Blau Rot Grün - Hinter den Kulissen eines Machtwechsels - Christoph Bumb - E-Book

Blau Rot Grün - Hinter den Kulissen eines Machtwechsels E-Book

Christoph Bumb

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Beschreibung

Die Geschichte von Blau-Rot-Grün ist die Geschichte von drei Parteien, die auszogen, die Macht im Staat zu erobern. Sie wollten ganz nach oben. Sie hatten viel vor. Sie wollten den Stillstand im Land beenden und sich nicht mehr bevormunden lassen von der einen großen Partei, die bisher die luxemburgische Politik bestimmte. Bei ihrer Eroberung der Macht gingen die drei Parteien ganz unbescheiden vor. Erst stürzten sie die alte Regierung, dann gewannen sie die Wahlen und bildeten schließlich im Eiltempo eine im Land nie dagewesene Koalition. Doch wie pragmatisch die Hauptakteure die Machtübernahme planten und dann überaus zielstrebig durchzogen, wird erst jetzt offengelegt.

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Blau-Rot-Grün

Hinter den Kulissen eines Machtwechsels

Christoph Bumb

IMPRESSUM

 

Blau-Rot-Grün

Hinter den Kulissen eines Machtwechsels

Christoph Bumb

Copyright: © Editions Saint-Paul, Luxembourg 2015

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-7311-5

Verlag: Editions Saint-Paul

www.editions.lu

Titelbild: © AFP

Coverdesign: Peggy Conrardy

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1

Die frühe Geburt der Dreierkoalition

Kapitel 2

Juncker gegen alle, alle gegen Juncker

Kapitel 3

Auf dem Schleichweg zur Macht

Kapitel 4

Mehrheit ist Mehrheit

Kapitel 5

Koalitionsbildung im Eiltempo

Kapitel 6

„Wir haben die Wahlen nicht verloren“

Kapitel 7

Angekommen in der Realpolitik

Anhang I

Die Macher des Machtwechsels

Anhang II

Apropos „Gambia-Koalition“

 

Vorwort

 

„Journalismus ist ein erster Rohentwurf von Geschichte“, wird der verstorbene Herausgeber der „Washington Post“, Philip Graham, zitiert. Im besten Fall bestätigt die spätere Forschung die Zeitungsartikel vom Tag des Geschehens. Die Bedingungen, diesem Anspruch wirklich gerecht zu werden, sind jedoch nur selten vereint. Die Hauptakteure geben in der Regel lediglich preis, was ihnen genehm ist. Originaldokumente werden meist noch unter Verschluss gehalten und dem Journalisten sitzt derweil der Redaktionsschluss im Nacken.

 

Doch was heute geheim ist, wird regelmäßig schon kurze Zeit später plötzlich eingestanden. Die Informationen, die laufende Verhandlungen noch gefährden könnten, verlieren nach deren Abschluss oft schnell an Brisanz. Und das Detail, zu dem man in der Hitze des Gefechts nicht stehen will, wird Monate später schon mal zur gern erzählten Anekdote. Diese Eigenart machen sich Journalisten regelmäßig  zu eigen, um ihrem Anspruch, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen, besser gerecht zu werden, indem sie, sozusagen im Nachgang, an den Ort des Geschehens zurückkehren und die Haupt- und Nebendarsteller erneut zu Wort kommen lassen.

 

Diese Vorgehensweise liegt auch diesem Buch zu Grunde. Christoph Bumb, zweifelsohne einer der vielversprechendsten Luxemburger Journalisten seiner Generation, hat die Wahlen von 2013 als Reporter begleitet. Doch er wollte sich mit dem „ersten Rohentwurf“ nicht zufriedengeben. Als Redaktion haben wir beschlossen, ihm den nötigen Freiraum zu bieten, die Kulissen des Machtwechsels tiefer zu erforschen. Er hat dieses Vertrauen zu nutzen gewusst.

 

Sein Buch erzählt die Geschichte eines Epochenwechsels. Im Dezember 2013 wurde nicht nur eine neue Regierung vereidigt. Zum ersten Mal kam es zu einer Dreierkoalition. Erstmals seit 1979 kam es somit nicht zu einer weiteren großen Koalition. Zusätzlich hat eine neue Generation die Regierungsgeschäfte übernommen. Und, vor allem: Erstmals seit 34 Jahren blieb die CSV, obwohl weiter stärkste Partei, außen vor. Dass 2018, am Ende der laufenden Legislaturperiode, die LSAP in den vorangegangenen 34 Jahren genauso lange an der Macht gewesen sein wird wie die CSV, ist dabei nur ein Schönheitsfehler.

