Blitzbirke - Lisa Kreißler - E-Book

Blitzbirke E-Book

Lisa Kreißler

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Beschreibung

"Hans ist schon ins Freie getreten. Jetzt mache ich es ihm nach: Ich strecke meine Hände aus, schiebe die letzten Zweige aus dem Weg und bet rete, mit dem Kopf zuerst, einen unbekannten Raum." Kurz vor seinem 30. Hochzeitstag fällt Eddas Vater vom Pferd. Zwar bricht er sich bloß ein paar Rippen, doch seine älteste Tochter, die sofort anreist, wittert Unheil. Ihr neuer Freund Hans, ein schweigsamer Maler, begleitet sie. Er scheint ebenso aus der Zeit gefallen zu sein wie Eddas Heimatdorf Odinsgrund: Dort fährt ein Riese Motorrad, die Mutter nimmt Betrunkenen Blut ab, aus dem Acker wachsen Muscheln, und ob der Hund wirklich ein Hund ist, muss sich erst noch rausstellen. Edda spürt: Hier stimmt was nicht. Doch dann ist da ja noch Hans. Gemeinsam müssen die beiden gleich zwei Wunderlandschaften durchqueren, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Lisa Kreißlers Debüt "Blitzbirke" erzählt eine einfache Liebesgeschichte: Ein wildes Mädchen befreit sich durch das Wunder der Liebe aus den Fängen ihrer Vergangenheit. Doch erst vor dem märchenhaften, naturromantischen Hintergrund der Geschichte kommt das eigentliche Thema des Romans zum Tragen: die fabelhafte Kraft der Gegenwart.

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Seitenzahl: 237

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Im Zug. HANS trägt eine Seemannskappe ...

Rotwild grast zwischen den turmhohen Windrädern ...

Blitzend ruht die dünne Nadel in Mamas kräftiger Hand ...

Wir sind am Ende angekommen ...

Lisa Kreißler

Impressum

Im Zug. HANS trägt eine Seemannskappe, raucht Pfeife. ICH schaue ihn an. Neben UNS eine MUTTER mit ihrem Sohn, der als SEERÄUBER verkleidet ist.

SEERÄUBER zur MUTTER: Du sitzt neben einer Frau und ich sitze neben einem Mann; und dieser Zug ist mein Schiff.

MUTTER: Ja.

SEERÄUBER: Ihr seid alle meine Gefangenen, aber ihr braucht keine Angst zu haben.

MUTTER: Ja.

SEERÄUBER: Den Säbel benutze ich nur im Notfall, wenn einer nicht richtig hört, oder wenn feindliche Schiffe kommen. Seht ihr da oben, die Friedensflagge, weiß, ganz weiß.

MUTTER: Ja.

SEERÄUBER: Olaf habe ich abgemurkst. Es musste sein. Er wurde zu frech.

MUTTER: Vincent, sei mal still.

SEERÄUBER: Schhhh! Nichts sagen! Sonst muss ich euch doch knebeln und fesseln und unter Deck bringen lassen. Genießt die frische Luft hier oben, die Ruhe, solange sie noch währt. Die Möwen sind schon ganz unruhig, hört, eine Möwe imitierend: Ahhh, Ahhh, Ahhh! Da braut sich was zusammen. Morten, gib mir mal das Fernglas! Formt die Finger vor den Augen zu zwei Gucklöchern, drückt sie gegen die Fensterscheibe. Oh Gott! Schiff in Sicht! Sie kommen! Sie wollen sich rächen. Sie segeln aus Luv! Kreuzen, Männer, kreuzen!

Der SEERÄUBER springt auf dem Sitzpolster auf und ab.

MUTTER: Schluss jetzt, Vincent!

SEERÄUBER: Die Gefangenen unter Deck. Los, runter mit euch!

MUTTER zu UNS: Entschuldigen Sie!

SEERÄUBER zu HANS: Dich brauchen wir hier oben. Du bist ein Kannibale! Ein bisschen blass bist du. Zeig mal deine Zähne.

HANS schaut den SEERÄUBER ernst an, ohne den Mund zu öffnen.

SEERÄUBER: Der kann unsere Sprache nicht. Z E I G

M A L D E I N E Z Ä H N E! Haifischzähne, wusst ich’s doch. Ich töte die Barbaren, und du frisst sie auf.

MUTTER: Vincent!

LAUTSPRECHER: Nächster Halt: Lemmie.

SEERÄUBER: Ahhhhh! Habt ihr das gehört? Olafs Leute sind schon da! Ausfieren, Männer, ausfieren!

MUTTER führt den SEERÄUBER aus dem Abteil.

HANS und ICH lächeln uns zu. Dann schauen WIR aus dem Fenster.

HANS: Guck dir das an! Diese Zuglandschaften. Felder, Krähen, ein Mensch mit Hund.

