Blooming Hearts - Selina D. Berger - E-Book

Blooming Hearts E-Book

Selina D. Berger

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Beschreibung

Wenn ein Wunsch alles ist, was bleibt … Die Pariser Floristin Zoé sehnt sich nach einer intakten Familie.  Um ihrem Alltag zu entfliehen, hilft sie Adrien bei seinen Foto- und Videoprojekten für dessen Studium und bald entwickeln sich aus ihrer Freundschaft tiefe Gefühle.  Doch dann stellt eine überraschende Wendung in Adriens Leben ihre Beziehung auf eine harte Probe und droht alles zu zerstören, was ihnen wichtig ist.

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Copyright 2025 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Dieses Werk darf weder im Gesamten noch in Auszügen zum Training künstlicher Intelligenzen, Programmen oder Systemen genutzt werden.

Lektorat: Dunkelstern Verlag GbR

Korrektorat: Michelle Galle

Cover: Bleeding Colours Coverdesing

Satz: v Bleeding Colours Coverdesing

ISBN: 978-3-98947-096-5

Alle Rechte vorbehalten

Ungekürzte Taschenbuchausgabe

Für Mama,

weil ich schon so lange davon träume,

dir ein Buch zu widmen.

Inhalt

Playlist

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Epilog

Danksagung

Content Notes

Liebe Lesende,

diese Geschichte behandelt sensible Themen. Daher findet ihr am Ende des Buches Content Notes.

Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Selina und das Dunkelstern-Team

Playlist

Fingers Crossed - Lauren Spencer Smith

go away - Tate McRae

Ghost Town - Benson Boone

drunk text me - Lexi Jayde

Burning Home - Kylie Muse

chaotic - Tate McRae

Where‘s My Love - SYML

Dynatsy - MIIA

never have i ever - Casey Baer

Daddy‘s Eyes (Stripped Version) - Zoe Wees

Devil in Disguise - Kylie Muse

Prolog

Alles, was ich mir jemals gewünscht hatte, war eine heile Familie.

Eine Familie voller Liebe, Geborgenheit und Freude.

Ein Ort, an dem man sich fallen lassen konnte.

Doch die Realität war eine andere.

Es gab keine perfekten Familien. Diese Tatsache musste ich allerdings erst auf die harte Tour lernen.

Kapitel 1

»Soll ich noch mehr Grün in den Strauß binden?«, fragte ich die alte Dame mit den weißen Haaren und der schmalen Brille, die vor mir stand. Ich war gerade dabei, einen Blumenstrauß aus rosa Lilien, Gerbera und Schleierkraut zu binden, den sie ihrer Schwester zur Genesung schenken wollte.

»Sehr gerne.« Sie nickte mit einem Lächeln auf den Lippen, bevor sie sich leicht über den Tresen beugte und mir ganz genau dabei zusah, wie ich noch etwas Salal dazu nahm. Danach befestigte ich den Strauß mit grünem Floristenband, wickelte ihn in das rote Papier ein, das sich die Kundin ausgesucht hatte, und verzierte ihn mit ein wenig Geschenkband, dessen Enden ich mit einer Schere leicht kräuselte.

»Sie haben das ganz wundervoll gemacht«, lobte mich die Dame und strahlte übers ganze Gesicht, als ich ihr den Blumenstrauß über die Theke reichte. Ihre Zufriedenheit sorgte für ein warmes Gefühl in meiner Brust. Es machte mich immer glücklich, wenn meine Kunden den Laden mit einem Lächeln verließen.

»Es freut mich, dass er Ihnen gefällt.«

Sie legte den Strauß auf der Theke ab und kramte mit zittrigen Fingern ihren kleinen Geldbeutel aus der braunen Ledertasche, die ihr um das Handgelenk hing.

Ich kassierte und verabschiedete mich, als Lily, meine Kollegin und Freundin, aus dem hinteren Bereich des Ladens nach vorne kam. Sie hatte ihre kinnlangen, blonden Haare zu einem kurzen Zopf gebunden, der nicht viel länger war als ein Puderpinsel. Vorne hingen ihr zwei kurze Strähnen ins Gesicht.

»Zoé, meine allerliebste Arbeitskollegin!«, flötete sie mit einem breiten Grinsen, was mich sofort ahnen ließ, dass sie etwas von mir wollte. Nachdem die Tür hinter der Dame ins Schloss gefallen war, wandte ich mich an Lily.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich und zog die Augenbrauen hoch. Sie blieb neben mir stehen und stützte sich mit einem Arm auf der Glastheke ab. Sie kratzte sich am Hinterkopf und hob die Schultern. »Eventuell bräuchte ich morgen frei. Und da morgen ja eigentlich dein freier Tag ist, wollte ich fragen, ob wir vielleicht tauschen können?«

Lily und ich hatten vor knapp zwei Jahren fast gleichzeitig bei Fleurie angefangen. Ich war nach meiner Ausbildung hierher gewechselt, Lily hatte bereits ein Jahr Berufserfahrung gehabt, war zu dem Zeitpunkt aber gerade erst nach Paris gezogen. Wir hatten uns vom ersten Moment an gut verstanden. Generell liebte ich es, hier zu arbeiten. Nicht nur die Kollegen waren großartig, sondern auch der Standort und die Kundschaft. Das Fleurie lag direkt an der Seine in der Nähe des Louvres und war damit natürlich auch bei Touristen ein beliebtes Ziel. Zumal das Geschäft an sich bereits eine kleine Sehenswürdigkeit darstellte. An der Decke hingen hunderte von getrockneten Blumen. Zwischendrin waren ein paar Lampen angebracht, aber ansonsten war nicht mehr viel von der Decke zu sehen, was ein zauberhaftes Ambiente erzeugte. Der Laden an sich war nicht riesig, aber genau das sorgte dafür, dass man sich wohlfühlte, sobald man über die Türschwelle trat. Und trotz der kleinen Größe beschäftigte meine Chefin zwei Mitarbeiterinnen in Vollzeit und einen Mitarbeiter in Teilzeit.

»Ich weiß, das ist super kurzfristig, aber ich habe jemanden kennengelernt und sie hat mich gefragt, ob wir morgen Nachmittag einen Schokoladenworkshop zusammen machen wollen.« Lily kratzte sich verlegen am Hinterkopf und sofort machte sich schlechtes Gewissen in mir breit, weil ich ihre Vorfreude gleich zerstören musste.

