Blind Date in Paris - Stefanie Gerstenberger - E-Book

Blind Date in Paris E-Book

Stefanie Gerstenberger

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11,99 €

Beschreibung

Wanda hat keine Zeit für die Liebe - doch in den Straßen von Paris kommt alles ganz anders … Als sie dem geheimnisvollen Ken und seiner Labrador-Dame Barbie begegnet, ist Wanda verwirrt. Denn Ken versteht sie gleichsam ohne Worte. Dabei ist er blind! Das macht die Sache mit der Wolke Sieben ganz schön kompliziert: Wie verliebst du dich in jemanden, der dich noch nie gesehen hat? Wanda flieht aus ihrem Leben - verwirrt, ratlos und frustriert. Denn der Leistungssport hat neben der Schule ihre gesamte Zeit aufgefressen und ihren Blick dafür vernebelt, was wirklich wichtig ist. Wer ist Wanda eigentlich? Wie möchte sie sein? Und gibt es überhaupt ein Leben neben Schule und Sport? Wanda ahnt, dass ausgerechnet Ken, der unfassbar gut aussehende und unnahbare Junge, der ihr Herz so tief berührt, ihr all das zeigen kann. Und je näher sie sich auf den blinden Jungen einlässt, der immer wieder ihren Weg kreuzt, desto deutlicher zeigt er Wanda, wie schillernd, magisch und wunderschön Wandas Welt um sie herum ist. Doch Ken zeigt Wanda noch etwas ganz deutlich: Auch in sein Leben passt die Liebe nicht, und irgendetwas hat er vor ihr zu verbergen. Allerdings haben Wanda und Ken ihre Rechnung ohne das Schicksal gemacht … und das hält ganz schön viele Überraschungen für die beiden bereit! Der neue Feelgood-Roman des erfolgreichen Mutter-Tochter-Duos Stefanie Gerstenberger und Marta Martin  - voller zauberhaftem Flair und Romantik! Diese überaus charmante Wohlfühl-Liebesgeschichte ist eine Hommage an Paris und das perfekte Schmökerfutter für alle Romantikerinnen und Jugendliche ab 12 bis 99 Jahren.   Weitere gemeinsame Romane der Erfolgsautorinnen: "Zwei wie Zucker und Zimt - Zurück in die süße Zukunft" "Muffins & Marzipan - Vom großen Glück auf den zweiten Blick" "Summer Switch - Und plötzlich bin ich du!" "Ava & der Junge in Schwarz-Weiß"

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Stefanie GerstenbergerMarta Martin

Blind Date in Paris

Weitere Bücher von Stefanie Gerstenberger und Marta Martin bei Arena:

Zwei wie Zucker & Zimt. Zurück in die süße Zukunft Muffins & Marzipan. Vom großen Glück auf den zweiten Blick Summer Switch. Und plötzlich bin ich du!

Ava und der Junge in Schwarz-Weiß

Stefanie Gerstenberger und Marta Martin sind Mutter und Tochter und legen mit Blind Date in Paris ihren fünften gemeinsamen Roman vor. Stefanie Gerstenberger wurde 1965 in Osnabrück geboren und studierte Deutsch und Sport. Nach Stationen in der Hotelbranche und bei Film und Fernsehen begann sie, selbst zu schreiben. Ihre Italienromane sind hocherfolgreich.

Marta Martin, geboren 1999 in Köln, ist eine junge Nachwuchsschauspielerin und wurde durch ihre Rolle in »Die Vampirschwestern« bekannt. Die beiden leben in Köln.

1. Auflage 2019

© 2019 Arena Verlag GmbH, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Umschlaggestaltung: Uta Krogmann, unter Verwendung eines

Fotos von © Getty Images/AleksandarNakic

Innenvignetten: Uta Krogmann

Vektorgrafiken: PinkPueblo/Shutterstock

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

E-Book ISBN 978-3-401-80847-5

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Ich hatte hingeschaut!

Es war nur ein Versehen, aber es war nun mal passiert.

Völlig in Gedanken war ich am Zug entlanggelaufen und hatte einen Blick in die verspiegelte Fensterscheibe geworfen. Oh, bitte nicht! Sofort hatte ich den Blick wieder abgewandt. Ich sah immer noch so schrecklich aus wie an diesem Morgen, als ich in Bremen in den Zug gestiegen war. Natürlich. Was hätte sich auch ändern sollen?

Ich biss die Zähne zusammen und sah mich hektisch um. Gleis 6! Wo war Gleis 6? Wenn der Zug nur nicht diese verdammte Verspätung gehabt hätte. Nun wurde es knapp. Meine Augen irrten über den Bahnsteig auf der Suche nach dem blauen Schild mit der verdammten Zahl darauf. Endlich entdeckte ich es. 10! Der Zug war auf Gleis 10 eingelaufen, ich musste also erst einmal die Treppe hinunter. Wo war die Treppe? Da vorne vermutlich, wo die Menschenmenge sich staute. Noch sieben Minuten, das schaffst du, beruhigte ich mich. Du bist schon in unzähligen Städten gewesen, du bist viel gereist, kein Grund, so nervös zu werden. Einen kleinen Moment kam ich mir dennoch verloren vor, so allein in dieser riesig hohen Halle mit den vielen Menschen um mich herum, die alle zielstrebig aussahen und irgendwohin wollten. Der rote Koffer rollte neben mir, der Rucksack drückte auf meinem Rücken. Alles in Ordnung, alles richtig gemacht, Gleis checken, wissen, wo man hinwill, Gepäck immer schön dicht bei sich halten, wegen der Taschendiebe, hörte ich Papas Stimme in meinem Kopf. Unzählige Städte, unzählige Turnhallen, ebenso viele Pokale – und dennoch hatten wir immer Zeit gehabt, die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen und uns umzuschauen. Meine Trainerin legte viel Wert darauf, dass wir in der Gruppe zusammenhielten, gleichzeitig sollten wir aber auch selbstständig sein. So ein Sport ist doch die beste Vorbereitung auf das Leben, sagte Papa immer. Der Koffer schlug schwer gegen mein rechtes Bein, als ich ihn die Stufen hinunterwuchtete, ich heftete meinen Blick auf meine Füße in den Nikes. Jetzt bloß nicht umknicken oder an den Kanten abrutschen, nicht noch ein Unfall!

Die Leute, die mir auf der Treppe entgegenkamen, sahen mir ins Gesicht – auch ohne hinzuschauen, bemerkte ich das. Ja, glotzt nur. Sieht blöd aus, ich weiß! Nein, es war keine Schönheits-OP! Gott sei Dank waren Sommerferien, in die Schule musste ich also nicht mehr. Aber da, wo ich hinfuhr, würde es auch nicht besser sein.

Tante Aurélie hätte mich eigentlich am Hauptbahnhof treffen sollen, weil sie zufällig an diesem Tag in Köln etwas zu tun hatte, zusammen wären wir dann in den Thalys nach Paris gestiegen. Das war der Plan, aber dazu würde es nicht kommen. Auf der Höhe von Hagen hatte ich eine endlose und wirre Nachricht erhalten, die mit Ma chérie! begann. Ich hatte nicht alles verstanden, warum war mein Französisch denn auch so verdammt schlecht? Was ich kapiert hatte: Tante Aurélie war noch in Paris, würde also nicht vor dem Dom stehen. Mais oui, bien sûr, hatte ich in meinem miesen Französisch zurückgeschrieben, schaffe ich auch so, die Tickets habe ich ja. Warum hatte ich Papa eigentlich nie geantwortet, wenn er als Kind mit mir Französisch gesprochen hatte? »So eine verpasste Chance«, sagten die neuen Mütter beim Training, wenn sie an Papas Akzent erkannten, dass er Franzose war. Tja, diese Chance hatte ich also auch verschwendet. Irgendwann hatte er das mit der Zweisprachigkeit dann bei mir aufgegeben.

