blau der wind, schwarz die nacht. - Anna Stern - E-Book

blau der wind, schwarz die nacht. E-Book

Anna Stern

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Beschreibung

Was soll die Ärztin Hannah mit den vier Wochen Zwangsferien anstellen? Zwischen Job und Kindern aufgerieben, weiß sie nun nichts mit sich anzufangen. Währenddessen folgt Rosette einer mysteriösen Einladung und erlebt ein aufregendes Abenteuer in einem Luxusresort. Hannahs Ex-Mann Lukas verliert sich dagegen nach einem misslungenen Kinderausflug zunehmend im Livestream eines alaskischen Nationalparks. Dann löst Hannahs Begegnung mit der Patientin Alva eine Folge von Ereignissen aus, die die beiden jungen Frauen zu einem Ausloten der Grenzen zwischen Ich und Du, zwischen Wahn und Wirklichkeit verleiten: Grenzen, die immer mehr zu verwischen drohen. Mit einem scharfen Blick für die Brüche und Grenzüberschreitungen in zwischenmenschlichen Beziehungen verdichtet Anna Stern in den vorliegenden Texten ihr Werk nochmals stark. In dieser mehrdimensionalen Identitätssuche stehen die Kapitel für sich, doch die Figuren, die Fäden, die in den Seiten von Alvas Notizbuch gespannt werden, hängen zusammen und schaffen – thematisch, sprachlich und atmosphärisch – ein großes Ganzes. »blau der wind, schwarz die nacht.« ist einmal mehr ein meisterliches Werk von subtiler literarischer Wucht.

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Seitenzahl: 366

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Anna Stern

blau der wind, schwarz die nacht.

Verlag und Autorin danken dem Kanton St. Gallen, dem Kanton Zürich und der Stadt Zürich für die Unterstützung des vorliegenden Buches.

Anna Stern

blau der wind, schwarz die nacht.

lectorbooks GmbH, Zürich

[email protected]

www.lectorbooks.com

Umschlagbild: Tolga Ahmetler, unsplash.com

Buchgestaltung: Samara Keller, Christian Knöpfel

Satz: Peter Löffelholz

Lektorat: Patrick Schär

Korrektorat: Verena Simon

Gesamtherstellung: CPI Books GmbH, Leck

1. Auflage 2023

© 2023, lectorbooks GmbH

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-906913-38-4

eISBN 978-3-906913-39-1

Printed in Germany

Inhalt

florentin.

Widmung

lukas.

sophie.

Widmung

helen.

Widmung

julius.

sarah.

peter.

Widmung

eriko.

rosette.

danke.

Zitatnachweis

Zur Autorin

but tomorrow i’ll be a different person,

never again the person i was.

haruki murakami

some of these things are true

and some of them lies.

but they are all good stories.

hilary mantel

man hat es ja gewusst. eigentlich. hat gewusst, dass es irgendwann so kommen wird.

es regnet. seit zwei verdammten wochen regnet es. hannah dreht sich um, zieht sich die decke über den kopf, steckt sich die finger in die ohren. dieser verdammte regen, dieses verfluchte trommeln die ganze zeit.

routine ist jetzt wichtig. aufstehen um fünf uhr dreißig. dann raus, laufen, einfach durch den wald, an den kleingärten vorbei und am bach entlang, im schutz der dunkelheit. man muss, man kann, irgendwie braucht der tag struktur. sonst geht das nicht. geht alles nicht mehr.

vier wochen, hat der hr-mann gesagt, ich will sie hier die nächsten vier wochen nicht sehen, frau fabian; mindestens. sie brauche die freie zeit nicht, ihr gehe es gut, sie arbeite gern: hannahs protest nützte nichts. die abteilung überlebe auch einen monat ohne sie; mindestens. beschissene überzeit. human resources zum teufel. human remains viel mehr, hinterwäldlerischer reaktionär, haarloser rattenfurzer. zum himmel mit diesen verfickten männern, die ihr zu sagen glauben dürfen, was gut für sie ist: was soll sie hier vier wochen lang, was bloß.

routine also. radio zur vollen stunde, volle konzentration. muss vorbereitet sein, immer, muss wissen, was kommt, und aufmerksam beobachten, erfassen, festhalten, gottseidank gibt es notizbücher: gerüche, geräusche, gerüchte, die genauen ausmaße der neuen normalität. für den ernstfall planen, sich gedanken machen zu möglichen fluchtwegen. es kann alles, es kann jederzeit. man weiß nie. le besoin de fuir. je le sentais en moi, plus violent que jamais.

was bloß. vier wochen regen, wie es aussieht. vier wochen regen am meer, was will man im sommer mehr. man. frau. mensch. hannah flucht: darin hat sie es in diesen wochen zur meisterschaft gebracht. andere backen in den ferien brot, steigen auf berge, retten flüchtlinge aus dem meer; hannah flucht. mensch kann nicht alles, sagt sie sich, mensch kann nicht alles haben, sagt sie laut. es klopft, und gabriel kommt ins zimmer, stellt das tablett auf den nachttisch, brot, marmelade, ein glas orangensaft, fragt, was hast du gesagt. mensch kann nicht alles haben, habe ich gesagt, und grad jetzt, zum beispiel, habe ich keinen hunger.

frühstück irgendwann: unter diesen umständen fehlt des öfteren der appetit. was keine rolle spielt: in den läden sind die regale ohnehin alle leer. auch: man weiß nie, wann wieder bomben fallen. sirenen heulen. oder ob nicht plötzlich das licht und die hitze: es gibt keinen schutz, es gibt kein gegenmittel, man kann nicht einfach. nicht einfach so.

ihr bruder schüttelt den kopf, sagt jedoch nichts: hat in den letzten zwei wochen gelernt, dass das nichts bringt. hannah setzt sich im bett auf, gabriel lehnt sich gegen die wand. hannah trinkt einen schluck saft und fragt, und, was habt ihr heute für pläne.

routine, sonst geht das nicht. aufstehen, laufen, radio, jeder tag hat so unglaublich viele stunden. zuerst: pflanzen gießen. tomaten und habaneros auf dem fenstersims. draußen: flieder. tulpen. vergissmeinnicht. und das gras trocken wie stroh, kein regen, nirgends, seit wochen nur wolken und wind und risse im boden. alles wird staub.