 

Sein Buch erzählt auch die Geschichte eines Königsmords. Die Ursache des Bruchs der CSV-LSAP-Koalition, nach 24 Jahren an der Macht in den drei vergangenen Jahrzehnten, ist natürlich zuerst in der Affäre um den Geheimdienst zu finden. Doch auch die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Geschehnisse von 2013 sollten nicht unterschätzt werden. Ausschlaggebend war aber am Ende der Wille, die Dominanz von Jean-Claude Juncker zu brechen. Der Christsoziale war so lange die prägende Persönlichkeit der luxemburgischen Politik, dass er die politische Sozialisierung der meisten der heutigen Regierungsmitglieder maßgeblich geprägt hat. Es war das Ziel, sich seiner zu entledigen, das den Koalitionären schlussendlich den Mut gab, trotz des Risikos, mit ihrer knappen Mehrheit tatsächlich zu versuchen, eine Regierung zu bilden.

 

Das Buch von Christoph Bumb hat schließlich viel von der Geschichte der Kassandra. Wie in der Mythologie hat auch die CSV die Gefahr, die das Dreierbündnis für sie darstellen könnte, frühzeitig erkannt, wenn nicht sogar heraufbeschworen. Doch wie der tragischen Heldin im alten Griechenland gelang es der Partei dennoch nicht, die Bedrohung abzuwehren. Sie legte sich am Abend des 20. Oktober ohne Koalitionspartner schlafen und beging somit einen Fehler, dessen Schwere wohl auch dem unbedarftesten Lokalpolitiker hätte bewusst sein müssen.

 

Die Bilanz von Blau-Rot-Grün wird zu einem späteren Zeitpunkt zu ziehen sein. Doch schon jetzt ist klar, dass die Dreierkoalition das Land langfristig prägen wird. Sie hat die politische Alternanz erzwungen, was der Luxemburger Demokratie so oder so auch über 2018 hinaus guttun wird. Die Jahrzehnte der fast immer gleichen Koalition hatten, zumindest bei den Veränderung fordernden Wählern, ein Gefühl der Machtlosigkeit hinterlassen. Beim nächsten Urnengang hingegen wird es eine klare Alternative zum „weiter so“ geben. Und das zeichnet eine gesunde Demokratie aus.

 

Jean-Lou Siweck

Chefredakteur des „Luxemburger Wort“

Anmerkung des Autors

Das vorliegende Buch hätte nicht geschrieben werden können ohne die journalistische Vorarbeit vieler Kollegen, auf die ich mich bei der Zusammenstellung der vielen Daten, Ereignisse und anderer Fakten der folgenden Kapitel berufen konnte. Besonderer Dank gilt zudem meinen Kollegen aus der Redaktion des „Luxemburger Wort“ –  Marc Schlammes, Dani Schumacher, Joëlle Merges, Michèle Gantenbein, Bérengère Beffort, Max Lemmer, Pierre Leyers, Gaston Carré, Peggy Conrardy, Laurence Bervard, Wolf von Leipzig und Jean-Lou Siweck – sowie nicht zuletzt meinen Eltern. Ohne euch wäre dieses Projekt in dieser Form nicht möglich gewesen. Ich danke auch all meinen Gesprächspartnern – Politikern, Mitarbeitern und sonstigen Insidern des politischen Betriebs –, die erst mit ihrem Wissen, ihrer Erinnerung und ihrer fundierten Einschätzung der geschilderten Ereignisse dazu beigetragen haben, die Geschichte dieses Buches zu erzählen.

