Blinde Arroganz - Marc Vollmer - E-Book

Blinde Arroganz E-Book

Marc Vollmer

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Beschreibung

Cyberkriminalität - Sie ist keine Science-Fiction mehr, denn sie passiert heute und jeder von uns könnte morgen schon das nächste Opfer sein. Der in die Jahre gekommene Hacker Josch beschafft Informationen nicht selten auf illegale Weise. Er liebt den kleinen und den großen Luxus, den er sich nicht wirklich leisten kann. Doch alles ändert sich, als sein Halbbruder entführt wird und er erkennen muss, dass der Gegner überaus mächtig ist. Seine Chancen stehen schlecht, aber unerwartete Freunde helfen ihm bei einem Kampf, der kaum zu gewinnen ist.

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Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 1

Selbst mit einem Auge war die Helligkeit in diesem Raum kaum zu ertragen. Von irgendwoher fiel grelles Tageslicht ins Zimmer und blendete Joschs einäugigen Blick auf eine weiß gestrichene Backsteinwand. Er lag auf einem Bett in einem Raum. Davor erkannte er die Umrisse eines Waschbeckens und ein Klosett, dem scheinbar der Deckel fehlte.

Sein Versuch, das zweite Auge zu öffnen, gelang, obwohl es nur widerwillig den Befehlen des Verstandes folgte. Als er seinen Kopf hob, trampelte eine Horde stampfender Schmerzen durch sein Hirn. Das wilde Gedröhne schien an der Schädeldecke lautlos zu explodieren.

Kurz wandte er sich zur Seite, worauf die vier kargen Wände sich zu drehen begannen. Ein heftiges Schwindelgefühl zwang ihn, sich wieder auf das Kissen zurückzulegen. Zwei Dinge standen jedoch für ihn fest. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er war, und noch weniger wusste er, wie er hierhergekommen war.

Mit geschlossenen Augen tastete er mit den Händen an sich entlang. Er spürte die Weste und das Hemd darunter. Zum Glück trug er seine Hose und der Stoff des Sakkos schien ebenfalls unbeschadet zu sein. Für die Prüfung seiner Füße war er nicht gewillt, nochmals den Kopf zu heben, also schlug er sie zusammen. Die Schuhe gaben ein leises Klackgeräusch von sich. Allem Anschein nach trug Josch seine eigenen Kleider, was ihn für den Moment beruhigte, denn eine ungepflegte Erscheinung war ihm zuwider.

Als Nächstes griff er in die linke Jackentasche. Sein Geldbeutel war nicht da. Dies war zwar unschön, jedoch nicht weiter ein Problem. Geld hatte er selten im Portemonnaie und die Ausweise und Papiere waren ohne größeren Aufwand wieder zu beschaffen. Entweder langsamer auf legale Weise oder deutlich schneller auf illegalem Wege.

In der rechten Tasche fehlte sein Smartphone, was ihn tatsächlich mehr ärgerte. Zwar war auch das durchaus ersetzbar, aber es war ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit. Damit war nicht das Telefonieren gemeint. Dies tat er wie viele andere recht selten mit dem kleinen Hightech-Teil.

Was ihn wirklich aufbrachte, war die Leere der Westentasche. Darin trug er immer seine goldene Taschenuhr mit edel graviertem Aufklappdeckel, die zu jeder vollen Stunde einen herrlichen mechanischen Schlag erklingen ließ. Vor ein paar Jahren hatte er sich dieses edle Stück geleistet, als nach einem ertragreichen Auftrag sein Konto ausnahmsweise mal im Plus stand. Seit er dieses Schmuckstück besaß, genoss er die Blicke der Leute, wenn er die goldene Uhr herauszog und ihn jeder dabei mit leichter Verwunderung anschaute. Dass sie ihn in einer Zeit von Smartwatches und Smartphones für durchgeknallt und exzentrisch hielten, ignorierte er mit großer Selbstverständlichkeit als Ignoranz des gemeinen Volkes.

Die Bilanz seines Status fiel dazu im Vergleich eher bescheiden aus. Vollständig bekleidet, nachweislich völlig mittellos und um ein Stück Ehre bestohlen. Was war passiert? Obwohl sein Kopf komplexeres Denken kaum erlaubte, erinnerte sich Josch vage an eine Kneipe, wo er den Abend mit sogenannten Hackerfreunden verbracht hatte. Tobias Stiller, der sich selbst als König des Netzes bezeichnete, hatte eingeladen. Netking, wie er sich mit Nickname nannte, pflegte diese monatlichen Treffen, um die neuesten Technologien und Einsatzmöglichkeiten zu besprechen. Meist waren die Neuigkeiten eher gering und so pflegte jeder über seine selbstdargestellten Heldentaten zu erzählen. Nach dem Essen war der Abend wie gewohnt im Hochprozentigen versunken und in Joschs Verstand offenbarte sich nur noch ein schwarzes Loch.

Mit dieser Unwissenheit kam in ihm eine Befürchtung auf. Hatte er sich dummerweise an Josefine rangemacht, Netkings Freundin? Seit er sie kannte, neckten sie sich mit zweideutigen Andeutungen und sie zeigte sich immer etwas anzüglich mit ihrem tadellosen Körper. Zu mehr war es nie gekommen. Zumindest bisher. Der König des Netzes teilte vieles, aber nicht den Erfolg und die Frau an seiner Seite. Es kursierten Gerüchte, dass er dem letzten Grapscher, der es wagte, Josefine anzufassen, einen Finger als Erinnerung für seine Untat abgetrennt hatte. Der Gedanke an eine mögliche Verstümmelung legte sich als Angstkloß in Joschs Magen, der ohnehin schon rumorte.

Schnell hob er beide Hände in die Höhe und stellte mit großer Erleichterung fest, dass keiner seiner Finger fehlte. Nachdem auch dieser Zustand geklärt war, kam in ihm eine Unruhe auf. Er war nicht bereit, sich dem körperlichen Elend hinzugeben. Es widersprach seiner Natur, nutzlos und faul dazuliegen und auf Besseres zu hoffen. Mit seinen 47 Jahren fühlte er sich wie ein Greis, der es nur mit großer Mühe schaffte, die Füße vor das Bett zu stellen. Das Schwindelgefühl brachte ihn dabei fast an die Kotzgrenze. Er pausierte im Sitzen eine Weile, bevor er sich am Bettrand abstützte und sich in die Senkrechte brachte. Das Stehen war eine Herausforderung. Um ihn herum drehte sich das Weiße und er war sich nicht sicher, ob er oder die Erde schwankte. Nach Sekunden der Orientierung bemerkte er eine graue Stahltür. Mit kleinen Schritten, jeder schleppender als der andere, bugsierte er sich und seinen Körper zur Tür. Mit einem Ruck zog er an dem Griff. Sie war verschlossen. Josch war an diesem Ort gefangen, der nicht einmal zehn Quadratmeter groß war. Seine Übelkeit nahm zu. Derart heftig, dass er überlegte, sich in Richtung des Klosetts zu bewegen, doch dann atmete er mehrmals durch. Zumindest verebbte so der erste Drang, sich zu übergeben.

Mit beiden Händen stützte er sich an der verschlossenen Tür ab. Er raffte seine Kräfte zusammen und hämmerte mehrmals mit dumpfen Schlägen gegen das Eisen. Doch nichts passierte unmittelbar und so krächzte er mit beschlagener Stimme: »Ist da jemand? Ich will hier raus!«

Mehr schaffte er nicht, denn es folgte ein kratzender Hustenanfall, der erst einmal kein weiteres Wort zuließ. Sein Körper schwächelte und die Knie gaben nach. Erschöpft sackte er in sich zusammen. Da hörte er erst ein Klicken und dann traf ihn ein harter Schlag, der ihn mit Wucht und knacksenden Knien nach hinten warf. Er krachte mit seinem Allerwertesten auf den kalten Steinboden. Jemand hatte die Tür von außen geöffnet.

Niedergeschlagen und benommener als zuvor hob Josch eine Hand und flehte: »Bitte lass mir meine Finger.«

Kapitel 2

Der Geruch von Moder und Feuchtigkeit mischte sich mit dem Gestank von Urin und Chlor. An Vladimirs Handgelenken rieben sich die Seile wie grobes Schmirgelpapier. Das Brennen der schon blutigen Haut wurde mit jeder Stunde quälender. Er saß gefesselt an einen Stuhl inmitten eines Raumes, der mehr einem tropfenden Gewölbe glich. Eingeschüchtert von den Geschehnissen krallte er sich fest an seinen Willen zu überleben.