es war gabriels idee: warum nicht ans meer fahren, warum nicht in die pension, in der sie als kinder schon die sommer verbracht hatten. die madame hätte gewiss freude, mona und felix würde es bestimmt gefallen, oder glaubst du nicht. kann sein, hat hannah gesagt, kommst du mit, ich schaff das nicht allein.

wird staub und sie kann nicht, kann nichts dagegen tun. kann die augen schließen und alles, doch was hilft das: nichts, nichts hilft das. wie soll es auch, ist ja alles immer noch da, der staub, die bomben, der lärm die ganze zeit. von den wänden blicken augen, schwarze ränder, sirren in der luft.

gar nichts schafft sie. seit sie angekommen sind, in der pension, am meer, liegt hannah im bett, kann nicht, kann einfach nicht mehr. was fehlt dir, fragt gabriel, fragen die kinder sie. fragt nicht, sagt sie. oder: weiß nicht: oder: alles. gabriel und die madame kümmern sich um mona und felix, sie gehen zum strand und zum hafen und in das fischereimuseum, ob mit, ob ohne regen; kümmern sich auch um hannah, soweit diese das zulässt.

es gibt noch die tiere, die tiere helfen. der bär und die raubkatzen; die vögel und das krokodil im teich.

anfangs war noch sophie da, doch die ist wieder zurückgefahren: es kommen nicht alle in den genuss von vier wochen sommerferien. an guten tagen hüpfen mona und felix nach dem mittagessen zu hannah ins bett, und sie schauen sich gemeinsam bilderbücher an oder spielen uno. dann wieder kann hannah nicht: die kinder liegen neben ihr, der fernseher läuft.

trotz allem: routine hilft nur bedingt. auch der gedanke längst kein trost mehr: man hat es ja gewusst. eigentlich. im radio sagen sie nichts mehr, es dringt nichts als rauschen aus dem gerät, nur zur vollen stunde erklingt musik, shadows, they fear the sun/we’ll make it if we run/run from the memory/je nage, mais les sons me suivent.

gabriel sagt, der neffe der madame hat ein boot, wir fahren heute zur insel hinaus. im regen, fragt hannah. im regen, sagt ihr bruder und nickt. vergiss die sonnencreme nicht, sagt hannah und dreht sich zur wand. regina schreibt, ich finde es gut, dass du gefragt hast. ich weiß, dass dir derlei nicht leichtfällt.

es bleiben: die notizbücher; der staub.

florentin.

die tropfen prasseln auf das grüne regenzeug des jungen, sie prasseln auf das grüne gras am hang und auf das graugrüne wasser des bachs und auf den grün schillernden kopf der stockente. die tropfen sind schwer, und der bach ist voll, voller als sonst, jede stunde klettert er weiter den hang hinauf, weißlich verfängt sich der schaum in der ufervegetation. der junge steht im wasser, seine gelben regenstiefel halbhoch umspült, fast schwappt die suppe über den rand, und er hält einen stecken in der hand, einen langen, grünen haselstecken, hält den blick auf die ente gerichtet, die sich der strömung entgegenstemmt, und dann pikt und sticht er den vogel, er schwingt den stecken, den blick immer auf die ente und … felix! felix! er schaut sich nach der stimme um, es ist die mutter des jungen, die um die kurve kommt, sie ruft, felix, geht’s eigentlich noch, komm sofort her, und er denkt, schade, wie schade ist das. er hätte felix gern fallen sehen, es hat nicht viel gefehlt. stattdessen wirft felix den stecken weg und klettert den hang hinauf, auf allen vieren, nur der regen bleibt.

er wird maria trotzdem von dem jungen erzählen; von dem bach, der so viel wasser führt, und von der ente und von dem jungen, der mit dem stecken auf die ente losgegangen ist. und, so wird er sagen, und dann rief die mutter, felix!, rief sie, und felix ist erschrocken, und dann, so mit dem kopf voran, platsch, mitten in den bach. so wird er es maria heute abend erzählen, so und nicht anders. erst gestern hat er ihr erzählt, dass sarah krank ist; und vorgestern, dass es noch einmal geschneit hat, drüben auf dem berg; und vorvorgestern, dass der wolf gekommen ist und tax geholt hat, wie er das schaf mit offenem bauch auf der weide gefunden hat und überall innereien und überall blut. er tut das nicht aus bosheit; er tut es voller vermutlich vergebener hoffnung: auf dass maria aus dem keller komme und zum telefon greife; auf dass sie aus dem keller komme und aus dem fenster schaue zum berg; auf dass sie aus dem keller komme und die tür aufmache und hinausgehe auf die weide; auf dass maria aufsehe, aufhöre, aufwache vielleicht. doch nein, natürlich nicht, natürlich wird es nicht passieren, egal, wie sehr er es sich wünscht, wie fest er darauf hofft; wie viel mühe er sich gibt.

die mutter nimmt felix an der hand, das tut man nicht, sagt sie zu ihm, dass mir das nicht wieder vorkommt, sonst. als die beiden an ihm vorbeigehen, verstummt die mutter und nickt ihm zu, und plötzlich sieht er sich selbst, von außen, durch ihre augen: dieser mann, der da am waldrand steht mit seinem leiterwagen, zwischen crataegus und euonymus, in regenzeug wie mutter und sohn, von oben bis unten nass glänzend, auf ihr nicken nicht reagierend. er schaut ihnen nach, der mutter und felix, und als sie über die brücke gehen und in den weg zu den kleingärten einbiegen, bückt er sich über seinen wagen und zurrt noch einmal die plane fest, und dann macht auch er sich wieder auf den weg, in den wald und durch den wald und zu maria heim.