 

Einleitung

 

Als Xavier Bettel und Etienne Schneider am 4. Dezember 2013 als Premier und Vize-Premier vereidigt wurden, lag noch ein Hauch mehr Geschichte in der Luft als bei früheren Regierungsantritten. Den beiden Führungsfiguren der neuen Koalition war ihre Aufregung und das Bewusstsein um diesen historischen Moment förmlich anzusehen. Mit Bettel und Schneider war eine neue Politikergeneration am Gipfel der Macht angekommen. Dieser Moment war allerdings nur der Höhepunkt einer ganzen Episode, die sich im Rückblick als wahrhaft historisch herausstellen sollte. Der Vereidigung der neuen Regierung ging nämlich eine weit zurückverfolgbare Vorgeschichte voraus. Die Dreierkoalition aus DP, LSAP und Déi Gréng kam nicht aus dem Nichts und wurde auch nicht erst im Wahlkampf 2013 geboren. Blau-Rot-Grün war das Ergebnis einer Mischung aus dem unaufhaltbaren Wandel der luxemburgischen Gesellschaft, der Schwäche und allmählichen Abnutzung des bisher regierenden politischen Personals und nicht zuletzt den ausgesprochenen Machtambitionen der an dieser neuen Koalition beteiligten Akteure.

 

Xavier Bettel steht symbolisch für diese neue Politikergeneration: jung, dynamisch, unverbraucht, voller Tatendrang. Gemeinsam mit Etienne Schneider sollte er eine neue Ära in der luxemburgischen Politik einleiten. „Die Fenster ganz weit aufreißen“ lautete ihre Devise. Das taten sie dann auch. Ihre angekündigte Politik der Erneuerung erschien aber auch nur deshalb so neu und erfrischend, weil die Vorgängerregierungen das regelmäßige Lüften der Staatskammern versäumt hatten. DP, LSAP und Déi Gréng wollten die große Volkspartei CSV, in ihren Augen der Bremsklotz jeglichen politischen Wandels, ausnahmsweise von der Regierung ausschließen. Dazu mussten sie aber zuerst mit Jean-Claude Juncker die Inkarnation der luxemburgischen Politik der vergangenen Jahrzehnte aus dem Amt drängen. Um dieses Kunststück zu vollbringen, bedienten sie sich ganz tief aus der machtpolitischen Trickkiste. Ihr Weg an die Schalthebel der Macht erscheint demnach im Rückblick und aufgrund der Aussagen zahlreicher Weggefährten auch nicht ganz so gradlinig und aufrichtig, wie es die Macher dieser Koalition seit ihrem Aufstieg glauben machen wollen.

 

Blau-Rot-Grün war auch nicht in erster Linie die Folge eines gewollten, jahrelang gereiften und dann von den drei Parteien politisch artikulierten Gesellschaftsprojekts, sondern vielmehr das ganz nüchterne Resultat eines überfälligen Generationswechsels in der luxemburgischen Politik. Mit der jahrelang schwelenden Krise der „großen“ Koalition aus CSV und LSAP und damit dem schleichenden Ende der Juncker-Ära bot sich einer neuen Riege von Politikern die wohl einmalige Chance, einen grundlegenden politischen Wandel im Land herbeizuführen. Dabei wollten Bettel, Schneider und Co. wie alle Politiker auf der ganzen Welt zunächst einmal an die Macht, um an der Macht zu sein. Erst im Nachhinein und auf der Grundlage ihres gesteigerten politischen Einflusses definierten sie das blau-rot-grüne Projekt.

 

Ohne Zweifel hat die Dreierkoalition aber schon allein durch den Griff nach der Macht etwas bewirkt. Was in anderen Ländern der demokratische Normalfall ist, mutet bei uns in Luxemburg wie eine kleine Revolution an: ein wahrhaftiger Regierungswechsel. Doch letztlich war es mehr als das. Was sich nach den Wahlen vom 20. Oktober 2013 in Luxemburg abspielte, war mehr als nur ein Auswechseln des politischen Personals. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde das Land von einer blau-rot-grünen Koalition geführt. Erst zum zweiten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es nicht von der CSV regiert. Und zum ersten Mal überhaupt waren Déi Gréng an einer Regierungskoalition beteiligt. Der Machtwechsel war demnach ein Präzedenzfall, durch den sich das ganze politische System nachhaltig wandeln könnte. Eine Regierung ohne, ja gegen die CSV ist nicht länger eine Wunschvorstellung des fortschrittlichen Lagers, sondern schlichte Realität. Allein das, also die Normalisierung der politischen Landschaft in Luxemburg, ist das große Verdienst von Blau-Rot-Grün.