Einen Tag zuvor war er gerade aus dem Haus gegangen, als ein Transporter vorfuhr und ihn zwei Kerle mit Anzügen ergriffen und niederschlugen. Er wachte mit pochenden Kopfschmerzen in dem fensterlosen Kastenwagen auf, der rumpelnd über Straßen fuhr, die jegliche Eleganz von Autobahnen vermissen ließen. Seine Hände waren mit festem Klebeband an einer Strebe fixiert. Es vermochten inzwischen nur Stunden oder sogar ein ganzer Tag vergangen sein, bis die beiden Entführer ihn aus dem Wagen zwängten und in diesen Raum gedrängt hatten.

»Was haben Sie gefunden?«, hämmerte die Frage auf ihn ein, die ihm schon etliche Male gestellt worden war.

Die beherrschte Stimme sprach mit einem Akzent, den Vladimir nicht kannte. Sie kam von einem Mann, der sich im Halbdunkel einer Ecke verbarg. Lediglich die hagere nicht allzu große Figur war zu erkennen.

»Ich habe keine Ahnung, welche Daten das Programm gesammelt hat. Ich habe sie noch nicht durchgeschaut und selbst die Analyse ist nicht drübergelaufen«, wiederholte er wahrheitsgemäß und fügte hinzu: »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nichts anderes sagen kann.«

Ein unzufriedenes Räuspern folgte aus der Ecke und der schmächtige Mann gab ein Handzeichen, worauf einer der Bewacher ihm hinaus folgte. Der Dritte, gekleidet mit Anzug und Krawatte, blieb zwei Meter vor Vladimir stehen und musterte ihn mit gleichgültigem Blick.

Minuten vergingen, in denen nichts anderes passierte, als dass übel riechende Tropfen von der Decke fielen. Nach unbekannter Zeit kehrten die beiden zurück. Einer verbarg sich wieder in der Dunkelheit und der Zweite trat auf ihn zu. Er öffnete eine Dose und kippte ein Granulat, das nach Abflussreiniger roch, über Vladimirs Kopf, Schultern und Schoss. Verwundert von dieser Aktion wagte er kein Wort zu sagen, sondern ließ es ohne Gegenwehr geschehen. Zu seiner Überraschung goss dann einer der Bewacher einen Eimer Wasser über ihn und das Granulat löste sich zischend auf. Erst spürte er nur ein Prickeln, dann begann das ätzende Gemisch sich in seine Haut zu fressen.

»Warum haben Sie die Daten gesucht und was wollen Sie damit?«, klang es nun gereizter und ungeduldiger aus der Ecke.

Die Flüssigkeit lief langsam über seine Arme. Als sie seine wunden Handgelenke erreichte, waren die Schmerzen ohne Schrei nicht mehr auszuhalten. Keuchend und mit zitterndem Körper kränkelte sein Wille zum Überleben und er brachte mühsam heraus:

»Mich persönlich interessieren die Daten nicht, ich arbeite nur inoffiziell für das BKA, weil die mich wegen eines saublöden Fehlers in der Hand haben. Vor ein paar Tagen habe ich von denen diesen Rechercheauftrag bekommen.« Das Brennen zog wie eine Glut durch seine Unterarme, unter der Qual musste Vladimir mehrmals durchschnaufen, um überhaupt halbwegs verständlich weiter zu antworten. »Ich bekam ein paar Anhaltspunkte und programmierte einen Crawler, der das Internet auf bestimmte Hinweise durchsuchte. Aber außer einem Haufen Datenschrott brachte das nichts. Also fing ich an, einzelnen Indizien nachzugehen, und setzte den Crawler auf einige Server an.«

»Was ist BKA und welche Recherche sollten Sie durchführen?«, fragte der Mann aus der Ecke nach.

Die Unwissenheit irritierte Vladimir, entweder war sie vorgespielt oder er hatte es wahrhaftig mit Idioten zu tun. Allerdings war es in seiner derzeitigen Lage besser, die Fragen seiner Entführer zu beantworten, denn der Abflussreiniger fraß sich weiter immer tiefer in seine Haut und ließ sie taub werden. »Es handelt sich um das Bundeskriminalamt, das dem deutschen Innenministerium unterstellt ist.« Unsicher, ob sein Gegenüber die Formulierung verstehen würde, zögerte er einen Moment und versuchte sich nicht auf den elenden Schmerz zu konzentrieren. »Soweit mir bekannt ist, beschäftigen die sich mit Terrorbekämpfung und anderen größeren Verbrechen. Allerdings waren die letzten Recherchen etwas eigenartig. Es ging um Technologie und Fördermittel, die irgendetwas mit Akkumulatoren zu tun haben.«

»Machen Sie das, weil Sie Ihr Vaterland lieben?«

Wäre die Situation anders gewesen, dann hätte Vladimir gelacht. »Nein, ich bin zwar Deutscher, aber ich fühle mich dem Land nicht verpflichtet. Die Wahrheit ist, dass ich eine Menge Geld für diese Recherchen bekomme. Der Rest ist mir ansonsten ziemlich egal.«

»Haben Sie die Informationen schon an das BKA weitergegeben?«

»Nein, wie gesagt, die Daten sind noch nicht ausgewertet und ich liefere immer nur einwandfreie Qualität.«

Ein kurzes Murren rumorte durch den Raum, doch es folgten keine weiteren Fragen. Vladimir hoffte, dass sich die Sache hier mit einem Deal beenden ließe. Er war auf sich allein gestellt, niemand wusste, wo er sich aufhielt. Er hatte nicht einmal einen Peilsender in seiner Kleidung versteckt. Auch mit einer heldenhaften Befreiung durch die Behörde brauchte er nicht zu rechnen, denn mit jedem Auftrag folgte der Verweis, dass er auf eigene Verantwortung handelte und für begangene Vergehen in vollen Zügen haften würde. »Nachdem Sie nun alles wissen, wäre es zu viel verlangt, wenn mir endlich jemand das ätzende Zeug abspülen könnte?«, wagte Vladimir, mit gewissem Nachdruck in der Stimme einzufordern.

Die drei Männer grunzten jeder auf seine Art, dann folgte ein Lachen von den zwei Bewachern, das von den feuchten Wänden hallte. Einer der beiden blickte anschließend in die Ecke, daraufhin der Hagere nickte. Worauf er sich vor den Stuhl stellte und seinen Hosenlatz öffnete. Mit einem Grinsen pinkelte er Vladimir ins Gesicht und auf die Brust.

Die Demütigung, der widerwärtige Gestank und das ätzende Kratzen an seinen Hautnerven erstickten alle Hoffnung: Nicht nur auf einen Deal, sondern auch auf die Chance, hier lebend rauszukommen. Er hatte einen Teil wiedergegeben von dem, was er wusste, und es schien nicht zu reichen für ein Weiterleben. Die drei verließen wortlos den Raum. Ließen ihn gefesselt in der Pisse sitzen. Vladimir ahnte, dass er vielleicht nicht heute, aber gewiss in nächster Zeit an diesem Ort sterben würde.

Kapitel 3

Josch war schwarz vor den Augen geworden. Sein Kreislauf kursierte träge durch seinen Körper. Die Sinne benebelt von Schmerz und Furcht. Seine ausgestreckte Hand zitterte und er war bereit, in bettelnder Haltung alles Notwendige zu geben, damit die Strafe nur aus Leid bestehen würde und nicht aus dem Verlust eines Körperteils.

Unterwürfig senkte er den Kopf, als nach einem metallischen Quietschen jemand durch die Tür hereintrat, die ihm zuvor gegen die Stirn geschlagen wurde.