das grüngraue geschlurp im bachbett rauscht und gluckert, das wasser steht hoch. die wurzeln der bäume verschwinden darin und die zweige der sträucher hängen schwer vom regen, tief, bis auf die wasserfläche, streicheln sie. alte hagebutten vom letzten herbst leuchten rot im grün und grau, und die weidenkätzchen sind frotzlig von der nässe, und überall sprießt es und wächst es und leuchtet es in jungen farben aus dem alten grau heraus. ein anderer würde sich vielleicht fragen, wie es angefangen hat, wie es kommt, dass es heute so ist, wie es ist, mit maria im keller und ihm hier, im wald. er aber weiß, es gab keinen anfang, nicht wirklich, so weit kann man gar nicht zurückgehen bis dahin, wo es angefangen hat. es war einfach immer schon so, man hat es nur nicht sehen können: er hat es nicht sehen können, nicht sehen wollen vielleicht. und jetzt steht er hier im wald, allein mit dem leiterwagen, allein zwischen den bäumen, in der feuchtigkeit. er zieht den wagen mit den einkäufen, und sein ziel sind nicht fragen, sind nicht zweifel, sind nicht einmal antworten; sein ziel ist ein haus im wald, sein zuhause, maria wartet auf ihn.

der waldboden klebt schwer in den rillen seiner guten schuhe, nadeln und altes laub und der dreck, der alles zusammenhält. pfützen bilden sich in mulden, auf dem weg, in den niederungen, zwischen den wurzeln der bäume auch. erst letzte woche noch gab es bodenfrost, und am morgen lag der reif auf den feldern und in den spinnennetzen am waldrand. das jahr ist somit noch nicht alt genug, damit die laubbäume schon richtige kronen hätten, nur ansätze, andeutungen auf tausend nuancen von grün. an den tannen dagegen und an den fichten, da hängen die nadeln grün seit jeher, filtern das licht, das graue licht und das sonnenlicht, sodass der boden darunter dunkel und braun liegt mit den alten nadeln, sodass nichts wachsen kann, zu dunkel der ort. er schreitet vorsichtig, ausschau haltend nach weinbergschnecken, helix pomatia, damit nicht das knirschen von rad auf kalkigem schneckenhaus die musik des waldes stört: das trommeln des regens und die vögel, die amseln und die spechte und den zaunkönig. sein blick schweift über den boden, schnecken suchend, und er erinnert sich an einen artikel, den er kürzlich gelesen hat, über schnecken auf hawaii, wo sie, wie auf vielen anderen inseln, probleme mit eingeschleppten arten haben. über siebenhundertfünfzig schneckenarten gab es einst auf hawaii, so las er, die meisten davon baumschnecken, und jede von ihnen war optimal an die bedingungen in einem einzigen tal, auf einem einzigen berg angepasst, vielleicht auch nur auf einem einzigen baum: ein bemerkenswertes beispiel von adaptiver radiation. von den siebenhundertfünfzig arten sind inzwischen jedoch gut neunzig prozent verschwunden. hauptverantwortlich für den rapiden artenverlust sind die schweine und ziegen und das wild, die das habitat der schnecken zerstören oder sie ganz einfach fressen. dazu kommt seit einigen jahren eine neue bedrohung in form der euglandina rosea: die eingeschleppte rosige wolfsschnecke frisst sich quer über die insel und grast mit ihren langen labialpalpen, mit ihrer ausfahrbaren, karnivoren radula baum um baum ab: die wunderschönen baumschnecken verschlingend und wüsten zurücklassend, schneckenwüsten. hier wurde es ihm etwas zu kompliziert mit dem fressen und gefressen werden, er hat nicht alles vestanden, das weiß er. erst gegen ende des artikels hat er wieder begriffen: mittlerweile wird kein aufwand mehr gescheut, um die verbleibenden baumschneckenarten zu schützen. sie werden von schneckenhütern von den bäumen gepflückt, man hält sie in gehegen und päppelt sie auf und hofft: dass sie überleben und sich fortpflanzen. ganze baumgruppen werden eingezäunt, richtige festungen werden erbaut, mit salzgräben rundherum, mit glatten, chamäleon- und rattensicheren wänden, gekrönt von einem feinen, stromdurchflossenen kupfernetz.

die frage, ob er und maria zu früh geheiratet haben, ob es anders wäre heute: er stellt sie sich nicht, er will nicht, er darf nicht, er verbietet es sich, was ist der sinn. maria war vierzehn, als sie sich kennenlernten. es war der tag vor seinem sechzehnten geburtstag, ein tag voll sonnenschein in einem sommer voll sonnenschein, die tage so voll von licht von sonnenauf- bis sonnenuntergang, dass einen die augen schmerzten, dass einem die haut klebte mit schweiß und nach salz roch. an dem tag fuhr er nach der dorfmusikprobe mit daniel ins nachbardorf, und dort, im freibad, trafen sie dann sarah, die daniel vom schwimmverein kannte, und neben ihr im schatten lag ihre freundin, lag maria, und so kam es dann, und so ist es heute: er und maria, und sarah und daniel. zwei jahre später, als maria sechzehn wurde, musste sie ausziehen aus dem kinderheim. seine eltern waren schon tot damals, und mit achtzehn erbte er das haus, und was blieb ihnen da anderes übrig, sie waren beide allein. es war ganz einfach auf dem amt, niemand hat fragen gestellt, alle wussten, wer sein vater gewesen war. die trauung fand in kleinem kreis statt, wie es so heißt, da war maria, und da war er, und da waren sarah und daniel und dann noch der mann vom amt. und bald sagte maria, ja, und auch er sagte, ja, und sie steckten sich die ringe an, die er aus den stielen von alten zierlöffeln gebogen hatte, neunhundertfünfundzwanziger silber, gute qualität, zwei ringe, einen für sie und einen für sich. und nachher gingen sie zu viert zum mittagessen in die fischstube am see, und auf dem tagesmenu standen goldene bratkartoffeln und egli im bierteig, das weiß er noch, und das aßen sie dann.