ICH: Komisch, wenn da auf einmal ein Mensch auftaucht. Alles sieht immer so unbewohnt aus, als wären diese Landschaften extra für die Sicht aus dem Zugfenster entworfen.

HANS schweigt.

ICH: Und irgendwo da hinten segeln die Barbaren.

HANS schweigt.

ICH: Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, dass der Acker vor unserem Haus die Nordsee ist.

HANS schweigt.

ICH: Hans?

HANS schaut MICH an.

ICH: Warum trägst du eigentlich diese Mütze? Ist das ein Accessoire oder bist du wirklich mal zur See gefahren?

LAUTSPRECHER knackt: Liebe Fahrgäste! So was Schönes! Gucken Sie sich das mal an! So was kriegt man nicht alle Tage zu sehen. Das ist der schönste Regenbogen, den ich seit 1996 gesehen habe. Lachen. Unglaublich! Es knackt.

*

Die Türen öffnen sich, und Hans springt aus dem Zug.

»Was für ein Wind!«, höre ich ihn rufen.

Ein einziger tiefer Atemzug genügt, um seinen Körper nach der langen Reise wieder aufzurichten. Er atmet ein und sein Rücken wird gerade, der Oberkörper faltet sich auf, er streckt die Knie durch und von hier, aus dem Schatten im Innern des Zuges, sind seine schwarzen Stiefel nicht zu unterscheiden vom Asphalt. Der Wind kräuselt Hans’  Vollbart, sein blondes Haar, er strafft ihm die Haut und wischt ihm den Staub von den Lidern.

Ich bemühe mich um einen ungerührten Ausdruck, was ganz unnötig ist, weil Hans ja gar nicht mich anschaut, sondern nur Augen für den Wind hat.

Er steht direkt vor dem Pfeiler, an den, viel zu hoch, ein altmodisches Holzbrett genagelt ist. Aus dem geschlossenen Zug kann ein Reisender das Brett nur sehen, wenn er sein Gesicht hart gegen das Fensterglas drückt und die Augen drastisch Richtung Himmel verdreht. Ein einzelner Buchstabe nur, ein riesiges O, ist dort tief in groben Zügen ins Holz geschnitzt.

Aha, würde der Reisende denken, O; und kein Dorf sehen, nur eine Autobahn. Der Reisende würde sich am Kopf kratzen: Was soll das denn bitte schön bedeuten? O? Und plötzlich würde dem Reisenden das Herz zu rasen beginnen, seine Hände würden zittern, und ein inniger Wunsch würde ihn in leichten Schwindel versetzen, der Wunsch nämlich, dass der Zug doch bitte schnell, ja jetzt sofort, weiterfahren möge.

Als die Tür zu piepen beginnt, streckt sich mir von draußen eine Hand entgegen. Hans lächelt feierlich, als wäre es kein Regionalzug, aus dem er mich auszusteigen bittet, sondern eine eigens für uns gefertigte Kutsche.

Ich setze also den ersten Fuß auf heimatlichen Grund, setze den zweiten gleich daneben. Und es packt mich nicht nur der Wind, nein, Hans packt mich, er hält mich fest im Kuss, während das Tosen der Autos in Richtung Dortmund, während das Tosen der Autos in Richtung Berlin mir das Lied der Unrast in die Ohren stößt: zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzz

»Du bist in einem Autobahndorf groß geworden?«, flüstert Hans ganz dicht an meinem Mund. Sogar sein Atem riecht nach Terpentin. Ich schiebe ihn ein Stück von mir weg, sodass ich seine Augen sehen kann: »Nein!«, antworte ich, und der Protest löst sich krächzend von meinen Stimmbändern, als hätte Hans mich durch den Kuss gerade eben aus einem langen Schlaf geweckt. »Es ist kein Autobahndorf.«

Er lacht, dann beruhigt sich sein Gesicht, und eine kompromisslose Strenge geht von ihm aus. Ohne zu blinzeln starren wir uns an. Für Dritte muss das aussehen, als wollten wir einander hypnotisieren oder als kämpften wir etwas aus. Hans’ Augen sind unwirklich sauber; die Iris: ein Licht bündelndes sehr helles Blau, der Blick: kraftgeadelt. Als er mich zum ersten Mal so angesehen hat, kam mir die Farbe seiner Augen derart übertrieben vor, dass ich nicht wusste, ob ich das als Einladung auffassen sollte oder als Bedrohung.

Je länger ich ihn anschaue, desto weniger kann ich sehen. Um ihn herum verlieren sich alle Konturen. Ein verwaschenes Irgendwo schließt uns ein. Hans. Mir wird der Kopf ganz heiß, Hans, und wie knistert es in meinem Innern, wenn ich in deine Augen seh’.