Ich steckte die übrigen Gerbera wieder zurück in den Eimer. »Das klingt wirklich toll, aber ich kann leider meinen freien Tag nicht mit dir tauschen. Ich bin doch vor ein paar Monaten wieder bei meiner Mutter und meinem Großvater eingezogen und mittlerweile können wir ihn gar nicht mehr allein zu Hause lassen. Letztens hat er sogar den Notruf gewählt, weil er am Fernseher versehentlich den Sprachassistenten angeschaltet hat und nicht wusste, wo die Stimme herkommt.« Ich seufzte und schüttelte den Kopf. »Und ausgerechnet morgen hat meine Mutter einen Arzttermin, deswegen muss ich nachmittags zu Hause sein. Tut mir echt leid.«

Auch wenn sie es versuchte zu verstecken, sah ich, dass ihre Schultern enttäuscht nach unten sanken. »Oh, ja stimmt. Tut mir leid, ich hatte das gerade total vergessen. Das macht nichts, ich frage Nicole einfach, ob wir das ein andermal machen können.«

»Ich hoffe, dass es klappt«, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab. Es tat mir leid, dass ich so unflexibel war und es ärgerte mich. Ein Jahr lang war zwei Mal täglich eine Pflegekraft zu uns gekommen und hatte sich um Pépère gekümmert. Obwohl er von Anfang an dagegen gewesen war, hatten wir den Pflegedienst organisiert, damit ich die Möglichkeit hatte, von zu Hause auszuziehen, und auch meine Mutter entlastet wurde. Nach einiger Zeit war Pépère aber immer griesgrämiger und unerträglicher geworden und hatte der netten Pflegerin ihre Arbeit so schwer wie möglich gemacht. Irgendwann hatte sich diese bei ihrem Chef beschwert und der Vertrag wurde von Seiten des Pflegedienstes gekündigt, weswegen die einzige Lösung war, dass ich Maman wieder mit der Pflege unterstützte.

»Ich frage sie nachher gleich. Aber wie geht es bei euch zu Hause jetzt eigentlich weiter? Das kann doch auf Dauer nicht funktionieren, oder? Du musst ja auch auf deine Bedürfnisse schauen.«

»Ich weiß es nicht. Fürs Erste haben Maman und ich uns einen festen Plan gemacht, wer wann zu Hause ist, damit Pépère nicht mehr alleine sein muss. Durch ihre Nachtschichten funktioniert das eigentlich ganz gut, aber es bleibt nicht mehr sonderlich viel Freizeit.«

»Was ist mit deinen zwei freien Tagen die Woche? Wenn deine Mutter tagsüber zu Hause ist?«

»Das sind eigentlich die einzigen Tage, an denen ich mal etwas für mich machen kann. Aber mein Großvater ist der Meinung, dass ich meine gesamte freie Zeit mit ihm verbringen muss, weil er ja sonst immer alleine ist.« Ich schaffte es nicht, den bitteren Unterton in meiner Stimme zu unterdrücken. Ich liebte meinen Großvater und kümmerte mich gerne um ihn, aber seine Forderungshaltung ging mir an die Nieren.

»Das ist doch scheiße.« Lily schnaubte. »Ich würde dir gerne was abnehmen, aber ich glaube, das wird dein Großvater auch nicht wollen. Aber ich kann dir anbieten, dass du immer mit mir reden kannst, wenn du das Bedürfnis danach hast.« Sie legte mir eine Hand auf den Oberarm und sah mich eindringlich an.

»Das ist total lieb von dir. Danke.«

Sie seufzte, dann fiel ihr Blick auf die Uhr an der Wand, was sie erstarren ließ. »Mist.«

»Was denn?«

»Ich habe vergessen, die Blumenbestellung zusammenzustellen.«

Unser Fahrer holte jeden Tag um 12:00 Uhr mittags die Blumensträuße ab, die über unseren Online-Shop bestellt wurden. Diese Woche war es Lilys Aufgabe, die Bestellungen vorzubereiten.

»Na dann, hopp hopp. Du hast noch dreißig Minuten.«

Sie nickte hastig, dann eilte sie auch schon nach hinten, wahrscheinlich, um die Bestellliste aus dem Büro zu holen.

Ich griff nach meiner Wasserflasche, um einen Schluck zu trinken, als ich leise das Lied ›Fingers Crossed‹ von Lauren Spencer Smith vernahm, das ich als Handyklingelton eingestellt hatte. Da ohnehin gerade kein Kunde im Laden war, schnappte ich mir mein Smartphone aus der Tasche, die ich unter den Tresen gestopft hatte. Das Bild meiner besten Freundin Amélie leuchtete auf, die mich über Videocall anrief. Sie war gerade mit ihrem Freund Lucien auf Weltreise. Während Amélie mit ihrer Essstörung gekämpft hatte, war es bei Lucien ein Gehirntumor gewesen. Doch jetzt hatten sie glücklicherweise das Schlimmste überstanden und ihre lang ersehnte Auszeit antreten können. Seitdem hörte ich aber nicht allzu viel von ihnen, da ihre ständigen Abenteuer und die Zeitverschiebung es nicht oft zuließen.

Schnell warf ich einen Blick über meine Schulter, aber meine Chefin war wohl im Büro und der Laden war immer noch leer, also hob ich ab.

»Hey«, begrüßte ich die beiden. Amélie und Lucien lächelten in die Kamera und grüßten zurück. Sie saßen auf einer Hängematte, im Hintergrund war das Meer zu sehen. Es war türkis und so klar wie Kristall. Sanfte Wellen brachen am Strand und der Himmel war wolkenlos. Soweit ich wusste, reisten sie gerade durch Thailand.

»Wie geht’s dir?«, wollte Amélie wissen und kam näher an die Kamera.

»Alles in Ordnung. Ihr scheint aber auch nicht gerade unglücklich zu sein.«

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Wir waren heute schnorcheln! Es ist so schön hier, Zoé. Ich wünschte, das könntest du auch sehen.«

»Dreh doch die Kamera, dann sehe ich es wenigstens durch den Bildschirm.«

Amélie tat wie geheißen und drehte die Kamera so, dass ich einen besseren Blick auf die Bucht, in der sie sich befanden, und die kleine Strandbar in der Nähe hatte. Beinahe alle Stühle waren besetzt und im Hintergrund war leise Musik zu hören.

»Bei den Temperaturen werde ich schon etwas neidisch. Hier in Paris wird’s langsam frostig. Heute haben wir nur noch fünf Grad.«

»Sei froh, dass es noch nicht schneit. Mitte November ist das gar nicht so unwahrscheinlich, wenn ich so an die letzten Jahre denke.«

»Auch wieder wahr.«

»Hör mal, Zoé, ich weiß, du bist bei der Arbeit, deswegen komme ich einfach gleich zum Punkt. Lucien möchte dich um etwas bitten.« Sie drehte sich zu ihrem Freund und reichte das Handy weiter.

