Blonder Engel - Marion Kummerow - E-Book
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Marion Kummerow

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Beschreibung

Von der Autorin der “Liebe und Widerstand im Zweiten Weltkrieg“-Trilogie kommt nun das herzzerreißende erste Buch in der Reihe „Kriegsjahre einer Familie“^/b> Blonder Engel ist die bittersüße Liebesgeschichte zwischen einer Deutschen und einem britischen Piloten. Eine Geschichte über Mut und Gewissen, Liebe und Überleben im Dritten Reich In Berlin, 1943, ist Mitgefühl ein Verbrechen. Die frischverheiratete Ursula Hermann ist eine einfache Frau, die sich nichts weiter wünscht, als dass der Krieg zu Ende geht und ihr Ehemann heil von der Ostfront nach Hause kommt. Aber manche Dinge sollen nicht sein. Die Obrigkeit hat bestimmt, dass Ursulas Kriegsbeitrag darin bestehen soll, Wärterin in einem Gefängnis für politische Gegner der Nazis zu werden. Eines Tages passiert das Undenkbare: Ein zum Tode verurteilter Gefangener, der Royal Air Force Pilot Tom Westlake, flüchtet und Ursula schaut weg. Falls dieser Akt des Mitgefühls entdeckt wird, ist ihr eigenes Leben keinen Pfifferling mehr wert. Als der verletzte Mann sie um Hilfe bitte, ist dies ihre Chance ihn auszuliefern und sich selbst zu retten. In einer Welt, wo Recht zu Unrecht geworden und Falsches plötzlich richtig ist, muss sie eine Entscheidung treffen: Führer und Vaterland gehorchen, oder ihrem Gewissen folgen. Inspiriert von wahren historischen Begebenheiten, ist Blonder Engel die unvergessliche Geschichte einer jungen Frau, die sich zwischen Moral und Gehorsam entscheiden muss.

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BLONDER ENGEL

KRIEGSJAHRE EINER FAMILIE

MARION KUMMEROW

Übersetzt vonSILVIA HILDEBRANDT

Blonder Engel — Kriegsjahre einer Familie, Band 1

ISBNPrintausgabe978-3-948865-04-7

© 2019Marion Kummerow

Herstellung und Verlag:

Marion Kummerow

Weißtannenweg 7

80939 München

Übersetzung: Silvia Hildebrandt

Titelbildgestaltung: http://www.StunningBookCovers.com

Frau: Private Lizenz

Hintergrund: Depolsitphotos

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch darf – auch auszugsweise – nicht ohne schriftliche Zustimmung der Autorin kopiert werden.

Dieses Buch basiert auf einer wahren Geschichte, historische Persönlichkeiten und Vorfälle wurden sorgfältig recherchiert und wiedergegeben. Die Haupt- und Nebenpersonen wurden fiktionalisiert.

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KAPITEL1

Berlin, Januar 1943

Ursula blickte mit feuchten Augen auf den Stahlhelm neben sich. Eine Träne rollte ihre Wange herunter, als sie den Standesbeamten fragen hörte: „Nehmen Sie, Ursula Klausen,Andreas Hermann zu Ihrem rechtmäßig angetrauten Ehemann?“

„Ja“, antwortete sie, bemüht, ihre Stimme ruhig und fest klingen zu lassen. Sie strich eine imaginäre Strähne ihres schulterlangen, blonden Haars hinters Ohr, streckte ihre Hand aus und ließ ihre Fingerkuppen über das harte und kalte Metall des Stahlhelms gleiten.

Sie würde keine Antwort erhalten. Der Helm war stumm und ihr Verlobter weit weg an der Ostfront, außerstande, Heimaturlaub für seine eigene Hochzeit zu bekommen. Unendlich traurig stellte sie sich ihren geliebten Andreas vor, wie er in diesem Moment neben einem weißen Schleier saß, anstatt hier, neben seiner Braut. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wenn zwei verliebte Menschen heirateten, sollten sie dies auch gemeinsam tun.

Der Standesbeamte fuhr mit den Formalitäten fort und las die Einverständniserklärung des Bräutigams vor, bevor er die beiden Trauzeugen bat, die Heiratsurkunde zu unterzeichnen.

Ursula steckte den goldenen Ehering an ihren Ringfinger und flüchtete sich in Tagträume.Dies sollte der glücklichste Tag ihres Lebens werden, aber der Krieg, der Andreas von ihrer Seite gerissen und in den Schützengraben geschickt hatte, hatte alles ruiniert. Und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich unentwegt um ihren Verlobten zu sorgen.