Mein Herz klopfte schneller, jetzt war ich doch ein bisschen aufgeregt. Noch sechs Minuten bis zur Abfahrt. Wenn ich doch erst im Zug auf meinem reservierten Platz saß, ab da würde alles gut! Vom Gare du Nord sollte ich ein Taxi nehmen, in die Rue … keine Ahnung. Aurélie hatte mir die genaue Adresse per WhatsApp geschrieben, sie liege krank in ihrer Wohnung, unfähig, auch nur einen Schritt nach draußen zu machen. Schaffst du das? »Klar, schaffe ich das«, sagte ich vor mich hin. Erzähl es aber nicht Matthieu, hatte die Tante mich gebeten.

Ich kannte Aurélie nicht besonders gut, das letzte Mal hatte ich sie mit acht Jahren gesehen. Sie schien aber ebenso viel Respekt vor ihrem älteren Bruder zu haben wie ich vor meinem Vater. Kein Wunder, er konnte sich wirklich ganz schön aufregen. Unnötig also, ihm die Sache mit dem Alleine-Umsteigen in Köln zu erzählen. Nicht dass er es mir nicht zugetraut hätte, er mochte es einfach nicht, wenn Verabredungen nicht eingehalten wurden.

Endlich, Gleis 6! Keuchend wuchtete ich den Koffer die Stufen empor. Meine Nase und der ganze Kopf taten bei jedem Aufwärtsschritt weh, aber das war egal, denn hier stand er ja schon! Erleichtert lief ich auf das Dunkelrot des Zuges zu, der ganz vorne am Gleis stand. Es sah fremd, französisch und gleichzeitig abenteuerlich aus. Ich kontrollierte zur Sicherheit noch einmal die Anzeigetafel. Paris. Gare du Nord. Abfahrt 12: 20, stand dort oben. Ich war richtig, hatte es geschafft. Das erste Mal seit dem Unfall durchzuckte mich so etwas wie Freude. Ich fuhr nach Paris!

Die letzten Wochen waren echt … schwierig gewesen. Papa hatte sich erst totale Sorgen um mich gemacht, aber nur kurz, dann getobt und gebrüllt und später kaum noch mit mir gesprochen. Das hatte ich anscheinend (wie auch seine dunklen Augen) von ihm geerbt: Wenn eine Enttäuschung richtig fett und groß war, schnürte sie mir einfach die Worte ab. Ich hastete am Zug entlang, mein Blick huschte über die Waggons.

»Immer langsam, Mademoiselle, wir nehmen Sie schon noch mit! In welchen Wagen müssen Sie denn?«

Ach typisch, ich rannte hier wie ein kopfloses Huhn herum und wusste noch nicht mal die Wagennummer. Hastig nahm ich den Rucksack ab, holte die ausgedruckte Seite hervor und reichte sie dem Schaffner, ohne ihn dabei anzuschauen. Vielleicht fiel ihm dann nicht so auf, wie entstellt ich war. Der Typ räusperte sich nur und tat so, als bemerke er nichts: »Zwei Plätze im Waggon nümmero 28, da sind Sie schon dran vorbei!« Plötzlich schob er das Kinn vor und fragte mit seinem französischen Akzent: »Und Maman oder Papa kommen noch?«

»Nein.« Ich schaute noch immer auf den grauen Boden. Neben meinem Fuß flatterte eine Papiertüte von McDonald’s davon. »Hat nicht geklappt.«

»Aber alleine fahren dürfen wir doch schon, oder?«

Aha, kaum schaute er mich näher an, schon war es vorbei mit der Siezerei, dafür gab es ein gemeinschaftliches Wir. In der übergroßen Jeanslatzhose wirkte ich für ihn wahrscheinlich wie ein Kind. Ein dünnes Kind, mit einem Gegenstand im Gesicht, der da nicht unbedingt hingehörte. Pff. Ich stemmte meine Daumen gegen die Träger, diese Hosen sind jetzt in, du Otto, hätte ich ihm am liebsten gesagt. Bei der Hitze waren sie außerdem schön luftig. »Ja, ich bin sechzehn!«

»Voilà!«

»Merci!« Ich schnappte mir das Ticket, ratterte mit dem Rollkoffer zurück und bestieg das Abteil. Puuh. Ich atmete tief ein und aus. Hier war alles schön plüschig, samtig rot, stellte ich mit einem Blick fest. Mit letzter Kraft bugsierte ich den Koffer in das Fach vorne neben der Tür. Wenn er nun geklaut wurde? Papa würde sich aufregen. »Hast du ihn etwa nicht ständig im Blick gehabt?«, würde er fragen. Ich zuckte mit den Schultern. Erst einmal den Platz finden, die beiden Plätze besser gesagt, die Papa für mich und auch Tante Aurélie gebucht hatte. Jedenfalls konnte niemand neben mir sitzen und mich von der Seite neugierig anstarren. Wenn die Leute wenigstens nachfragen würden, aber nein, sie glotzten nur. Egal. Ich würde französische Vokabeln üben, ab und zu nach meinem Koffer schauen und meine Ruhe haben.

Der Gang war eng, rechts und links von mir machten sich die Leute breit, verstauten ihr Gepäck in den schmalen Fächern über den Plätzen, einige packten sogar schon ihren Proviant aus. Ich suchte meine Sitznummern und blieb schließlich stehen.

Och nee! Ein Viererplatz, mit Tisch in der Mitte. Und beide Fensterplätze belegt. Unverschämtheit, einer davon, nämlich Platz 56, gehörte mir! Auf dem saß aber ein Hund, durfte der das? Das durfte der doch gar nicht! Er war ziemlich groß mit einem dicken Kopf und Augen, die zu lachen schienen, denn er kniff sie ein bisschen zusammen. Sein Fell war kurz und hell, ungefähr die Farbe von – keine Ahnung, einem Lamm? Einem sehr großen Lamm. Und das saß da, total zufrieden, als ob es absolut dorthin gehörte. Sein Herrchen schien nichts dagegen zu haben, er schaute kurz hoch, sah mich gar nicht richtig an, sondern grinste nur nickend, dann wandte er sich wieder seinem Smartphone zu, auf dem er wie wild herumwischte.

Ich hielt die Luft an und ließ mich zögernd neben dem Hund nieder. Der hob interessiert den Kopf und beschnupperte meine Haare, die ich, wie immer, in einem großen Knoten im Nacken trug, und dann meinen Rucksack. Wahrscheinlich roch er das letzte Salamibrot. Dass der Typ nicht merkte, wie sein Hund mich belästigte! Konnte er ja nicht, denn er hatte auch noch einen Kopfhörer im Ohr, der andere hing an seiner Schulter herunter. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen, denn ich hatte ein bisschen Angst vor Hunden. Vor solchen großen allemal.

Ich rettete meinen Rucksack vor dem lammfarbenen Monster, indem ich ihn auf den Boden legte, mein Kopf tat weh und ich bekam immer noch nicht gut Luft durch die Nase. Nach den drei Stunden von Bremen nun also noch drei nach Paris, die es zu überstehen galt. Reiß dich ein bisschen zusammen, hörte ich die Stimme meines Vaters. Er hatte ja recht, drei Stunden, was war das schon? Die würde ich nach dem Unfall, der OP und den blöden Tagen im Krankenhaus auch noch aushalten! Selbst neben einem unerzogenen Hund wie diesem. Und einem Gegenüber, das mich nicht mal anschaute und grellbunte Sachen trug, die er wahrscheinlich »richtig geil Achtziger« fand. Sein Hemd war nicht nur ein viel zu farbiges Durcheinander, sondern auch noch komisch weit geschnitten, und waren das etwa Hosenträger? Nicht dein Ernst, sagte ich in Gedanken zu ihm, du bist doch höchstens achtzehn. Ich war froh, dass er so sehr von seinem Handy in Anspruch genommen wurde und mich nicht beachtete, denn ich sah immer noch furchtbar aus, das wusste ich selbst. Stattdessen starrte er ausdruckslos, mit glasigen Augen in die Luft und hörte gebannt dem zu, was aus dem einzelnen Kopfhörer über sein Ohr in sein Hirn drang. Gut, er machte auf schwer beschäftigt, umso ungestörter konnte ich mich etwas strecken und ihn dabei richtig in Augenschein nehmen. Wow, sagte ich mit einem kurzen Blick zu dem Hund neben mir, dein Herrchen sieht eigentlich echt gut aus, aber das weiß er auch. Die dunklen Haare waren vorne etwas zu lang, sodass sie ihm links etwas über die Augen hingen, aber ziemlich cool geschnitten, wie frisch vom Friseur gestylt, damit es aussah wie absolut nicht gestylt. Schöner Mund, gerade Nase und irgendwie sehr selbstbewusst. Sogar das blöde Hemd passte perfekt zu ihm, musste ich zugeben. Ist der ein Schauspieler oder Sänger oder so was? Sag doch mal! Der Hund sah immer noch so aus, als ob er lachte. Ihm war zu heiß, er hechelte, hatte die Vorderpfoten brav nebeneinander auf dem roten Polster und schaute nun weg von mir, aus dem Fenster, denn der Zug setzte sich in Bewegung.