Ich verlasse den Bahnsteig über den Grünstreifen, ein Schritt, zwei Schritt, drei Schritt, vier. Hans folgt mir. Vom Rasen auf den Staubpfad neben der aufgebrochenen schlaglochversehrten Straße, die an den Gleisen entlangführt. Ich höre seine Schritte laut und deutlich hinter mir, obwohl der Boden sandweich ist und meine eigenen Schritte nicht zu hören sind. Der rote Zug schwebt an uns vorüber; schon sehen wir nur noch seine Rücklichter, schon werden auch sie vom schwarzen Loch verschluckt.

Ich gehe langsamer, lasse mich so weit zurückfallen, bis Hans neben mir auftaucht. Links, rechts, links, rechts, links, rechts, links. Ich versuche seine Schritte nachzuahmen, aber es gelingt mir nicht.

Hans schaut rüber zum Rasthof, dem sich seit ein paar Jahren ein wachsender Industriepark aufdrängt. Neben dem Fast-Food-Restaurant und einer Tankstelle verspricht eine Gruppe fensterloser Wellblechkästen ganz andere Vergnügen. Eine Werbesäule leuchtet den Heranfahrenden mit Geldstücken für die Spielhölle, mit bestrumpften Schenkeln für Beate Uhse, mit einem blauen Pferdekopf für den Reitausstatter entgegen. Es stehen nur wenige Autos in dem frisch hingemalten Parkbuchtgitter davor; niemals sieht man jemanden rein- oder rausgehen.

Hans ist mir längst ein gutes Stück vorausgelaufen. Gleich hat er das schwarze Loch erreicht.

So entschieden bläst es uns entgegen, dass ich mich leichtfertig in den Wind legen kann, als ich mich von der Autobahnunterführung schlucken lasse. Das Tosen über unseren Köpfen zerschlägt jeden übrigen Laut. Kein Schritt mehr zu hören, kein Atem, kein Hall. Obwohl ich diesen Weg schon tausend Mal gegangen bin, übermannt mich die Unruhe hier unten wie etwas Neues, nie Erfahrenes. Meine Beine fangen an zu zittern. Es sticht in meinen Schläfen. Ich kann kaum noch etwas sehen. Im grauen Licht der Grenzzone zerfließt Hans’ Körper zu einer grobkörnigen, huschenden Form, die in weiter Ferne vor mir herwabert, die auf das Licht zuhält.

Man kriegt die Augen kaum auf. So schrecklich hell ist es hier drüben, auf der anderen Seite der Autobahn. Ich blinzele vorsichtig, ganz vorsichtig, und ins Auge sticht mir unser Haus. Ein stählernes Baugerüst flankiert die Fassade. Helle Holzlatten verdecken zu zwei Dritteln den wetterverwirkten grauen Putz. Ein Teil der Latten hat den blauen Anstrich bereits hinter sich.

Das war Oskars Außenprojekt für diesen Sommer: das bröselnde Steinhaus in ein taubenblaues Holzhaus zu verwandeln. Doch da hat der Unfall ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Oskar wird sich den Winter über mit dieser halb fertigen Variante begnügen müssen. Er wird sich vorstellen, wie hübsch das Haus in Zukunft aussehen könnte, gleichzeitig aber immer noch vor Augen haben, wie schonungslos die vielen Jahre an der Fassade genagt haben.

Auf den Feldern vor dem Dorf wird in diesem Jahr Weizen angebaut. Dicht gedrängt und schwer beladen warten die Ähren darauf, geschnitten zu werden. Die Ernte ist überfällig. Wahrscheinlich hat es zu viel geregnet in den vergangenen Tagen.

Hans hat seine Tasche auf die Straße fallen lassen und rennt jetzt, die Seemannskappe schwenkend, hinein ins hohe Korn.

»Komm!«, ruft er und ist schon im Weizen ertrunken, »komm!«

Aber ich, ich stehe stocksteif: Dort hinten an der Feldkante, nicht weit von unserem Haus, biegen zwei Gestalten um die Ecke. Ich kann nur Farben und Umrisse erkennen, doch mein plötzliches Herzrasen verrät mir sofort, wer es ist. Vorneweg läuft Mama, ihr hinterher Füchschen. Hastig nähern die zwei sich dem Treppenaufgang, nehmen die fünf kleinen Stufen zur Tür hinauf und sind in Windeseile in unserem Haus verschwunden.

*

Am Küchentisch. MAMA und ICH sitzen HANS gegenüber. HANS isst.

ICH: Faszinierend.

MAMA: Wo der das alles lässt.

ICH: Hast du schon mal jemanden so viele Eier essen sehen?

MAMA: Wie viele warn’s denn?

ICH: Sieben! Sieben Eier!

MAMA: Nein, aber ich mache mir auch eher Sorgen wegen der Bohnen. Die sind ja nicht für jeden so leicht verdaulich.