Seufzend ließ sie ihren Blick über die fünf anwesenden Gäste schweifen, die sich in dem kargen Raum im dritten Stock des Standesamts versammelt hatten. Ihre zukünftige Schwiegermutter, eine ältere Base und ihre Mutter, würdevoll wie eine Nonne. Ihre Schwestern Anna und Lotte, die beide ein aufgesetztes Lächeln zur Schau trugen. Das Lächeln verschwand in dem Moment, als sieUrsulas Blick bemerkten. Dann sahen sie beide gleichzeitig weg.

Schlagartig kochte die Wut in ihr hoch. Es war ja nicht so, dass sie den Glauben an den Führer oder an den Krieg verloren hatte. Ganz im Gegenteil: Der Führer hatte der deutschen Bevölkerung versichert, dass die Niederlage bei Stalingrad nur ein vorläufiger Rückschlag war, und Ursula glaubte ihm. Mehr noch, sie klammerte sich mit jeder Faser ihres Seins an seine Worte. Als ob der Glaube an Hitlers AussagenAndreas' sichere Rückkehr garantierte. Seine Rückkehr zu ihr, seiner Ehefrau.

Aber gleichzeitig krochen Zweifel in ihr Herz. Der Krieg hatte ihr die Männer genommen. Ihr Vater, ein Mann in den Vierzigern – dessen weißblonde Haarfarbe und elektrisierende blaue Augen sie geerbt hatte – war nicht hier, um sie zum Altar zu führen oder mit seinen kratzigen Lippen über ihre Wange zu streichen. Für Ursula war er immer ein Fels in der Brandung und ihr Beschützer gewesen. Es zerriss ihr das Herz, zu wissen, dass er da draußen in den Schneestürmen des harten sowjetischen Winters kämpfte, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Richard.

Richard war kaum mehr als ein Junge von sechzehn Jahren gewesen, als die Nazis ihn und seine Freunde aus der Schule geholtund in den Krieg geschickt hatten. Schuljungen, die nicht auf die Härte und die Grausamkeiten an der Front vorbereitet gewesen waren.

Sehnsucht ergriff Ursula, als sie sich an den Tag vor Richards Abreise erinnerte: Die Uniform hatte seine schlaksige Statur noch dünner aussehen lassen und das blonde Haar war zerzaust, als er den Helm aufgesetzt und mit einem schiefen Grinsen versucht hatte, seine Mutter zu beruhigen.

Mutter hatte ihre Sorgen und Ängste nicht ausgesprochen und auf ihrem Gesicht hatte derselbe ernste Ausdruck gelegen, den sie auch heute trug. Trotzdem hatte Ursula deutlich die Verzweiflung ihrer Mutter darüber gespürt, dass sie ihr Kind in den Krieg schicken musste.

„… ich erkläre Sie hiermit zu Frau Ursula Hermann.“ Die Stimme des Beamten riss sie zurück in die Gegenwart. Sie stand auf und nahm die Glückwünsche der wenigen Gäste entgegen.

Mutter umarmte sie für einen kurzen Moment und hielt sie dann auf Armeslänge von sich. „Du siehst reizend aus, mein Liebling.“

„Danke, Mutter. Anna und Lotte waren eine große Hilfe.“ Ursula winkte ihren Schwestern zu. Die ein Jahr jüngere Anna hatte Ursulas blonde Locken hochgesteckt und ihr einen leuchtend roten Lippenstift verpasst. Die Farbebetonte ihre Lippen zu zwei perfekten Bögen und kontrastierte wunderbar mit ihren leuchtend blauen Augen.

Sowohl Anna als auch Lotte hatten ihre Kleiderkartenzusammengelegt, damit Ursula ein neues Kleid und eine Handtasche für ihren großen Tag hatte kaufen können. Sie sah hinunter zu ihrem wadenlangen, dunkelblauen Rock aus schwerer Wolle und dem taillierten Jäckchen in derselben Farbe. Die einzige Reverenz an diesen besonderen Anlass war ein weißer Spitzenschal, der um ihre Schultern drapiert war.Ihre Mutter hatte sie mit dieser wertvollen Aufmerksamkeit überrascht, die sie aus einem alten Vorhang genäht hatte.

