Blauer Mond - Marc Menulis - E-Book

Blauer Mond E-Book

Marc Menulis

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Beschreibung

Gibt es für die wahre Liebe eine zweite Chance?

Viele Jahre ist her, dass Marc, gerade einmal süße 16, von seiner großen Liebe verlassen wurde. Damals schien alles möglich: Sein Lied "Blauer Mond" wurde zum Sommerhit des Jahres 1982, die Menschen liebten den Song und Marc, nur Ines sah für sich keinen Platz in diesem Leben.
Heute ist Marc 45 Jahre alt, seine Karriere hinkt auf einem Bein, nur "Blauer Mond" läuft ihm nach, ob er es will oder nicht. In Erinnerungen schwelgend springt er von der Bühne, doch niemand fängt ihn auf. Statt in den Armen johlender Fans landet Marc im Krankenhaus. Dort trifft er auf eine Krankenschwester, die ihm bekannt vorkommt. Ines? Und noch ein ein alter Bekannter kehrt zurück, denn "Blauer Mond" ist mehr als nur ein Song.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Blauer Mond

Der Musik, die so direkt das Herz erreicht, wie Geschichte es kaum können.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Blauer Mond

Blauer Mond

 

 

Marc Menulis

 

Aufgeschrieben von Florian Tietgen

 

 

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Über den Autor

 

Florian Tietgen, Jahrgang 1959, hat seit 2003 mehrere Kurzgeschichten und 2007 seinen ersten Roman veröffentlicht. Inzwischen veröffentlicht er sowohl als Verlagsautor als auch im Selfpublishing und ist Mitbegründer des Autorennetzwerks Qindie.

 

Website

 

Impressum:

 

Copyright © 2015 Florian Tietgen

Covergestaltung: Jacqueline Spieweg

Lektorat: Satzklang

 

Alle Rechte liegen beim Autor.

 

Kontakt:

E-Mail: [email protected]

Ein Sprung ins volle Nichts

 

Die Krankenschwester spricht mich mit meinem bürgerlichen Namen an: »Was hast du dir nur dabei gedacht, Marcel? Du kannst doch nicht einfach von der Bühne springen.« Warum duzt sie mich?

»Ich habe nicht gedacht«, antworte ich, während sie eine Manschette um meinen Arm legt und meinen Blutdruck misst. »Es war der Moment.« Ich versuche zu lachen, aber der Schmerz schneidet sich in jeden Erfolg.

Bei ihr bleibt es nicht beim Versuch. Sie lacht. Ihre Stimme dröhnt dabei wie ein übersteuerter Bass. Ihr rechter Mundwinkel zeigt weiter nach oben als der linke. Sie hat braune Augen und blondes, kurz gestuftes Haar. »118 zu 78. Ich bin stolz auf dich.«

Wieder das Du. Ganz entfernt kommt sie mir bekannt vor, so wie ein Gesicht in der ersten Reihe, das ich für einen Abend ausgesucht habe, um das Publikum anzuschauen. Hoffentlich ist sie kein Fan. Fans singen sofort dieses über dreißig Jahre alte Lied, wenn sie mir begegnen – in einem Restaurant oder beim Einkaufen in einem Supermarkt. Und selbst, wenn jemand ausnahmsweise den Ton trifft, muss ich mir die Ohren zuhalten.

Die Krankenschwester packt die Manschette wieder ein, schiebt den Rollwagen zur Zimmertür und dreht sich noch einmal um. »Der Moment? Hast du gedacht, die Flammen der Feuerzeuge und die Sterne der Wunderkerzen würden dich tragen?« Sie sieht nett aus, lacht sympathisch laut, obwohl sie so zierlich wirkt, strahlt gute Laune aus. Ihr Spott beruhigt mich. Sicher ist sie kein Fan. Aber sie weiß, wer ich bin. Ob sie alle Patienten einfach duzt?

»Ja, ja. Was ist fünfzig Meter lang und voller Bandscheibenvorfälle?«, frage ich. Ihr rechter Mundwinkel zeigt wieder weit nach oben, während sie lacht und mir der Schmerz die Tränen in die Augen treibt.