 

Gleichzeitig ist diese „revolutionäre Normalität“ der Grund, warum sich die im Zuge des Machtwechsels unterlegene CSV und deren Anhänger so lange und so stur weigerten, die neue Realität anzuerkennen. Den alten Machthabern wurde erst nach und nach bewusst, dass sie nicht mehr unerlässlich sind. Dass sie nicht mehr die unbedingte Voraussetzung zur Erlangung der Macht im Staat darstellen. Dass sie ihre Politik und ihr Verhalten mittelfristig wohl oder übel ändern müssen, wenn sie an dieser neuen Machtkonstellation etwas ändern wollen. Das Zustandekommen der neuen Regierung sowie die ersten Monate ihrer Amtszeit haben jedoch gezeigt: Mit dem Machtwechsel hat ein Wandel der ganzen Parteienlandschaft eingesetzt, auf den sich nicht nur die CSV, sondern alle politischen Akteure im Land erst noch einstellen müssen.

 

Das Jahr 2013 wird ohne Zweifel als Schlüsseljahr in die politische Geschichte des Landes eingehen. Mit dem Machtwechsel hin zu Blau-Rot-Grün ging dabei eine in dieser Form nie da gewesene Spaltung der Bevölkerung einher. Lange waren die politischen Fronten nicht mehr so verhärtet. Nie zuvor rief wohl allein der Antritt einer Regierung so gespaltene Reaktionen im Volk hervor wie im Fall des Kabinetts Bettel-Schneider-Braz. Nie zuvor wurde aber auch so viel über Politik gesprochen und gestritten wie in den ersten Monaten der Amtszeit von Blau-Rot-Grün. Mit der Zeit beruhigten sich die Gemüter zwar etwas, doch die Spaltung der Gesellschaft in leidenschaftliche Befürworter und gnadenlose Gegner dessen, was in diesen wahrlich historischen Monaten des Jahres 2013 geschah, wird die politische Landschaft wohl noch lange prägen.

 

In diesem Sinn kommt der Regierungswechsel von 2013 durchaus einem kleinen politischen Erdbeben gleich. Die neue Koalition übernahm das Ruder in einem Land, dessen Bürger den Ruf eines mehrheitlich konservativen und konsensorientierten Volkes genießen. Die Tradition des politisch-sozialen Konsenses reichte so weit, dass die Beteiligung der CSV an der Regierung quasi in den Stein der alten Festungsmauern gemeißelt war. Niemand wagte es, diese Regel in Frage zu stellen. Das erste Mal, zwischen 1974 und 1979, war der Machtwechsel noch im weitgehenden Einverständnis mit der stärksten Partei im Land vollzogen worden. Dieses Mal wurde der Weg des Konsenses jedoch vollends verlassen. Die Dreierkoalition wurde gegen den Willen der CSV und ihres Übervaters Jean-Claude Juncker geschmiedet. Eine Regierung ohne die CSV – das war die eigentliche Raison d’être von Blau-Rot-Grün. Es war aber auch eine Tatsache, deren Bewertung die Bevölkerung bis heute nachhaltig spaltet.

 

Laut ihrem Regierungsprogramm wollte die neue blau-rot-grüne Koalition den politischen Wandel verkörpern, nach dem die Bürger des Landes streben würden. Bald stellte sich aber heraus, dass die neuen Machthaber nicht nur progressiv und nach vorne gerichtet regierten, sondern auch immer wieder in den Rückspiegel schauten. Manche Regierungen treten mit dem hehren Ziel an, das Land zu vereinen und die politisch zerstrittenen Lager zu versöhnen. Bei Blau-Rot-Grün war es von Anfang an das Gegenteil. In den ersten Monaten ihrer Amtszeit gingen Xavier Bettel, Etienne Schneider und Co. keiner Kontroverse aus dem Weg. Als seien einige ihrer Protagonisten noch dauerhaft im Oppositionsmodus verhaftet, suchte die Koalition ständig die Auseinandersetzung mit ihren erklärten politischen Gegnern. Entgegen anfänglichen Ankündigungen entwickelte Blau-Rot-Grün in den folgenden Monaten im Zusammenspiel mit einer verbitterten CSV-Opposition geradezu Spaß an der Spaltung.