Ursula war immer stolz auf ihre Wespentaille und ihre weiblichen Hüften gewesen, aber als sie ihre Hände über den Rock gleiten ließ, spürte sie darunter nichts als Knochen. Obwohl die Regierung genügend Rationen verteilte, um jeden einigermaßen satt zu bekommen, erlaubten diese gewiss nicht, dass man Fett ansetzte.

„Alles Gute“, beglückwünschte ihre Schwiegermutter sie mit einem formellen Handschlag. Die Frau war in dieser besonderen Situation verständlicherweise um Worte verlegen. Ihr Sohn konnte bei seiner eigenen Trauung nicht anwesend sein. Genauso wenig wie ihr Ehemann, der als vermisst gemeldet war.

Die ältere Base tupfte mit einem makellos weißen Taschentuch über ihre Augen und wandte sich schnell ab. Auf diese Art und Weise zu heiraten, brachte die brutale Realität des Krieges zutage, wo doch normalerweise jede Frau – und jeder Mann – in Berlin ihr Bestes tat, diese Realität zu verdrängen.

Ursula seufzte. So sehr sie auch die Vision des Führers unterstützte, Deutschland wieder zu altbekannter Größe zu verhelfen, so hasste sie doch die Begleiterscheinungen, die damit einhergingen. Eine Hochzeit ohne Bräutigam zum Beispiel.

„Ich freue mich so für dich.“ Ihre jüngste Schwester warf sich in ihre Arme. Lotte war nicht wie andere Mädchen. Sie scherte sich nicht groß um ihr Aussehen und sogar noch weniger darum, ein gepflegtes und damenhaftes Verhalten zu bewahren. Auch zu dieser besonderen Gelegenheit umrahmten ungezähmte, flammend rote Locken ihr Gesicht. Gerade sechzehn geworden, benahm sie sich noch immer wie eine Sechsjährige. Ein Hitzkopf, der sich weigerte, gesellschaftliche Normen anzuerkennen, und der glaubte, ein Mädchen könne alles tun, was auch ein Junge tat.

„Danke, Lotte“, murmelte Ursula.

„Aber du siehst überhaupt nicht wie eine Braut aus“, sagte Lotte.

„Sag so etwas nicht, Lotte“, tadelte Mutter sie mit erhobener Augenbraue. „Ursula sieht bezaubernd aus. Man braucht kein weißes Kleid, um eine Braut zu sein. Was zählt, ist das Gefühl im Herzen.“

Lotte schmollte und öffnete ihren Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch wieder, als ihre Mutter die zweite Augenbraue hob. Dieser Blick konnte einen Löwen im Sprung außer Gefecht setzen.

„Los, meine Damen! Wir haben eine Stunde, um zu feiern.“ Anna hakte sich bei Ursula unter. Nur ein Jahr auseinander waren beide trotz ihrer Charakterunterschiede seit ihrer Kindheit unzertrennlich.

Die drei Schwestern gingen Arm in Arm die Stufen des Verwaltungsgebäudes hinunter, die anderen Frauen folgten einige Schritte dahinter.

Lotte erhob wieder ihre Stimme. „Warum hast du nicht gewartet, bis Andreas nach Hause kommt? Sie war furchtbar seltsam, deine Hochzeit. Jetzt bist du mit einem Stahlhelm verheiratet“, sagte sie mit einem Kichern.

Anna blickte sie böse an. „Ursula hatte ihre Gründe. Falls du es nicht gemerkt hast, es herrscht Krieg.“

„Als ob das jemand nicht bemerken könnte … Dieser dumme Krieg ist der Grund allen Übels. Das heißt, eigentlich ist unser Führer der Grund allen Übels. Ohne seine Selbstüberschätzung und seine Entschlossenheit, jedes Land um uns herum zu erobern und unschuldige Menschen zu unterdrücken, müssten wir all diese Scheiße nicht durchleben“, rief Lotte und ihre Stimme wurde mit jedem Wort schriller.

„Pst“, sagten Anna und Ursula gleichzeitig und tauschten besorgte Blicke aus.

Sekunden später ertönte die Stimme ihrer Mutter hinter ihnen. „Charlotte Alexandra Klausen, muss ich dir den Mund mit Seife auswaschen?“

Lotte wie auch ihre Schwestern wussten, dass sie in Teufels Küche kamen, wenn ihre Mutter ihren vollen Namen benutzte.