Er wagte nicht aufzuschauen. Für Sekunden geschah nichts, außer dass sein Puls wiederbelebt wurde und pochend das Blut durch die Adern trieb. Seine Ohren fingen an zu rauschen. Langsam glitt sein Blick über den Boden und er sah schwarze Schuhe, die vielleicht bequem, aber äußerst unschön waren. Im Kopf bohrte die Fantasie, wie seine Hand auf dem Tisch lag und ein Finger mit einem Axthieb abgetrennt werden würde. Der Schweiß brach aus jeder Pore seines Körpers aus. Doch das Schweigen hielt an. Sein Blick wanderte hinauf über eine dunkle Hose, die mit scharfer Bügelfalte versehen war. Die Erscheinung widersprach Joschs Vorstellung eines Folterknechts. Mit etwas Mut bewaffnet wanderten seine Augen ein Stück weiter hinauf und er entdeckte den Gürtel, an dem ein Pistolenhalfter hing. Aufkommende Panik stürzte die Courage in eine Schlucht der Ungewissheit. Was hatte er getan, dass ihm nicht nur der Finger, sondern auch sein Leben genommen werden sollte?

Schnaufend und kaum des Denkens fähig, ließ er die noch immer flehende Hand zu Boden sinken und sein Kinn sackte ihm auf die Brust.

Zu seiner Überraschung hörte er eine weibliche Stimme: »Alles in Ordnung, Herr Wildner?«

Völlig irritiert hob er den Blick. Er erblickte ein hellblaues Hemd, auf dem eine Krawatte ruhte. Mit zurückgelegtem Kopf sah er weiter in die Höhe und war überrascht, was er da sah. Es war ein Lächeln, dass sich in Freundlichkeit mit weißen Zähnen zeigte. Vor ihm stand eine Frau mit streng nach hinten gebundenen Haaren und einem geflochtenen Zopf, der auf ihrer Schulter lag.

»Nichts ist in Ordnung. Wo bin ich?«

»Es ist alles gut. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, antwortete ihm die Polizistin in Uniform.

Da die Aussage für ihn keinen Inhalt hatte, sagte er mit zurückkehrender Stimme etwas lauter: »Warum halten Sie mich gefangen?«

Ein herziges Lachen hallte durch den kleinen Raum und es hörte sich so an, als ob das Weibsbild ihn nicht ernst nehmen würde. »Herr Wildner, jetzt beruhigen Sie sich erst einmal. Sie sind nicht gefangen, wir haben Sie nur in Gewahrsam genommen. Wie wäre es, wenn Sie sich auf das Bett setzen würden?«

Mit diesem Vorschlag war er einverstanden. Es war weitaus besser, als auf dem kalten Steinboden zu hocken. Josch versuchte, sich aufzurichten. Mit den Händen rechts und links gelang ihm das nicht im Ansatz. Dann spürte er einen festen Griff unter seiner Armbeuge, und als er sich gerade dagegen wehren wollte, wurde ihm klar, dass die kräftige Hand ihm beim Aufstehen half. Obwohl er es als peinlich empfand, dass ihm eine Frau behilflich sein musste, so hatte er keine andere Wahl. Sein Körper war geschunden, der Kopf schmerzte und die Übelkeit übernahm wieder die Kontrolle.

Von der Anstrengung leicht nach Atem ringend, saß er mit hängendem Kopf auf der Bettkante. Noch immer konnte er sich keinen Reim auf die Situation machen und viel weniger gab ihm seine Erinnerung einen Hinweis auf eine Polizistin. Also fragte er nach dem, was ihm im Moment am wichtigsten war: »Wo sind meine Sachen und vor allem meine goldene Uhr?«

Wieder dieses Lachen, natürlich schön und doch klang es ein wenig herablassend.

»Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe sie in ein Tuch gewickelt und sie ist bestens verstaut.«

Besänftigt von der Gewissheit, dass jemand den Wert dieser Uhr verstanden hatte und sie pfleglich behandelte, löste sich Joschs Angespanntheit. Was unter Umständen auch daran lag, dass deutsche Polizisten keine Finger abtrennten, nicht einmal mehr bei Dieben. »Warum wurde ich eingesperrt?«

»Sagen wir es mal so. Es wäre unüblich, einen Vollbesoffenen durch das Polizeirevier spazieren zu lassen«, bekam er dann als Antwort.

Der Begriff des Vollbesoffenen passte zumindest zu seiner Erinnerung und erklärte auch seine quälende Übelkeit. Er hatte einen fürchterlichen Kater, den er jedes Mal durchlitt, wenn er wirklich zu viel getrunken hatte. Mit einem Stirnrunzeln betrachtete er die großgewachsene, gut aussehende Frau in Uniform, die vor ihm stand. Noch immer konnte er sich nicht erklären, was nach dem Saufgelage passiert war, und jeglicher Zusammenhang mit einem Polizeirevier schien ihm ferner als der Horizont. »Wo bin ich und was wollt ihr von mir?«

»Wir haben Sie in Obhut genommen, damit Sie sich und Ihrer Umwelt nicht noch Schlimmeres antun. Sie haben die Nacht in unserer Ausnüchterungszelle verbracht.«

War denn dieser Frau nicht bewusst, dass er einen Blackout hatte? Die Schöne quasselte in Rätseln und gab ihm keine Chance, nur einen zusammenhängenden Teil davon zu verstehen. Weiber, schimpfte er innerlich, zumindest war er so weit bei Verstand, dies nicht laut zu sagen. »Was habe ich denn meiner ach so lieben Umwelt angetan?«

Mit ernster Miene erwiderte sie: »Es war wirklich grausam.«

Sogleich war Josch entsetzt. Mit ihrer Andeutung schoss ihm die Zusammenkunft mit Netking in den Sinn. War es möglich, dass er in seinem Rausch von Alkoholüberfluss jemandem etwas angetan hatte, weil es ihm der König des Darknets befohlen hatte? Hatte womöglich einer seiner Kollegen die Hand an Josefine gelegt und Josch war zum Folterknecht geworden? Er mochte zwar die Menschen nicht, aber ihnen etwas antun, widersprach ihm doch im höchsten Maße. Mit steinernem Blick schaute er die Polizistin an. Sie erwiderte den Augenkontakt für eine Weile, bis sie dann freundlich erklärte: »Sie haben volltrunken auf einer Bank im Park gesessen, als wir Sie aufgegriffen haben.«

»Es ist kein Vergehen, auf einer Bank zu sitzen, dafür wurde sie aufgestellt. Was sollte daran grausam sein?«

»Es war zwei Uhr in der Früh und Sie haben lauthals ›My Way‹ von Sinatra gesungen«, dabei räusperte sie sich: »Obwohl, als Singen konnte man es nicht bezeichnen. Es war eher das Geplärre eines frustrierten Gockels. Wir bekamen zwei Anzeigen wegen Ruhestörung von den Bewohnern des nahe liegenden Mietshauses und haben Sie daher mitgenommen. Sie waren weder einsichtig, noch haben Sie mit diesem nervenden Singen aufgehört. Also hatten wir keine andere Wahl und ich kann Ihnen sagen, die Fahrt mit Ihnen zum Revier war echt die Hölle. Wie kann ein Mensch nur so schlecht singen und jeden Rhythmus so penetrant ignorieren?«

Beruhigt von der Tatsache, dass er in seiner Erinnerungslosigkeit nichts Schlimmeres getan hatte, legte sich der Reiz des Übergebens, genauso wurde das Pochen in seiner Stirn erträglicher. Wieso er singend im Park gesessen hatte und auch das Unvermögen, klangvoll zu singen, war ihm in diesem Moment alles andere als wichtig.

Der Umstand, seine Finger zu behalten und nicht erschossen zu werden, erhellte dagegen sein Gemüt. Zu seinem Glück war die Polizistin nicht weiter auf seine jämmerliche Haltung eingegangen und hatte ihm zumindest diese Peinlichkeit erspart. »Wie geht es weiter? Wie lange werde ich denn eingesperrt für meinen schlechten Gesang?«

»Es steht Ihnen frei, sich noch zwei Stunden auszuruhen oder direkt zu gehen. Was mit der Anzeige passiert, wird letztendlich der Staatsanwalt entscheiden.«

»Ich werde mir erlauben, dieses Etablissement schnellstmöglich zu verlassen«, äußerte Josch spontan und fügte hinzu: »Und was passiert mit meinen Sachen?«

»Die gehe ich gleich holen. Sie könnten schon mal mitkommen und draußen im Vorraum warten.«

Mit einer vorbeugenden Bewegung hievte er sich von der Bettkante, allerdings nicht aus eigener Kraft und Koordination, sondern die Polizistin half ihm. So langsam kam er sich wie ein elender Versager vor, der weder singen konnte noch alleine aufstehen. Als er endlich stand, ging sie voraus und er trottete ihrem recht ansehnlichen Hintern hinterher.