»Was ist fünfzig Meter lang und voller Zahnersatz?«, fragt sie zurück.

Ich lache mit ihr über mich. Nur der Schmerz in den Rippen sorgt hinderlich für ein verzerrtes Gesicht. »Die erste Reihe in einem Marc-Menulis-Konzert.«

Für einen kurzen Moment schaut sie auf den Wagen, dessen Griff sie in den Händen hält, dann schaut sie mich wieder an, freundlich, aber etwas ernsthafter als zuvor. »Du kennst also die Wahrheit und bist trotzdem gesprungen. Respekt. Das nenne ich mal bescheuert.«

Woher kenne ich sie?

Die Krankenschwester weist auf die Schmerztabletten auf dem Nachtschrank und fordert mich auf, eine zu nehmen, wenn die Schmerzen zu stark werden. »Ich sehe nachher noch mal nach dir. Jetzt ruhe dich aus. Du hast nur ein paar gebrochene Rippen. Das tut weh, bringt dich aber normalerweise nicht um.« Sie spricht mit mir, als kenne sie mich schon ewig. Das ist nicht ungewöhnlich, Vielen erscheine ich vertraut, weil ich sie schon ewig begleite: Aber die wenigsten spotten so offen, wenn sie mir begegnen. Die wenigsten lachen mich so offen und freundlich aus. Es tut gut, nicht mit Herr Menulis angeredet zu werden. Es ist schön, dass sie nicht singt oder verstohlen leise die Melodie vom blauen Mond summt. Es ist schön, sie lachen zu hören. Doch woher kenne ich sie?

 

Eine zerknautschte Visitenkarte

Neunter Juni 1982. Ich war fünfzehn, die Hosen gab es in allen möglichen und unmöglichen Farben und Formen, von schlichten Latzhosen über ornamentierte Pluderhosen und grob längs gestreiften Leggings bis zur Jeans. In Harrogate siegte Nicole, weil sie ein bisschen Frieden wünschte, im Nahen Osten führte Israel Krieg gegen den Libanon, um die PLO zu zerschlagen. Zwischen all den grellen Outfits stritten und demonstrierten wir gegen den NATO-Gipfel. Es gab Punks und Popper, Friedensbewegte und Karrieristen, Smileys und ›No Future‹-Buttons. Es gab Haartollen und Vokuhila, Irokesen und Mähnen - und es gab mich: einen Jungen, der vor lauter Richtungen gar nicht wusste, wohin – und der diese Suche in Liedtexten ausdrückte.

Manchmal setzte ich mich mit meiner Gitarre in die Spitalerstraße, ließ den Deckel des Kastens offen und sang dort, bis Ladenbesitzer oder Polizisten mich baten, zu verschwinden. Einmal hatte ich es auf dem Langenhorner Markt versucht, doch gleich am nächsten Tag hatte ein Nachbar meinen Eltern davon erzählt. In der Innenstadt war die Gefahr, erkannt zu werden, geringer.

Mit Klassikern verdiente ich mehr als mit meinen eigenen Liedern. Spielte ich ›Just a Little Rain‹ oder ›The Boxer‹, blieben die Menschen stehen und warfen etwas in den Gitarrenkasten. Lieder, die ich mir selbst anhörte und zu denen ich mir die Akkorde rausgehört hatte, ›Stand and Deliver‹ zum Beispiel oder ›‘39‹, kamen nicht so gut an.

›Sag mir doch, wovon du träumst, deine heimlichen Gedanken in den Stunden, da du bei mir bist?‹

Der Mann, der mein Leben verändern sollte, blieb stehen, als ich gerade eines meiner eigenen Lieder sang. Er trug ein Jackett zu einer ausgeblichenen Jeans, die Haare strubbelig, als hätte er sie am Morgen nicht gekämmt, und er hatte eine Aktenmappe unter dem Arm.

›Sag mir doch, wo ruht dein Blick, und wo sind bei dir die Schranken? Ich weiß viel zu wenig über dich.‹

›Nenn mir doch den Grund, der dich immer wieder zu mir treibt.‹

Wie wäre mein Leben verlaufen, hätte ich in diesem Moment etwas anderes gesungen, nicht so langsam Sehnsuchtsvolles, sondern ein ruppiges Lied mit gehackten statt gezupften Akkorden?