Das Tier war also keine Hilfe. Und ich hatte keine Ahnung von Stars, denn ich war schon ewig nicht mehr im Kino gewesen, ich sah keine Serien und kannte mich überhaupt nicht mit YouTubern aus, ich hörte zwar oft Musik, ging aber nicht in Konzerte. Und gut aussehende Jungs kannte ich auch nicht näher. Warum nicht? Nicht weil es mich nicht interessierte, oh doch, ich hatte nur einfach keine Zeit!

Ich rutschte vor und zurück auf meinem Platz. Meine Beine sehnten sich danach, gedehnt zu werden. Es war ein dringendes Bedürfnis, wie bei manchen Menschen, die von Zeit zu Zeit mit den Fingergelenken knacken mussten. Hier im Zugabteil konnte ich dem aber nicht wirklich nachgeben. Hyperflexibilität nannte man das; Bänder und Gelenke waren bei mir viel beweglicher als bei normalen Menschen. Für meinen Sport war das natürlich superpraktisch. Ich streckte das rechte Bein aus und ließ es so weit wie möglich über den Gang grätschen. Die Leute vom Nebentisch merkten nichts, die hatten sich allesamt hinter Laptops und Kopfhörern verschanzt. Ich zog das Bein wieder heran und verbot mir, es hochschnellen und neben mir in die Höhe wippen zu lassen. Etwas, was ich gerne zu Hause auf dem Sofa tat, wenn ich dort saß, um Vokabeln zu lernen. Schon komisch, Wanda, sagte ich mir. Hier könnte der absolute Promi vor dir sitzen, der ein normales Mädchen zum Kreischen oder Hyperventilieren bringt, du würdest ihn nicht erkennen.

Vielleicht kommt das daher, dass du die letzten fünf Jahre mit deinem Vater in hübschen Turnhallen verbracht hast. In allen Stadtteilen von Bremen, wirklich allen … in Stuttgart, in Berlin, Düsseldorf, Leverkusen. Ich nickte vor mich hin. Ich war schon auf Turnieren in Polen, Wettkämpfen in Italien, ja sogar in Sofia, Madrid und Moskau gewesen! Aber so alleine wie heute war ich noch nie gereist, und das alles nur, weil ich …

Eine Durchsage aus den Lautsprechern riss mich aus meinen Gedanken. Der Zugchef begrüßte uns auf unserer Fahrt nach Paris. Dann wiederholte er alles noch mal auf Französisch, danach auf etwas, was wohl Flämisch sein sollte. Verstohlen sah ich hinüber zum Superstar, so hatte ich ihn getauft. Immerhin, mit seinem Handy war er fertig, nun legte er es vor sich auf den Tisch und ordnete ein paar Sachen darum. Eine Butterbrotdose, eine zusammengedrehte, lederne Hundeleine, eine kleine Schachtel, vermutlich für die Kopfhörer. Er hörte interessiert der Durchsage zu und er schien gerne Ordnung zu haben, denn er rückte die Dinge dabei mehrfach hin und her, wie so ein alter, tattriger Mann. Ich konnte gar nicht hinschauen, es war irgendwie peinlich.

»Lädies änd dschentel-män«, begann der Zugführer seinen ewig gleichen Text nun auf Englisch. Ich betastete mein Gesicht. Unter den Augen war es immer noch angeschwollen und in der Mitte prangte dieser auffällige weiße Buckel, dennoch wagte ich es, dem Superstar schräg gegenüber für eine Sekunde zuzulächeln, als er zu mir herüberschaute. Dschentel-män klang witzig, hatte er das nicht gehört? Doch Superstar sah mich zwar flüchtig an, reagierte aber nicht. Kein Lächeln, kein freundliches Schulterzucken. Na, dann eben nicht. Blöder Angeber, dachte ich. Sei bloß froh, dass ich nichts sage, dein Hund darf hier eigentlich gar nicht sitzen. Wenn der Thalys-Schaffner das sieht … Aha, kaum brauchte man ihn, kam der Schaffner auch schon durch den Gang. Und richtig, erst wollte er in seiner Uniform an uns vorbeieilen, doch dann stoppte er scharf seinen federnden Gang ab. Ich schaute unbeteiligt zu Boden, garantiert würde der Beamte sich nun über den Hund aufregen.

»Wenn Sie … wenn Sie etwas trinken wollen …«, sagte er zu meinem Gegenüber. »Einen Kaffee oder so? Melden Sie sich, ja? Ich bringe Ihnen gerne was!«

Ich schüttelte unmerklich den Kopf und verschränkte die Arme vor meinem Körper. Ich hatte es gewusst, er war ein Promi, eingebildet und berühmt, für was auch immer, und konnte sich alles erlauben!

Doch Superstar schüttelte den Kopf und sah zu dem Schaffner hoch: »Danke! Aber den hole ich mir auch gerne selber. Beine vertreten und so …«

Ich konnte seine Augen sehen. Braun mit einem beträchtlichen Schuss Dunkelgrün darinnen, ich hatte noch nie eine solche Augenfarbe gesehen. Die Augen passten gut zu seinen dunklen Haaren und dem leicht gebräunten Gesicht. Ich gab es ungern zu, aber er sah total süß aus, megacute, wie Laura aus unserer Gruppe gesagt hätte. Aber er sah mich immer noch nicht an! Entweder wollte er mich nicht verlegen machen, indem er mich ignorierte, oder er fand mich einfach nicht megacute, sondern megalangweilig und war noch nicht mal neugierig genug, mich darauf anzusprechen, was mit meinem Gesicht passiert war.

Mein Handy klingelte. Papa, verkündete das Display und ein kleiner Angstblitz fuhr mir in den Magen. Mist. Was sagte ich ihm bloß? Ich erhob mich und wollte mich schon über den Gang entfernen. Beim Lügenerfinden war ich lieber unbeobachtet und ungehört. Doch dann setzte ich mich wieder, denn mir war eingefallen, was ich ihm erzählen konnte. »Hallo, Papa!«

»Hallo, Wanda, hier ist Mama! Wir sind am Flughafen, ich muss gleich durch die Sicherheitskontrolle, aber ich wollte unbedingt noch mal deine Stimme hören!«

Ich atmete erleichtert auf. Mit Mama konnte man viel besser sprechen.

»Ist alles gut gegangen, sitzt ihr schon im Zug nach Pari?« Mama sprach die Stadt immer aus, wie die Franzosen es taten. Sie hatte Papa dort nach einem ihrer Konzerte kennengelernt. Einfach so, auf der Straße. Erst war ich nur in die Stadt verliebt – und dann auch noch in ihn, erzählte sie oft.

»Wie geht es mit Aurélie?«, fragte sie jetzt, als ich nicht antwortete.