Im Vorraum setzte er sich auf einen der unbequemen Holzstühle und wartete einige Minuten, bis die Polizistin mit einer Plastikkiste zurückkehrte.

»Bitte schön, Ihre Sachen«, dabei nahm sie das Teil heraus, das in ein Papiertuch eingewickelt war. Achtsam entblätterte sie die goldene Uhr und hielt sie Josch entgegen. »Soll ich Ihnen beim Festmachen der Kette helfen?«

Mit einem kaum hörbaren Grunzen nickte er zustimmend und zeigte an die Schlaufe an seinem Hosenbund. Mit Bedacht befestigte die hilfsbereite Hübsche den Verschluss und legte anschließend die Uhr in Joschs Hand. Er nahm sie und steckte sie in die kleine Tasche seiner Weste.

Seine Welt hatte wieder ihre Ordnung gefunden. Schlüssel, Geldbeutel und Smartphone nahm er selbst aus der Kiste und verstaute sie in den Jackentaschen, wo sie für ihn hingehörten. Nicht einen Blick warf er auf das Display, es hatte sowieso niemand angerufen und Nachrichten bekam er auf diesem unsicheren Weg nur äußerst selten.

»Wenn alles da ist, dann müssten Sie mir dies auf dem Formular quittieren.« Sie hielt ihm einen Stift entgegen.

Während er unterschrieb, fragte er: »Darf ich auch erfahren, wie Sie heißen? Denn ich möchte mich für Ihre Fürsorge erkenntlich zeigen.«

»Polizeiobermeisterin Andersen«, gab sie sachlich zur Kenntnis und reichte ihm eine Visitenkarte.

Josch las die Karte, bevor er sie in die Jackentasche steckte. Dann wandte er sich zu ihr: »Muriel, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie gerne anrufen und zu einem einfachen Kaffee und Kuchen in meinem Lieblingscafé einladen.«

»Herr Wildner, Sie brauchen mich nicht einzuladen. Es gehört zu meiner Arbeit.«

»Ich nehme die Anmerkung zur Kenntnis. Kann ich jetzt gehen, oder gibt es noch etwas zu klären?«

Mit einem Lächeln erwiderte die Polizistin: »Nein, es ist alles erledigt. Sie können gehen, aber halten Sie sich in nächster Zeit von Parkbänken und Gesangsorgien fern.«

»Werde ich und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Sie hob nur kurz die Hand und verschwand in einem der Räume.

Als er aus dem Polizeirevier herausspazierte, begann auch der Kater mit dem Rückzug.

Kapitel 4

Am nächsten Morgen stand Josch im feinen Zwirn mit aufpolierten Lederschuhen und einer edlen gelben Seidenkrawatte vor dem schwarzschimmernden Glaskasten eines der führenden Innovationsunternehmen, das es im Umkreis von hundert Kilometern gab. Das letzte Aufbäumen seines Katers hatte er am Abend zuvor mit ein paar Gläschen Wein erfolgreich vereitelt und hatte daraufhin ausgezeichnet geschlafen.

Es gab im Groben zwei Arten von Auftraggebern. Zum einen die Journalisten und Sensationsreporter, die ihn private Netze durchforschen ließen, damit er Neuigkeiten oder Skandale fand. Oft waren die Annahmen nur ein Fantasiegebilde, was mehr als Wunsch existierte, und so führten seine Ergebnisse zu Unmut oder gar zur Unzufriedenheit. Der Ärger mit den Fanatikern der öffentlichen Meinung wurde schlecht bezahlt und häufig musste er dann zu unschönen Mitteln greifen, um die Bezahlung im Nachhinein zu bekommen. Im Gegensatz dazu war die Spionage in der Industrie wesentlich aussichtsreicher, denn obgleich er etwas fand oder auch nicht, beides wurde als Erfolg angesehen. Dies war dann Balsam für seine professionelle Eitelkeit, was zudem noch lukrativ honoriert wurde.

Schon vor einigen Wochen hatte Dr. Claas per Mail Kontakt mit ihm aufgenommen. Er stellte sich als Entwicklungsleiter vor und Josch wurde erst nach dem zweiten persönlichen Treffen bewusst, dass der Kerl mehr als siebzig Entwickler in seinem Team hatte. Dr. Claas äußerte den Verdacht, dass Konzernunterlagen an die Konkurrenz verkauft wurden. Es schien die übliche Paranoia von diesen Innovationsjunkies zu sein, deren größte Angst es war, dass jemand auf die gleiche Idee kam wie sie oder sie aufgrund ihrer selbstdeklarierten Genialität stehlen würde. Die Er fahrung hatte Josch gelehrt, dass dies durchaus geschah, aber die Vergehen meist nur seltene Einzelfälle waren. Paranoia war ein gutes Geschäft und er würde einen Teufel tun, sich die Penunzen entgehen zu lassen.

Der leise Klang seiner Uhr war zu hören, als er sich bei der Empfangsdame anmeldete. Er würde schon erwartet, wurde ihm mitgeteilt und dies empfand er mehr als angebracht. Anders als das normale Fußvolk stieg er allein in den extra bezeichneten gläsernen Fahrstuhl, der nur in der Führungsetage hielt, und genoss die schrägen Blicke der Angestellten.

Ohne Zwischenstopp fuhr Josch in das oberste Stockwerk, wo die Obrigkeit über den Konzern wachte. Dr. Claas stand bereits am Fahrstuhl und begrüßte ihn mit dem üblichen nervösen Zucken seiner Augenlider. Kurz starrte er auf Joschs Stirn, auf der die blaurot schimmernde Beule nicht zu übersehen war. Doch sie sprachen kein Wort, gaben sich nur die Hände und dann folgte er dem großgewachsenen, schlanken Mann im Rentenalter. Die adrette Sekretärin im Vorraum schaute nicht einmal auf, als sie an ihr vorbeigingen. Josch genoss für einen raschen Moment den entzückenden Anblick, was zugegebenermaßen an ihrer Körbchengröße lag. Das Büro hinter der dicken Eichentür hätte großzügig für zehn Mitarbeiter gereicht, doch es stand nur ein Schreibtisch vor dem Panoramafenster. Eine mehrteilige Sitzecke tummelte sich am gegenüberliegenden Ende. Mit einem Wink deutete der Entwicklungsleiter das Platznehmen auf dem Ledersofa an und setzte sich selbst auf einen der beiden Sessel.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten oder einen Kaffee? Die Zigarren hat mir mein Arzt leider verboten.«

»Nein danke, Herr Doktor Claas. Ist alles recht so«, log er seinen Klienten an, denn es lag ihm fern, seinem Gegenüber Umstände zu verursachen. Dieser wirkte ohnehin schon angespannt und schlecht gelaunt. Obwohl er gerne eine Zigarre geschnorrt hätte, um den qualmenden Flair von Überheblichkeit paffend zu genießen.

Der hagere Mann stützte sein Kinn mit der Hand ab und schien mehr als besorgt zu sein. »Wie schlimm ist es, Herr Wildner?«

In den letzten Tagen und einigen Nächten hatte Josch damit verbracht, sich in Server zu hacken. Stunden hatte er gebraucht, um chiffrierte Dateien in einem weltweiten Rechner-Cluster zu entschlüsseln. Dr. Claas hatte ihn beauftragt, stichhaltige Beweise zu suchen, dass tatsächlich interne Konzernunterlagen an die Konkurrenz weitergegeben wurden. Allerdings mit der Vorgabe, dass Josch nicht im eigenen Firmennetz suchen durfte, sondern die Beweise bei der Konkurrenz finden musste. Es wäre weniger aufwendig gewesen, hätte Josch direkt nach dem Maulwurf graben dürfen, um den nagenden Verdacht nachzuweisen. In diesem Zuge war er in die Netzwerke von sieben Konkurrenten von Dr. Claas' Firma eingebrochen, um nach einer gestohlenen Innovation zu suchen. Da ihm aber sein Auftraggeber die Technologie nur angedeutet hatte, gestaltete sich dies als schwierig. Also hatte er einige Dokumente gesammelt und auf einer externen Festplatte abgespeichert.