 

Gleichzeitig setzten die Neukoalitionäre aber erste politische Akzente. Sie führten einerseits das verbleibende Programm der Vorgängerregierung zu Ende. Sie brachten aber auch eigene, neue Reformen auf den Weg, die ihr Grundverständnis von progressiver Politik und Modernisierung widerspiegelten. Sie machten sofort ernst mit ihrem Programm. Dabei brachen sie mit ihrer forschen Art, Politik zu machen, mutwillig und bewusst mit der Tradition des Konsenses im Land. Doch auf die ersten Reformerfolge folgten schnell die ersten Pannen. Letztlich zeigte man sich aber auch lernfähig. Mit der Gewöhnung an die Regierungsmacht verflüchtigte sich jedoch nach und nach der anfängliche Elan der selbst ernannten Modernisierer. Nach knapp zwei Jahren an der Macht haben sie zwar einiges auf den Weg gebracht, aber noch wenig erreicht. Zudem sind sie laut Umfragen schon unbeliebter, als es ihre Vorgänger je waren. Dem blau-rot-grünen Experiment droht damit ein jähes Ende.

 

Für eine inhaltliche Bestandsaufnahme von Blau-Rot-Grün ist es jedoch definitiv noch zu früh. Dieses Buch soll auch keine vorläufige Bilanz der Regierungsarbeit von DP, LSAP und Déi Gréng sein. Es ist lediglich der Versuch, das Zustandekommen und die ersten Schritte dieser für Luxemburg so neuartigen Koalition zu rekonstruieren, analytisch einzuordnen und so die Geschichte des dadurch vollzogenen Machtwechsels mit etwas zeitlichem Abstand zu erzählen. Dabei beruhen die folgenden Kapitel einerseits auf chronologisch geordneten, journalistisch recherchierten und damit für jeden Leser nachvollziehbaren Fakten sowie andererseits auf einer Reihe von nur zum Zweck dieses Buches geführten Gesprächen mit den Hauptakteuren dieser Zeit. Die meisten dieser „Zeitzeugen“ erzählten erfrischend frei und offen von ihren Erlebnissen. Einige wollten allerdings in ihrer inhaltlichen Offenheit lieber anonym bleiben. In jedem Fall haben die Recherchen zu diesem Buch gezeigt, dass die Geschichte des Machtwechsels des Jahres 2013 bisher noch nicht erzählt wurde – zumindest nicht die ganze Geschichte.

„Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man

vorausschauen.“

WINSTON CHURCHILL

Kapitel 1

Die frühe Geburt der Dreierkoalition

Als DP, LSAP und Déi Gréng am Abend des 21. Oktober 2013 ihre Absicht kundtaten, eine gemeinsame Koalition bilden zu wollen, mussten sie sich von der CSV und einigen enttäuschten Bürgern den Vorwurf anhören, sie hätten im Wahlkampf nicht mit offenen Karten gespielt. In der Tat wurde Blau-Rot-Grün nicht in aller Deutlichkeit angekündigt. Andererseits konnte die Bildung der Dreierkoalition für einen halbwegs aufmerksamen Beobachter des politischen Geschehens nicht wirklich überraschend kommen. Der Wille zum politischen Wandel lag während des gesamten Jahres 2013 – und auch schon davor – in der Luft. Nicht zuletzt die CSV selbst hatte das Gespenst einer gegen sie gerichteten Dreierkoalition im Wahlkampf bei jeder sich bietenden Gelegenheit an die Wand gemalt. In jedem Fall lässt sich die Vorgeschichte der am 4. Dezember 2013 vereidigten blau-rot-grünen Koalition im Rückblick sehr gut nachvollziehen. Dennoch war der Machtwechsel und der Weg dorthin in keiner Weise vorbestimmt.

Die Geheimdienstaffäre gilt gemeinhin als Ausgangspunkt für den politischen Wechsel hin zu Blau-Rot-Grün. Damals bildete sich bereits eine informelle Dreierkoalition, die die Machenschaften des „Service de Renseignement de l’État“ (SRE bzw. Srel) aufarbeitete und letztlich den Bruch der CSV-LSAP-Koalition im Juli 2013 herbeiführte. Im Rückblick gibt es allerdings noch viel mehr und frühere Indizien, die diese Koalition zumindest implizit ankündigten und die Kontroverse um den Geheimdienst nur als letzten Auslöser erscheinen lassen. Die Diskussionen um eine Dreierkoalition sind nämlich keine Erfindung des Jahres 2013.