»Gut! Alles super. Ja, wir fahren schon. Aurélie ist nett, sie holt gerade Kaffee im Speisewagen.« Ich sah verstohlen zu Superstar hinüber. Sollte er doch ruhig mithören, was ich sagte. Aber der starrte gemeinsam mit seinem Hund aus dem Fenster, beide taten so, als ob sie das Gespräch nichts anging.

»Will Papa mich nicht sprechen?« Meine Stimme klang verschnupft und leise, fast als ob ich geweint hätte. Dabei lag das nur an meiner Nase.

»Mhmmmm, ach, na ja … Der beruhigt sich schon. In drei Wochen komme ich direkt von Boston nach Pari geflogen und hole dich ab. Dann fahren wir zurück nach Bremen und ihr macht zusammen da weiter, wo ihr aufgehört habt!«

Wenn Mama das sagte, hörte es sich so leicht an. Ich zog mühsam die Luft durch die Nase. »Sag ihm, dass es mir leidtut und …«

»Das sage ich ihm nicht«, unterbrach mich meine Mutter, »er weiß es nämlich bereits!«

»Dann sag ihm, dass ich alles … also dass ich seinen Plan für Paris genauso einhalten werde, wie er ihn für mich aufgeschrieben hat.«

Mama seufzte. »Vergiss den Plan, halte dich lieber an Aurélie, die ist momentan die Lustigere in der Familie! Erhol dich von den ganzen Strapazen und genieße die Stadt, ach ja, Aurélie soll mit dir zu einem Arzt gehen, den Verband wechseln lassen. Ich melde mich aus San Francisco!«

»Hab dich lieb, Mama. Flieg vorsichtig! Und ganz viele schöne Konzerte!«

»Danke, mein Schatz! Dicken Kuss!«

»Und sag Papa …« Aber da hatte Mama schon aufgelegt.

Ich schluckte. Wieso rief er mich nicht an? Dieses Schweigen von ihm war unerträglich!

»Na, Papa wollte wohl nicht mit dir reden?«

»Was?« Ich sah erstaunt zu Superstar hinüber. Das wirre Muster seines Hemdes leuchtete grell im Sonnenlicht, das jetzt schräg auf die Fensterplätze fiel. Er hatte plötzlich eine überdimensionale Sonnenbrille auf und sah mich damit wie eine große Fliege an. Der Typ war unmöglich! Er belauschte mich und gab es auch noch offen zu: »’tschuldigung, konnte nicht weghören. Hat er dir Hausaufgaben aufgegeben? Einen Plan für Paris, den du einhalten musst? Wow.«

Auch der Hund hatte sich jetzt mir zugewandt, er beschnüffelte mein Gesicht und beugte sich dann mit der Schnauze hinunter in meinen Schoß. Vergeblich versuchte ich, seinen dicken Kopf wegzuschieben, also schoss ich einen wütenden Blick zu Insekt Superstar hinüber, doch der tat, als sähe er mich hinter seinen schwarzen Gläsern nicht.

Ich rutschte, so weit es ging, zur Seite, um den Hund loszuwerden. »Mein Vater kennt sich nun mal in Paris aus. Er ist Franzose!« Ich klang so stolz, wie ich mich fühlte.

»Vätern sollte man nie zu viel zutrauen …« Jetzt nahm er die Brille wieder ab, seine Lider schlugen wie wild und scheinbar unkontrolliert auf und zu, ein Tick wahrscheinlich, es sah ziemlich unheimlich aus und ich guckte schnell weg. Aber auch wenn man wegschaut, sieht man was … Nun presste er sich beide Fäuste vor die Augen, und als er sie hinunternahm, hatten sich seine Lider beruhigt. Doch er hielt sie geschlossen, sah aus, als ob er in sich hineinhorchte, und war für ein paar Sekunden still. Dann redete er weiter, als ob nichts wäre: »Du bist doch wahrscheinlich auch nicht viel älter als achtzehn, sind Väter nicht für die meisten Mädchen ’ne Zeit lang richtig nervig?« Nervig? Nein?! Mein Vater war sowieso eine Ausnahme. Und, bitte was? Er schätzte mich auf achtzehn? Wenn er annahm, dass ich achtzehn war, dann dachte er bestimmt auch … »Das hier war übrigens keine Schönheits-OP. Nicht dass du das denkst!«

»Denke ich nicht. Wieso, was ist passiert?« Er wandte sich mir mit seinem ganzen Körper zu. Er schien groß zu sein und nicht gerade untrainiert, zwei muskulöse Oberarme schauten unter den kurzen Ärmeln seines Hemdes hervor, von dem ich immer noch nicht wusste, ob ich es schrecklich oder doch ganz cool fand.

»Tja, was ist passiert? Du stellst ja tolle Fragen. Nach was sieht’s denn aus?«

»Keine Ahnung. Du sprichst ein bisschen verschnupft.«

Ich schüttelte den Kopf. Ach ja? Das war die Untertreibung des Tages und sollte wahrscheinlich lustig sein. Ich hatte einen hässlichen Verbandshöcker auf der Nase, an den Seiten mit Pflastern fixiert, unter meinen Augen schillerte es gelb, grün und blau, der reinste Regenbogen. Wieder beugte sich der Hund zu mir und wühlte mit der Schnauze in meinem Schoß. Verdammt, jetzt reichte es: »Äh, kannst du deinem Hund mal sagen, dass das nervt?!«

»Barbie!?« Er richtete sich auf, zog die Augenbrauen hoch und ein paar Sorgenfalten erschienen auf seiner Stirn. Er guckte mich nicht an, sondern hielt mir sein Ohr entgegen, wie meine Oma in Bremen, die hörte mit dem anderen nämlich nichts mehr. »Hat sie dich geärgert? Tut mir leid, ich dachte, es wäre okay, dass sie da oben sitzt. Wir lieben es beide rauszuschauen.« Er lachte über diesen besonders tollen Witz und bewegte die Füße unter dem Tisch, als ob er etwas suchte. »Barbie, Fuß!«

Barbie? Was für ein lächerlicher Name für einen Hund!

Doch Barbie gefiel ihr Name anscheinend, sie senkte sofort den Kopf, sprang von dem Sitz und verschwand unter dem Tisch. Ich atmete erleichtert aus, doch ich war immer noch sauer über das, was er über meinen Vater gesagt hatte. »So, jetzt kannst du mir auch verraten, woher ich dich kennen müsste. Sorry, ich weiß, sogar der Schaffner hat dich erkannt, aber ich habe keine Zeit für irgendwelche Shows oder YouTube-Stars oder Bands.«

»Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«

»Ach komm. Immerhin hat er deine Barbie dort sitzen lassen.« Ich schnaubte verächtlich durch die Nase, was keine gute Idee war, denn sie tat gleich wieder weh. »Wie bist du denn auf diesen Namen gekommen?«

»Ich heiße Ken, also eigentlich Kenneth, aber alle nennen mich Ken. Ich dachte, das passt gut zusammen.«

Barbie und Ken. Alles klar. Unter dem Tisch raschelte und grunzte es leise. Ich traute meinen Augen kaum: Barbie steckte mit dem Kopf komplett in meinem Rucksack und machte sich anscheinend gerade voller Freude über mein letztes Salamibrot her.

»Ey, Ken! Deine Barbie-Freundin frisst sich hier gerade satt … mach doch was!«

»Barbie, aus!« Sofort hielt die Hündin inne, ihr Kopf kam hervor, mit treuen Augen schaute sie zu ihrem Besitzer hoch. Was ist los?, schien sie zu fragen und leckte sich die Schnauze.