»Das kann ich nicht einschätzen«, antwortete Josch wahrheitsgemäß.

»Was haben Sie gefunden?«

Josch nahm den Datenträger, der nicht größer war als eine Zigarettenschachtel, aus der Jackentasche und legte ihn auf den Tisch. Sogleich stand der schlanke Herr Doktor auf und holte den Laptop von seinem Schreibtisch, um dann die Festplatte einzustöpseln. »Bitte zeigen Sie mir nur das, was nach Ihrer Einschätzung mehr als zehn Millionen für die Konkurrenz wert wäre.«

»Ich habe die Daten in drei Kategorien eingeteilt. Die untere stufte ich als nicht relevant ein, die mittlere könnte ein paar Millionen wert sein und die oberste Kategorie überstieg meine technische Erfahrung, um sie mit einem Gegenwert zu deklarieren. Deswegen werde ich mit der mittleren beginnen.«

Der Alte nickte zustimmend und Josch empfand die Geduld seines Gegenübers als Anerkennung. Sogleich zeigte er Zeichnungen und Berichte, die er recherchiert hatte. Bei jedem winkte Dr. Claas ab.

»Ihre Kategorisierung ist nach meiner spontanen Einschätzung recht ansehnlich. Aber bitte, lassen Sie uns in der oberen weitermachen.«

Weitere Dateien wurden geöffnet. Der Entwicklungsleiter betrachtete den Bildschirm durchaus interessiert und zeitweilig hoben sich seine Augenbrauen. Nach zwanzig Minuten hatten sie die letzte Kategorie durch und Dr. Claas lehnte sich zurück. »Dies sind alles hochinteressante Dokumente, auch wenn keines aus meiner Firma stammt. Kann ich davon ausgehen, dass Sie mir die Festplatte überlassen?«

Das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen war durchaus gegeben, was vielleicht auch daran lag, dass Josch einen großzügigen Vorschuss erhalten hatte. »Selbstverständlich, sie ist Bestand Ihres Auftrages.«

»Herr Wildner, Sie haben sich viel Mühe mit der Informationsbeschaffung gegeben, doch soweit ich das auf die Schnelle beurteilen kann, haben Sie nichts gefunden, das meinen Verdacht bestätigt oder zumindest erhärtet. So kommen wir nicht weiter.« Dr. Claas lehnte sich zurück. Die Unzufriedenheit war ihm deutlich anzusehen. »Vielleicht können Sie mir einen Kollegen empfehlen, der andere Erfahrungen und ein besseres Equipment besitzt?«

Diese provozierende Frage traf Joschs Selbstgefälligkeit bis ins Mark. Tief atmete er ein und schnaufte die Luft durch die Nase wieder aus. »Wie Sie wissen, wird mir nachgesagt, dass ich einer der Besten bin. Es gibt keinen Kollegen, der mehr Erfahrung hat, und um meine technische Ausstattung beneiden mich viele.«

Ein kurzes, nicht überzeugtes Nicken folgte, bevor der Entwicklungsleiter antwortete: »Nehmen wir mal an, Sie hätten recht bezüglich Ihrer Qualifikation. Dann haben Sie sicherlich auch einen Vorschlag, wie sich mein Verdacht bestätigen lässt oder sich als unbegründet erweist?«

Josch schluckte seine Entrüstung runter und versuchte, gelassen zu reagieren: »Können Sie Ihren Verdacht präzisieren, damit ich eine Vorstellung habe, wie meine weiteren Aktivitäten aussehen könnten?«

Erst folgte ein Stirnrunzeln, dann presste Dr. Claas seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Es fiel ihm deutlich schwer, eine Antwort darauf zu geben. Einige Sekunden verstrichen. »Ich habe viele Kontakte, natürlich auch zur Konkurrenz, und so manche beiläufige Bemerkung lässt darauf schließen, dass etwas in meiner Abteilung nicht stimmt. Um es deutlich zu sagen, ich habe den Verdacht, dass einer der Mitarbeiter diverse Informationen an einen Mitbewerber verkauft.«

Josch hatte einige solcher Fälle in den letzten zehn Jahren bearbeitet. Es stellte sich dabei heraus, dass die Mitarbeiter oft nicht genug Informationen besaßen, um überhaupt Interessantes anzubieten. Zudem hatten die meisten Leute einfach nur Schiss. Jedoch gab es einen Fall, bei dem eine recht hoch positionierte Führungskraft interne Dokumente für einen neuen Job weitergegeben hatte. Doch Josch dachte nicht im Entferntesten daran, dies seinem Gegenüber mitzuteilen. Damit würde sich sein Auftragsvolumen erheblich reduzieren und es gab Schlimmeres, als sich durch das Leben von Menschen durchzuwühlen, die eigentlich nur ihre Arbeit taten. »Nachdem die externe Suche nach Ihrer Aussage erfolglos war, müsste dies intern fortgeführt werden.«

»Und das würde bedeuten, Sie versuchen, den Verantwortlichen auf direktem Weg zu finden? Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand so dumm wäre, dazu das Firmennetz zu benutzen. Sie müssten folglich den privaten Bereich durchleuchten«, sagte Dr. Claas.

»Betriebsspionage ist schon ein heikles Thema. Um Ihrem Auftrag gerecht zu werden, müsste ich die Privatsphäre von Personen verletzen und es ist anzunehmen, dass ich einiges finde, was durchaus über eine Peinlichkeit hinausgeht.«

Mit einem Grummeln lehnte sich der Alte zurück. »Verstehe ich Sie richtig, dass Sie nicht in der Lage sind, solche Vorgehensweisen umzusetzen?«

Josch verkniff sich ein Lachen. Die meisten Leute hatten keine Vorstellung, wie einfach es war, sie auszuspionieren. Dazu brauchte er nicht einmal aus dem Haus zu gehen. Aber er wollte sich garantiert nicht unter Wert verkaufen. »Natürlich bin ich dazu in der Lage und die neueste Technologie steht mir, wie bereits erwähnt, ebenfalls zur Verfügung. Ich möchte es aber nochmals betonen. Es wäre eine massive Verletzung von Privatgeheimnissen nach Paragraf 203 des Strafgesetzbuches.«

»Dann verletzen Sie ihn eben«, gab Dr. Claas bestimmt zurück.

Josch sah den Mann an, dessen Antrieb er nicht verstand, und hob dabei das Kinn als angedeutete Frage.

»Ich verdopple ab heute Ihr Honorar und die bisher geleisteten Stunden werden wie besprochen bar bezahlt. Wie lange brauchen Sie für die Personenuntersuchung?«

»Wenn ich es richtig überschlage, sind es mit den Führungskräften ungefähr einhundert Personen. Ich denke, dies wäre in acht Wochen zu schaffen«, antwortete Josch ohne Übertreibung.

»Sie haben vier Wochen«, bekam er als Antwort. Dies würde er alleine nicht schaffen, Vladimir müsste ihm aushelfen. Kurz überlegte Josch, ob er eine zusätzliche Arbeitskraft anmerken sollte, aber in diesem Metier war es besser, die Anzahl der Wissenden so klein wie möglich zu halten. Er beschloss, seinen Halbbruder nicht zu erwähnen. Stattdessen nickte er.

»Benötigen Sie eine Namensliste?«, fragte der Entwicklungsleiter.

Jetzt konnte Josch ein Schmunzeln nicht mehr zurückhalten: »Machen Sie sich keine Mühe, dies ist eine der leichteren Aufgaben.«

Dr. Claas stand auf und beendete damit die Besprechung.

Nachdem Josch mit dem Aufzug nach unten gefahren war, schaute er sich in der Eingangshalle die Gesichter der herumlaufenden Mitarbeiter an. Jeder hatte das eine oder andere Geheimnis, manche kleiner und nicht wenige waren größer. Er würde sie alle in den nächsten vier Wochen herausfinden. Josch war zufrieden mit diesem Stückchen Macht, das er mit dem Auftrag bekommen hatte.

Dann zog er sein Smartphone raus und stoppte das laufende Programm. Die App hatte das Bluetooth gecheckt und sollte bei einer Verbindung die Verschlüsselung knacken, um anschließend die Kontaktdaten herunterzuladen. Mit einer Berührung des Displays betrachtete er mit einem stolzen Grinsen das Ergebnis. Sein Programm hatte die Kontakte von Dr. Claas gespeichert.