Schon nach den Wahlen von 2004 hatten LSAP, DP und Grüne eine Mehrheit im Parlament. Und schon damals gab es in diesen Parteien und bei sympathisierenden Kommentatoren zaghafte Überlegungen, dass man diese Mehrheit auch irgendwann politisch nutzen könnte. Zu jener Zeit stand dies allerdings außer Frage, denn die CSV war der klare Wahlgewinner und die DP nach einer für die daran beteiligten Politiker schmerzvollen Regierungserfahrung der Wahlverlierer. Zudem gab es in den Reihen von Blau-Rot-Grün niemanden, zumindest niemanden mit dem nötigen politischen Gewicht, der den Schritt zu einer Anti-CSV-Koalition gewagt hätte. Passend dazu gab es auch noch vergleichsweise wenig Zweifel oder Kritik an Jean-Claude Juncker als der unbestrittenen Führungsfigur der luxemburgischen Politik. Kurzum: Die Zeit war noch nicht reif.

Dies sollte sich jedoch in den folgenden Jahren ändern. Jean-Claude Juncker, der seit 1995 als Staatsminister amtierte und im Herbst 2004 gute Chancen hatte, Präsident der Europäischen Kommission zu werden, folgte diesem Ruf nach Brüssel nicht. Stattdessen wurde er im September 2004 zum ersten ständigen Vorsitzenden der Eurogruppe ernannt. Gleichzeitig blieb er aber Premier- und Finanzminister im eigenen Land. Die zusätzliche Arbeitslast als „Mr. Euro“ und die damit zusammenhängende Prioritätenverschiebung sollten letztlich mit dazu führen, dass Junckers bis dahin unumstrittene Machtposition nach und nach erodierte. Zum schleichenden Machtverlust trug zudem der zunehmend nachlässige Regierungsstil bei, der Juncker in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit als Regierungschef nachgesagt wird. Der bisher in seiner herausragenden Führungsposition unantastbare Premier kapselte sich immer mehr von der luxemburgischen Innenpolitik ab – schon allein aus zeitlichen Gründen. Laut Weggefährten war Juncker aufgrund seiner dauerhaften Präsenz als Euro-Retter in den kommenden Jahren zum Teil nur noch zwei Tage in der Woche überhaupt im Großherzogtum zugegen.

Junckers große persönliche Popularität in der Bevölkerung blieb allerdings noch lange – eigentlich noch über seinen Abschied von der nationalen Politik im Jahre 2014 hinaus – ungebrochen. So war es auch beim Referendum über die EU-Verfassung am 10. Juli 2005, als der Langzeitpremier mit Erfolg sein ganzes politisches Gewicht für ein Ja in die Waagschale warf. Auch beim ultimativen Popularitätstest im Volk blieb Juncker und mit ihm seine Partei höchst erfolgreich. Bei den Parlamentswahlen 2009 fuhr die Premier-Partei mit 38 Prozent der Wählerstimmen sowie 26 von 60 Sitzen in der Abgeordnetenkammer einen historischen Wahlsieg ein. Der Juncker-Nimbus war zu diesem Zeitpunkt so groß wie noch nie. Im Rückblick sieht der Wahlsieg, nach dem sich die CSV gemäß dem ungeschriebenen Gesetz der politischen Landschaft wieder einmal den Koalitionspartner aussuchen konnte, wie der absolute Höhepunkt der Juncker-Ära aus. So stark und mächtig wie 2009 waren die CSV und ihr Premier noch nie. Doch der Triumph von 2009 hatte auch seine Kehrseite. Denn danach konnte es eigentlich nur noch bergab gehen.