»Wie sie guckt!« Ich musste trotz meines Ärgers lachen. »Schau dir das an! Ist sie sehr jung und noch nicht richtig erzogen?«

»Sie ist zwei Jahre alt und super erzogen, aber momentan nicht im Dienst, dann macht sie manchmal ein bisschen Blödsinn. Vielleicht sollte ich sie ins Geschirr legen, dann kommt so was nicht vor.« Ohne hinzuschauen, tastete er unter dem Tisch herum, vermutlich um Barbie zu streicheln. »Willst du dir, besser gesagt uns, was aus dem Speisewagen holen? Hier.« Mit der anderen Hand schob er mir sein Portemonnaie hinüber. »Nimm dir Geld, ich lade dich ein! Alles, was du willst, als Entschädigung sozusagen. Für mich wären ein Käsebrot und ein Bier nicht schlecht. Danke!«

»Äh, nein?« Was sollte das denn? Er lud mich ein, aber ich sollte durch den schwankenden Zug gehen und alles holen? Ich wusste ja nicht mal, in welcher Richtung der Speisewagen lag. »Warum gehst du nicht selber? Beine vertreten und so?«

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er statt einer Antwort. Jetzt lächelte er. Mit geschlossenen Lippen, hochgezogenen Augenbrauen und ein bisschen von oben herab, aber wirklich nur ein bisschen. Ich mochte dieses Lächeln viel zu sehr, es war erschreckend …

»Wanda.«

»Wanda. Schöner Name.«

»Findest du?« Ich freute mich mehr über dieses Kompliment, als mir lieb war.

Ken nickte.

»Aber glaub mir, Wanda, es würde ziemlich langsam gehen, bis dahin wärst du verhungert, und du würdest mir echt einen Gefallen tun!« Er stützte sein Kinn auf seine Hände und endlich, endlich schaute er mir in die Augen. Ich guckte zurück, ich würde mich von Barbies Freund nicht einschüchtern … aber warum guckte er so komisch, als ob er mich gar nicht richtig … sah.

Seine Augen. Verdammt, wie konnte ich nur so blöd sein, er sah mich wirklich nicht! Ich guckte hinunter auf Barbie und entdeckte das Hundegeschirr unter dem Tisch. Ein kleines blaues Bild war darauf, mit einem Strichmännchen, das von einem Hund geführt wurde … Es war oberpeinlich, denn ich hatte es nicht gemerkt: Superstar hier vor mir – war blind!

Oh Gott. Ich durchforstete in aller Schnelle mein Gehirn. Hatte ich was Blödes gesagt, über das Sehen oder so? Ja klar, gleich mehrfach. Nach was sieht’s denn aus? Oder: Schau dir das an. Und: Warum gehst du nicht selber? Wie fies! Ich hatte einen Blinden aufgefordert, durch den Zug zum Speisewagen zu gehen, dabei konnte er das doch nicht! Er sah nichts, nichts! Alles war dunkel für ihn, für immer, wie schrecklich war das denn? Verlegen schaute ich zu ihm hinüber. Sah er wirklich nichts? Seine Augen wirkten doch eigentlich ganz normal und in Ordnung. Richtig schön waren sie, in diesem dunklen, außergewöhnlichen Braungrün. Ich traute mich nicht, ihn zu fragen, ich würde das Thema absolut ausklammern, um ihn nicht noch mehr zu beleidigen. Doch da begann er selber zu reden:

»Ich sehe nichts mehr, seit ich dreizehn bin. Nur einen Rest Hell-Dunkel-Wahrnehmung habe ich noch.«

Also hatte er früher mal gesehen, konnte sich noch an Farben erinnern und an Gesichter. »Oh, das ist bestimmt total … schlimm, oder?«

»Am Anfang schon. Da war ich echt fertig, wollte es nicht akzeptieren, dass nun ausgerechnet ich diese Krankheit habe. Es fing an, als ich elf war, ich war im cours moyen 2, also im letzten Jahr der école élémentaire, ich bin in Paris aufgewachsen. Plötzlich konnte ich nicht mehr vorlesen, kassierte eine schlechte Note nach der anderen. Die dachten, ich mach das extra.« Er unterdrückte ein Lachen und glurkste es stattdessen durch die Nase heraus. Es klang ziemlich witzig. Nun grinste er mich an, er war so hübsch, sein Mund schön breit mit tollen weißen Zähnen drin. Es konnte nicht sein, dass er mich nicht sah, seine Augen schienen doch genau zu wissen, wo ich war!

»Aber … also ich habe das echt nicht gemerkt.« Ich verkniff mir die Fragen, die in mir hochkamen. Und jetzt siehst du echt nichts mehr? Und wie funktioniert das mit dem Handy? Und bist du dann ganz allein unterwegs? Ich schämte mich plötzlich. Ich konnte sehen und war trotzdem aufgeregt auf dem Bahnhof herumgerannt und hatte dreimal kontrolliert, ob auch wirklich der richtige Zug vor mir stand. Wie hatte er das bloß alles geschafft? Treppen, Menschengewimmel, Bahnsteige, von denen man herunterstürzen konnte. Anzeigen, die man lesen musste, Durchsagen, die man nicht verstand. Ob jemand ihn zum Zug gebracht hatte? Ob er abgeholt wurde? Und wo war sein Stock, hatten nicht alle Blinden einen Stock? Ich sah keinen.

Ich warf einen Blick hinüber zu dem Tisch auf der anderen Seite des Ganges. Die vier Erwachsenen waren völlig von der Welt in ihren Laptops absorbiert, niemand beachtete mich. Ich schloss die Augen. Rötliche Dunkelheit. Ich hörte den Thalys über die Gleise rattern, Barbie unter dem Tisch hecheln, am Nebentisch öffnete jemand eine Getränkedose. Und das für immer? Schnell öffnete ich die Augen wieder.

»Ich wurde oft operiert, der Augeninnendruck war bei mir zu hoch und zerstörte langsam den Sehnerv. Immer wieder haben sie versucht, das irgendwie zu stoppen. Aber vergeblich.« Er tastete mit den Händen auf dem Tisch herum, bis er sein Handy fand. »Wo sind wir? Sind wir gerade in einen Bahnhof eingefahren?«

»Stimmt. Wir sind langsamer geworden.«

»Und das Licht hat sich geändert.«

Aha? Das Licht! Das hatte ich gar nicht bemerkt. Ich reckte mich, um eins der vorbeifahrenden Schilder lesen zu können. »Aachen.« Es war mir immer noch unangenehm, ihm schräg gegenüber zu sitzen, obwohl ich ihn jetzt in aller Ruhe betrachten konnte. Das Hemd sah doch ziemlich gut an ihm aus. Konnte er ja nichts dafür, dass er die Farben nicht sah. »Und wie machst du das beim Anziehen? Also ich meine … äh … sorry.«

»Du meinst, weil ich ja nicht sehe, was ich da in den Händen halte?« Er lachte. Er lachte sowieso ziemlich viel, obwohl er doch blind war. »Das Hemd hat mir meine Mutter genäht, sie ist Herrenschneiderin und jetzt Einkäuferin bei einem angesagten Modelabel. Off-Supply. Sagt dir das was?«

»Nein. Ich bin nicht so drin in dem, was für Typen angesagt ist.«

»Sieht das gut aus oder scheiße, sag mal?«

»Ähem. Echt gut!« Wie peinlich! Ich konnte einem Blinden doch nicht sagen, dass ich seine Klamottenwahl komisch fand und die Farben echt gewöhnungsbedürftig waren.

»Ich habe so ein Farberkennungsgerät, das sagt mir ziemlich genau, ob etwas eher hell- oder dunkelblau oder türkis ist. Bei dem Hemd war es allerdings überfordert.« Wieder grinste er so süß vor sich hin, als ob er sich wirklich amüsieren würde. Ich rutschte unruhig auf meinem Platz hin und her. Wie sollte ich die nächsten zweieinhalb Stunden nur überstehen? Er wusste ja noch nicht mal, wie ich aussah. Sollte ich mich ihm beschreiben oder wollte er mich etwa abtasten, um sich »ein Bild« von meinem Gesicht zu machen? Und wenn er mich darum bat, konnte ich ihm den Wunsch dann abschlagen? Immerhin hatte ich einen Verband in meinem Gesicht, das bei Berührungen schmerzte. Das musste als Entschuldigung reichen.

»Ich hab das echt nicht gemerkt, dass du … dass du nicht sehen kannst«, stotterte ich wieder.