ICH: Und der ganze Speck!

MAMA: Und die vielen Zwiebeln! Ist ihm denn überhaupt nicht schlecht?

ICH: Nein, hör doch, wie er schmatzt!

HANS schaut von seinem Teller auf. Eigelb tropft ihm vom Bart. Die Backen sind vollgestopft, seine Lippen fettig: Man spricht nicht in der dritten Person über anwesende Leute.

»Entschuldigung!«, sagt Mama. »Es ist einfach nur so faszinierend, wie viel du essen kannst.« Während sie Hans noch mehr Fitzebohnen auf den Teller hebt, ihm dabei ermutigend zunickt, schmuggele ich Füchschen ein paar Würfel Speck unter den Tisch. Zaghaft kitzelt ihre Zunge über meine Handfläche, dann lässt sie sich auf meinen Füßen nieder – endlich.

Ihr Begrüßungsbellen und die schwanzwedelnde Aufregung, die unser Erscheinen in ihr ausgelöst hatte, war kaum zu stoppen gewesen. Ich habe sie gestreichelt, sie geküsst, ihr alle Aufmerksamkeit geschenkt, mich sogar mit ihr auf dem Küchenboden gewälzt, ihr die Tür zum Garten aufgesperrt, sie wieder geschlossen, aber Füchschen ließ sich nicht beruhigen. Sie musste immer weiter bellen, fiepsen, rennen, hecheln, rennen und quietschen, bis ihr endlich, wir sitzen sicher schon eine Stunde hier, die Puste ausgegangen ist.

Ich kann den Rhythmus ihres Herzschlags auf meinem Spann fühlen. Auch wenn sie jetzt stillhält, tobt es noch in ihr.

»Sie war scheinschwanger«, sagt Mama, »deshalb ist sie gerade so verrückt.«

Das mag stimmen; und trotzdem ist ihr Verhalten verdächtig.

»Wie geht’s dir denn, Mama?«

»Gut«, antwortet sie eilig und wendet sich wieder Hans zu.

Rein gar nichts deutet darauf hin, dass die zwei sich vor einer Stunde erst kennengelernt haben. Mama und Hans freuen sich übereinander wie alte Freunde, die sich nach Jahren der Kontaktlosigkeit an einer Straßenecke in einer gottverlassenen Stadt über den Haufen rennen, die sich nach dem Zusammenprall kurz fluchend die Köpfe reiben, um den andern dann, mit großen Augen, in seinem ganzen schwer vermissten Wesen zu erkennen: »Gott, ist das ein Glück, dich zu treffen! So ein Glück!«

Hans nutzt jede Gelegenheit, um Mama beim Vornamen zu nennen: »Es war ausverkauft, Emma! Alle wollten Eddas Stück sehen«, und meiner Mutter gefällt das. Ihr Gesicht ist offen. Sie nickt und schüttelt den Kopf, bewegt die Lippen, ihre Locken beben, wenn sie lacht, ihre Wangen röten sich, ihr ganzer Körper gerät in Bewegung – und schämt sich dafür. Ich sitze dicht bei ihr. Ich kann das fühlen. Es ist ihr unangenehm, dass sie nach der Behandlung so zugenommen hat, vor allem jetzt, da Hans zu Besuch gekommen ist. Zwar versteckt sie ihr Gewicht in weiten Kleidern, doch sie weiß: Es verrät sie der Schweiß auf der Stirn, es verrät sie die Schwerfälligkeit ihrer Statur. Nur ihre Hände versteckt sie nicht. Wie zum Gebet gefaltet ruhen sie vor ihr auf dem Tisch. Ihre Fingerkuppen sind noch rot vom Himbeerenpflücken. Besonders in den Daumen, fein zerfurcht von Messerschnitten, hat sich der Farbsaft nachhaltig eingelassen. Ihre Fingernägel aber sind sauber, kein Krümelchen Dreck hat sich darunterverirrt.

Bemüht unauffällig greife ich nach Mamas Handgelenk, positioniere Zeige- und Mittelfinger an der richtigen Stelle, schaue hoch zur Küchenuhr und warte, bis der Sekundenzeiger bei 12 angekommen ist – und los! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn.

»Edda, was machst du denn da?«

Mama löst sich aus meinem Griff.

Ich will sie nicht beunruhigen, deshalb beantworte ich ihre Frage nicht.

»Warst du denn mit der Vorführung auch zufrieden?«, fragt sie und legt die Hände in den Schoß. »Beim letzten Mal warst du doch hinterher so traurig.«

»Nein«, sage ich, »diesmal ist es wirklich gut geworden.«

MAMA: Wie heißt es denn noch mal?

ICH: Gespräche mit dem großen Wasser.

MAMA: Mhm! Und worum geht’s?