»Es geht um Adrien«, begann er direkt. Eine tiefe Furche bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Adrien war Luciens bester Freund und Mitbewohner. Im vergangenen Jahr waren die beiden für ein Projekt von Adrien gemeinsam um die Welt gereist, und während Luciens Chemotherapie hatte sich Adrien die gesamte Zeit um ihn gekümmert und ihm beigestanden. Da Amélie die letzten Monate vor der Weltreise bei Lucien gewohnt hatte, hatten Adrien und ich uns auch des Öfteren gesehen. Wir verstanden uns total gut, aber seit der Abreise unserer Freunde hatte ich ihn nicht mehr gesehen.

»Was ist denn mit ihm?«

»Das weiß ich eben nicht. Er reagiert nicht mehr auf meine Anrufe oder Nachrichten. Ich weiß, dass er an irgendeinem wichtigen Uniprojekt arbeitet und befürchte, dass er sich mal wieder vollkommen in seiner Arbeit verrennt.« Er zog die Nase kraus. »Du kennst ihn inzwischen ja auch ein bisschen.«

Tatsächlich hatte ich schon ein paar Mal mitbekommen, dass Adrien sehr ehrgeizig war, was sein Studium anging. Normalerweise war Lucien derjenige, der ihn zu einer einigermaßen gesunden Work-Life-Balance zwang, was aber nicht so gut zu klappen schien, seitdem er nicht mehr im Land war.

»Ja, aber ich hatte seit eurer Abreise ehrlich gesagt fast keinen Kontakt mehr zu Adrien«, gab ich zu und zupfte nebenbei ein paar verwelkte Blüten von den Schnittblumen. »Manchmal sehe ich ihn in meiner Mittagspause im La Petite, weil er da ab und zu für die Uni lernt, aber in letzter Zeit war er nicht da.«

»Das habe ich mir gedacht. Ich wollte trotzdem mal fragen, ob du vielleicht nach der Arbeit kurz bei ihm vorbeischauen könntest? Einfach nur, um sicherzugehen, dass er noch lebt?«

Ich ging gedanklich meinen Zeitplan durch. Abends war es immer ziemlich stressig. Der Laden hatte bis 19:00 Uhr geöffnet, somit war ich erst um halb acht zu Hause. Dann aßen wir gemeinsam zu Abend und kurz darauf machte sich Maman auf den Weg zu ihrer Nachtschicht im Krankenhaus.

»Heute wird es knapp, reicht es auch morgen Vormittag? Morgen habe ich frei, da kann ich mittags kurz vorbeifahren.«

»Natürlich. Danke dir, Zoé.« Lucien wirkte erleichtert, als er das Handy an Amélie zurückgab.

»Das ist wirklich lieb von dir«, meinte auch sie, aber ich winkte ab.

Das Glöckchen über der Ladentür bimmelte, was mir verriet, dass gerade neue Kundschaft hereingekommen war.

»Ich gebe euch Bescheid, wenn ich da war, in Ordnung? Ich muss jetzt aufhören.«

»Okay, dann bis bald. Und danke.«

Ich warf meiner Freundin einen Luftkuss zu und verabschiedete mich, bevor ich mein Handy wieder in meine Tasche schob und den Mann mittleren Alters ansprach, der gerade hereingekommen war und zwischen all den Blumen etwas verloren aussah. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Der Nachmittag verging schnell. Nach dem Telefonat wurde der Laden nochmal richtig voll, sodass wir zu dritt im Verkaufsraum arbeiteten: Lily, meine Chefin Marie und ich. Wir drei verstanden uns gut, was die Arbeit deutlich angenehmer machte. Normalerweise arbeitete auch noch Cédric hier. Da er aber erst vor kurzem Vater geworden war, hatte er seine Stunden vorerst auf zwanzig pro Woche reduziert. Wir vier bildeten ein stabiles Team und bekamen nur zu den Stoßzeiten an Weihnachten, zum Valentinstag und zum Muttertag noch Aushilfen dazu, um die Masse an Kundschaft bewältigen zu können.

Nachdem die letzten Kunden den Laden verlassen hatten, kümmerte ich mich noch darum, die Schnittblumen in die Kühlung zu bringen, damit sie morgen noch genauso schön wie heute aussehen würden, während die anderen den Verkaufsraum aufräumten. Schließlich packte ich meine Sachen zusammen und verabschiedete mich gemeinsam mit Lily von Marie.

»Endlich Feierabend«, seufzte meine Freundin, als wir nach draußen traten. »Ich freue mich so, dass Nicole den Workshop umbuchen konnte.«

Ich lächelte. »Das ist wirklich toll.«

»Dann sehen wir uns … am Freitag?«

Ich nickte und umarmte meine Freundin. »Viel Spaß bei deinem Date übermorgen. Und bring mir Schokolade mit.«

Sie lachte. »Wenn etwas übrig bleibt.«

Wir verabschiedeten uns und während Lily die Treppe zur Métro hinunterlief, machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle an der nächsten Ecke.

Als ich eine knappe halbe Stunde später zu Hause ankam, war Maman gerade dabei, die Wäsche zusammenzulegen.

»Hallo, Schätzchen«, begrüßte sie mich und wandte sich wieder der Kleidung zu.

»Kann ich dir helfen?«, fragte ich und schnappte mir direkt ein Oberteil, um es zu falten.

»Das wäre super. Ich bin den ganzen Tag nur am Machen und Tun und komme nicht voran.« Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Und ich sollte auch dringend nach dem Essen im Ofen schauen.«

»Dann geh du in die Küche und ich mache das hier fertig.«

»Sicher, dass das in Ordnung ist? Du bist gerade erst von der Arbeit gekommen.«

»Natürlich ist das in Ordnung. Kein Problem«, versicherte ich ihr und lächelte bekräftigend.

Sie seufzte. »Danke dir. Irgendwie habe ich heute auch total schlecht geschlafen. Die letzte Nachtschicht war anstrengend. Es gab einen Autounfall mit mehreren Schwerverletzten, von denen es zwei nicht geschafft haben.«

Ich legte das Kleidungsstück weg und wandte mich meiner Mutter zu. Sie arbeitete schon lange als Krankenschwester in der Notaufnahme, aber manchmal nahm sie die schrecklichen Schicksale noch immer mit nach Hause. Ich konnte nichts tun oder sagen, um es leichter zu machen. Und obwohl ich sie für ihren Beruf bewunderte, war ich froh, nicht selbst darin arbeiten zu müssen. »Das tut mir leid.«

»Mir auch.« Sie schaute kurz auf den Boden, dann schien sie sich wieder zusammenzureißen. »Dann schaue ich mal nach dem Auflauf.«

Ich nickte und griff nach einer von Mamans Hosen. »Ist gut.«

Nachdem ich die restliche Wäsche gefaltet und aufgeräumt hatte, stattete ich meinen Pflanzen im Wintergarten noch einen kurzen Besuch ab, um sie zu gießen, bevor ich ebenfalls in die Küche ging, wo es bereits herrlich duftete.

