichter saßen drei schweigende Mädchen, während der als Japaner verkleidete kirgisische Koch hinter der Theke mit jemandem in Bischkek telefonierte. Wegen der weiten Entfernung schrie er in den Hörer.

Es war kurz nach sieben, ein magischer Sonntagmorgen in der herrlichsten aller Städte. Sie würden gleich in Antons Wohnung fahren, um den ganzen Tag im Bett und der riesigen Wanne zu verbringen.

II

VERFASSUNGSKRISE

Wirklich interessiert war Anton im September 1993 ausschließlich an Tatjana und an seinem Aufschlag.

Der Belag des Tennisplatzes auf der Datscha von Ehrenthal war ein feuchter, bemooster Teppich unter hohen Birken, ein Idyll an dem gemächlichen Fluss Istra, etwa fünfzig Kilometer westlich von Moskau.

In der Nähe lag das von den Deutschen 1941 schwer verwundete Kloster Neu-Jerusalem, ein verzauberter Ort, zu dem er im Sommer manchmal mit dem Motorrad fuhr. Flach atmend kauerte er dann geschützt vor der Nachmittagshitze im Schatten der Mauern. Bewegungsloses Dösen, nur unterbrochen von den Versuchen der gelangweilten Dorfjugend, das Schloss der Yamaha TT600 zu knacken, ein luftgekühlter Einzylinder mit großem Acerbis-Tank und Stollenreifen, wie geschaffen für Russland. Auf dem Rücken liegend, blickte er dann schläfrig auf die noch verbliebenen Majolikaverzierungen, die sich von der weißen Fassade abhoben. Der von den Barbaren seiner Heimat gesprengte Glockenturm war nie mehr aufgebaut worden. Das Ensemble verbarg seine Wunden nicht, ein Ort wie von Piranesi erschaffen. Die Luft stand still, und die Würde der geschundenen Gebäude betäubte ihn. Nur ein Gewitter oder die Tölpel, die dem Krad zusetzten, holten ihn dann aus der Ereignislosigkeit zurück. Er liebte das melancholische Kloster, dieser nah gelegene Sehnsuchtsort war ein Gegengewicht zur Drohkulisse des Dritten Roms.

Warum Ehrenthal auf einem stets glitschigen Teppich Tennis spielte, blieb unklar. Vielleicht ein Übersetzungsfehler bei der Bestellung des Belags im Ausland. Bevor er einige Jahre später in der Nähe eine pompöse Tennishalle mit Spa errichten ließ, spielten sie auch im Winter hier. Um diese Monty-Python-Szene zu ermöglichen, musste jemand vorher tagelang Schnee und Eis entfernen, damit vier eingemummte Männer ihr Doppel spielen konnten. Das Ballverhalten ließ sich dabei nicht vorhersehen, die Linien blieben unsichtbar, das Regelwerk obskur. Sank die Temperatur unter zwanzig Grad, sprang selbst der Ball nicht mehr.

Jetzt aber war der Platz bespielbar und Anton motiviert, dem zweiten Aufschlag mehr Spin zu geben. Der Trainer, er hatte laut Ehrenthal einmal der Davis-Cup-Mannschaft der UdSSR angehört, korrigierte gleichmütig Antons Bewegungsablauf. Wadim verbrachte die Wochenenden hier und wurde von allen verehrt.

Auf der Bank neben dem Schiedsrichterstuhl saß Tanja, eine junge Ärztin, und beobachtete die beiden Männer. Obwohl sie nicht das erste Mal hier war, spürte Anton, wie sie das mehrere Hektar große Anwesen noch immer befremdete. Ihre Eltern arbeiteten in einer Fabrik für optische Instrumente, und in dem Wohnblock der Satellitensiedlung, in der sie aufgewachsen war, hatte sie kein eigenes Zimmer gehabt. Der Wintergarten hier war größer als die Wohnung ihrer Eltern. Das also war die Welt der Reichen. Sie hatten viel Platz, Ruhe und waren entspannt. Sie schwebten in ihren enormen Fahrzeugen aus dem Weichbild des Molochs hinaus in Paradiese wie dieses, wo sie von Köchinnen, Gärtnern oder angenehm riechenden Gästen erwartet wurden. Theater- und Fernsehleute, Schriftsteller, Journalisten, Politiker und Geschäftsleute kamen hierher, um die Abende an der langen Tafel oder am Kamin zu verbringen. Wie hatten sich diese gepflegten Menschen das alles erschaffen? Wie füllte sich der Weinkeller unter der Woche wieder auf, und wie gestaltete sich der Nachschub dieses unglaublichen Toilettenpapiers? Jeder wusste von der Existenz des Paralleluniversums der Nomenklatura, aber diese lässige Aura des Wohlstands übertraf alles.