›Ich verschweige dir die Hoffnung nicht, dass es lang so bleibt.‹

Ich saß in der Spitalerstraße ungefähr Höhe Lange Mühren. Am Mönckebergbrunnen wäre es zwar besser gewesen, aber dort standen meist schon andere Musiker. Auch wurde man dort schneller davongejagt.

›Sag mir doch, was du so fühlst. Hast du Angst in meiner Nähe? Oder glaubst du an meine Ehrlichkeit?‹

›Sag mir doch, was ist dein Wunsch, den ich seh’, doch nicht verstehe. Oder vertreibst du dir bei mir nur Zeit?‹

Der Mann wartete das ganze Lied ab. Er war nicht der Einzige, der stehen blieb, aber er fiel mir auf, weil er näherkam und eine Karte aus der Brieftasche zückte.

Andere Passanten gingen weiter, einer warf sogar eine Münze in den Gitarrenkoffer, aber der Mann mit der Karte in der Hand hatte es offenbar nicht eilig.

›Nenn mir doch den Grund, der dich immer wieder zu mir treibt. Ich verschweige dir die Hoffnung nicht, dass es lang so bleibt.‹

Nachdem ich den Refrain ein letztes Mal wiederholt hatte, sprach er mich an. Die Karte behielt er in der Hand. Ich dachte an den Wurfzettel, den mir ein paar Wochen zuvor jemand in den Kasten gelegt hatte, weil meine Lieder so traurig klängen – die Einladung zu einer Missionsveranstaltung.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte der Mann.

Ich nickte und rutschte ein Stück zur Seite, als müsste ich auf den Gehwegplatten in der Fußgängerzone Platz machen. Der Mann setzte sich, streckte die Beine lang aus und stützte sich auf den Händen ab, ohne die Karte loszulassen. »Was du da gerade gesungen hast, hast du das geschrieben?«

»Ja.« Zum Glück hatte er so direkt gefragt. So konnte ich meinen Stolz hinter der knappen Antwort verstecken.

»Es gefiel mir«, sagte er. »Schreibst du häufiger Lieder?«

»Ja.«

»Wie alt bist du?« Er sah mir ins Gesicht, zog die rechte Augenbraue leicht hoch und bewegte den Kopf ein bisschen, als wollte er mein Alter schätzen.

»Fünfzehn. Fast sechzehn.« Ich versuchte seinem Blick auszuweichen, rückte noch ein Stück zur Seite, um schneller aufstehen und weglaufen zu können, sollte es nötig sein. Und es sollte in den folgenden Jahren immer wieder Momente geben, in denen ich mir wünschte, das hätte ich damals getan: weglaufen.

»Du musst keine Angst haben«, sagte er lächelnd.

Ich fühlte mich ertappt und unhöflich, schaffte es nicht, etwas zu entgegnen. Er holte einen Geldschein aus der Brieftasche, den er nicht ansah, bevor er ihn in den Gitarrenkasten warf. Er hatte Glück, es war ein Zehner.

»Spielst du mir noch ein Lied?«

Ich rückte die Gitarre wieder zurecht und griff ihr an den Hals, während ich auf jede Regung des Mannes achtete und ihn fragte: »Noch eines von mir?«

Er stützte sich wieder auf den Händen ab, während ich ein paar Töne in D-Dur anstimmte.

»Das ist mir egal«, sagte er, »aber bitte etwas mit Tempo, damit ich den Unterschied höre.«

Ich griff A-Moll als Barré im fünften Bund, schlug den Akkord zweimal an, da unterbrach er mich schon: »Bitte nicht ›Lady in Black‹.«

»Ich mag das.«

»Ich auch. Und du wolltest wenigstens in der richtigen Tonlage beginnen, nicht in E-Moll. Aber für dieses Lied muss man nicht singen können.«