jetzt im wald bleibt er am fuß des hügels einen augenblick stehen, lässt den griff des leiterwagens sinken, während der regen weiterregnet, in strömen, aus kübeln, das wasser frisst rillen in den kies, ein verzweigtes flusssystem vor ihm auf dem weg. da haben sie wirklich pech, peter und er, was für eine verschwendung, denkt er, von arbeitskraft, von sand und kies. erst vorige woche haben sie ebendiesen weg ausgebessert, und jetzt das, jetzt dieser regen, jetzt die ganze arbeit zur sau, alles für die katz. sie hätten den regen abwarten sollen, wie er es peter gesagt hat. andererseits: niemand hat gewusst dass es so schlimm kommt. als er mit dem leiterwagen über die brücke rattert, sieht er, dass auch der lorenzweiher voll ist, das wasser steht bis weit in die ufervegetation hinein, schilf und riedgras mit nassen füßen, nassen beinen, und auch die wurzelstöcke der erlen und weiden und birken auf der westseite sind im dunklen wasser verschwunden. er zieht den leiterwagen unter das vordach der waldhütte und setzt sich auf die bank, streift die kapuze der wachstuchjacke vom kopf und trocknet sich das gesicht mit seinem taschentuch. dieser regen. peter hat ihm zwar den schlüssel zur hütte gegeben, doch so nass und mit den schuhen voller schlamm will er sie nicht betreten, das saubermachen fiele ja dann doch wieder ihm zu. er schlägt die plane vom leiterwagen zurück und hofft, dass das brot nicht feucht geworden ist. um die meisten einkäufe macht er sich keine sorgen, zahnpasta und toilettenpapier, solche sachen verderben wegen ein bisschen feuchtigkeit nicht, und die nudeln und der kaffee sind eingeschweißt; anders der reis im karton, zucker und mehl, das salz, doch daran denkt er jetzt nicht, jetzt denkt er an das brot, die nussbaumholzbraune kruste, fast schwarz, der spitze anschnitt, der geruch und der sanfte mehlstaub, die fichtenholzbraune krume, wenn nur das brot nicht nass ist. er findet das kleine schnappglas mit der gänseleberpastete, findet die tüte mit dem brot, das trocken ist, er hat glück. er legt beides neben sich auf die bank, bricht vom brot ab, riecht daran und beißt hinein, er nimmt sein taschenmesser, streicht von der pastete aufs brot, und er isst. dass er das hier tun muss, draußen, im regen, manch einem mag das nicht richtig erscheinen. zu hause könnte er nicht friedlich sitzen und essen. denk nur an die armen gänse, hört er maria schon sagen, das sind doch tiere, das sind doch lebewesen, das kann man doch nicht. und beim brot gibt es zweifellos andere regeln, ein anderes verbot.

wenn man darauf erpicht ist, einen anfang zu bestimmen, irgendwo, weil halt alles einen anfang haben muss; wenn er gezwungen wäre, einen anfang zu definieren, wäre es wohl, als sarah das kind verlor. ich habe alles richtig gemacht, hat maria zu ihm gesagt, später, als es schon zu spät war, als es keine tränen mehr gab und bereits gesagt war, was nicht hätte gesagt werden sollen, auf beiden seiten; als manches schon wieder vergessen und als klar war, dass die schuldfrage nicht würde geklärt werden können: als das kind verloren war, sarah und daniels kind. ich habe alles richtig gemacht, hat maria auch da noch gesagt, es ist nicht meine schuld. und ja, er weiß, maria hat alles richtig gemacht, es war pech, ein unglück, eine verkettung von verhängnisvollen umständen, unumkehrbar und zum verzweifeln. doch verzweiflung ist stillstand, und verzweiflung bringt keine kinder zurück, erhält keine freundschaft. sarah und daniel verstanden dies, er selbst verstand dies; nur maria versteht nicht. sie denkt weiter immerzu an den abend, an das essen, an den käseteller zum nachtisch, an die listerien, von denen noch heute niemand sagen kann, wie sie in den arvenkäse kamen, an sarahs krankheit und dann eben: an den kindstod. mit dem kopf wissen sie alle vier, dass maria keine schuld trifft, sarah hat während der ganzen schwangerschaft genauso viel käse gegessen wie davor, zwar keinen tête de moine und keinen camembert, doch gruyère und parmesan immer, immer auch ziger und cantadou. und sarah und daniel und er wissen das nicht nur mit dem kopf, sondern auch mit dem herz oder dem bauch oder womit man sonst halt so sachen noch weiß: maria trifft keine schuld. nur maria versteht es heute noch nicht. jemand muss doch, sagt sie, jemand muss doch verantwortung übernehmen.

das hat dann ihren eigenen kinderplänen erst einmal ein ende gesetzt. wobei das ja noch nicht einmal pläne waren, es war schlicht eine möglichkeit, ein weg, der vor ihnen lag, noch unbeschritten, doch zweifellos beschreitbar. er weiß, dass maria kinder wollte, darum haben sie doch das haus verkauft und sind aus der stadt gezogen, aufs land, in den wald. es ist ein schönes haus, hat maria gesagt, doch ich fürchte mich, tagsüber so allein, manchmal ist mir, als hörte ich schritte in den oberen stockwerken, und wenn ich nachsehe, ist da niemand. und weil ihm nicht viel daran lag, hat er das elternhaus verkauft und sie sind aufs land gezogen. doch mit den kinderplänen war schluss, als sarah das kind verlor, keine kinder für maria, ganz sicher nicht, zu groß die angst, zu groß das schuldgefühl, besser, man verzichtet darauf; besser, man verzichtet gleich auch auf zärtlichkeit, auf zuneigung, auf sex. und er hatte verständnis, anfangs, lange zeit, wie er meint, es war für sie alle schwierig. also sagte er nichts, also war er geduldig und gab maria raum: raum, aus dem maria sich mehr und mehr zurückzog. immerzu schaute sie ihn nur an, ohne etwas zu sagen, sie wich seinem blick aus, wenn er aufsah, begann, ihm aus dem weg zu gehen. bald mied sie auch sarah, die wieder schwanger wurde, ich kann nicht, sagte sie, ich darf nicht in sarahs nähe, mein schatten, ich bin gefährlich für das kind. und selbst als das neue kind lebt und gesund ist, das perfekte, kleine kind hat sarahs zedernbraune haut und daniels moosgrüne augen und den namen ariel, doch selbst dann: maria gibt nicht nach, maria fürchtet sich.