»Wo bleibst du denn solange?«, murrte Pépère und nahm eine Gabel voll Kartoffelauflauf, den Maman für uns gezaubert hatte.

»Ich bin doch schon da, habe nur noch kurz meine Pflanzen gegossen«, gab ich zurück und setzte mich zu ihnen an den Esstisch. »Guten Appetit.«

»Guten Appetit«, erwiderte Maman und auch Pépère murmelte etwas, das ähnlich klang.

Wir aßen schweigend, bis mir wieder einfiel, dass ich Maman wegen morgen fragen wollte. »Ich würde morgen Vormittag kurz bei einem Freund vorbeischauen, ist das in Ordnung?«

Maman schluckte ihren Bissen runter. »Ja, natürlich. Aber du weißt, ich muss um 14:00 Uhr aus dem Haus, da musst du wieder hier sein.«

»Das ist kein Problem, das hab ich auf dem Schirm.«

»Immer bist du unterwegs«, murmelte Pépère, ohne von seinem Teller aufzusehen.

»Das stimmt doch gar nicht«, verteidigte ich mich. »Ich bin fast immer bei dir zu Hause, und ich bin auch morgen Nachmittag da.«

»Dann kannst du wenigstens auf dem Heimweg noch einkaufen gehen, ich brauche wieder meine Bonbons.«

Maman ließ ihre Gabel sinken. »Warum hast du das nicht vorher gesagt? Ich war doch heute einkaufen.«

Er hob die Schultern. »Zoé kann doch morgen kurz zum Supermarkt, wenn sie sowieso unterwegs ist.«

Ich ballte unter dem Tisch meine Hand zur Faust. Es nervte mich, wenn mein Großvater so mit uns umging. Es war ihm gleichgültig, dass Maman und ich kaum Zeit für uns hatten, Hauptsache er hatte alles, was er brauchte. Nur war ich wie immer zu harmoniebedürftig, um ihm meine Meinung zu sagen. Maman war da anders gestrickt, sie stritt sich regelmäßig mit ihrem Vater. Vielleicht ein Grund, warum ich immer versuchte, der Ruhepol zwischen ihnen zu sein.

»Kein Problem, ich hole die Bonbons morgen«, sagte ich daher schnell, da ich Maman genau ansah, dass sie genervt war. Sie presste dann immer ihre Zähne zusammen, wovon sie häufig auch Kopfschmerzen bekam.

Sie schien noch etwas erwidern zu wollen, aber ich flehte sie mit meinem Blick an, es gut sein zu lassen, was sie letztendlich auch tat.

Nachdem wir fertig gegessen hatten, verabschiedete sich Maman zur Arbeit. Ich schaltete das Radio ein und räumte die Küche auf; Pépère blieb solange immer bei mir in der Küche sitzen. Während ich den Geschirrspüler einräumte und den Herd putzte, summte ich die Melodie mit. So machte das ganze wenigstens ein bisschen mehr Spaß.

»Willst du noch eine Runde Karten spielen oder lieber gleich ins Bett?«, fragte ich meinen Großvater, als ich die Arbeitsfläche trocken wischte. Er schien einen Moment zu überlegen und griff in der Zeit nach seinem Stofftaschentuch, um sich die Nase zu putzen. Schließlich murmelte er dieselbe Antwort wie fast jeden Abend.

Ich holte seine uralten Karten, die schon völlig zerfleddert waren, aus dem Wohnzimmer und setzte mich ihm gegenüber. Meistens spielten wir Rommé, das mochte Pépère am liebsten. Früher hatte er es mit Freunden beim Stammtisch gespielt, der hatte sich aber schon vor acht Jahren aufgelöst, seitdem mussten wir herhalten.

Wir spielten eine Runde, in der ich gnadenlos geschlagen wurde. Anschließend schob ich Pépère ins Bad, wo wir unsere übliche Abendroutine hatten. Zuerst half ich ihm beim Umziehen, da ihn das zu viel Kraft kostete und auch die fehlende Beweglichkeit Schwierigkeiten mit sich brachte. Danach putzte er sich die Zähne und wusch sich mit einem feuchten Waschlappen das Gesicht. Während unserer Routine sprachen wir nicht viel. Am Ende fuhr ich den Rollstuhl direkt neben die Toilette und half Pépère dabei, sich auf die Kloschüssel zu setzen. Links und rechts davon hatten wir Armstützen angebracht, an denen er sich festhalten konnte. Ohne diese kleinen Hilfsmittelchen würde das alles nicht funktionieren.

»Ich warte draußen.« Obwohl es jedes Mal gleich ablief, sagte ich es immer dazu, damit er sich nicht unwohl fühlte. Allein würde er es nicht mehr schaffen, aufs Klo zu gehen. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, was es für ein Gefühl war, immer eingeschränkter und unselbstständiger zu werden. Daher versuchte ich, ihm so viel Sicherheit wie möglich zu geben.

Es dauerte keine zwei Minuten, dann rief mein Großvater mich herein. Natürlich musste ich ihm auch dabei helfen, sich im Intimbereich zu waschen. Was für andere vielleicht eine Überwindung wäre, war für mich Alltag. Ebenso das Anlegen einer Inkontinenzhose. Im Endeffekt war es wie eine Windel, die dafür sorgte, dass wir wenigstens nachts nicht aufstehen mussten, um Pépère aufs Klo zu helfen.

»Du musst schon mithelfen«, sagte ich, weil Pépère sich manchmal hängen ließ wie ein nasser Sack und es mir damit unmöglich machte, ihn ins Bett zu hieven. Das war der körperlich anstrengendste Part und er machte es mir an manchen Abenden noch schwerer.

»Das ist nicht so einfach«, beschwerte er sich.

Für mich auch nicht. Ich sprach den Gedanken nicht aus, sondern biss stattdessen die Zähne zusammen.

Nachdem ich ihn schließlich zugedeckt hatte, holte ich aus der Küche noch einen Becher mit Wasser, den ich auf dem Nachttisch abstellte, ehe ich das Licht ausmachte und meinem Großvater eine gute Nacht wünschte.

Ich zog die Tür hinter mir zu und atmete tief durch. Es dauerte immer eine halbe Stunde, bis Pépère im Bett lag und erst damit begann mein eigentlicher Feierabend. Es war bereits viertel nach neun und es würde nicht mehr lange dauern, bis ich so müde war, dass mir nichts anderes übrig blieb, als ins Bett zu fallen. Und diese Routine wiederholte sich von Tag zu Tag.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen kam Maman gerade von ihrer Nachtschicht nach Hause, als ich dabei war, Pépère zu waschen. Wir standen immer um sieben auf, weil mein Großvater nicht länger schlafen konnte. Ich half ihm aus dem Bett und wir durchliefen dieselbe Routine im Bad wie am Abend zuvor. Nur, dass ich ihm morgens immer beim Waschen oder Duschen half, damit er sich frisch für den Tag fühlte.