ICH: Es geht um einen Seeräuber, der immer Angst hat, Helge. Ein richtiger Schwächling ist das. Helge möchte eigentlich Dichter sein, aber stattdessen muss er mit den Wikingern zur See fahren und ständig morden. Die meiste Zeit versteckt er sich in seiner Kajüte. Er ist sehr sensibel. Dort verwandelt er sich dann in sein Wunsch-Ich, einen französischen Literaten namens Philippe Langlois. Weil natürlich niemand an Bord wissen darf, dass Helge so eine gespaltene Persönlichkeit hat, passt sein bester Freund Grimur auf ihn auf. Grimur ist ein richtiger Held, so einer wie Magic. Leider kriegen die anderen Wikinger es dann aber doch raus, und die Situation eskaliert. Helge steht, verfolgt von den blitzenden Äxten seiner Mannschaft, an Deck, schizophren wie eh und je, da beginnen plötzlich die Wellen zu ihm zu sprechen, und er springt über Bord.

»Am Ende müssen alle sterben«, sagt Mama, und während mir der Satz eine Gänsehaut beschert, donnert Hans’ Lachen roh durch den Raum. Es verwandelt Mamas Küche augenblicklich in eine Schiffsküche; Mama und ich, zwei erschöpfte Matrosinnen, suchen Zerstreuung bei diesem Urvieh von Schiffskoch, das unsere abgründigen Gedanken als fabelhafte Witze auffasst und lacht und lacht.

ICH: Aber er stirbt ja gar nicht.

MAMA: Und das hast du dir alles ausgedacht?

ICH nicke.

»Schreib doch lieber mal wieder was Richtiges«, sagt Mama. »Ein Stück über deinen Vater zum Beispiel.« So schlecht kann es um Oskar also nicht stehen. »Er hat Glück gehabt. Das Pferd ist auf ihn draufgefallen und er hatte natürlich keinen Helm auf.«

»Seit wann kann man denn Benni überhaupt wieder reiten?«

Mama wirft mir einen vielsagenden Blick zu, einen Blick, der sagt, dass man Benni eben nicht mehr reiten könne, dass unser guter Vater aber den Glauben an eine Wunderheilung hüte und dass er somit selbst an dem Unglück schuld sei.

»Ich hoffe, der Sturz ist ihm eine Lehre.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust.

»Kann er laufen?«

»Laufen kann er, das ja, nur mit dem Atmen geht es nicht so gut.« Mama schaut zum Fenster, der Anflug von Groll ist aus ihren Zügen gewischt. »Und Schmerzen hat er auch«, sagt sie, schaut erst zu Hans und dann zu mir, und in dem Moment, in dem sie die Mundwinkel zu einem Lächeln anhebt, verschließt sich etwas in ihrem Blick.

Vor dem Küchenfenster hupt es. Skadi steht in ihrem grünen Schrottopel in der Einfahrt. Aus dem Wageninnern tönt gedämpft ihr Lachen. Sie winkt auf eine alberne Weise, die nur ich verstehe, und ich lecke auf eine alberne Weise, die nur Skadi versteht, großflächig über die Fensterscheibe.

»Du bist unmöglich«, sagt Mama und wischt die Spucke weg. Füchschens Krallen klacken aufgeregt auf dem Laminat. Sie wirft ihren Hintern so heftig von links nach rechts, dass es sie fast von den Beinen holt. Skadi, meine Skadi!, bedeutet mir ihr Schwanzwedeln. Füchschens Mundwinkel heben sich, ein Lächeln. Und auch ich bin froh, so froh, dass es mich schüttelt, ich brauche mehrere Anläufe, um in meine Schuhe zu finden, vergesse, sie zu verschnüren, ich suche in meinen Hosentaschen nach ein paar Kröten, da drückt Mama mir schon einen 10-Euro-Schein in die Hand. »Danke!« Ich gebe Hans einen Kuss: »In zwei, drei Stunden bin ich wieder da.« Sein Mund schmeckt nach Fitzebohnen, und obwohl es mich seit Wochen an seinen Lippen festhält, kann ich es jetzt kaum erwarten, mich wieder loszureißen, ich stoße mir den Kopf am Einbauschrank. Ich stolpere über meine Schnürsenkel, kann mich aber nicht dazu durchringen, sie zuzubinden, keine Zeit, keine Zeit, ich muss raus, ich muss jetzt so schnell es geht zu Skadi. Im Weggehen höre ich, wie Mama sagt: »Das Kind ist immer so ruhelos.«

Die Tür fällt ein bisschen lauter hinter mir ins Schloss, als ich das geplant hatte. Eilig laufe ich davon.