„Nein, Mutter, es tut mir leid“, erwiderte sie, aber rollte abfällig mit den Augen. Als sie das Erdgeschoss erreichten, konnte Lotte ihre Neugier nicht mehr länger zurückhalten. „Also, warum die Eile? Bist du guter Hoffnung?“

„Natürlich nicht.“ Ursula sah ihre Schwester empört an. „Und was weißt du überhaupt von diesen Dingen? Du bist viel zu jung für so was.“

„Ich weiß genug. Tante Lydia ist jedes Mal in anderen Umständen, nachdem Onkel Peter auf Heimaturlaub war“, gab Lotte mit ihrem Wissen an. Sie hatte die letzten zwei Jahre bei ihrer Tante auf dem Land gelebt und zweimal miterlebt, wie diese schwanger geworden war.

Anna unterdrückte ein Grinsen und wandte sich an ihre Mutter und die beiden anderen Frauen. „Lotte und ich haben unsere Bezugsscheine gesammelt und wir laden euch alle zu Ersatzkaffee und Kuchen ein.“

Ursula drückte Annas Arm, dankbar für die Ablenkung. So sehr sie ihre jüngste Schwester liebte, ihre ungehemmte Ausdrucksweise war, gelinde gesagt, anstrengend. Lotte posaunte stets heraus, was sie dachte, und bedachte weder die Konsequenzen noch die Gefühle anderer.

Es war ja nicht so, dass sich Ursula diese Frage nicht schon selbst mehrmals gestellt hätte. Der Grund, warum sie mit der Hochzeit so gedrängelt hatte, war, weil sie sichergehen wollte, dass keiner von ihnen starb, bevor sie verheiratet waren. Es klang morbid, aber es war die Wahrheit. In dieser furchtbaren Zeit lungerte der Tod an jeder Ecke und niemand konnte sich sicher sein, den nächsten Tag noch zu erleben. Sie wollte – nein, sie musste mit Andreas den Bund der Ehe schließen. Jetzt konnte nicht einmal der Tod ihre Liebe zerstören.

Frau Ursula Hermann.

Ihr neuer Name rief ein kleines Lächeln hervor. Zwar war Andreas nicht bei ihr, aber wenigstens sein Name war es. Er vertiefte ihre Verbindung und zeigte jedem, dass sie ihm gehörte. Sie würde eine respektable Soldatenfrau abgeben. Mit zweiundzwanzig Jahren war es sowieso höchste Zeit für sie, wenn sie nicht als alte Jungfer enden wollte. Natürlich hatte ihre Hochzeit noch einige praktische Aspekte. Es war Andreas' Vorschlag gewesen und zuerst hatte sie sich dagegengestellt. Er hatte sichergehen wollen, dass sie versorgt war, falls das Schlimmste eintreten sollte. Im Falle seines Ablebens wäre sie abgesichert und würde eine Witwenrente bekommen.

Eine Sehnsucht zerrte an ihrem Herz, als ihre Gedanken zum geheimen Grund ihrer Hochzeit wanderten. Sie wollte vorbereitet sein, wenn Andreas auf Heimaturlaub war. Mutter würde ihrer unverheirateten Tochter niemals erlauben, Zeit allein mit einem Mann zu verbringen. Aber nun konnte sie Ursulas Ehemann nicht mehr das Recht verwehren, das Bett mit seiner Frau zu teilen.

Ihre Wangen erröteten und sie hoffte, dass keiner ihre Gedanken lesen konnte. Ein Kind. Das war es, was sie wollte. Es würde ihr einen Grund geben, ihre fürchterliche Arbeitsstelle zu kündigen.

„Was möchtest du?“ Annas Stimme durchbrach ihre romantischen Träumereien.

„Ich?“ Ursula sah verwirrt auf. In Gedanken ganz woanders hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie eine Bäckerei betreten hatten und sie nun vor der Auslage stand und die süßen Delikatessen anstarrte. Verglichen mit der Zeit vor dem Krieg war es ein ärmliches Angebot, aber dennoch machte ihr Herz einen Sprung bei dem Anblick der zuckrigen Süßspeisen.

„Hmm.“ Sie sog den Duft der Gebäcke ein, ihre Augen sprangen von einem Stück zum nächsten. Andreas liebte Sahnetorte. Ursula leckte sich über ihre Lippen und erinnerte sich an die Zeit, kurz bevor er eingezogen worden war. Er hatte seine Finger in Schlagsahne eingetaucht und sie auf ihrer Nase verteilt. Dann hatte er sie wieder sauber geküsst.

Aber es gab keine Sahnetorte in der Auslage.