Für zehn D-Mark hatte er jedes Recht, ein Lied abzulehnen. Inzwischen stand kein Mensch mehr hier, der zuhörte, und wenn der Fremde wissen wollte, wie ich sang, bot sich ›‘39‹ an. Ich beugte mich nach vorn, nahm den Kapodaster aus dem Gitarrenkoffer und klemmte ihn über den dritten Bund. Bei diesem Beginn unterbrach der Mann mich nicht, wartete ab, ob ich die Tonhöhe des Intros vor der ersten Strophe und im Mittelteil erreichte, applaudierte, nachdem ich den Refrain in zweiter textlicher Variante wiederholt hatte und drückte mir dann die inzwischen zerknautschte Karte in die Hand. »Du bist gut«, sagte er, »du klingst nach Sehnsucht und Träumen. Und du kannst den Ton halten. Vielleicht hast du ja Lust, mal eine Platte aufzunehmen?« Er stand auf, sah mich von oben herab an, nickte mir kurz zu. »Überleg' es dir in Ruhe, sprich mit deinen Eltern, bevor du anrufst.« Jetzt hatte er es wieder eilig.

»Sie wissen doch nicht, wie ich heiße!«, rief ich ihm hinterher. »Was soll ich am Telefon denn sagen?«

Er kam ein paar Schritte zurück. »Stimmt. Ich nehme an, du hast keine Karte.«

Ich schüttelte den Kopf.

Er zog eine zweite Karte aus der Brieftasche und einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts, mit dem er etwas auf die Rückseite der Karte schrieb, bevor er sie mir in die Hand drückte.

»Gitarrenjunge, lange Mühren.«

»Schreibst du deinen Namen dahinter?«

Ich nickte.

»… und eure Telefonnummer«, ergänzte er, »dann kann ich auch deine Eltern anrufen.«

Wasser trägt

Ich war zu neugierig, um nicht auf diese zerknüllte Karte zu schauen. ›Musikproduzent‹ stand darauf, eine Adresse der Ariola in Hamburg Eimsbüttel und ein Name: Jochen Griewaldt.

Ich zitterte zu sehr, um noch im Takt zu spielen oder einen geraden Ton zu singen. Dabei dachte ich gar nicht daran, dort anzurufen. Schon als mir das Flugblatt zur Missionsveranstaltung der Freien Kirche am Holstenwall in den Koffer geworfen worden war, hatte ich ähnlich gezittert. So ging es mir immer, wenn ich nicht wusste, wohin mit meinem Stolz. Beachtung machte mich verlegen und nervös.

Ich legte die Visitenkarten, den Kapodaster und die Gitarre in den Koffer. Das Geld, das Passanten hineingeworfen hatten, ließ ich drin.

Es war noch früh und warm, also ging ich zu Fuß zum Jungfernstieg. Damals berechtigte die Fahrkarte des HVV noch zur Fahrt mit den Alsterdampfern. Ich hoffte, der sanfte Wellengang auf der Strecke bis zum Winterhuder Fährhaus würde mich etwas beruhigen.

Ich setzte mich ins Heck des Schiffes, lehnte mich zurück, schloss die Augen und genoss die Sonne und den leichten Wind, die mich gemeinsam wie erdende Eltern in den Gleichklang von Motor und Wellen holten, in die schulischen Aufgaben, die noch vor mir lagen, die Jahre bis zum Abitur. Am liebsten hätte ich Ines bei mir gehabt. Ein Mädchen aus meiner Klasse, das manchmal, wenn sie nicht gerade für irgendeinen Kaufhauskatalog fotografiert wurde oder eine Zahncremewerbung drehte, mit mir sang. Ich wünschte mir, sie wäre an diesem Tag mitgekommen oder ich könnte ihr bald erzählen, was passiert war. Selbst, wenn sie mir nicht helfen könnte.

Aber … wenigstens versuchen … bereuen …

Gedanken, erst einmal injiziert, geraten ins Blut, bleiben in dir, heilen oder vergiften dich und oft weißt du erst Jahre später, was sie bewirken.

Ich öffnete die Augen, schaute an eine weit von der Sonne entfernte Stelle des Himmels, als erwartete ich eine Wolkenformation, die Buchstaben bildete oder einen Himmelsschreiber, der mir Antwort gäbe.