Meine Schwester ist von skandinavischer Schönheit: starke Knochen, eine ruhende, gleichwohl athletische Gestalt, die eisblonden Haare fallen ihr schnurgerade ins Gesicht, die Wangen glühen rot wie hingeschminkt. Ihr Lachen ist schief, die Zähne gerade. Und wenn sie so wie heute ein schmuckloses T-Shirt trägt, halten viele sie guten Gewissens für einen auffallend attraktiven jungen Mann.

Bis vor einigen Jahren hat man uns noch für Zwillinge gehalten, obwohl ich ein Krauskopf bin, obwohl meine Haut viel dunkler ist als Skadis, meine Knochen schmaler, obwohl ich diese Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen habe, Platz genug für ein Streichholz. Weder Skadi noch ich haben uns in den letzten Jahren äußerlich verändert, höchstens meine Zahnlücke ist ein bisschen breiter geworden, und doch waren meine Freunde in Leipzig ganz verblüfft, als ich ihnen Skadi als meine Schwester vorstellte: »Keine Ähnlichkeit, nein, überhaupt nicht.«

Sowohl Skadi als auch ich fassten das als schlechtes Zeichen auf. Unser Bündnis ist uns heilig.

Skadi zündet mir im Fahren eine Zigarette an.

Ich beuge mich so weit zu ihr rüber, dass meine Nasenspitze ihren Hals berührt. Sie duftet süß und schwer, und wie immer löst ihr Geruch eine heftige Sehnsucht in mir aus. Wenn ich Skadi rieche, türmen sich die köstlichsten Wellen vor mir auf und ich will nichts, als mit ihr tauchen gehen. Beide lieben wir das Wasser. Wo wir es glitzern sehen, da wollen wir hinein, da wachsen uns Schwimmhäute. Führt es uns ans Meer, dann stürzen wir uns in die Wellen und tauchen und tauchen, bis die Augen salzblind sind.

»Genug! Das kitzelt!«

Und obwohl ich meinen Kopf am liebsten die ganze Fahrt auf Skadis Schulter ablegen würde, wo es so glücklich riecht und so traurig wie nirgendwo sonst, lehne ich mich auf dem Beifahrersitz zurück und rauche meine Zigarette.

Im Radio spielen sie Snoop Dog. Zwei Takte, mehr braucht es nicht, schon benehmen meine Schwester und ich uns wie langarmige magere Rapper, die in großen Sweatshirts, schwer mit Gold behangen, einen sauberen Strich Schnauzer auf ihrer Oberlippe balancieren: I’m a gangsta, but y’all knew that; die mageren Rapper zucken ständig mit den Achseln, sie wackeln dauernd mit dem Kopf.

Wir rollen auf den Bahnübergang zu, ein rotes Licht blinkt uns entgegen, die Schranken senken sich.

»Ist mit Mama alles in Ordnung?«

»Ja«, sagt Skadi. »Wieso?«

»Ihr Puls ist so niedrig.«

»Quatsch!«

Skadis Stimme klingt bei allem, was sie sagt, sonor und sicher. Ihre Worte sind Gewissheiten. Wahrscheinlich war es tatsächlich nur ein gewöhnliches Mittagstief, das Mamas Puls so runtergefahren hat, oder einfach das Essen.

Während der Zug auf sich warten lässt, nähern sich leise Hufschläge, werden lauter, lauter, habhafter und brechen ab. Ich schaue aus dem Fenster, die Fensterscheibe ist ganz nach unten gekurbelt – und ein Hirsch gähnt mir entgegen. Wölfi hat mit seiner Postkutsche neben uns gehalten. Seine vier Zughirsche räkeln sich im engen Gespann. Sie sehen alle sehr gepflegt aus. Ihre Geweihe glänzen im Mittagslicht, als hätte man sie eben erst poliert, und auch das Fell weist keinerlei Gebrauchsspuren oder Lücken auf, es schmiegt sich sommerlich dünn über die feine Muskulatur der Tiere. Wölfi schnalzt, sodass die Hirsche ein Stück vorwärtsgehen und der Kutschbock auf die Höhe meines Fensters rollt.

WÖLFI beugt sich vom Kutschbock zu uns herab.

SKADI: Hej, Wölfi! Deine Hirsche sehen super aus!

WÖLFI: Ja, sind gute Tiere.

ICH: Hallo, Wölfi! Sind die denn nicht schon steinalt?

WÖLFI nickt stolz: Im November werden sie 27.

ICH: Wow! Und lassen die sich noch immer nicht streicheln?

WÖLFI lacht: Das hast du dir gemerkt, ne? Nein, das mögen sie gar nicht. Wie geht’s euren Eltern?

SKADI: Gut.

ICH: Na ja, wir sind grad auf dem Weg ins Krankenhaus. Oskar ist vom Pferd gefallen.

WÖLFI: Was? Ist es schlimm?

SKADI: Nein, gar nicht. Der wird schon wieder.

WÖLFI: Na, ein Glück! Und Emma?

SKADI: Der geht’s auch gut.