der regen fällt unablässig. die tropfen trommeln auf das dach der waldhütte und auf die oberfläche des weihers und auf den waldboden zwischen seinen füßen. die kieswege glänzen, das laub, die baumstämme glänzen, die wolken hängen grau. es ist ein außergewöhnlicher regen, die tropfen schwer und fest, ein regen für den sommer eher als für das frühjahr. schlecht ist es nicht, denkt er, wir haben lange genug gewartet. wenn bloß nicht immer alles auf einmal käme; wenn nur der ganze regen nicht auf den staubtrockenen, vom langen winter noch kalten boden fiele; wenn nur das ganze wasser nicht einfach abflösse, in den bach und in den see und ins meer. sie werden sehen, ob es reicht für die buchen, die haben besonders gelitten im letzten jahr. er hat es peter noch im sommer gesagt: auf die buchen musst du aufpassen, wenn das so weitergeht, wenn weiter wochenlang kein regen fällt. doch peter hat abgewunken, die buchen, hat er gesagt, die buchen packen das, das sind alleskönnerinnen, die bringt so schnell nichts um. das laub fiel dann doch früh im herbst, besonders von den buchen. er hat natürlich nichts gesagt, er konnte ja schlecht, peter war ja der chef. und so haben sie es beide schweigend zur kenntnis genommen, haben zugeschaut, wie das laub fiel. und jetzt, er kann jetzt schon sehen, dass sich die wahren auswirkungen erst dieses jahr zeigen werden: die buchen treiben kaum aus, manche haben noch nicht einmal knospen, und andere werden sie fällen müssen, die gefahr ist sonst zu groß. er hat peter schon mehrmals darauf hingewiesen, dass er, peter, seinen wald vorbereiten müsse, wenn er ihn behalten wolle, dass er vorausplanen müsse für das, was kommt. buchen, fichten, tannen, die schaffen das nicht, wenn es wärmer wird, hat er gesagt, und vor allem die trockenheit, die trockenheit bringt sie dir alle um. du musst jetzt anfangen, du musst neue bäume pflanzen, wenn wir fällen, du musst andere arten setzen. doch peter hat nur den kopf geschüttelt und das thema gewechselt, der borkenkäfer, der borkenkäfer ist unser problem. und dabei weiß er, dass er recht hat, und er weiß, dass auch peter das weiß – eigentlich. er hat sich informiert, und für den fall, dass auch peter zugeben kann, irgendwann, dass der wald so keine zukunft hat, hat er eine liste gemacht mit bäumen, die besser wären, arten aus dem kontinentalen raum, von dort, wo es im winter eiskalt und im sommer heiß und das ganze jahr über trocken ist, arten, die der wald von morgen braucht: silberlinden und zerreichen, blumeneschen und schwarzföhren.

dass er nach dem umzug nicht zurück an die universität gegangen ist, hat er nie bereut. die wenigen monate, die er dort verbracht hat, haben ihm wieder einmal gezeigt, dass er nicht gut ist mit sachen, die ihn nicht, die ihn nur am rand interessieren. er lernt schnell und hat keine geduld für langfädige diskussionen, für die philosophen, von denen es, so hat er es in erinnerung, an der universität nur so wimmelt, unabhängig vom fach. und dann die ganze theorie. was hilft theorie, wenn man von der praxis keine ahnung hat, nur mühsam war das. was ihn interessiert, über die schafe und die bienen und den wald beispielsweise, hat er auch selber lernen können. er hat zeitschriften abonniert, liest die wichtigen studien, und im dorf gibt es die bibliothek, wo er anrufen kann, und sie legen die bücher bereit.

kein grund zur klage also, kein grund, plötzlich alles infrage zu stellen nach all den jahren. zum leben brauchen sie wenig, gemüse zieht er im garten, und die obstbäume und himbeersträucher hängen im herbst schwer mit früchten, mit äpfeln und zwetschgen und walnüssen, sodass sie bis zum nächsten sommer genug haben, eingemacht als kompott oder in essig zum beispiel, versaftet, gedörrt oder auch kandiert. und wenn er zum einkaufen ins dorf geht, so wie heute, dann reichen die einkäufe meist für einige monate, sie haben ja alles, sie brauchen fast nichts. von der summe, die ihm der verkauf des elternhauses eingebracht hat, ist noch ein schöner batzen übrig, und dann haben sie den alten snackautomaten draußen im schuppen, wo sie jetzt honig verkaufen und fleisch von den schafen und käse, den er aus deren milch herstellt. und natürlich die schafwolle, die findet auch immer abnehmer, wird in fabriken gebracht, wo sie dämmstoffe und bettwaren und so sachen wie weinkühler und fußwärmer produzieren. einmal im monat geht er mit daniel angeln, sie treffen sich im morgengrauen, und dann sitzen sie am seeufer, während im osten die sonne aufgeht und über die bergkette klettert und höher steigt und irgendwann frei am blauen himmel sitzt, und manchmal reden sie und manchmal nicht, und manchmal fangen sie etwas und oft fangen sie nichts. und dann ist da noch peter, bei dem er zwar keine offizielle anstellung hat, doch sie wissen beide, dass es dem wald nur dank ihm so gut geht. und so steckt peter ihm immer mal wieder zwei oder drei von den großen scheinen zu, geld, mit dem er ja doch nichts anzufangen weiß und das er dann in das fach im bock der alten kutsche im stall steckt, wo es langsam den geruch der umgebung annimmt, nach schaf und pferd und feuchtigkeit.