„Ich nehme den Pfannkuchen“, sagte sie und setzte sich an einen der Tische, während sich Anna um alles kümmerte. Einige Minuten später brachten Anna und die Bäckersfrau sechs Tassen dampfenden Ersatzkaffee und sechs Teller mit süßen Stückchen.

Ursula biss in ihr golden gebratenes Röllchen, bedeckt mit einem Hauch Puderzucker und gefüllt mit köstlicher Erdbeermarmelade.

Nach einigen Minuten sorgloser Plauderei warf Ursula einen Blick auf die Uhr an der Wand. „Es tut mir leid, aber ich muss zur Arbeit.“ Sowohl sie als auch Anna hatten für ihre Hochzeit nur einen halben Tag freibekommen.

„Ich auch. Gehen wir doch zusammen zur Elektrischen“, sagte Anna und drückte ihre Mutter, bevor sie sich von Andreas‘ Mutter und der älteren Base verabschiedete.

„Bis heute Abend, Mutter.“ Ursula lehnte sich vor und ihre Mutter presste, sehr zu ihrer Überraschung, ihre Hände fest zusammen.

„Es tut mir leid, mein Schatz. Wenn der Krieg vorbei ist, bekommst du eine richtige Hochzeit. Mit Kirche, Bräutigam, Brautkleid und allem“, sagte Mutter mit einem leichten Zittern in der Stimme. Es war einer der seltenen Momente, in denen sie Gefühle zeigte, und es erfüllte Ursulas Herz mit – ja, mit was? Trost? Verzweiflung?

„Bist du glücklich?“, fragte Anna, als sie sich bei ihr unterhakte und beide die Bäckerei auf dem Weg zur Elektrischen verließen.

„Das bin ich. In gewisser Weise. Aber wer kann wirklich glücklich sein, solange dieser Krieg wütet?“

Anna nickte und seufzte. „Alles wird besser werden. Eines Tages. Wir haben uns. Und unsere Arbeit, die uns davon abhält, zu viel nachzudenken.“

„Wenigstens magst du deine Arbeit. Aber mein menschenverachtender Posten als Gefängniswärterin? Ich wünschte, ich könnte kündigen.“

„Du kannst kündigen und die Behörden nach einer anderen Aufgabe fragen“, schlug Anna vor.

„Wenn der Führer glaubt, dass ich meinem Land mit dieser Arbeit am besten diene, wer bin ich, das anzuzweifeln?“

Anna rollte mit den Augen. Sie hatten diese Diskussion bereits unzählige Male geführt. Anna selbst hatte mit aller Macht dafür gekämpft, zur Universität gehen zu dürfen, um Humanbiologie zu studieren. Ein Wissenschaftler zu werden, das war unerhört für ein Mädchen. Unangemessen, hatte Mutter gesagt. Du wirst nie einen Ehemann finden, hatte sie hinzugefügt. Und Vater hatte genickt.

Ursula kicherte, als sie sich daran erinnerte. Schließlich hatte Anna eingelenkt und eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen. Mutter und Vater waren ob dem Sinneswandel ihrer Tochter erleichtert gewesen. Nur Ursula wusste, dass die Ausbildung zur Krankenschwester ein Teil des größeren Plans ihrer Schwester war, finanziell unabhängig zu werden und sich nach dem Krieg ohne das Einverständnis ihrer Eltern in eine Universität einschreiben zu können.

Im Gegensatz zu Anna kämpfte Ursula nie. Sie war stolz darauf, ihr Schicksal mit Würde zu akzeptieren. Sie tat, was man von ihr erwartete. Wie jede gute Tochter und Frau gehorchte sie ihren Eltern und der Regierung. Bald würde sie ihrem Ehemann gehorchen. So war das Leben eben.

Die Behörden hatten entschieden, dass ihre Rolle im Einsatz für das Vaterland die der Gefängniswärterin war. Ob sie es mochte oder nicht, war unwichtig. Man musste nun einmal Opfer für das Wohl der Volksgemeinschaft erbringen. Und so sehr ihr Magen sich jedes Mal zusammenzog, wenn sie diesen schrecklichen Ort betrat, sie würde es mit Fassung ertragen.

Bis sie guter Hoffnung war. Dann hätte sie einen triftigen Grund, um zu kündigen. Dann würde sie eine stolze und glückliche Mutter werden.

„Bis heute Abend.“ Ursula küsste ihre Schwester auf die Wange, als jede von ihnen eine Elektrische in die entgegengesetzte Richtung nahm.