WÖLFI: Ach, es ist doch wirklich eine glückliche Zeit, seufzt, das merkt man auch an den Briefen, seufzt, so viele Liebesbriefe wie im Moment habe ich noch nie ausgetragen.

ICH: Aber woher weißt du denn, dass es Liebesbriefe sind?

WÖLFI: Ach, das ist leicht. Das kann man riechen. Gute Nachrichten riechen gut, schlechte Nachrichten stinken.

Der Zug fährt vorbei. Es ist zu laut, um zu sprechen. ALLE warten.

ICH: Hast du denn auch was für uns? Sollen wir was mitnehmen?

WÖLFI kramt in der großen Ledertasche, die neben ihm auf dem Kutschbock steht.

WÖLFI: Ja, da war was. Wühlt. Ein Brief für eure Mutter. Wühlt. Ah, da ist er ja!

WÖLFI reicht MIR den Brief.

WÖLFI: Grüßt mal zu Hause, euren Onkel auch. War lange nicht mehr zu Besuch.

ICH: Ja, mach’s gut, Wölfi.

SKADI startet den Motor, die Hirsche gähnen und laufen los.

Der Brief riecht holzig, nach Papier. Es ist ein luftgepolsterter Umschlag, Größe: A5. Absender: ein gewisser Dr. Fenris.

Sein Name wie auch die Anschrift meiner Mutter sind in eckigen Großbuchstaben per Hand auf den Umschlag geschrieben.

Durch die Luftpolsterblasen ertaste ich eine kleine Schachtel.

»Wer ist denn das? Dr. Fenris? Hat Mama den schon mal erwähnt?«, frage ich bemüht beiläufig.

»Nein!«, sagt Skadi, nimmt mir den Umschlag aus der Hand und wirft ihn auf den Rücksitz.

»Jetzt fahren wir erst mal zu Oskar«, sagt sie. »Ich war auch noch nicht da. Wir hatten mit dem Haus so viel zu tun.« Sie macht eine Pause, stellt den Rückspiegel so ein, dass er mir ihre Augenpartie zeigt.

»Wir haben jetzt fünf Aquarien.«

»Wirklich? Und Fische?«

»Korallenfische!«

»Lüg nicht!«

Skadi nickt und schnippt ihre Zigarette aus dem Fenster. »Es stimmt!« Die Narben auf ihrem linken Unterarm sind mittlerweile hell und glänzend in die gebräunte Haut hinabgesackt; es sind so viele, dass ihr eng gewebtes Muster beinahe die gesamte Fläche bedeckt. Ich kann keine frischen Schnitte erkennen.

»Ich bin gespannt, wen du da mitgebracht hast. Dass du Mama gleich mit ihm allein lässt ...«, sagt sie.

»Tolle Idee, oder?«

»Ganz toll!« Skadi lacht.

Die warme Luft wühlt ihren blonden Bubikopf auf, und an der Art und Weise, wie sie sich die Haare aus dem Gesicht streicht, hat sich in den letzten 20 Jahren nichts geändert. Sie macht das nicht mit einzelnen Fingern, sie macht das mit der ganzen Hand.

Aufrecht wie an eine Wand gelehnt, sitzt Oskar in seinem Bett. Die Lesebrille droht von seiner Nasenspitze abzustürzen, derart beflissen fixiert er die GEO in seinem Schoß. Er studiert einen Artikel über das Zwergplumplori, eine faszinierende Unterart der Feuchtnasenaffen, wie er uns sofort erklärt.

Wir sitzen auf der Bettkante, Skadi links, ich rechts von Oskar, und müssen uns zurücknehmen mit Witzen, denn Lachen ist verboten, jede Erschütterung löst eine Schmerzexplosion in seinem Körper aus, die ihm den Brustkorb sprengen möchte. Vier Rippen sind durch, und da kann man nichts machen, sie müssen selbst wieder zueinanderfinden, da kann man nicht gipsen, nicht klammern, nichts zurechtrücken, nur still sitzen und warten, bis man wieder zusammenwächst. Still sitzen, das sei das Wichtigste im Augenblick, erklärt uns Oskar, denn solange die Rippen derart spitz entzweit im Leib herumgeistern, besteht die Gefahr, ein Organ aufzupiksen, und »das wäre dann nicht so optimal«. Ach, Oskar! Davon einmal abgesehen, ist unser Vater ganz, und trotz der Schmerzen verhält er sich wie immer jovial und witzig. Es gefällt ihm sichtlich, seine Töchter zur Seite zu haben, die sich um ihn sorgen. Was er nicht weiß: Sie sorgen sich weniger um seinen Körper als um seinen Geist.