Innerhalb der eigenen Partei führte kein Weg an Juncker vorbei. Interne Kritik gab es so gut wie keine. Die meisten Christsozialen hatten dem „Chef“, wie er bis heute von vielen Parteimitgliedern genannt wird, viel zu verdanken. Dies ließ Juncker seine Parteikollegen auch immer wieder spüren. Angesichts seiner Wahlerfolge und seiner Führungsstärke kam so gut wie niemand auf die Idee, den Premier in Frage zu stellen. Im Verhältnis mit den anderen Parteien kam allerdings allmählich etwas in Bewegung. Im Gegensatz zu den CSV-Anhängern, die vom Juncker-Bonus bei den Wahlen profitierten, hatten insbesondere DP und LSAP keinen Grund zu allzu großer Dankbarkeit. Ihre Regierungsbeteiligungen zahlten sich in elektoraler Hinsicht nie aus. Bei den Wahlen 2009 mussten sogar beide Parteien Verluste hinnehmen. So verlor die spätere Dreierkoalition auch ihre in der vorherigen Legislaturperiode noch vorhandene (arithmetische) Mehrheit im Parlament: LSAP, DP und Grüne kamen zusammen nur noch auf 29 Sitze.

Die Frage einer Koalition gegen die CSV stellte sich also vorerst schon rein rechnerisch nicht mehr. Vor 2009 gab es allerdings ein bemerkenswertes, aber mitunter vergessenes Beispiel, bei dem eine Mehrheit der drei Parteien zustande kam. Am 19. Februar 2008 verabschiedete das Parlament mit 31 zu 26 Stimmen bei drei Enthaltungen das sogenannte Euthanasiegesetz. Die dabei entstandene, eher ungewöhnliche Mehrheit war nicht geplant, da die Parteien vor der Abstimmung den Fraktionszwang formal aufgehoben hatten. Es kann in diesem Sinn auch nicht wirklich von einem Präzedenzfall einer gewollten blau-rot-grünen Mehrheit die Rede sein, denn die Meinungen gingen quer durch alle Parteien. So gab es sowohl Ja-Stimmen von CSV- und ADR-Abgeordneten als auch drei Enthaltungen aus dem Lager der Sozialisten.

Dennoch war die Abstimmung über die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe im Rückblick natürlich ein Fingerzeig in Richtung Dreierkoalition. Sie lehrte die Öffentlichkeit und die im Parlament vertretenen Parteien selbst, dass die CSV insbesondere bei gesellschaftspolitischen Grundsatzfragen unter Umständen in der Minderheit sein kann. Dies war der politischen Klasse – nicht zuletzt der CSV selbst – auch vorher schon bewusst. Die Angst, in gesellschaftspolitischen Fragen links überholt zu werden, war bei der konservativen Volkspartei stets greifbar. Schon in den 1970er Jahren hatte sich so eine durch den Wandel der Gesellschaft beförderte Mehrheit jenseits der christlich-konservativen Kräfte gebildet. Die Folge war von 1974 bis 1979 die erste sozialliberale Koalition, die gleichzeitig die erste Regierungskoalition ohne Beteiligung der CSV seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war.

Juncker selbst war gewissermaßen ein Kind der sozialliberalen Koalition. Sein ganzes politisches Grundgerüst baute von Beginn seines Wirkens darauf auf, die CSV auch für linke bzw. gesellschaftlich liberale Anliegen zu öffnen. Diese Öffnung war sowohl durch seine persönlichen Überzeugungen als auch parteistrategisch begründet. Die CSV der 1980er und 1990er Jahre war stets bemüht, bloß keine Angriffsfläche zu bieten, die zur erneuten Bildung einer politischen Mitte-Links-Mehrheit führen könnte. Seit den 1970er Jahren wurden die Christsozialen demnach immer schnell hellhörig, wenn es um Reformen in der Gesellschaftspolitik ging. So auch nach der historischen Abstimmung über das Euthanasiegesetz. Nach der Aussprache ergriff der damalige Fraktionschef der CSV, Michel Wolter, noch einmal das Wort und kritisierte das offensichtliche Ausscheren aus der Logik von Regierungsmehrheit und parlamentarischer Opposition. Es sei „höchst befremdlich“, so Wolter, dass in der Abgeordnetenkammer Motionen und Resolutionen diskutiert würden, die der Koalitionspartner der CSV, also die LSAP, „in einer alternativen Mehrheit einreicht“.