Gesegnete Normalität

 

Irgendwo muss mein Handy doch sein. Ich muss den Konzertveranstalter anrufen oder Frank. Sie müssen doch wissen, wie lange ich ausfalle. Dank der Schmerzmittel schaffe ich es, meine wenigen Sachen nach dem Telefon zu durchsuchen, bis mir einfällt, dass ich direkt von der Bühne komme. Es muss noch in der Garderobe liegen.

Die Krankenschwester kommt ins Zimmer, strahlt mich an und wieder fällt mir der Mundwinkel auf. »Du hast Besuch«, sagt sie. Ihr folgen meine Eltern. Haben die aus der Zeitung von meinem Sturz erfahren? Ich habe niemanden angerufen.

»Hallo Mama, hallo Papa.« Das Schmerzmittel dämpft und hüllt mich in eine Wolke aus apathischer Müdigkeit.

Noch bevor mein Vater den Mantel auszieht und mich begrüßt, stellt er meiner Mutter einen Stuhl hin, auf den sie sich stützt, aber nicht setzt. »Junge, was machst du für Sachen?«, fragt er und Mama ergänzt: »Bist du nicht langsam zu alt für so was?«

Papa setzt sich ans Fußende des Bettes, die Krankenschwester fragt meine Eltern, ob sie Kaffee oder ein Glas Wasser möchten. Sie lehnen beide ab.

»Bist du nicht langsam zu alt, stehen zu bleiben?«, frage ich Mama zurück.

Der rechte Mundwinkel der Krankenschwester zuckt nach oben. Sie sieht mich an, schüttelt leicht den Kopf und verschwindet, nachdem meine Mutter sich auf den Stuhl gesetzt hat.

»Kennt ihr sie?«, frage ich meine Eltern mit einer Kopfbewegung Richtung Tür. »Sie verhält sich, als würden wir uns schon ewig kennen.«

»Sie ist in deinem Alter«, antwortet meine Mutter. »Natürlich kennt sie dich schon eine Ewigkeit.« Sie atmet dreimal kurz und tief ein, hustet. »Du gefällst der Krankenschwester. Nicht deine Musik, sondern du.« Einen Moment hält sie inne, hustet ein weiteres Mal und schaut zu Papa. »Oder, Holger? Das hast du doch auch gesehen?«

Doch mein Vater winkt nur kopfschüttelnd ab.

»Mama, ich bin fünfundvierzig.«

»Du wirst nicht jünger.« Sie hustet erneut, Papa steht auf, klopft ihr auf den Rücken und unwillkürlich möchte ich nachschauen, welche Farbe der Handabdruck hinterlässt. Doch dazu müsste ich aufstehen. Nachdem er sich wieder gesetzt hat, holt er drei Tafeln Schokolade aus seiner Tasche, Unterwäsche, einen Schlafanzug. »Wenn du ein Buch möchtest, musst du bis morgen warten.« Sie waren also in meinem Haus, bevor sie gekommen sind.

»Vielen Dank«, sage ich. »Schön, dass ihr da seid.« Jetzt kann ich nach der Farbe des Staubs schauen, der auf der Kleidung klebt. Mama hustet nur einmal, Papa bleibt sitzen, reicht ihr ein Taschentuch.

Ich bin zu müde, darüber nachzudenken, ob ich älter werde, frage mich, wo Frank, mein Agent, bleibt. Er muss doch wissen, ob er den Rest der Tournee absagen soll oder nur die nächsten drei Konzerte. Er muss doch kalkulieren, wie viele Fans neue Eintrittskarten brauchen oder das Geld erstattet bekommen müssen. Das muss jemand organisieren. Aber für den Moment bin ich dankbar, niemanden außer meinen Eltern hier zu haben. Dankbar für die Normalität, in der ich mit meinem Sprung gelandet bin.