Sie lehnte ihren Kopf gegen das Fenster und blickte nach draußen. Auf dem Weg zum Gefängnis fuhr sie an Geröllhaufen und Bildern der Zerstörung vorbei. Dem Schrecken des Krieges konnte man nicht entfliehen. Niemals. Nirgendwo.

Aber andererseits hatte das Nazi-Regime so viel Gutes für Deutschland und die Deutschen getan, da war der Krieg ein kleines Opfer auf dem Weg zu neuer Größe.

In ihrer Kindheit, bevor es den Führer gegeben hatte, waren die Straßen Berlins in stetes Grau getaucht gewesen, die Menschen verschwammen mit den Gebäuden. Geld wurde zu nichts weiterem als einem Gerücht und Gesichter zeugten von schrecklicher Sorge.

Die Zeit verging und der Führer erlöste Deutschland aus seiner Verzweiflung. Die Straßen erwachten zum Leben, als ob eine plötzliche Explosion aus Farben die Welt in Rosatönen bemalt hätte. Natürlich ging dieser Wohlstand nicht ohne Opfer einher. Aber in seinen Reden betonte Goebbels stets, dass dies alles nur vorübergehend war. Großes erwartete diejenigen, die würdig waren.

Ursula wollte sich als würdig erweisen.

KAPITEL2

„Ich bin wieder da!“, rief Ursula über ihre Schulter hinweg, als sie nach ihrer Schicht heimkam. Das Radio plärrte aus Mutters leerem Schlafzimmer.

„… ein englisches Bombergeschwader erreicht den deutschen Luftraum. Die prognostizierte Route führt über Gardelegen …“

Ursula seufzte, als sie die Tür hinter sich schloss und die zwei Koffer im Flur ansah. Einer enthielt Dokumente, Rationsmarken und Wechselwäsche für die drei Frauen, während der andere vollgestopft war mit Wasserflaschen und unverderblichen Lebensmitteln. Sie würden sie heute Nacht wohl wieder benutzen müssen. Wenn das Radio die Stadt Gardelegen erwähnte, waren die Bomber fast immer auf dem Weg nach Berlin.

Die Stimmen ihrer Mutter und ihrer Schwestern lenkten sie in die Küche.

„Es ist schrecklich“, hörte sie deutlich Annas leise Stimme, „und ironisch, findest du nicht auch?“

Lotte unterbrach sie ungeduldig: „Es ist nicht schrecklich, es ist dumm! Was haben sie davon? Tot ist tot, es ist nur sadistisch zu beschließen, es selbst zu tun. Ich denke …“

Ursula schwang die Küchentür auf und unterbrach das Gespräch: „Was ist passiert? Was ist schrecklich?“

Anna warf Lotte einen Blick zu, der sagte: Sei still, das ist meine Geschichte. Ursula konnte nicht anders als zu grinsen. Manche Dinge änderten sich nie. Ihre Schwestern waren beide eigensinnig und bereit, gegen alles und jeden, der nicht ihrer Meinung war, anzugehen. Sie gerieten regelmäßig aneinander und als die Älteste war es immer Ursulas Aufgabe gewesen, zwischen den beiden zu vermitteln.

Nicht einmal zwei Jahre Leben auf dem Land bei Tante Lydia, weit weg von Berlin und den Gefahren des Krieges, konnte Lottes heißblütigen Ausbrüche besänftigen.

„Wir reden über einen meiner Patienten im Gefängniskrankenhaus Moabit“, erklärte Anna. „Er wurde des Verrats angeklagt, ein Spion oder so was, und zum Tode verurteilt.“

Bei Annas Worten rann Ursula ein Schauer den Rücken herunter. Obwohl sie im Gefängnis jede Art von Kriminellen kennengelernt hatte, konnte sie es nicht ertragen, wenn man solche Leute zum Tode verurteilte. Sie waren trotz allem Menschen.

„Mein Patient hat einen Selbstmordversuch unternommen. Aber anstatt froh zu sein, dass er ihnen die grauenvolle Aufgabe erspart, brachten ihn die Wachen zu uns ins Krankenhaus. Jeder von uns tut, was er kann, um sein Leben zu retten, und entweder hat noch niemand darüber nachgedacht oder jeder ist zu verängstigt, um die Tatsache zu erwähnen, dass … nun ja, dass er sowieso sterben wird.“ Anna gab ein dumpfes Lachen von sich, eine kranke Art von Humor.