»Guten Morgen, ihr zwei. Ich mach uns schonmal Frühstück, ich will so schnell wie möglich ins Bett.«

»Anstrengende Schicht?«, fragte ich und stülpte Pépère sein T-Shirt über den Kopf.

»Frag nicht. Aktuell haben wir super viele Ausfälle im Personal. Kann sein, dass ich heute Abend doch arbeiten muss.«

»Du springst auch immer ein, Odette«, warf Pépère ein, womit er nicht Unrecht hatte. Maman war immer diejenige, die ins Krankenhaus beordert wurde, wenn es an Mitarbeitern fehlte. Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie viele freie Nächte sie bereits geopfert hatte. Ihre Überstunden mussten ins Unermessliche gehen.

»Ich weiß.« Sie seufzte und fuhr sich übers Gesicht. »Es ist immer eine Zwickmühle. Man will die Patienten eben auch nicht im Stich lassen.«

Ich konnte sie verstehen. Dennoch würde das auf Dauer nicht so weitergehen können.

»Aber lasst uns darüber jetzt nicht reden. Ich mache Frühstück. Braucht ihr noch lange?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sind in zehn Minuten fertig.«

Nachdem wir zusammen gefrühstückt hatten, legte sich Maman schlafen und ich machte mich an den Haushalt, der oft bis zu unseren freien Tagen liegen blieb. Mittwoch und Sonntag versuchte ich dann immer so viel wie möglich zu schaffen, weswegen jedoch immer wenig Zeit blieb, um an diesen Tagen mal etwas zu unternehmen.

Heute jedoch plante ich fest ein, am späten Vormittag zu Adrien zu fahren, um nach ihm zu sehen. Lucien hatte mir vorhin geschrieben, dass er noch immer nichts von ihm gehört hatte.

Nachdem ich für Pépère das Mittagessen fertig gemacht hatte, schaffte ich es um kurz nach elf dann endlich, das Haus zu verlassen, und machte mich auf den Weg zur WG von Adrien und Lucien, die nicht weit vom Fleurie entfernt lag. Ein Grund, warum auch Adrien gerne ins La Petite ging.

Eine knappe halbe Stunde später stand ich vor der Tür und klingelte. Doch noch bevor der Summer erklingen konnte, kam ein Nachbar aus dem Haus und hielt mir die Tür auf, sodass ich schnell ins Warme schlüpfen konnte. Ich lief die Treppe in den ersten Stock hinauf und klingelte dort erneut. Als nach fast einer Minute niemand öffnete, klopfte ich. War Adrien nicht zu Hause?

Ich wartete noch eine Weile und klopfte ein weiteres Mal, aber als auch dann niemand öffnete, zog ich mein Handy heraus, um Amélie eine kurze Nachricht zu schreiben, bevor ich nach Hause fahren würde. Ich tippte bereits, als die Tür doch aufging.

»Zoé?«, fragte Adrien, und seine Augen weiteten sich, als wäre er geschockt, mich zu sehen.

»Hey.« Ich schob mein Handy schnell in meine Tasche.

»Schön dich zu sehen, aber was machst du hier?« Hektisch trat er einen Schritt zur Seite. »Komm doch erstmal rein.«

Ich betrat die Wohnung, und Adrien schloss die Tür hinter mir. »Lucien hat mich gebeten, nach dir zu sehen, weil du nicht auf seine Nachrichten oder Anrufe reagierst.«

Seine Lippen formten ein ›O‹. »Mist. Ich habe mein Handy für ein paar Tage ausgeschaltet, weil ich mich auf meine Uniarbeit konzentrieren muss.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Ehrlich gesagt habe ich gar nicht daran gedacht, Lucien Bescheid zu geben, aber ich bin auch nicht davon ausgegangen, dass er sich gleich Sorgen machen würde.«

Ich wiegte den Kopf hin und her. »Also wenn ich seine Worte noch richtig im Kopf habe, hat er so etwas gesagt wie: Ich solle mal nachsehen, ob du noch lebst.«

Adrien lächelte verhalten; ich meinte in seinem Gesicht aber auch Scham zu erkennen. »Das tut mir leid. Auch, dass du deswegen jetzt extra herkommen musstest. Ich schreibe Lucien nachher gleich.«

»Da wird er sicher erleichtert sein. Aber geht’s dir gut?«

Vom Flur aus hatte man sowohl einen Blick in die gegenüber der Haustür liegende Küche, als auch in das offene, direkt angrenzende Wohnzimmer. Alles war fein säuberlich aufgeräumt. Ein Zustand, den ich nicht mal aus meinen guten Zeiten kannte. Adrien war wohl aber schon immer ordentlich gewesen, was regelmäßig zu Spannungen mit Lucien führte, wie ich von Amélie so mitbekommen hatte. Aber auch, wenn die Wohnung aussah, als hätte er den ganzen Tag geputzt, ließ mich das mulmige Gefühl nicht los, dass es ihm nicht gut ging. Die dunklen Schatten unter den Augen und die Blässe in seinem Gesicht machten mich stutzig.

Adrien seufzte. »Ich habe diese wichtige Abgabe und weiß gerade nicht, wo mir der Kopf steht. Ich mache seit Tagen nichts anderes, als auf diesem furchtbar unbequemen Schreibtischstuhl vor meinem Bildschirm zu sitzen, um ein Video zu bearbeiten, mit dem ich nicht zufrieden bin.«

Lucien hatte bereits vor der Weltreise Sorgen geäußert, dass Adrien sich in der Arbeit für sein Studium verlieren würde, sobald er weg war. Auch, wenn meine Aufgabe, nach ihm zu sehen, eigentlich hiermit erledigt war, konnte ich nicht einfach wieder gehen. Er sah nicht gut aus und irgendetwas sagte mir, dass er nicht nur vergessen hatte zu schlafen, sondern auch zu essen.

Schnell warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war viertel vor zwölf, ich hatte also noch über zwei Stunden, bis ich zu Hause sein musste.

»Was hältst du davon, wenn wir was zusammen zu Mittag essen? Dann hast du mal eine Pause vom Bildschirm, ein bisschen Ablenkung und außerdem was Leckeres im Magen«, schlug ich ihm vor.

»Das ist wirklich eine nette Idee. Aber du hast doch bestimmt Besseres zu tun. Außerdem muss ich eigentlich weitermachen.« Er deutete in Richtung seines Zimmers.