während er das brot isst und die pastete, scheint der regen etwas nachzulassen, die wolkendecke lichtet sich, doch nicht für lange. bald schon tropft es wieder wie gehabt, auf die schindeln über ihm, auf den froschlaich im weiher, auf die zarten grünen spitzen des bärlauchs, die sich im unterholz zeigen. in einigen tagen, sobald der regen aufhört, wird er wieder mit dem sammeln beginnen und das wildgemüse dann zu pesto und pasta verarbeiten, lang haltbare bandnudeln für den automaten, frische ravioli für sich, für sich allein, da maria um nichts in der welt auch nur eine gabel davon probieren würde. maiglöckchen, sagt sie, herbstzeitlosen, wie kannst du dir sicher sein, dass das nicht maiglöckchen sind oder herbstzeitlosen. und wenn er ihr sagt, dass er sich einfach sicher ist, dass er seit tausend jahren bärlauch sammelt und die pflanze von maiglöckchen und herbstzeitlosen zu unterscheiden weiß, weil er es einfach weiß, dann, dann, dann isst sie trotzdem nichts davon. genau so, wie sie so viel anderes nicht mehr isst, was nicht aus dem eigenen garten kommt, was sie nicht selbst gekocht hat, richtig gekocht, sodass es matschig wird und allen geschmack verliert. sie denkt immer noch an sarah und das kind: wenn auf dem käse listerien sind, die da nicht sein sollen, sagt maria, welche anderen keime, bakterien und viren und schimmelpilze, können sich dann sonst überall verstecken. salmonellen in eiern, campylobacter auf dem poulet, sporenbildende clostridien in konservendosen und fäkalbakterien auf dem gemüse aus dem supermarkt: der anfang einer ganzen liste von sorgen, von ängsten, die maria umtreiben, die sie immer mehr vertrieben haben, aus dem, was ihr gemeinsames leben war, in den keller, in die isolation.

nach dem tod des kindes gab es bald auch anderes, vorfälle irgendwo auf der welt, die maria zur regel erhob, zu einem blick in die zukunft, der sie in ihrer überzeugung bestärkte, es sei alles hoffnungslos: atomkatastrophen und militärische spezialoperationen, flugzeuge, die in türme fliegen, gotteshäuser gehen in flammen auf, steigende meeresspiegel und auftauender permafrost lösen panikattacken aus, mikrowellen und funkantennen dienen der gedankensteuerung, und allein die erwähnung von migration, die fragen nach dem wie, nach dem wohin, das leid, vor dem geflohen wird, und die aussicht der fliehenden auf nichts als unsicherheit, auf entwurzelung. die eigene machtlosigkeit gegenüber der schieren größe dieser bedrohungen versetzt maria in einen zustand, in dem sie für ihn nicht mehr erreichbar ist. einmal geht sie unablässig im raum auf und ab, hin und her, murmelnd, gestikulierend, ich kann nicht mehr denken, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich will einfach nicht mehr; dann wieder erstarrt sie mitten in der bewegung, bleibt so, stundenlang, einem gedanken nachhängend, einem möglichen ausweg aus dem käfig nachsinnend, in den sie sich selbst gesetzt hat. zeitungen bedeuten große gefahr, genauso wie das radio oder der fernseher und computer, die sie nicht besitzen: sie sind voll von klimakatastrophen und antibakterieller resistenz, von terroranschlägen, kriegsberichten und bedrohnungen aller art.

ja, wahrscheinlich hätte er etwas tun sollen, aber wie denn: er hat es doch versucht, wieder und wieder und noch einmal. sie haben geredet und diskutiert, er hat nichts nicht versucht, um maria die angst zu nehmen, die ängste, und auch sarah, auch daniel, sie haben es zusammen versucht, zu dritt. doch es hat alles nichts genützt, war nicht genug, um maria rauszuholen aus dem loch, in das sie gefallen war, zuerst im kopf, dann in raum und zeit. was hätte er tun sollen, als er nach hause kam und sie im haus nirgends, sie schließlich im keller fand, eingerichtet in der kammer hinter dem gemüsekeller, das feldbett, die leselampe, der campingkocher: ich kann nicht mehr, hat sie gesagt, ich kann nicht, ich will nicht mehr. und dieses ich will nicht mehr hat ihm angst gemacht, macht ihm heute noch angst, auch jetzt, hier, im wald, im regen, wenn er daran denkt. er kann es ganz klar hören, ihr ich will nicht mehr, jedes wort: das ich, das maria ist, das nur maria ist und ihn ausschließt, genauso wie das nicht mehr wollen, so unspezifisch, so allumfassend. und er hat verstanden, dass er vorsichtig sein muss; dass, wenn er nicht vorsichtig ist, am ende nichts übrig bleibt.

das glas mit der leberpastete ist längst leer, er hat die klinge des messers mit dem taschentuch abgewischt und beides wieder in die hosentasche gesteckt, doch ein rest brot ist noch übrig. er führt ihn zum mund, lässt die hand wieder sinken: einen moment noch und er wird aufstehen und die kapuze aufsetzen und die plane wieder über dem leiterwagen festzurren, und dann wird er sich auf den weg machen, auf den weg nach hause, zu maria. er wird durch den wald gehen, im regen; er wird die einkäufe verstauen und dann das abendessen kochen, die schweinekotletts, die er beim metzger gekauft hat, und kartoffeln und gemüse aus dem garten; dann werden sie zusammen essen, und er wird maria von seinem tag erzählen, vom regen und von den leuten, die er im dorf getroffen hat, und von felix, wie er in den bach gefallen ist; wie er beinah in den bach gefallen ist.

die gänge ins dorf gehörten anfangs nicht zu seinen aufgaben, erst seit maria im keller wohnt, hat er auch dies von ihr übernommen. er kann das natürlich auch, einkaufen und aufs amt, wenn es nötig ist, hin und wieder auf den friedhof und in die kirche. nicht für den gott oder so, einfach, um nach den gräbern zu sehen, um eine kerze anzuzünden zum beispiel, für sarah und daniels kind, für maria auch. doch davon erzählt er ihr nicht, sie würde es nicht wollen, würde den kopf schütteln über ihn. und nach der kirche geht er in die bibliothek, wo er jetzt die bücher selbst abholt. im dorf fährt auch der bus in die stadt, vor dem rathaus wartet er jeweils, gelb und rot und schwarz. zweimal ist er jetzt schon eingestiegen; er hat den leiterwagen neben dem brunnen auf dem dorfplatz stehen lassen, mit allen einkäufen, ist eingestiegen und in die stadt gefahren. er wollte es nicht, er hat nicht nachgedacht, er fuhr einfach, und in der stadt hat er sich dann in ein café gesetzt und geschaut, einfach nur geschaut und gelauscht auf die leute um ihn herum, auf ihre stimmen, die sich zu gesprächen verwoben, auf das lachen, das sich dazwischenflocht, auf diese musik. und bald war er am see und fütterte die schwäne, die sonne schien und der gedanke tauchte auf, dass er gern wieder einmal ins schwimmbad gehen würde. obwohl winter war, war da plötzlich dieser wunsch: ins schwimmbad mit maria, mit sarah und mit daniel. und nach dem see war er am bahnhof und stand in der ankunftshalle, wartete auf das rattern des fallblattanzeigers, auf die neuen ziele der züge, orte, deren namen er nur aus dem atlas kannte, die gleichzeitig so nah, so weit weg. er hat sich nicht gefragt, was er da tut, was der sinn dahinter war, es war gar nicht er, der da stand, es war ein anderer, es war ein anderer in ihm, ein fremder.