 

 

Künstlerhände

Papas Hände waren immer trocken und rissig, aufgeraut wie Schmirgelpapier, an dem der Staub des gerade geschliffenen Steins noch haftete. Mal grau, mal rot, mal anthrazit, mal weiß. Harter oder weicher Stein – an seinen Händen sah man, welches Material er gerade bearbeitete. Mein Vater war Steinmetz. Seine Kunden kamen selten, seine Arbeit benötigten sie nur, wenn jemand gestorben war. Er hatte seinen Betrieb im Friedhofsweg in Hamburg Klein Borstel. Dort standen Grabsteine um die Linde im Vorgarten, von denen sich die Verwandten der Verstorbenen Anregungen holten, bevor sie den Laden betraten, mit meiner Mutter Kataloge mit Schrifttypen und Musterkarten wälzten und sich am Ende für eine entschieden. Als Kind dachte ich, mein Vater meißelte den Tod in Stein, so ähnlich, wie meine Lehrer mit dem Zeugnis meine Leistung beurkundeten. Doch mein Vater sagte, er bezeuge das Leben, der Tod als vorletzte Station gehöre dazu. Mit seinen Händen strich er mir den Staub durch das Haar und färbte es. Das machte er oft. Ich rannte dann jedes Mal vor den nächsten Spiegel, um zu sehen, in welcher Farbe mein Haar glitzerte. Papas Künstlerhände beurkundeten Leben und Tod und strichen mir immer neue Kristalle ins Haar.

Über dem Laden war unsere Wohnung. Ich wuchs am Rande des Friedhofs zwischen unfertigen Grabsteinen auf, gleich neben einem Hotel, das die Trauergäste beherbergte und ihnen mit üppigen Kaffeetafeln den Verlust versüßte.

Es gab einen separaten Eingang, aber tagsüber ging ich meistens durch den Laden, grüßte kurz, fragte, ob etwas benötigt wurde, und ging durch die Küche nach oben. Warum meine Eltern es vor meiner Geburt mal so eingerichtet hatten, dass die Küche nur durch einen Raumteiler getrennt in Papas Werkstatt lag, kann ich mir nur praktisch erklären. So ließen sich Arbeit und Leben leichter verbinden. Und es kam vor, dass Mama mit einem Kunden nicht im Laden saß, wenn ich nach Hause kam, sondern am Küchentisch mit ihm Zwiebeln schnitt und weinte, während Papa etwa vier Meter entfernt mit Fäustel und Schrifteisen Lebensdaten in einen Stein trieb.

An jenem Tag ging ich nicht durch den Laden. Ich wollte nichts erledigen müssen, sondern mich mit ›Queen‹ auf mein Bett schmeißen, ›The Game‹ hören und grübeln, ob ich das Spiel spielen sollte. Ich malte mir Mamas Angst und Papas Bedenken aus. ›Ist das nicht ein bisschen früh, glaubst du dem Mann, dass er dich so gut findet? Vielleicht steht er nur auf Jungs wie dich? Willst du nicht erstmal die Schule beenden? Wenn es nicht klappt, stehst du mit leeren Händen da.‹ Ich brauchte sie gar nicht zu fragen. Wie alle Kinder wusste ich, was ihre Eltern sagen würden, bevor sie es taten. Und meistens hielt ich mich noch daran, als ich schon längst aus dem Haus war.

Umso mehr ich mich bemühte, die Visitenkarte des Jochen Griewaldt in meinen Händen klein zu halten, umso mächtiger wurde sie. Welcher Musiker träumte nicht davon, auf der Straßen entdeckt zu werden, wenn er dort spielte? Und welchem Musiker passierte das?

›Entdeckt‹ - noch klang das Wort zu groß, noch hatte mich lediglich ein Mann angesprochen, von dem ich nicht wusste, ob ich ihm vertrauen konnte. Noch war ich nicht mal Musiker, sondern ein Schüler, der ein bisschen Gitarre spielte, saß auf meinem Bett, schottete mich mit Kopfhörern vor der Wirklichkeit ab.

Wie alle Kinder schon vorher wissen, was ihre Eltern sagen würden, spüren die meisten Eltern, wenn Kinder etwas verbergen wollen, wenn sie etwas in ihrem Kopf tragen, das sie zu Boden drückt oder gen Himmel zieht. Eine kleine Änderung in der Routine weckt ihre Neugier oder löst Alarm aus. Ich hatte die Augen geschlossen, die Musik war laut, also hörte ich meine Mutter nicht klopfen, sah sie nicht durch die Tür kommen, sondern erst, als sie mir den Kopfhörer von den Ohren nahm.