Kapitel 5

Nachdem der Vormittag mehr als ein Erfolg gewesen war, verschob Josch die anstehende Arbeit in den frühen Abend und gönnte sich ein Nickerchen auf dem Sofa. Die halbe Stunde Schlaf und der Kaffee danach hoben seine Stimmung auf ein vortreffliches Niveau. Was ihm zur eigenen Selbstgefälligkeit noch fehlte, war etwas Zeitvertreib in Gesellschaft einer Frau. Ihm fielen einige Kandidatinnen ein. Doch entweder verkannten sie seinen Charme und würden ihm mit Ablehnung begegnen oder er schuldete ihnen Geld. Er schritt zur Garderobe und zog die Visitenkarte der Polizistin aus dem Jackett. Kurz wägte er die Chancen ab. Auch wenn sie gering waren, so war es nicht seine Art, die Dinge unversucht zu lassen. Er wählte die angegebene Nummer, um anschließend verbunden zu werden. Als sich Muriel Andersen mit Dienstgrad und Name meldete, um zu fragen, was sie tun könne, war er für einen Moment fasziniert vom Klang ihrer Stimme. Das tiefere Nachhallen nach einigen Wörtern empfand Josch als erotisch und es wirkte zugleich entschlossen. Dann bedankte er sich ironisch für die exzellente Unterbringung und betonte emotionaler die Fürsorge um seine Repetieruhr. Sie erwiderte es mit einem leisen Lachen. Schließlich wiederholte er seine Einladung zu Kaffee und Kuchen, worauf ein Schweigen folgte. Ohne die Ablehnung abzuwarten, stellte er die Offerte lediglich als kleine Aufmerksamkeit dar. Zu seiner Überraschung teilte sie ihm mit, dass sie sich ohnehin noch mit ihm unterhalten wolle, und nahm die Einladung an. Sie vereinbarten ein Treffen in seinem Lieblingscafé nach Dienstschluss.

Zur verabredeten Zeit saß Josch in seiner Lieblingsecke auf der Sonnenterrasse des Cafés. Der orangefarbene Sonnenschirm schenkte ihm Schatten und der gepolsterte Gartensessel Bequemlichkeit. Das Café lag am Rande der Stadt nahe einem Waldstück, Vögel zwitscherten durcheinander. Das Idyll und Joschs Behaglichkeit wurden durch das Vorfahren eines schwarzen Audi TT und dröhnender Musik gestört. Er beobachtete mit Argwohn, wie der Wagen eingeparkt wurde. Dem Sportwagen entstieg eine Frau, deren Größe schon fast an die zwei Meter reichte. Mit Sonnenbrille, geflochtenen langen hellbraunen Haaren und hohen Stöckelschuhen stolzierte sie auf das Café zu. Mit prüfendem Blick schaute sie sich um und schritt zielsicher auf Joschs Tisch zu.

»Hallo, Herr Wildner. Wie ich sehe, geht es Ihnen wieder besser.«

Joschs Ego freute sich über die Zuwendung dieser hinreißenden Frau. Er brauchte ein paar Augenblicke, um sein Glück zu akzeptieren. Geschwind stand er auf und rückte ihr sogleich den Stuhl zurecht. Mit einem Lächeln nahm sie die Geste an. »Muriel. Ich freue mich, dass Sie sich Zeit für meine Einladung genommen haben«, dabei setzte er sich wieder und sein Blick verharrte auf ihrer Sonnenbrille. Da sie schwieg, was ihn etwas verunsicherte, fügte er hinzu: »Ich kann die Sachertorte nur empfehlen, darf ich Ihnen ein Stück bestellen?«

»Nein danke, ich nehme nur einen Kaffee.«

Mit einem Wink gab er dem Kellner ein Zeichen, der daraufhin zum Tisch eilte. »Bringen Sie uns zwei Kaffee und zwei Stück von Ihrer Sachertorte.«

Die Polizistin nahm ihre Sonnenbrille ab und legte sie auf den Tisch. Ihre grau-braunen Augen blickten skeptisch. »Machen Sie immer das, was Sie für richtig halten, ohne auf die Bedürfnisse der anderen zu achten?«

»Dies sollten Sie mir nicht unterstellen. Es steht Ihnen durchaus frei, den süßen Hochgenuss zu verschmähen.« Josch hob die Hände, um seine Unschuld zu beteuern.

Es dauerte nicht lange, da hatte der Kellner die Bestellung aufgetragen. Sie nahm einen Schluck von dem Kaffee und beachtete den Kuchen nicht.

Josch probierte als Erstes die Torte und ließ den schokoladigen Teig im Mund zerschmelzen. »Ihnen entgeht etwas.«

Mit ihren strahlend schönen Zähnen lächelte sie ihn unbeschwert und leicht erhaben an. Sie nahm die Gabel, brach ein Stück von der Torte ab und führte es zu ihrem Mund.

Josch genoss den Anblick. Vor allem, weil er sie offenbar doch nicht falsch eingeschätzt hatte.

Eine Weile plauderten sie über den Abend, den Josch in die Ausnüchterungszelle gebracht hatte. Er erfuhr Details, die keiner nach einem Suff wissen wollte. Um letztendlich von dem Thema abzulenken, fragte er sie, ob sie gerne Polizistin sei. Muriel bejahte dies sachlich, ohne ausführlich zu werden. Er hatte den Eindruck, einen wunden Punkt getroffen zu haben, und ging nicht weiter darauf ein.

Als sie das halbe Stück Kuchen gegessen hatte, fragte er sie offen heraus: »Was ist eigentlich der Grund, dass eine junge bezaubernde Frau wie Sie meine Einladung angenommen hat?« Mit siebenundvierzig war er geschätzte fünfzehn Jahre älter als sie und seine beigefarbene Leinenweste saß nach jedem Winter enger über seinem wohlgenährten Bauch. Auch wenn die Wahrheit anders aussah, so bildete er sich gerne ein, eine gewisse Wirkung auf weibliche Wesen zu haben. Aus irgendeinem Grund haschte er regelrecht nach einer schmeichelnden Bemerkung zu seiner Person.

»Ich habe Ihre Akte gelesen und dabei entstand ein gewisses Interesse.«

Die formelle Äußerung nahm seiner Eitelkeit den Schneid und bestätigte die unangenehme Ahnung, dass sie tatsächlich über etwas sprechen wollte, was nichts mit seiner Vorstellung dieser Zusammenkunft zu tun hatte. Er wusste, dass sie von den Beschuldigungen sprach, die sich in seinem Beruf nicht vermeiden ließen. Der überwiegende Teil entsprach der Wahrheit, aber dies brauchte eine Polizistin nicht zu wissen. Nach kurzer Überlegung antwortete er: »Es ist nicht interessant, es sind Unterstellungen, die nicht einmal im Ansatz auf einem Beweis gründeten. Muriel, wir sollten unsere Zeit nicht damit verschwenden.«

»Dafür ist die Liste der Anschuldigungen etwas zu lang. Verletzung der Datenschutzverordnung, Eindringen in die Privatsphäre und sogar Nötigung. Übrigens nur ein paar Punkte davon.«

Der Verlauf des Gesprächs behagte ihm immer weniger und ihr vorwurfsvoller Unterton klang so, als müsse er sich für seine Arbeit rechtfertigen. Die gute Laune hatte sich verloren und Ärger stieg in ihm hoch. »Dann darf ich das so verstehen, dass die Polizei nun glaubt, dass ich alles gestehen werde, nur weil Sie mit dem Po wackelnd und hohen Schuhen hier auftauchen?« Dabei schaute er ohne Scham auf ihr recht freizügiges Dekolleté. »Und wahrscheinlich soll mich Ihr tieferer Ausschnitt soweit bezirzen, dass ich mich schuldig bekenne? Wenn dies der Fall sein sollte, dann müssten Sie schon mit größeren Geschossen auffahren.«

Muriel hob die Augenbrauen. Sie stützte den Arm auf dem Tisch ab und legte die Finger abgespreizt auf ihr Kinn, das sie deutlich in die Höhe hob. »Wann hat Ihnen das letzte Mal jemand gesagt, dass Sie ein Arsch sind? War es gestern oder hatten Sie heute bereits das Vergnügen?«

»Wenn das Zeigen des Mittelfingers auch dazu zählt, dann war es vorgestern«, antwortete Josch ehrlich und dachte dabei an den Journalisten, der äußerst unzufrieden mit den Ergebnissen seiner Recherche war und das Büro mit jener eindeutigen Geste verlassen hatte. Ihr ehrliches Lachen daraufhin raubte ihm den Unmut, der sich zuvor als anschwellende Wut aufgestaut hatte.