Ich lächelte ihn an. »Tatsächlich würde ich mich auch über ein bisschen Abwechslung freuen.«

Er schien noch einen Moment zu überlegen, dann aber sein Pflichtbewusstsein über Bord zu werfen. »Na gut. Vielleicht hast du recht. Eine kleine Pause schadet wohl wirklich nicht.«

»Gute Einstellung.«

Nur wenige Minuten später standen wir in seiner Küche und schnippelten Gemüse für eine schnelle Reispfanne. Dafür hatte der Vorratsschrank noch alle Zutaten hergegeben und es dauerte nicht allzu lang.

»Was ist das eigentlich für ein Video, von dem du geredet hast?«, fragte ich und gab die geschnittenen Paprika in eine kleine Schüssel.

»Ich drehe einen Werbespot für Kaffee. Das Produkt durften wir uns selbst aussuchen, und ich hatte dafür direkt ein paar Ideen. Es ist eigentlich auch schon alles gefilmt, ich muss es nur noch schneiden und bearbeiten. Das ist meine letzte Abgabe im Videografie-Teil meines Studiums, deswegen ist das Projekt umso wichtiger. Den Rest des Semesters bis zum Abschluss habe ich nur noch Fotografiemodule.«

»Was gefällt dir besser? Videografie oder Fotografie?« Ich stellte die Pfanne auf den Herd und gab ein bisschen Öl hinein.

»Fotografie«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Das ist meine absolute Leidenschaft. Ich liebe die Möglichkeit, mit einem einzigen Bild eine ganze Geschichte zu erzählen.«

Ich sah kurz zu ihm hinüber, da ich allein an der Veränderung in seiner Tonlage merkte, dass er direkt aus dem Herzen sprach, wenn es um dieses Thema ging. Und das, obwohl ich von Amélie wusste, dass er auch wahnsinnig gut filmen konnte. Sie war mit Lucien bei einer Videoausstellung von ihm gewesen, von der sie nur in den höchsten Tönen gesprochen hatte.

»Und trotzdem hängst du dich in Videografie so rein?«

Er verzog das Gesicht. »Das muss ich. Es fällt mir viel schwerer als Fotografie. Und ich brauche einfach generell einen guten Abschluss im Studium.«

»Was hast du vor, wenn du fertig bist?«, wollte ich wissen, weil ich neugierig war, auf welche Art und Weise er seiner Leidenschaft nachgehen wollte.

»Ich weiß es noch nicht genau. Am liebsten würde ich irgendetwas mit Landschaftsfotografie machen. Ich liebe es, die Natur mit meiner Kamera einzufangen. Es ist einfach was vollkommen anderes, als Städte oder gar Menschen zu fotografieren. Auch was die Arbeit angeht. Nur ich, meine Kamera und die Schönheit der Natur. Damit Geld zu verdienen, würde mir sehr gefallen.«

»Das klingt toll.« Es berührte mich, wie bei dem Thema die Leidenschaft aus ihm sprach. Man merkte, dass die Fotografie ihm alles bedeutete.

»Deswegen hänge ich mich auch so ins Studium rein. Es ist nicht einfach, sich in der Branche einen Namen zu machen.«

Adrien griff nach den Karotten und begann sie zu schälen. »Und was ist mit dir? Du arbeitest doch noch als Floristin, oder?«

»Mit Leib und Seele«, gab ich stolz grinsend zurück. Ich liebte meinen Job. Nichts auf der Welt würde ich lieber tun, als tagtäglich mit Pflanzen zu hantieren. »Mein Traum ist es, irgendwann in der Eventfloristik zu arbeiten.« Ich stellte mir vor, wie ich Hochzeiten mit Blumen schmückte. Die Ausbildung hatte ich ja schon, nur die Zeit, mich ausgiebig mit dem Thema Selbstständigkeit auseinanderzusetzen, und eine Portion Mut fehlten leider. Vor allem, wenn ich mich auf unbestimmte Zeit wieder um meinen Großvater kümmerte.

»Das klingt nach einem schönen Plan.« Er sah mich kurz an. »Hast du denn als Floristin auch Lieblingsblumen?«

»Klar habe ich Lieblingsblumen. Lisianthus.«

Adrien runzelte die Stirn. »Lisi … was?«

»Lisianthus.«

Er schien fieberhaft zu überlegen, was er darauf antworten sollte, doch ich nahm ihm die Entscheidung ab, indem ich ihm eine Hand auf den Arm legte und auflachte. »Keine Sorge, die wenigstens können etwas mit dem Namen der Blume anfangen. Man nennt sie auch Japanrose. Ich zeige sie dir bei Gelegenheit.«

»Rosen kenne ich. Was ist an einer Japanrose anders?«, wollte er wissen und wirkte ernsthaft interessiert.

»Ihre Blüte ist etwas weiter und wirkt nicht so streng wie die der herkömmlichen Rose, die man so kennt. Außerdem mag ich die Bedeutung der Blume. Lisianthus stehen unter anderem für Dankbarkeit.«

Adrien hatte aufgehört, die Karotten zu schälen, und sah mich an. Die meisten Menschen fanden es merkwürdig, wenn ich über die Bedeutung von Pflanzen sprach. Für mich waren sie jedoch nicht nur etwas Nettes zum Ansehen, sondern mein Lebenselixier.

Adrien sah mich aber mit ehrlichem Interesse an, was mich tatsächlich etwas verunsicherte, weil ich das nicht gewohnt war. Deshalb wechselte ich schnell das Thema. »Jetzt lass uns erstmal das Essen fertig machen, ich bekomme auch langsam Hunger.«

Dagegen schien Adrien keine Einwände zu haben. Wir brieten die Zwiebel an, bevor wir das restliche Gemüse, passierte Tomaten, Gemüsebrühe und letztendlich auch den Reis hinzugaben.

»Möchtest du eigentlich etwas trinken? Tut mir leid, ich bin ein furchtbarer Gastgeber.«

Ich lachte. »Schon in Ordnung. Ich hätte mich gemeldet, wenn ich kurz vorm Verdursten gewesen wäre. Aber ich nehme trotzdem gerne etwas.«

Ich bemerkte, dass sich seine Wangen leicht röteten. »Was möchtest du denn? Wasser oder … Tee? Mehr habe ich eigentlich nicht da. Ah doch, ganz viel Kaffee vom Werbespot hätte ich auch noch.«

»Zu einem Tee sage ich nicht Nein. Welchen hast du da?«

Er präsentierte mir die Teeauswahl in einer Schublade und ich entschied mich für spanische Minze. Anscheinend hatten wir dasselbe Faible für warme Getränke. So eine große Auswahl an verschiedenen Teesorten, wie sie Adrien hatte, war allerdings nicht einmal bei mir zu Hause zu finden. Das ausgefallenste, das sich in seiner Schublade befand, war Strawberry Cheesecake.