„Also, was passiert mit ihm?“, fragte Ursula. „Wird er durchkommen?“

Lotte fuhr dazwischen: „Er wird durchkommen, bis sie ihn töten. Ehrlich, was für ein lächerliches System. Unsere gesamte Regierung ist ein schlechter Witz!“

Es wurde so leise in der Küche, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Ein Blick auf das Gesicht ihrer Mutter verriet Ursula, dass es höchste Zeit für eine Intervention war.

Einen scharfen Blick auf Lotte werfend, sagte sie: „Also, erzähl uns von Tante Lydia und dem Leben auf dem Land.“ Tante Lydia war Mutters jüngste Schwester. Mit siebzehn hatte sie den Sohn eines Bauern geheiratet und war mit ihm in das gottverlassene Nest gezogen, das sogar das Wort „Dorf“ im Namen führte. Kleindorf. Mit inzwischen dreißig Jahren war sie zu einer robusten Bauersfrau geworden, die getreu dem Leitbild der guten deutschen Frau ihre langen, blonden Haare zu Schnecken über die Ohren flocht und hart arbeitete. Nebenbei hatte sie acht Kinder zur Welt gebracht, von denen fünf überlebt hatten, und ihre Antwort auf jedes Problem lautete Disziplin.

„Tante Lydia ist sehr streng“, beschwerte sich Lotte schmollend. „Sie verbietet mir alles, was Spaß macht.“

„So schlimm kann es nicht sein. Wie geht es unseren Vettern und Basen?“, fragte Anna.

„Sie sind nett. Ich mag Maria am liebsten. Sie wird nächstes Jahr eins. Und obwohl Tante Lydia noch nichts gesagt hat, kann jeder sehen, dass sie schon wieder eins im Ofen hat.“

„Charlotte Alexandra“, tadelte Mutter sie und stand auf, um Ursula eine Tasse Tee anzubieten. „Hast du Hunger? Es ist noch ein Rest Auflauf im Ofen.“

„Danke, Mutter.“ Ursula schnappte sich einen Teller und setzte sich an den Tisch, um zu essen.

„Wann reist du zurück nach Kleindorf?“, fragte Anna.

Mutters lodernde Augen machten deutlich, dass dies ein heikles Thema war.

„Gar nicht“, verkündete Lotte mit Endgültigkeit in der Stimme und stand auf.

„Lotte, wir haben das bereits besprochen. Es ist zu deiner eigenen Sicherheit. Der Führer hat jeden, der nicht für die Kriegsproduktion erforderlich ist, angewiesen, Berlin zu verlassen. Wegen dieser …“ Mutter warf einen Blick nach oben, „lästigen englischen Flieger bist du bei Tante Lydia auf dem Land besser aufgehoben.“

Bitte, Mutter. Nenne sie verdammte Kindermörder, wie es sonst jeder tut.

„Ich sagte …“ Lotte atmete tief durch, als ob sie sich beruhigen müsste, „dass ich nicht zurückgehe. Dies ist mein Zuhause. Ihr seid meine Familie. Ich hasse es, auf dem Land zu leben. Dort ist es langweilig und niemand hat auch nur ein bisschen Grips. Ich brauche richtige Gespräche mit jemand anderem als einem verrotzten Kind oder einer wiederkäuenden Kuh.“

„Nun, dann werde ich mit dir kommen. Ich habe Lydia und meine Nichten und Neffen seit Jahren nicht mehr gesehen. Anna und Ursula kommen für eine Weile alleine zurecht und ich kann mit dir richtige Gespräche führen“, sagte Mutter mit dem Anflug eines Lächelns, als sie den Ausdruck von kaum unterdrücktem Grauen auf dem Gesicht ihrer Tochter sah.

Anna sagte: „Das ist ein guter Vorschlag. Ihr beide seid dort sicherer. Und ihr könnt uns etwas von Tante Lydias köstlichem Käse und Schinken schicken.“

Lotte stapfte durch die Küche und streckte ihrer Schwester hinter Mutters Rücken die Zunge heraus. „Das ist ein schlechter Vorschlag. Und ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst. Ich bin kein Kind mehr.“

Aber diesmal ließ sich Anna nicht von Lotte provozieren. „Genau diese Einstellung meine ich. Und deine Unfähigkeit, deine Meinung für dich zu behalten. Kannst du nicht verstehen, was passiert, wenn jemand deine Sprüche, die du über die Nazis und unseren Führer klopfst, denunziert?“

„Also muss ich wohl hinnehmen, was die Nazis unserem Land antun? Unserem Volk? Deutschland ist ein Ort des Schreckens geworden. Wir sollten gegen die Nazis kämpfen, statt den Mund zu halten und klein beizugeben. Bist du es nicht satt, all diese Grausamkeiten zu sehen? Willst du nicht, dass es aufhört? Wo ist dein Gewissen?“ Lotte schrie praktisch durch die Küche und ihr Flehen wurde immer eindringlicher, während sie auf und ab stapfte.