Aus der Kontroverse um die Sterbehilfe zog die CSV allerdings nicht nur die naheliegende Lehre, dass man sich als Volkspartei dem gesellschaftlichen Wandel auf Dauer nicht verschließen dürfe. Auch rein parteipolitisch hinterließ diese Episode ihre Spuren. So hielten CSV und LSAP in ihrem Koalitionsprogramm von 2009 auf Initiative der Christsozialen fest, dass es künftig nicht mehr zur Bildung solcher Mehrheiten abseits der Koalitionsdisziplin kommen dürfe. In einem nicht veröffentlichten Zusatzabkommen hieß es demnach unter dem Kapitel „Arbeitsmethoden“, dass man keinem Gesetzvorschlag zustimmen werde, wenn nicht beide Partner ausdrücklich damit einverstanden sind. Die beim Euthanasiegesetz zustande gekommene „alternative Mehrheit“ hatte in der CSV-Führung also alle Alarmglocken läuten lassen.

Diese alternative Mehrheit war rein rechnerisch an sich auch nichts Neues. Es gab sie schon lange. Seit es die Grünen als parlamentarisch vertretene Partei überhaupt gibt, bestand prinzipiell die Möglichkeit einer Dreierkoalition ohne die CSV. Auch schon davor hätten DP und LSAP ihre arithmetische Übermacht das eine oder andere Mal nutzen können, denn die CSV verfügte allein nie über die absolute Mehrheit. Der Aufstieg der Grünen veränderte dann zwar die Parteienlandschaft, änderte zunächst aber nichts an der Vormachtstellung der CSV. Doch die Mehrheit und damit die Möglichkeit einer alternativen Koalition war immer gegeben: Nach den Wahlen von 1994 verfügten LSAP, DP und Déi Gréng zusammen über 34 von 60 Sitzen, nach 1999 über 33 und ab 2004 über 31 Mandate. Nur 2009, als die CSV ihr historisch bestes Resultat von 26 Sitzen erzielte, die ADR vier und Déi Lénk einen Sitz errangen, gab es keine arithmetische Mehrheit mehr für Blau-Rot-Grün. Von der rechnerisch möglichen zur politisch nutzbaren Mehrheit sollte es aber ohnehin noch ein langer Weg sein.

***

Schon zu Beginn des neuen Jahrtausends führte die politische und wirtschaftliche Großwetterlage dazu, dass die etablierten Parteien zusammenrückten. In der Folge entstand ein pragmatisches Parteienkartell, das unabhängig von der jeweils regierenden Koalition die großen politischen Fragen im Konsens beantwortete. So lösten alle großen Parteien gemeinsam 2008 die „institutionelle Krise“, die aus der Weigerung von Großherzog Henri, das Euthanasiegesetz zu unterschreiben, entstanden war. Die Kompetenzen des Staatsoberhaupts wurden per Verfassungsreform, also im überparteilichen Konsens beschnitten. Fortan sollte der Großherzog die Gesetze nicht mehr gutheißen, sondern nur noch verkünden dürfen. Unabhängig von ihrer jeweiligen Meinung zur Reform der Gesetzgebung über die Sterbehilfe waren sich alle Parteien einig, dass dem Staatschef eine aktive Einmischung in parlamentarische Angelegenheiten nicht zustand.

Auch die globale Finanzkrise führte ab 2008 zur reflexartigen Wiederbelebung des Luxemburger Konsensmodells in Form einer Neuauflage der großen Koalition aus CSV und LSAP ab 2009, mit zunächst eher wohlwollender Begleitung durch die blau-grüne Opposition. Für Juncker und den sozialen Flügel in der CSV stand außer Frage, dass man die Zusammenarbeit mit den Sozialisten in Krisenzeiten fortführen müsse. Andererseits stieß man damit zumindest die Grünen vor den Kopf, die sich nach den Nationalwahlen von 2009 insgeheim zumindest Hoffnungen auf Koalitionsgespräche gemacht hatten. Fünf Jahre zuvor hatte Juncker der grünen Parteiführung nämlich zu verstehen gegeben, dass Schwarz-Grün bei entsprechend stabilen Mehrheitsverhältnissen für ihn zumindest eine Option sei. 2004 verfügten CSV und Déi Gréng zusammen allerdings nur über 31 Sitze. Doch auch 2009 mit der potenziellen komfortableren schwarz-grünen Mehrheit von 33 Mandaten entschied sich Juncker für die sichere Variante einer Fortsetzung der Koalition mit der LSAP.