Als Muriels Heiterkeit verebbte, folgte wieder der neutrale, professionelle Blick einer Polizeibeamtin. »Ich denke, Sie gehen von einer falschen Annahme aus. Ich habe weder die Absicht, Sie zu bezirzen, noch in anderer Form mit Ihnen zu flirten. Und wenn Ihnen mein Busen nicht groß genug erscheint, so kann ich Ihnen garantieren, dass er mehr als ansehnlich ist!«

In der kurzen Pause vermied Josch, ihr auf den besagten Körperteil zu starren, bevor sie weitersprach: »Ich interessiere mich für Ihre Arbeit, die nach meiner Einschätzung in der illegalen Beschaffung von Informationen besteht. Ihre Vorgehensweise scheint präzise und effektiv zu sein und würde mir bei anderen Fällen weiterhelfen.«

»Welche Fälle sollten das sein?«, hakte Josch hellhörig geworden nach.

»Herr Wildner, nehmen Sie mich nicht auf den Arm. Sie kennen das Metier gut genug, um zu wissen, welche terrorähnlichen Aktivitäten sich im Internet abspielen, und kennen die Schweinereien, die über das Widerwärtigste hinausgehen. Im Vergleich dazu sind Ihre Vergehen eine Bagatelle.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie als Straßenpolizistin an derartigen Fällen arbeiten. Und die Ermittlung gehört sicherlich nicht zu Ihrem Arbeitsbereich, oder?«, konterte er mit gekränktem Stolz.

»Es ist die Vorbereitung für meine Zukunft. In knapp einem Jahr werde ich die Prüfung ablegen und hoffe, dann im Bereich der Internetkriminalität zu arbeiten«, gab Muriel zurück.

»In dieser Zeit können viele Dinge passieren. Sie sollten sich nicht damit beschäftigen, was sein könnte, sondern mit den Aufgaben, die Ihnen übertragen wurden. Mit Verlaub, ich habe Wichtigeres zu tun, als kostenfrei für die Zukunft einer Polizistin zu arbeiten.«

Nach einem kurzen Schnaufen durch die Nase erwiderte Muriel leise: »Dann lassen Sie es mich anders formulieren. Es wäre ein Bonus, wenn wir Sie erwischen. Und glauben Sie mir, die Zeit wird kommen.«

Mit den Jahren hatte Josch gelernt, solche Drohungen nicht ernst zu nehmen, aber einem Bonus für andere möglichen Eventualitäten war er nicht abgeneigt. »Wie stellen Sie sich denn eine Zusammenarbeit vor?«

»Ganz einfach, Sie zeigen mir Ihre Technik und wie Sie damit arbeiten.«

Daraufhin lachte Josch. »Dies werde ich mit Sicherheit nicht tun!«

Die Polizistin stand unerwartet auf, setzte ihre Sonnenbrille auf und blickte ihn unterkühlt an. »Sie haben meine Nummer und sollten mich in nächster Zeit anrufen. Und vielen Dank für den Kuchen. Sie hatten recht, er war ein Hochgenuss.«

Mit dem gleichen aufregenden Gang wie bei ihrer Ankunft verließ sie das Café. Sekunden später schallte erst die Musik und dann übertünchte der Motor ihres Autos die Ruhe der Natur. Josch ahnte, dass diese Frau ihm mal gehörig auf die Nerven gehen würde.

Kapitel 6

Erst legte er den Daumen und anschließend den kleinen Finger seiner linken Hand auf den unscheinbaren Scanner. Die Identifizierung seiner Fingerabdrücke wurde mit einem Piep bestätigt, worauf er anschließend die siebenstellige Zahl auf das Tastenfeld neben der Stahltür eingab. Das Schloss klickte und Josch öffnete die Tür, um in sein Reich einzutreten. Es war ein klimatisierter Raum im Souterrain seines Hauses. Die beiden halbhohen Kellerfenster hatte er durch Glasbausteine ersetzen lassen und so fiel nur spärlich diffuses Licht ein. An einer Wand entlang standen schwarze Schränke aus Metall, hinter deren Glastüren die vier Hochleistungsrechner mit gelben und roten Lämpchen im zufälligen Takt blinkten. Jede dieser Multiprozessoreinheiten besaß drei hochverfügbare Highspeed-Internetverbindungen: Kupfer, Glasfaser und sogar Satellit. Gegenüber türmte sich im Halbdunkeln ein wandfüllendes Industrieregal, das mit modernen GPS-Tracker, Abhörwanzen, Minikameras, Richtmikrofonen und anderer Elektronik gefüllt war, die er gelegentlich für seine Arbeit brauchte. In der Raummitte stand ein halbrunder überlanger Tisch, auf dem sich Tastaturen und Computermäuse in Reih und Glied feinsäuberlich nebeneinander paarten. Alles hatte seinen festen Platz, da Josch die penetrante Überzeugung besaß, dass das Leben nur in geplanter Ordnung funktionierte.

Obwohl er schon unzählige Male den Raum betreten hatte, genoss er immer wieder das dumpfe Geräusch des massiven Stahls, als der mechanische Türschließer sie verschloss. Es folgte das klickende Einrasten der Verriegelung und die indirekte Deckenbeleuchtung schaltete sich ein. Sogleich erwachten die vier Riesenwandbildschirme aus ihrem Stromsparmodus. Auf allen blinkte eine Nachricht auf: Stimmenidentifizierung erforderlich!

Josch quittierte dies mit einem zufriedenen Grinsen. Dann hallte seine Stimme mit der Freigabe durch den Raum: »Der Sinn des Lebens ist zweiundvierzig. Punkt.«

Für Unbedarfte ähnelte der bizarre Raum einer Kommandozentrale, um unter Umständen Raketenstarts vom europäischen Weltraumbahnhof zu überwachen. Für ihn war es der Ort, an dem er herrschte und ihm die virtuelle Welt zu Füßen lag. Jedes Mal erfüllte es ihn mit einer wohligen Zufriedenheit, wie sicher und zuverlässig die hoch technisierte Anlage funktionierte. Viele Jahre hatte ihn der Aufbau gedauert und die Kosten entsprachen zwei, wenn nicht sogar drei, vollausgestatteten Mittelklassewagen.

Für gewöhnlich genoss er das Thronen auf dem schwarzen Ledersessel mit gepolsterten Armlehnen und der Massagefunktion, die ihm in langen Nächten schon entspannende Dienste geleistet hatte. Doch heute war es anders. Kaum hatte er Platz genommen, trieb ihn die Ungewissheit, wie der Auftrag in der vorgegebenen Zeit zu erledigen sei. Er kontrollierte mit geübtem Blick und professioneller Routine die Monitore, um festzustellen, dass nichts Ungewöhnliches geschehen war. Mit einem Tastendruck öffneten sich auf allen Bildschirmen im Bruchteil von Sekunden Programme, die sich wie große Kacheln symmetrisch darauf verteilten. Sein Blick schweifte über die Monitore und fokussierte die eine oder andere Anzeige. Vladimir hatte sich seit längerer Zeit auf keiner ihrer Kommunikationskanäle gemeldet.

Mit dem Ellbogen abstützend, rieb sich Josch den Nacken. Er überlegte, welche Möglichkeiten ihm blieben, um Kontakt mit seinem Bruder aufzunehmen. Schließlich brauchte er ihn jetzt und hier für seinen Auftrag abzuarbeiten. Als ihm dazu keine direkte Lösung einfiel, lehnte er sich für einen Moment zurück und positionierte die Finger auf einer der Tastaturen. Nach kurzem Zögern tippte er ein Kommando und es öffnete sich eine der Datenbanken, die von einem Webcrawler gespeist wurde. Er durchforstete das Internet und alle Suchmaschinen nach den vorgegebenen Begriffen. Die Suche lief seit dem ersten Kontakt mit Dr. Claas. Josch las aufmerksam die neuesten Ergebnisse, die der Suchlauf über seinen Auftraggeber gefunden hatte. Claas' wissenschaftliche Laufbahn und sein beruflicher Karriereflug waren ihm bekannt, doch ein neuer unerheblicher Eintrag versetzte ihm einen Hieb. Werner Claas war wie er in einer Bergbausiedlung aufgewachsen.