Ursulas Magen verkrampfte sich. Sie hatte immer wieder erlebt, was mit Verbrechern geschah. Und Menschen, die die Nationalsozialisten kritisierten, betrachtete man als Verbrecher. Mutters Gesicht wurde blass vor Angst und sie drückte ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.

„Was? Habt ihr Angst, die Wahrheit zu hören?“, forderte Lotte sie mit vorgeschobener Unterlippe heraus.

„Charlotte Alexandra Klausen. Ich möchte so etwas nie wieder von dir hören. Dein unpassendes Verhalten führte dazu, dass du vor zwei Jahren aus dem Bund Deutscher Mädel ausgeschlossen wurdest, und es war nur deinem zarten Alter und dem Eingreifen deines Vaters zu verdanken, dass du vor Gott weiß was bewahrt wurdest …“ Mutters starrer Blick hätte Stahl schneiden können, als sie ihre jüngste Tochter zurechtwies. „Es tut nichts zur Sache, ob ich deiner politischen Meinung zustimme oder nicht. Was für mich zählt, ist deine Sicherheit. Du bist jetzt sechzehn und dein Vater ist nicht hier, um dich zu retten. Wenn die falsche Person hört, was du sagst, landest du im Gefängnis. Frag Ursula, wenn du mir nicht glaubst.“

„Mutter“, murmelte Ursula und wand sich auf dem Stuhl.

„Los, sag deiner Schwester, was mit denen passiert, die als politische Gegner entlarvt werden“, machte Mutter unmissverständlich klar, mit einer Stimme, die keinen Protest duldete.

„Verhaftung. Folter. Gefängnis. Möglicherweise das Todesurteil“, murmelte Ursula, während sie auf ihre gefalteten Hände starrte. Als sie es wagte, wieder in das Gesicht ihrer Schwester zu sehen, hatte sich Lottes Haltung verändert. Sie schmollte noch immer, aber ihre Schultern beugten sich nach vorne und Angst trübte ihre schönen, grünen Augen.

Mutter erhob sich und ging zu Lotte. Ursula konnte die Entschlossenheit in ihrem Gesicht sehen und fragte sich, was als nächstes passieren würde.

„Es ist beschlossen. Ich gehe mit dir aufs Land. Oder du wirst dich selbst in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Wir werden morgen abreisen.“

Spannung legte sich über die Küche wie dichter Nebel und Ursula fiel es schwer, zu atmen. Nachdem Lotte zwei Jahre lang Hunderte von Kilometern von Berlin entfernt mit Tante Lydia gelebt hatte, war sie von einem Kind zu einem Backfisch herangewachsen, einem temperamentvollen noch dazu. Aber sie würde sich nicht gegen Mutters ausdrücklichen Wunsch stellen, oder?

Aber Lotte hatte keine Gelegenheit zu antworten, denn ein ohrenbetäubendes, markerschütterndes Geräusch zerriss die Stille und Ursula brauchte einige Augenblicke, um zu verstehen, dass es nicht das Schreien ihrer Schwester, sondern der Fliegeralarm war, der seine verhasste Warnung ausstieß. Die Spannung im Raum kollabierte wie ein gespanntes Seil, als der schrille Lärm die Luft erfüllte und eine geübte Routine nach sich zog:

Ursula, Anna und Mutter sprangen auf ihre Füße und rannten zur Wohnungstür, schnappten sich die Koffer auf ihrem Weg nach draußen und ließen eine verblüffte Lotte erstarrt mitten in der Küche zurück.

„Komm schon, Lotte!“, schrie Ursula, aber ihre Schwester stand bewegungslos da, mit Augen so groß wie Untertassen. Ursula kehrte um, fasste Lottes Arm und zerrte sie aus der Wohnung und die Treppen hinunter nach draußen. Auf der Straße tummelten sich die Menschen wie ein Haufen beschleunigter Charlie Chaplins und beeilten sich, die Sicherheit des nahen Hochbunkers zu erreichen.

---ENDE DER LESEPROBE---