»Der schmeckt gut, wirklich«, beteuerte er und nahm sich einen Teebeutel aus der Schachtel.

»Das muss doch süß ohne Ende sein.«

Adrien grinste. »Genau deswegen.«

Ich schüttelte den Kopf über seinen Teegeschmack und reichte ihm den Beutel, den ich mir ausgesucht hatte.

Nachdem er den Wasserkocher angeschaltet hatte, unterhielten wir uns noch etwas über den Werbefilm, den er gerade bearbeitete. Er versprach mir, dass ich ihn sehen durfte, sobald er fertig war. Vorher wollte er mich allerdings keinen einzigen Blick darauf werfen lassen.

Zwanzig Minuten später luden wir uns die Teller voll.

»Das schmeckt himmlisch«, schwärmte Adrien, wobei ich ihm nur zustimmen konnte. »Wenn wir immer so leckere Sachen kochen, kannst du gern öfter vorbeikommen.« Seine Augen funkelten schelmisch.

Ich schüttelte den Kopf und verkniff mir ein Grinsen. »Nichts da. Das ist der besondere und einmalige Service für Leute, die von ihren Uni-Aufgaben verschlungen werden.«

»Das ist sehr schade. Es hat echt gutgetan, mit dir zu kochen und zu reden.«

Mir auch, hätte ich beinahe gesagt, lächelte ihn stattdessen aber nur an. Insgeheim dankte ich Lucien, dass er mich gebeten hatte, herzukommen. Die Zeit mit Adrien hatte mich gut von der Situation zu Hause abgelenkt.

Mein Blick flog zu der Uhr, die neben dem Kühlschrank an der Wand hing. Es war bereits Viertel nach eins. »Oh Mist, ich muss los.« Wie hatte ich nur die Zeit so vergessen können?

Prompt sprang ich auf und griff nach meiner Tasche.

»Hast du noch etwas vor?«, fragte Adrien und stellte unsere beiden Teller in die Spüle.

»Meine Mutter muss zu einem Arzttermin und dann muss ich zu Hause sein. Wir kümmern uns gemeinsam um meinen Großvater, und er kann leider nicht mehr alleine bleiben.«

In Adriens grünen Augen blitzte etwas auf, das aussah wie Anerkennung. »Das klingt anstrengend, aber ich finde es bewundernswert. Das braucht viel Planung, oder?«

Ich seufzte. »Du sagst es.«

Adrien begleitete mich zur Wohnungstür. »Danke, Zoé. Für‘s Vorbeischauen und auch für die Ablenkung. Hat gutgetan.«

»Sehr gerne, und mir hat es auch gutgetan. Meld‘ dich bei Lucien, okay? Du kennst ihn, er macht sich Sorgen.«

»Ich schreib ihm gleich.«

Wir sahen uns einen Moment in die Augen. »Mach’s gut, Adrien.«

»Komm gut nach Hause, Zoé.«

Als ich zu Hause ankam, saß mein Großvater nicht wie üblich mit seinem Rollstuhl im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Ich legte schnell meine Tasche auf einem Sessel ab und spähte dann in die Küche, wo ich ihn vor einem geöffneten Küchenschrank vorfand. Er reckte sich, so gut er konnte, um an einen Teller zu kommen. Auf der Arbeitsfläche neben der Spüle lag bereits eine Scheibe Brot und die geöffnete Butterdose.

»Pépère, was machst du denn?«, fragte ich, woraufhin ihm der Teller aus der Hand rutschte und zwischen uns mit einem ohrenbetäubenden Klirren zu Boden fiel. Reflexartig sprang ich zur Seite, um den Scherben auszuweichen, die sich in einem Radius von einem Meter verteilten.

Er murmelte ein paar Flüche, dann sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich versuche, mir etwas zu essen zu machen. Du warst ja nicht zu Hause und deine Mutter hat die ganze Zeit geschlafen wie ein Murmeltier, bis sie gehetzt vor fünf Minuten aus dem Haus ist.«

»Ich habe doch heute Vormittag eine Suppe für dich gekocht und dir auf den Tisch gestellt.« Mein Blick flog zu unserem Esstisch, auf dem der Teller noch immer stand. Unangetastet. »Warum hast du sie denn nicht gegessen? Bevor ich gegangen bin, habe ich dir doch noch Bescheid gegeben, dass das Essen fertig ist.«

Ja, das Mittagessen war früher als normalerweise gewesen, aber auch sonst aß er bereits gegen 11:30 Uhr. Und er hatte mir auch mit Sicherheit geantwortet. Hatte er es vergessen? Sein verwirrter Gesichtsausdruck sprach Bände, und mir wurde heiß und kalt zugleich. Pépère wurde in letzter Zeit immer vergesslicher. Der Arzt hatte bereits festgestellt, dass es sich vermutlich um eine beginnende Demenz handelte, er aber die schlimmsten Zeiten nicht mehr erleben würde, wenn sie langsam voranschritt.

Obwohl mich das trösten sollte, ließ der Gedanke immer etwas in meiner Brust zusammenschrumpfen.

»Oh das … das wusste ich nicht«, murmelte er. »Und ich habe den Teller auch nicht gesehen.«

Verwirrung und Verzweiflung lagen in seiner Stimme und ließen meine Wut über seine schnippische Art im Sand verlaufen.

»Ich mache sie dir nochmal warm, hm?«

Er nickte. Also stieg ich über die Scherben hinweg, um nach dem Teller zu greifen und ihn in die Mikrowelle zu stellen. Dann räumte ich das Brot und die Butter wieder weg und sammelte die Scherben vom Boden auf. Die kleinsten Splitter würde ich nachher noch wegsaugen müssen. So lange schlüpfte ich in die Pantoffeln meiner Mutter, um in keine hineinzutreten.

»Einen guten Appetit, der Herr«, sagte ich, als ich ihm den köstlich duftenden Teller vor die Nase stellte.

»Danke«, murmelte er und begann mit zitternden Händen, den Löffel an seinen Mund zu führen. An seinem zufriedenen Brummen merkte ich, dass es ihm schmeckte, was wiederum mich zufriedenstellte. Pépère war manchmal harsch, aber daran war ich gewöhnt. Insgeheim hatte er aber ein gutes Herz, und ich war mir sicher, dass er dankbar dafür war, was Maman und ich für ihn taten. Oftmals konnte er es nur nicht zeigen, weil er zu tief in seiner Verbitterung steckte. Ich versuchte, es ihm nicht allzu übel zu nehmen. Bis vor einem Jahr hatte er noch eigenständig gehen können und damit eine gewisse Unabhängigkeit gehabt. Bis er nachts auf dem Weg zur Toilette über die Türschwelle zum Bad gestolpert war – Oberschenkelhalsbruch. Die Heilung hatte einige Zeit gedauert, mit einem längeren Aufenthalt im Krankenhaus. Danach waren seine Muskeln leider so geschwächt gewesen, dass er jetzt trotz Physiotherapie nicht mehr laufen konnte. Anfangs hatten wir es noch mit einem Rollator versucht, aber nach einem weiteren – glücklicherweise aber weniger schlimmen – Sturz auch das aufgegeben. Bis heute konnte er es nicht ganz akzeptieren, dass er so an Maman und mich gebunden war. Den mobilen Pflegedienst hatte er aber ganz allein zum Teufel gejagt. Er wollte nicht einsehen, dass er auf Hilfe angewiesen war, obwohl es ihm gleichermaßen nichts ausmachte, Maman und mir eine Aufgabe nach der nächsten zu erteilen.