»Du kannst auch ruhig blind sagen, haben wir nichts dagegen.«

»Aha.« Wieder warf ich prüfende Blicke auf meine Mitreisenden. Sah irgendjemand zu uns rüber und hörte bei dieser seltsamen Szene mit? Niemand. Dem Rest der Welt war es egal, ob ich hier gerade eine peinliche Vorstellung meines Charakters gab.

»Und du musst auch nicht mit dieser traurigen, leisen Stimme reden. Ist okay. Ist zwar manchmal echt scheiße und dann werde ich ungeduldig oder wütend oder traurig, aber längst nicht mehr so schnell wie früher. Man kann sagen, ich habe mich daran gewöhnt.«

»Du sprichst total gut Deutsch, dafür dass du in Paris aufgewachsen bist.« Endlich ein Thema, das nichts mit Augen zu tun hatte.

»Ich habe mit meinen Eltern zu Hause Deutsch gesprochen und bin mit dreizehn mit meiner Ma nach Deutschland zurückgegangen.«

»Mit dreizehn? Aber da warst du doch … « Mist, schon wieder das Augenthema.

»Genau, da war ich schon blind wie ’n Maulwurf. Nichts mehr sehen können und dann auch noch in eine Stadt wie Frankfurt ziehen, ins Haus meiner Oma … das fuckt ab. Denn in dieser Stadt ist nichts so wie in Paris – um das zu bemerken, dazu braucht man echt keine Augen!«

Er suchte in seiner Tasche, bis er etwas gefunden hatte. Karamellbonbons, die liebte ich! Er öffnete die Tüte und hielt sie mir hin. Die Richtung war … fast richtig. Ich zog die Tüte etwas zu mir heran und nahm mir eins.

»Und du? Was machst du so?« Beiläufig wickelte er sein Bonbon aus. »Lass mich raten. Leistungssportlerin, Turnerin oder so, zurzeit aber verletzt. Papa ziemlich ehrgeizig, enttäuscht und sauer, weil Töchterchen nicht zum Wettkampf kann …«

Mir blieb der Mund offen stehen. Nein! Das war unmöglich! Er musste doch mehr sehen können, als er behauptet hatte. Vielleicht ließ ich mich gerade schön von ihm verarschen … das konnte er doch niemals alles geraten haben! Ich beugte mich über den Tisch und starrte in seine hübschen Augen, die etwas unruhig umherirrten. »Woher weißt du das?«

»Gehört, gespürt, zusammengereimt.«

»Aha! Das geht?« Ich beugte mich noch weiter vor.

»Du bist auf dem Sitz rumgerutscht wie jemand, der sich unbedingt strecken will. Haben hyperflexible Menschen nicht diese Marotte?«

Hyperflexible Menschen? Diese Besonderheit konnte er nun wirklich nicht über mich wissen. Eigentlich schon ein Wunder, dass er überhaupt das Wort kannte. »Nein … Äh. Also nicht generell«, antwortete ich. »Vielleicht nur solche, die auch noch ziemlich viel Sport machen, keine Ahnung.«

»Siehst du! Und dann kam es zu dieser dummen Verletzung. Diesem Nasen…? Bein…? Bruch?«

»Woher weißt du das?«, wiederholte ich und betastete ganz vorsichtig meinen Verband. »Habe ich etwas darüber gesagt? Siehst du mich etwa doch?« Empört wich ich vom Tisch zurück.

»Nein. Leider nicht! Aber so leise kann kein Sehender reden, dass ein Blinder es nicht hören würde.« Er lachte. »’tschuldigung. Deine Mutter sprach ziemlich laut am Telefon. Zum Arzt, Verband wechseln, Tante Aurélie? Und deine Stimme klingt nasal, als ob du nicht gut Luft bekommst.«

Ich schüttelte den Kopf. Das war doch nicht möglich! So genau konnte er sich das alles doch nicht zusammengereimt haben.

»Erzähl! Was ist passiert?«

»Na ja. Wie es zu dieser Verletzung kam, war nicht nur dumm, sondern saudumm!«

»Ich mag dumme Dummheiten! Ich sammele die!« Ken grinste vor sich hin.

»Ich habe mir die Nase gebrochen, als ein Mädchen aus meiner Klasse Abschied gefeiert hat. Eigentlich wollte ich sofort nach Hause, wie sonst immer, weil ich die Hausaufgaben am liebsten noch schnell vor dem Training erledige. Aber an diesem Tag bin ich einfach sitzen geblieben, denn Antonia hatte Kuchen und diese Flasche mit Schokoladenlikör dabei. Unsere Englischlehrerin hat das mit dem Likör gar nicht gemerkt.« Ich merkte, wie die Worte nur so aus mir heraussprudelten. Nach den drei schweigsamen Stunden von Bremen nach Köln hatte ich einfach das Bedürfnis, ein bisschen zu reden. »Der Kuchen war eine Schokoladentarte, so flach und dunkelbraun, kennst du die?« Oh Gott, wahrscheinlich hatte er als Kind so was nie gesehen und konnte es sich nun auch nicht mehr vorstellen.

»So wie ein Brownie, in groß?«

»Genau, und ich habe auch nur ein winziges Stück gegessen, und …«

»Bist du sehr dünn?«, unterbrach er mich.

»Nein. Na ja, doch. Also ich habe kein Fett, weil ich Muskeln habe und eben sehr gelenkig bin.« Ich spürte, wie ich rot wurde. Stellte er sich jetzt meinen Körper vor, den er ja nicht sehen konnte? Stellte er sich mich nackt vor? Irgendwie fand ich das toll und dann sofort wieder total daneben. Was denn nun?!

Ich war eigentlich ganz zufrieden mit meinem Aussehen, aber ich musste natürlich auf mein Gewicht achten. Meine Trainerin, die Iwanowa, hatte uns ständig alle im Blick und hielt sich nicht mit ihren Kommentaren zurück. »So ein dicker Mensch, so eine Schande für unseren Verein«, hatte sie mal in ihrem kratzig-russischen Akzent über Carina gesagt. Vor versammelter Mannschaft. Dabei hatte Carina die zwei zusätzlichen Kilo sofort wieder herunter, sie gönnte sich eben manchmal Pommes und Hamburger, trotz Leistungssport.

»Also ein kleines Stück Kuchen und dann kam der Likör?«

»Ja, der Likör … nur ein Schnapsglas voll, aus dem wir reihum tranken, also ich war nicht betrunken oder so, aber der Alkohol … den haben sie im Krankenhaus gerochen, in das man mich brachte, nachdem Philipp Bobrowski mich mit seinem Ellbogen volle Wucht im Gesicht getroffen hatte.«

»Mann, was für ein Idiot!«

Ich freute mich, dass Ken die Fäuste ballte, als ob er mich verteidigen wollte. Aber wie wollte er das anstellen? Na eben … Blindsein war echt furchtbar! Allein es mir vorzustellen, war krass.

»Das hat der nicht mit Absicht gemacht, wir haben nur Flasche und Gläschen weitergereicht und dabei wurde ein bisschen geschubst und rumgealbert. Sonst bin ich ja bei so was nie dabei, aber diesmal eben doch, und er … hat sich mit vollem Schwung umgedreht und ich beuge mich gerade vor … Er hat mich einfach nicht gesehen. Dem ging es danach noch tagelang schlecht, vor lauter Mitleid und Bedauern; er ist erst mal umgekippt, als er das ganze Blut sah.«

»Also, das ist mir wiederum noch nie passiert …«

Ich musste lachen. Komisch, wie locker er damit umging, nicht sehen zu können.

»Und dann bist du operiert worden.«

»Ja. Das ist jetzt schon über vierzehn Tage her. Wenn du wüsstest, wie ich immer noch aussehe …« Shit. Wieder war ich so unsensibel!