Josch war neun Jahre alt gewesen, als sein Vater an den Folgen seiner staubgeschwärzten Lunge starb, was damals so manchen Grubenkumpel dahinraffte. Die Zeremonie der Beerdigung war vorüber, die schwarz gekleideten Trauergäste schwankten mit schweren Schritten und geneigten Köpfen zum Leichenschmaus. Da beobachtete er, wie eine Frau mit ihrem Kind in seinem Alter dem Zug nicht folgte, sondern vor dem Grab verweilte. Josch ließ die Trauernden ziehen und kehrte an das Erdloch zurück. Die Bergmannsleute kannten sich mehr oder weniger alle in der Siedlung, aber weder mit dem Jungen noch mit dessen Mutter hatte er je gesprochen. Beim Näherkommen hörte er das Schluchzen der Frau, das ihm wie ein Klagelied erschien. Seine kindliche Neugier trieb ihn an und er fragte, ob sie seinen Papa gekannt hatte. Mit tränennassen Augen schaute sie ihn an. Sie gab ihm keine Antwort, sondern strich ihm sanft über die Haare, so wie es Erwachsene gerne taten, wenn die Wahrheit für ein Kind zu traurig war.

Seit diesem Tag hatte Josch einen neuen Freund gefunden, mit dem er nicht nur ihre kleine Jungenwelt eroberte, sondern zudem allerlei Unfug anstellte. Vladimir redete mit russischem Akzent, was daran lag, dass es die Heimat seiner Eltern war. Obwohl sie die meiste freie Zeit miteinander verbrachten, sprachen die Mütter untereinander nie ein Wort, nicht einmal ein Nicken bemerkte er, wenn sie sich zufällig auf der Straße begegneten.

Die Jahre vergingen zeitlos, wie es für Kinder üblich war. Das lästige Pilgern in die Schule vereinte sich mit der mütterlichen Schimpfe, dass Hausaufgaben nicht zum Spaß seien und für bessere Noten das Lernen notwendig wäre. Josch und Vladimir stimmten dem gut gemeinten Rat zu, aber bald schon vergaßen sie das Gesagte, wenn sie die Nachmittage und viele Abende gemeinsam verbrachten. In ihrer Fantasie waren sie Piraten, Luftschiffkapitäne, Urwalderforscher, Staudammbauer und manchmal auch nur Kinder, die sich über eine Belanglosigkeit stundenlang verlachten. Die selbsterdachten Geschichten schenkten ihnen Farben in dem grauen, trostlosen Zechenleben. Im Teenageralter bauten sie sich aus alten Regentonnen die Drums für ein Schlagzeug. Das wilde, scheppernde Trommeln klang wie Musik für ihre Träume, an die sie in jener Zeit noch glaubten.

Josch war gerade sechzehn geworden und hatte den ersten Lehrlingslohn bekommen. Mit voller jugendlicher Brust stolzierte er mit Vladimir am späten Nachmittag in Richtung des Wirtshauses. Eine eher spärliche Spelunke, wo sich die Kumpels nach der Arbeit unter Tage trafen, um ihren Unmut über das schwere Leben und andere Ungerechtigkeiten mit Bier und einigen Kurzen zu besiegeln. Beim Eintreten verstummte das gesellige Gemurmel, nur mancher Bierhumpen knallte noch auf den einen oder anderen abgenutzten Holztisch.

Sekundenlang war nichts zu hören, bis ein Mann lallend aus der Ecke rief: »Da kommen die beiden Bastarde vom alten Karl! Gott sei seiner Seele gnädig.«

Josch war irritiert, wieso der Name seines Vaters in einem solchen Zusammenhang genannt wurde. Dann sah er Vladimir an und die beiden Jugendlichen grinsten über die Bemerkung des Besoffenen. Die Gespräche hüllten sich in ein drückendes Schweigen in dem von Zigaretten verqualmten Kneipenraum.

Mit verlorener Sicherheit und hängenden Schultern schritten die beiden Halberwachsenen zum Tresen und Josch fragte den Wirt: »Was ist hier eigentlich los?«

Der stämmige Mann mit verschmierter Schürze antwortete nur mit einem Kopfschütteln, während er die Gläser weiterspülte.

»Ihr kennt die Wahrheit nicht?«, fragte ein Greis, der armlang entfernt auf einem Hocker saß und sich an seinem Bierglas festhielt. Sein dünnes graues Haar schimmerte schmierig. Die wässrigen Augen von tiefen Furchen umgeben. Die Altersflecken übersäten sein Gesicht und die von Adern überzogenen Hände. Es war ihm anzusehen, dass er sein Leben lang malocht hatte, und so begegnete ihm Josch mit Respekt. »Von welcher Wahrheit redest du, alter Mann?«

»Von eurem Vater, der sich nicht entscheiden konnte und bis zu seinem Tod geschuftet hat, um eure Mütter und euch Bälger zu versorgen.«

Die Blicke der Jungs schweiften durch den Raum, als ob sie erwarteten, dass jemand widersprach. Doch die Anwesenden schwiegen hinter dem dichten Nebel aus kaltem Zigarettenqualm. Sie begriffen noch immer nicht, was ihnen mit seufzender Stimme erzählt worden war.

»Ich kannte meinen Vater nicht«, sagte Vladimir als leise Rebellion.

Josch hingegen wusste, wer seiner war, aber darüber hinaus hatte er kaum Zeit mit ihm verbracht. »Was weißt du über meinen Papa?«, fügte er hinzu.

Mit offensichtlichen Beschwerden im Rücken drehte sich der Alte träge zu den beiden um, atmete krächzend durch und erhob dann seine Stimme wie ein Geschichtenerzähler: »Vladimirs Mutter kam vor ungefähr neunzehn Jahren mit ihrem Mann Alexej aus Russland hierher. Er hatte Arbeit in der Zeche gefunden und sie mieteten sich ein Haus in der Siedlung. Zwei Jahre später gab es Schlagwetter im Stollen. Vierzehn Kumpels überlebten, aber Alexej hatte es erwischt und der Sensenmann hat ihn zu sich genommen. Wir Bergleute kümmern uns um die Hinterbliebenen und so gab jeder ein Stück ab, damit die Frau für eine Zeit lang versorgt war. Karls Fürsorge war schon damals auffällig, doch die Leute tratschten erst, als Alexejs Witwe nach dreizehn Monaten einen Sohn auf die Welt brachte, der den Namen Vladimir bekam. Josch war acht Wochen früher geboren.«

Der Wirt hatte mit dem Spülen aufgehört. Und kein anderer Kumpel im Raum sprach ein Wort. Es schien, als habe jeder dem alten Mann zugehört. Dieser gönnte sich zwischenzeitlich einen Kurzen, den er in einem Zuge leerte. Nachdem er das Schnapsglas schon fast bedächtig auf den Tresen zurückgestellt hatte, erzählte er weiter. »Keiner von uns wagte es, Karl etwas zu sagen. Ihr beiden Jungs wuchst auf, ohne dass ihr auch nur einen Tag gehungert habt. Karl malochte mehr als jeder andere und plotzte jede Überstunde, die er kriegen konnte, nur um das Geld zwischen euren Müttern aufzuteilen. Ob sie ihm dankbar dafür waren, hat nie jemand erfahren, zumindest schien ihre Trauer auf der Beerdigung echt zu sein. Die Leute redeten nach Karls Tod. Ein Gerücht behauptet, dass er in seinem Testament geschrieben hat, dass beide Frauen den gleichen Anteil von der Rente bekommen. Ob das stimmt, weiß ich nicht, denn eure Mütter haben nie darüber geredet.«

An diesem Tag tranken die Jugendlichen nicht das Bier, das sie ein Stück erwachsener machen sollte. Nun erklärte sich so manches seltsame Verhalten der anderen Männer und deren Frauen, wenn sie sich begegneten.