der see. das lachen. die züge. er dreht das brot in seiner hand und seufzt. nach all den jahren. einen moment nur noch und er wird aufstehen. einen moment nur noch und er wird die kapuze aufsetzen und die plane wieder über dem leiterwagen festzurren. einen moment nur noch und er wird sich auf den weg machen, auf den weg nach: auf den weg dahin, wo er hingehört.

es bringt ja doch alles nichts. der versuch, ordnung zu schaffen, mit worten auf papier: es bringt alles nichts. sie legt den kugelschreiber weg, schiebt den block von sich. greift nach dem telefon.

es ist laut. hier ist es wenigstens nicht so laut. kontrolle. aufpassen, einfach langsam hin und her. blick auf den boden. blau, weiß. schlieren: nebel. doch nein. kein nebel. hitze. sonne. himmel blau. aufpassen jetzt. konzentration. volle aufmerksamkeit. kein blickkontakt. auf keinen fall blickkontakt. draußen krankenwagen. lichter, sirenen. institut für notfallmedizin. aufpassen. auf die atmung aufpassen. einatmen auf fünf, eins, zwei drei, ausatmen auf sechs. hin und her, einfach langsam hin und her. beobachten. und ruhe bewahren. noch einen augenblick ruhe bewahren. und dann.

komm schon, du arschloch, ich weiß, dass du da bist. doch nichts, das telefon klingelt weiter, lukas geht nicht ran. sie legt den kopf an die fensterscheibe, die augen geschlossen, das glas heiß, die sonne hell, alles heiß, alles hell; hinter ihr klopft es, die tür geht auf. frau albertin. hannah reagiert nicht: sie heißt nicht mehr albertin, lukas heißt albertin, sie heißt wieder fabian. frau albertin, wir konnten sie telefonisch nicht erreichen und. aus dem hörer in hannahs hand immer noch das tuten, während hinter ihr. sie muss sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es frank ist, der seinen blonden kopf durch die tür streckt, dieser regelversessene arschkriecher, dieser unterwürfige schleimscheißer, mit seinem seifigen ja, frau albertin, gewiss, frau albertin, mit seiner weigerung, sie endlich fabian zu nennen, frau fabian, frau doktor fabian, wo doch alle herren im team herren doktoren sind, während seine augen sie gierig von oben bis unten, einmal, zweimal, auf ihren brüsten, die zungenspitze feucht im mundwinkel, sie ausziehend, sie. pflegefachmann – von wegen. lüstelnder sexist vom dienst trifft es schon eher, und wenn er noch einmal. frau albertin, entschuldigen sie, ein notfall, bitte, eine patientin für sie. wo ist kuypers, fragt hannah. unterwegs, frau albertin, wie gesagt, ein unfall, der stau. stau hin oder her, sagt sie, mein dienst war vor zwei stunden zu ende. ich weiß, frau albertin, ich weiß. und ich kann meine kinder nicht, ich muss meine kinder, sie bricht ab. frank wartet. frank wartet wie ein laib feuchtes brot in der tür, bleich und pampig und porös, uriah heep, obnoxious creep. stop jetzt, hannah, stop. sie sagt, ja, natürlich, ich komme gleich. er schließt die tür, sie drückt noch einmal auf wahlwiederholung. tuuut. tuuut. fuck you. legt den hörer auf die ladestation zurück und geht zum waschbecken in der ecke, öffnet den kaltwasserhahn und lässt das wasser über ihre hände rinnen, die handgelenke. das gesicht, das ihr aus dem spiegel entgegenblickt: das der mutter, mit vierzig, mit fünfzig, nicht ihr eigenes, nicht ihr eigenes mittdreißigerinnengesicht. die blässe, die schatten, die falten in den mundwinkeln und an den augen, die klein und müde und in den letzten wochen stets leicht tränend hinter den brillengläsern hervorblickten. mona und felix. lukas, dieses arschloch. wie schnell doch alles gehen kann. vor die hunde gehen, sagt mensch nicht so. sandburgen stürzen ein, seifenblasen platzen, fotos werden verschickt und alles geht vor die hunde: eine liebe; ein leben; eine familie. das wasser rauscht. die hände kalt, am nacken, an den wangen, an der stirn. frank. eine patientin. sie muss. sie wird gleich.

noch einen augenblick ruhe bewahren und vor allem: sich festhalten, nicht loslassen, um keinen preis loslassen, während man schritt für schritt über blau und weiß. weiß wie nebel. weich wie nebel. schwarz dafür die wolken im kopf. schwarz das notizbuch in der hand, schwarz auch die schrift darin: she lies in wait and watches in silence. festhalten an den zeilen, nicht dazwischen lesen, nur lesen, was da auch steht.

mona und felix. sie hofft, dass lukas nicht wieder, nicht wie beim letzten mal. es ist nicht ihre schuld, sie kann nicht einfach, bloß weil ihre schicht offiziell zu ende ist, sie kann nicht einfach sagen, ich bin dann mal weg. und sie bemüht sich ja, ruft an, wenn es sich abzeichnet, fragt, kannst du bitte, kannst du die beiden heute bitte zwei stunden länger bei dir, ich schaffs nicht bis um sechs und gabriel ist nicht da. und lukas weiß das, lukas weiß, dass sie auf ihn angewiesen ist. machtspiele. immer wieder, immer neu; immer noch. so vor drei wochen, halb neun uhr abends, nach vierzehn stunden dienst: mona und felix vor dem haus auf den stufen, wartend, wartend seit. wie kann er, man kann seine kinder doch nicht, was denkt er sich bloß. sie trinkt wasser vom strahl, richtet sich auf, glättet den weißen mantelkragen. frau albertin. ein notfall. eine patientin für sie. genau. frau albertin. frau fabian. frau doktor. lukas, bitte. mona und felix, ich bin bald da. sie nimmt den notizblock vom schreibtisch, steckt das telefon ein und verlässt das büro. im lift ins erdgeschoss: blick auf den notizblock fixiert, auf ihre dünnen buchstaben, silben, die auseinanderfallen, wörter, die nichts mehr zusammenhält. vier jahre. wer hätte gedacht, dass vier jahre reichen: um ein leben aufzubauen, zu zweit, zu dritt, zu viert, und es dann gleich auch wieder auseinanderzunehmen, totale demontage. vier jahre. wer hätte gedacht, dass nach vier jahren nicht mehr bleibt als ein paar fotografien in telefonen, in denen sie nichts zu suchen haben, und eine reihe stichwörter. zahm sehen sie so fast aus, ihre einstigen hoffnungen und ängste, sehnsüchte und sorgen.