»Wanda …« Er sprach meinen Namen unnachahmlich schön aus. Wandá. Ein bisschen französisch, ein bisschen fragend. »Wenn du wüsstest, wie viel ich auch so von dir sehe.«

»Echt jetzt? Bist du ein Hellseher oder was?«

»Äh? Wie kommst du denn darauf? Nein, natürlich nicht. Ich sehe dich durch deine Stimme, dein Lachen, deine kleinen Schnaufer …«

Ich machte kleine Schnaufer? Oh Gott, ich schaute auf die Tischplatte zwischen uns. Es fühlte sich an, als ob man sich vor ihm nicht verstecken könnte, als ob er bereits alles über mich wusste. Verlegen sprach ich weiter: »Na ja, und im Krankenhaus fragten sie mich eben, ob ich Alkohol getrunken hätte, und da musste ich doch Ja sagen, oder? Und das haben sie dann meinem Vater weitererzählt, der zu Hause auf mich gewartet hatte und irgendwann benachrichtigt wurde. Er fährt mich immer zum Training.«

»Immer?«

»Na ja, er beobachtet während des Trainings, was ich mache, und berät mich auch.«

»Und übt mit dir zu Hause auf dem Wohnzimmerteppich?«

Er glurkste wieder so lustig, als ob er sich das jetzt vorstellen würde.

»Nein. Meine Trainerin ist die Iwanowa.«

»Oh. Eine Russin? Die schreit bestimmt rum.«

Woher wusste er das jetzt wieder?

»Geschrien wird schon oft. Die Kleinen weinen dann auch mal.«

Ken zog die Augenbrauen zusammen, sagte aber eine Zeit lang erst mal nichts mehr. Anscheinend gefiel ihm die Vorstellung nicht, ich hatte aber keine Lust, mich für mein geliebtes Training zu rechtfertigen. Na ja, manchmal liebte ich es auch nicht. Aber schon ziemlich oft.

»Und jetzt ist dein Vater immer noch sauer?«, kam die nächste Frage von drüben.

»Ziemlich.« Ich hörte mich selber aufseufzen. »Alkohol! So wie die das geschildert haben, hat er sich eine halbe Flasche Wodka vorgestellt, nicht zwei Zentiliter Schokolikör. Er hat mir nicht recht geglaubt und war natürlich enttäuscht. Bin ich ja auch. Ich hätte morgen beim World Challenge Cup in Portugal dabei sein sollen. Da haben wir lange drauf hingearbeitet.«

»World Challenge …« Ken ließ sich die Wörter auf der Zunge zergehen. »Ich habe jeden Tag World Challenge …« Er sortierte wieder seine Sachen auf dem Tisch, indem er sie hin und her schob. »Wie oft trainierst du so?«

»Dienstag bis Freitag von 16 bis 20 Uhr. Samstag und Sonntag von 10 bis 14 Uhr.«

»Oh schön! Und montags ist dann frei.« Er nickte begeistert, sein Blick verfehlte mich knapp. »Ich hoffe aber, dass du auch an dem freien Tag etwas Sinnvolles mit deiner Zeit anfängst?«

»Ja schon. Meistens tue ich noch was für die Schule. Irgendetwas fällt mir immer ein.«

»Ah. Für die Schule. In der du natürlich auch gut bist.«

»Ja.«

»Und das findest du alles in Ordnung so.«

Es klang wie eine nette Feststellung, aber zum ersten Mal kamen mir Zweifel, ob er es wirklich so meinte … Sein Ton klang komisch. »Ich möchte eben gut sein in der Schule, ich muss gute Noten haben, sonst würden sie mich auch gar nicht zu den vielen Wettkämpfen lassen, denn dadurch bin ich dauernd nicht da. Das, was ich verpasst habe, die Fehlzeiten, muss ich dann alleine nachholen.«

»Und was genau machst du da? Bist du etwa eines von diesen biegsamen Mädchen, die einen Ball hochwerfen und mit gebogenem Rückgrat wieder einfangen?«

Ich lächelte. Aber das sah er ja nicht. »Ja. Bin ich.«

»Echt? So was machst du? Weißt du, als die Olympiade in London war, war ich bei meiner Frankfurter Oma und wir haben viel ferngesehen. Meine Eltern waren während dieser zwei Wochen in Paris, haben viel gestritten und die Scheidung beschlossen. Aber das wusste ich da noch nicht. Ich hatte noch einen Sehrest von 10 Prozent auf beiden Augen, klebte also vor dem Bildschirm und wir haben alles geglotzt, was es gab. Auch das mit den Mädchen, die mit Kegeln und bunten Reifen über die Matten tanzten, das mochte Oma so.«

»Es heißt Keulen.« Ich wusste, es war albern, aber ich musste ihn einfach korrigieren.

»Okay Keulen. Habe ich gerne angeschaut, die fliegenden Keulen.«

Ich schluckte. Da hatte er also noch sehen können, wie schrecklich musste es sein, langsam sein Augenlicht zu verlieren. Und obwohl er so easy darüber plauderte, wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte, also klammerte ich das Thema besser aus.

»Das mit den Mädchen und den bunten Reifen nennt man übrigens Rhythmische Sportgymnastik. Wir sagen aber meistens nur ›RSG‹, ist kürzer. Ja, Olympia in London habe ich natürlich auch geschaut, die Karten für die RSG sollen übrigens als erste Sportart komplett ausverkauft gewesen sein, habe ich gehört. Es ist so eine wahnsinnige Atmosphäre, die bei der RSG in der Halle herrscht. Und genau das mache ich!«

»Aha! Und für die nächste Olympiade trainierst du also auch?«

»Nicht direkt. Ich muss erst mal in den deutschen Kader, Papa überlegt sich da gerade was.«

»Aha. Nicht du überlegst, sondern der französische Papa, der immer dabei ist und alles ›beobachtet‹.«

Plötzlich hörte es sich nicht mehr toll an, so wie er die Sätze betonte.

»Was dagegen?«

»Gar nicht! Habe ich was gesagt?«

Ich schwieg. Wahrscheinlich fand Ken das, was ich machte, doof, weil ich es nicht alleine machte, sondern Papa sich immer einmischte. Es stimmte ja auch, er konnte manchmal ganz schön anstrengend sein, ständig hatte er eine Idee, wie ich es noch besser machen konnte. Von außen sah das vielleicht ab und zu ein bisschen herrschsüchtig aus. Wenn er sich wild gestikulierend über die Kampfrichter aufregte oder mit unserer Trainerin stritt, weil die nichts gegen die ungerechten Bewertungen tat. (Was sollte sie machen, niemand legte sich mit den Kampfrichtern an.) Aber ich liebte meinen Sport, das würde jemand wie Ken nie verstehen!

Warum wollte ich ihm trotzdem unbedingt gefallen? Und dass ich das wollte, war klar. Es kribbelte in mir, so unruhig und nervös, und am liebsten hätte ich ihn dauernd angelächelt und vielleicht sogar meinen Dutt geöffnet, damit er meine tollen, seidig glänzenden Haare sah. Aber das war das Problem: Er sah mich ja gar nicht! Es war ihm komplett egal, wie ich aussah, er hatte sich noch nicht mal nach meiner Haarfarbe erkundigt. Ein dunkles Blond, hätte ich sagen können, mit helleren Strähnen drin, aber nichts blondiert, alles Natur. Wie bei meiner Mutter, ja gut, das hätte ich vielleicht nicht unbedingt sofort erzählt. Aber er fragte ja nicht. Ohne Rücksicht nehmen zu müssen, starrte ich ihn unverhohlen an. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand und lehnte sich zufrieden zurück. »Ich lass mir jedenfalls von niemandem sagen, was ich machen soll. Schule fertig und keinen Plan. Ich schau mich erst mal um, sagt man das nicht so?« Er grinste.