Skadi gießt ihm ein Glas Rotbäckchensaft ein. So gehört sich das. Wer im Krankenhaus liegt, dem bringt man Rotbäckchensaft, dabei macht es keinen Unterschied, ob er sich das Leben nehmen wollte, ob er Krebs hat oder ein paar gebrochene Rippen.

»Wie ist es denn passiert?«, frage ich, und auf diese Frage hat Oskar gewartet.

»Es fing damit an, dass Lothar in sie reingegangen ist«, beginnt er seine Geschichte.

»Wer ist denn Lothar?«

»Ein ehemaliger Arbeitskollege aus dem Lampenstudio, so ein Langer, den habt ihr bestimmt mal gesehen.«

»Was meinst du denn damit: in sie reingegangen?«

»Lothar ist Heiler. Wenn der einem die Hände auflegt, da spürt man so einen richtigen Abdruck hinterher. Ist wirklich irre. Er geht in einen rein, löst die Blockaden und dann pumpt er Energie nach. Das hat er bei mir damals auch gemacht. Bei Benni hat er über’s Telefon Kontakt aufgenommen, also über mich. Und er wusste sofort, auf welchem Fuß sie lahmt.«

Skadi kratzt sich am Kopf.

Im Grunde ist Benni ihr Pferd. Skadi hatte das rote Quarter Horse als Fohlen gekauft und selbst eingeritten. Den Namen Benni erhielt es in Gedenken an ihren Sandkastenfreund Benni, der just dem Sandkasten entwachsen, mit seinen Eltern nach Dänemark gezogen war. Genau genommen ist Benni eine Stute.

Die Symbiose zwischen Skadi und Benni bereitete vor allem Mama große Sorgen. Ritten die zwei in den ersten Jahren noch erfolgreich Westernturniere, wurde Skadi später augenblicklich krank, wenn Benni nicht richtig fraß oder wenn ihr eine Traurigkeit anzumerken war. »Sie liebt das Tier zu sehr«, sagte Mama. Als Skadi von einem Tag auf den anderen ihre Tür hinter sich schloss, sie sich in düsteres Schweigen zurückzog und selbst mir nicht mehr anvertraute, was sie plötzlich so bedrückte, fing Benni an zu lahmen.

Unglücklicher hätte die Situation nicht sein können, denn da Bennis Krankheit sich verschlimmerte, sank Skadi in ein dunkles Tal, und weil sie keine Augen mehr hatte für das, was sie umgab, konnte Benni keinen Schritt mehr gehen. Skadi plünderte ihr Sparkonto, um das Pferd zu heilen, fuhr in eine Spezialklinik, importierte Kräutermischungen aus China, sogar einen Hypnotiseur schleppte sie an, aber Benni konnte sich trotzdem kaum auf den Beinen halten, und alle Experten, die Skadi zurate zog, zuckten mit den Schultern.

Und als es an der Zeit war, als die Leute im Dorf zu reden begannen: »Das Tier quält sich doch nur«, sollte ich es Skadi erklären. Wir schälten Kartoffeln, Mama war kurz in den Keller gegangen, ich sagte: »Sie wird nicht wieder gesund, Skadi!« Da nahm meine Schwester das Messer, ging in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich zu.

Weder Mama noch Oskar noch ich konnten etwas tun. Wenn sie sich nicht einschloss, zog sie mit fragwürdigen Freunden los und tauchte erst am nächsten Morgen schwer betrunken wieder auf. Über Benni sprach niemand mehr ein Wort. Erst als sie Leif kennenlernte, drehte sich etwas. Skadi zog sich enge Jeans an, kochte ihm Zucchini-Tomaten-Gratin, die beiden machten lange Spaziergänge, und nach und nach, Tag um Tag, wich die Leere aus ihrem Blick. Wie dankbar war ich, meine Schwester zurückzubekommen, ihre Schockstarre kippte um in eine gewichtige Ruhe. Ich fragte sie nicht danach, was ihr so zugesetzt hatte, viel zu groß war die Angst, sie würde wieder einbrechen. Aber nichts, Skadi ruhte, und wir Schwestern hatten Zeit, wieder zusammenzuwachsen. Auf Benni hatte all das keinen Einfluss, Benni war so mager, dass sie beinahe verschwand, ihr Fell stumpf wie trockene Erde, sie stand nur noch auf drei Beinen, das angewinkelte vierte Bein zitterte in der Luft. Der Entschluss, sie einzuschläfern, war bald gefasst.

Mama atmete erleichtert auf. Sie sah die Dämonen davonziehen, doch da schaltete sich Oskar ein: »Ich kaufe sie dir ab! Ich will mich um sie kümmern!« Und weil es sein eigentlicher Lebenstraum gewesen war, nicht Möbelverkäufer, sondern Bauer zu werden, weil er jeden Tag nach der Arbeit, egal, wie spät es wurde, noch in den Stall gefahren war, ließ sich schwer etwas gegen sein Angebot anführen.