da steht zum beispiel: ist ein sonntag. alles schlimmer an sonntagen. aufwachen, aufstehen, wie aufstehen, wenn der tag, wenn der tag endlos, wenn alles einfach. geht nicht. muss gehen. muss aufstehen, muss man. also. dann was. dann nichts tun, wie nichts tun, nie gekonnt, nie gewollt. essen. nicht essen. kein hunger, kein appetit. nichts da außerdem, alles leer. also gehen, gehen kann man, hin und her, vor dem haus, im garten, stört die vögel nicht, stört die anderen nicht; niemand da außerdem, alles leer. nur geräusche, gerüche, die luft auf den schultern, die atmosphäre schwer, mehr als achthundert kilometer luft, nitrogen, oxygen, argon, zee-oh-zwei. molare masse: bleischwer. drückend, schwül, wolken als schleier vor der sonne, der himmel weiß, hell, gleißend alles; nichts da außerdem, alles leer. keine vögel. müsste ein gewitter geben, müsste donnern, müsste alles irgendwie.

zuerst: der tod des vaters, die schnell fortschreitende demenz der mutter, ihre atemnot, ihr zusammenbruch – oder wie immer mensch es auch nennen soll: eine gebrochene rippe, die keine ist, frau fabian, heißt es, sie sind einfach nur verspannt, die schmerzen kommen nicht aus den knochen, die kommen aus den muskeln. das rezept listet drei schmerzmittel auf, einen magenschutz, zwei verschreibungspflichtige salben (schmerzlindernd, entzündungshemmend), ein muskelrelaxans: antispastikum. sie sagt, nein danke, es geht schon, worauf es heißt, bitte, frau fabian, wenn sie nicht bald wieder richtig atmen, folgt als nächstes eine pneumonie. also: schmerzmittel. also auch: physiotherapie. sie will nicht, hat keine zeit, fragt herum und geht schließlich doch: gabriel empfiehlt ihr eine praxis, und weil der kleine bruder selten falsch liegt, vereinbart sie einen termin. freut mich, frau fabian, heißt es, lukas albertin mein name, was kann ich für sie tun. nach den neun sitzungen die spaziergänge am fluss; nach den spaziergängen die konzert-, theater-, museumsbesuche; gefolgt von mittagessen, von abendessen, von der ersten gemeinsamen nacht.

müsste alles irgendwie. sprache und macht, sprache ist macht. sagt wer. sagt das buch in ihrer hand, steht da so. steht da auch: il fallait s’habituer à ce monde où tout pouvait vaciller d’un instant à l’autre. weiß alles, dieses buch. weiß, was war, was ist, als nächstes kommt: steht da geschrieben. und trotzdem: wie verrückt. bauchohrmundbrustkopf. blut und gift. dann wieder: blind, stumm, nackt, tot. auch das. auch das muss möglich sein.

die mutter stirbt, das haus steht leer, mensch zieht zusammen ein. zuerst nur hannah und gabriel, doch gabriel ist das halbe jahr weg, und hannah fühlt sich unwohl allein in dem großen haus: lukas folgt. die wochen in finnland, erstmals zu zweit: lange tage, kurze nächte, nacktbaden vor ruissalo, sterndeuten in koroistenniemi, john coltrane und in a sentimental mood im jazzclub am fluss, an der aura. neun monate später: felix. gabriel will ausziehen: warum, sagt sie, es gibt doch genug platz; aus prinzip, sagt er, ihr seid jetzt eine familie. bleib, bitte, sagt sie, ich habe niemanden mehr außer dir: und gabriel zögert, gabriel bleibt. im selben jahr: die hochzeit, ihre facharztprüfung. im anschluss mona. sie weiß: lukas verzichtet in diesen jahren auf viel, macht sich nicht selbstständig, arbeitet teilzeit und geht kaum noch zum badminton, bleibt stattdessen zu hause und passt auf felix und mona auf. doch nach der geburt von mona: erste zweifel, erste risse, sie fallen ihr auf, doch frau gibt sich mühe, und vielleicht, mit der zeit, wenn frau nicht allzu genau hinschaut. andererseits: fragen tauchen auf, antworten bleiben aus.

man kann ein messer. man kann ein messer nehmen und damit. ein rostfreies messer. ein messer schleifen. etwas mit dem messer zerkleinern. jemanden. messer und gabel. messer und baseballschläger. messer und pistol. so sachen halt. man kann ein messer nehmen und damit. x-vierundachtzig: vorsätzliche selbstbeschädigung auf nicht näher bezeichnete art. kann man, muss man nicht. niemand sagt, sie würden sagen. kann ja im verborgenen. kann einfach so zack, und dann ist es auch schon, ist es auch schon vorbei. steht da: die dicke der menschlichen haut beträgt eins komma fünf bis vier millimeter.

gabriel will jetzt wirklich aus- und mit sophie zusammenziehen, hannah kann ihn erneut zum bleiben überreden: die kinder haben dich so gern. mona wird eins, und lukas sagt, hannah, wir müssen reden. sie liegen im garten im gras, der wind treibt die aprilwolken zügig von west nach ost, mona murmelt im schlaf, und um die blüten am apfelbaum schwirren die bienen. sie hasst das, sie hasst dieses wir müssen reden: sie kann das