»Nun ja, irgendwann musst du doch auch mal Geld verdienen.«

»Also ich find’s super!«

»Aber das geht doch nicht …!«

»Mann, bist du immer so vernünftig, Wandá? Wie alt bist du eigentlich? Du hörst dich an wie meine Oma, aber die ist auch schon fünfundsiebzig.«

»Ich bin erst sechzehn.« Da konnte er meinen Namen noch so schön aussprechen und so blind sein, wie er wollte. Er war gemein. Ein Arsch. Durfte man das über Blinde sagen? Vermutlich nicht. Vergiss ihn, Wanda, sagte ich mir, und grins nicht mehr so blöd. Ist sowieso vergebene Mühe bei ihm.

»Sorry. Aber ich muss jetzt mal was tun.« Ich kramte meine Hefte aus dem Rucksack, extralaut, damit er es auch hörte.

»Wo kommst du her? Wo wohnst du?, meine ich.«

Sollte ich ihm das verraten? Fremde Menschen geht es nichts an, wo du wohnst, was du machst, wie deine Telefonnummer lautet! Hatte Papa mir das nicht eingeschärft? Aber wie sollte dieser Ken, blind wie ein Maulwurf (hallo, das waren seine Worte gewesen, nicht meine …), mir schon gefährlich werden?

»Bremen? Wieso?«

»Sind da nicht auch gerade Ferien? Ferien sind zum Ausruhen da, nicht zum Lernen, weiß dein Vater das?«

Wenn er so weitermachte, würde meine klitzekleine Schwäche für ihn spätestens in Paris in Hass umgeschlagen sein, so viel stand fest. Ich hatte doch nur ein bisschen Französisch lernen wollen, sonst käme ich die nächsten drei Wochen nicht klar. Obwohl ich in Paris geboren war und sogar einen französischen Pass hatte, konnte ich diese verdammte Sprache überhaupt nicht. Das würde ich Monsieur Superstar aber keinesfalls verraten, der natürlich fließend sprach, weil er in Frankreich aufgewachsen war.

»Wenn du Fragen hast …«

… frage ich dich ganz bestimmt nicht, antwortete ich ihm unhörbar.

»Worüber?«, schnappte ich stattdessen.

»Im Französischen?«

Ich sah ihn sprachlos an. Woher wusste er das? Verdammt, er konnte doch etwas sehen, anders war das doch nicht zu erklären! Ich überflog meine Hefte und Bücher. So wie sie auf dem Tisch lagen, war nicht zu erkennen, was für einen Inhalt sie hatten.

»Habe ich mir so gedacht und zusammengereimt. Vater ist Franzose, hält aber im fremden Land nicht durch, mit seiner Tochter die eigene Sprache zu sprechen. Also schickt er sie nach Paris, damit sie mit der verschwendeten Zeit, in der sie nicht trainieren kann, wenigstens etwas Vernünftiges anfängt!«

Was zum …?! Ich wollte am liebsten losschreien. Das waren so ziemlich genau die Worte, die Papa benutzt hatte. Zeitverschwendung. Eins seiner Lieblingswörter. Nur noch getoppt von Zeitoptimierung!

Ohne Kenneth zu antworten, wühlte ich nach einem Stift. Ich verzog das Gesicht, als ich die Bescherung entdeckte: »Dein Hund hat übrigens auf dem Lederriemen von meinem Rucksack rumgekaut. Nicht gerade toll. Total nass und angesabbert …«

»Oh fuck, Barbie! Muss das immer sein?«

Ohne es zu wollen, musste ich lachen. Wenn er netter gewesen wäre, hätte ich ihn jetzt zu seinem Hund befragt, der wunderschön aussah, nur leider alles auffressen wollte, was er finden konnte. Ich nahm mein Heft, legte es vor mir zurecht und starrte hinein. Noch zwei Stunden bis Paris. Wie sollte ich das nur aushalten? Er war schon irgendwie toll, aber ich wusste nicht, wie ich mit tollen Jungs umgehen sollte, mit blinden Jungs schon gar nicht. Ich holte meine großen, beinahe schalldichten Kopfhörer heraus und schloss sie an mein neues Handy an. »Äh, ich höre jetzt Musik.«

»Okay.«

Ich spielte mit meinem Kugelschreiber, schrieb aber kein einziges Wort. Zu Ken schaute ich einfach nicht mehr hinüber.

Es ist wieder geschehen. Das Mädchen, das Wanda heißt, weiß davon natürlich nichts und ich werde es ihr auch nicht erzählen. Nach den schlechten Erfahrungen mit meinem besten Freund Niklas und ihr, deren Namen ich nicht mehr denken möchte, halte ich meine Klappe. Niklas fragte ununterbrochen, quetschte mich aus, quälte mich mit seinen dummen Vermutungen über die Zukunft. Los, mach das noch mal, sag doch, bitte …! Unerträglich! Und sie? Hat mich nicht treffen wollen, nachdem sie hörte, dass ich blind bin. Dann habe ich ihr davon erzählt. Sie hat mir nicht geglaubt, natürlich nicht, hat nur noch zurückgeschrieben, meine Wichtigtuerei wäre abartig.

Niemand weiß es außer Mama. Und die hat sich an ihren verrückten blinden Sohn gewöhnt. Musste sie ja, was blieb ihr anderes übrig. Es ist eine Gabe, hat die alte Muriel gesagt. Mann, wie die immer aussah, damals vor dem alten Kino, mit den langen, schmutzigen Röcken und den weiß-schlierigen Augen. Zum Abgewöhnen.

Ich wollte keine Gabe, ich wollte weiterhin sehen können, wie ich es bereits elf Jahre getan hatte, bevor der ganze Mist anfing. Aber sie hatte recht mit ihrer Prophezeiung. Manchmal überkommt es mich, ich kann nichts dagegen tun. Es nervt, wenn meine Augenlider wie wild zu klimpern anfangen wie eben. Es passiert, wenn das Leben, das Universum oder wer auch immer, mir etwas zeigen will. Nein danke! Kein Bedarf, mir dieses Mädchen näher anzuschauen, obwohl sie sehr gut riecht und mich bescheuert nervös macht, das muss ich zugeben. Ich mag ihre Stimme und ihr seltenes Lachen, aber ich darf mich nicht ablenken lassen, bin gerade mit etwas anderem beschäftigt. Ich werde mir mein Paris zurückerobern, zusammen mit Barbie, dem allerbesten Führhund. Und vielleicht, wenn ich den Mut haben sollte, werde ich mir die Frau vornehmen, die die Liebe meiner Eltern zerstört hat! Und wenn ich sie fertiggemacht habe, so wie sie es verdient, dann kommt es nur noch darauf an, meinem Vater zu beweisen, dass sein Sohn, der Behinderte, mit seinem Leben gut klarkommt, ganz gechillt, in seinem eigenen Tempo. Keine Ahnung, ob ich das schaffe.

Ich habe mir abgewöhnt, Sachen zu verhindern, die ich vorhersehe, oder die Abläufe des Lebens zu korrigieren, damit es andere Menschen besser haben. Es bringt nichts. Das Unglück sucht sich seinen Weg dennoch, ganz easy räumt es die Hindernisse beiseite, die ich ihm in den Weg zu werfen versuche, wie ein Wasserstrom im Sand. Es passiert, wenn es passieren soll. Manchmal habe ich davon natürlich auch schon profitiert. Ich sehe, ich ahne und höre in die Zukunft hinein, ich kann sie herbeirufen; aber das ist anstrengend. Wenn ich mir vorstelle, am Rande einer großen, sandigen Ebene zu stehen, in der nichts wächst, gelingt es manchmal. Es ist ein bisschen wie Meditieren, ich versuche, in der Leere meines Kopfes zu versinken, und presse dann meine Augen, die wieder klimpern wollen, fest zu. Fest, sehr fest. Und dann, unfassbar, wie ein Traum, an den man sich gerade noch so erinnert, ist sie manchmal da, die Zukunft. Ich werde Wanda nicht in meine Zukunft holen, keine Lust, mich für irgendwas, was ich tue oder auch nicht tue, zu rechtfertigen. Verlieben ist nicht, Monsieur!

Mesdames et messieurs, lädies and dschentel-män … in wenigen Minuten erreichen wir Paris, Gare du Nord.«