Die Situation war für keinen von uns einfach.

Während Pépère aß, setzte ich mich ihm gegenüber, um ihm Gesellschaft zu leisten. Auch wenn Maman tagsüber zu Hause war, verbrachte sie den Großteil der Zeit mit Schlafen, immerhin musste sie für ihre nächste Nachtschicht wieder fit sein. Dementsprechend war Pépère die meiste Zeit des Tages dennoch allein. Er hatte eine Art Walkie-Talkie, falls irgendetwas Dringendes war, und konnte Maman damit wecken, da ihr Schlafzimmer im ersten Stock lag.

»Wo bist du eigentlich gewesen?«, fragte er, nachdem er aufgegessen hatte, und tupfte sich den Mund mit einem Stofftaschentuch ab, das meine Großmutter damals für ihn mit kleinen, rosafarbenen Rosen bestickt hatte.

»Bei einem Freund, dem es nicht so gut ging. Wir haben etwas zusammen gekocht.«

»Dann geht es ihm jetzt vermutlich besser.«

Ich lachte. »Ich hoffe es, ja.«

»Die Liebe zwischen deiner Großmutter und mir ging auch immer durch den Magen. Vor allem, wenn sie ihre Zwiebelsuppe gekocht hat. Oder Braten.«

Ich lachte. »Es war nur ein Freund, Pépère. Nicht mein Freund.«

»Und wer ist dieser Freund?«

»Er heißt Adrien. Luciens Mitbewohner.«

»Aha.«

»Aber wir können die Zwiebelsuppe von Oma gerne mal wieder kochen«, lenkte ich das Thema zurück.

»Hast du ihr Rezept denn noch? Sie hat es mal in so ein Büchlein geschrieben.«

»Ich koche doch immer nur aus Omas Büchlein, das weißt du. Es steht im Wohnzimmer im Regal.«

»Ja. Stimmt. Im Wohnzimmer.«

Mein Herz sank. Immer, wenn er diese unsicheren Momente hatte, brach etwas in mir. Auch wenn mein Großvater schwierig sein konnte, liebte ich ihn, und es machte mich fertig, ihn so zu sehen. Jedes Mal, wenn er etwas vergaß, sah ich ihm an, dass es ihm Angst machte.

»Bist du satt?«, fragte ich möglichst heiter und räumte nach seinem kurzen Nicken den Teller in die Spülmaschine. »Gehst du jetzt öfter zu diesem Freund?«, fragte Pépère plötzlich.

»Nein, vermutlich nicht.«

Er gab ein Geräusch von sich, das wie ein »Hm« klang.

»Dann bist du Sonntag wieder den ganzen Tag zu Hause?«

»Ja, so wie immer.«

Eine Weile war es still, während ich die Küche fertig aufräumte. »Spielen wir jetzt eine Runde Karten?«, fragte er leise und wirkte dabei beinahe zurückhaltend. Ich wusste, dass Pépère oft einsam war. Er hatte es zwar noch nie zugegeben, aber ich war nicht blöd und hatte Augen im Kopf. Viele seiner Bekannten von früher waren bereits verstorben oder voll pflegebedürftig. Wir hatten ihm schon des Öfteren vorgeschlagen, dass wir ihn auch ab und an zu Seniorentreffs bringen konnten, damit er ein wenig unter Leute kam, aber er hatte immer abgelehnt. Er scheute sich, neue Leute kennenzulernen, seitdem er so unselbstständig war. Und umstimmen konnte man diesen Mann ohnehin nicht, wenn er sich einmal entschieden hatte. Deshalb versuchte ich wenigstens, ihm zu Hause etwas Unterhaltung zu bieten. Auch, wenn dafür meine letzte Freizeit draufging.

»Ich würde jetzt eigentlich gerne ein wenig im Wintergarten arbeiten«, antwortete ich mit einem Kloß im Hals.

»Kannst du das nicht später machen? Ich war die letzten Stunden schon allein, weil Odette nur schläft oder unterwegs ist.«

»Sie schläft, weil sie nachts arbeitet. Und sie hat einen Arzttermin, sie ist nicht zum Spaß unterwegs.« Ich seufzte und fuhr mir übers Gesicht. Ich wollte wirklich gerne ein paar Stunden für mich haben, andererseits wollte ich meinen Großvater nicht enttäuschen. Ich verstand, dass er sich einsam fühlte. Zumal ich gerade von meinem Mittagessen mit Adrien heimgekommen war.

»Okay«, stimmte ich letztendlich zu und meinte, den Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen erkennen zu können. »Spielen wir eine Runde.«

Aus einer Runde wurden drei und danach fielen Opa noch unzählige Dinge ein, die ich für ihn erledigen sollte. Den Staub vom Fernseher wischen, weil er sonst nichts mehr sah, seinen Speicherplatz auf dem Videorecorder leeren, damit er Fernsehsendungen aufzeichnen konnte, Süßigkeiten aus der Vorratskammer holen und seine Hörgeräte suchen, weil er sie verlegt hatte. Daher schaffte ich es erst nach zwei Stunden, mich zurückzuziehen.

Als ich die Tür zum Wintergarten hinter mir zugezogen hatte, atmete ich einmal tief durch, ehe ich mich endlich meinen Pflanzen widmete. Auch wenn es mir schwergefallen war, wieder hier einzuziehen: Meine Pflanzen hatten es mir gedankt. Der Wintergarten war perfekt für ihren Sonnenbedarf. Mein kleiner Balkon hatte vielleicht in den Sommermonaten ausgereicht, jetzt im Winter hatte ich sie aber nach drinnen verlagern müssen, wo sie bei Weitem nicht genug Tageslicht abbekommen hatten.

Ich schaltete leise mein Radio ein, das auf einem Regal mit allem möglichen Zubehör stand. Danach goss ich die Pflanzen und schnitt anschließend ein paar von ihnen zurecht, die es dringend nötig hatten. Draußen ging bereits die Sonne unter, weswegen ich meine kleine Tischlampe anschaltete, die auf einem Beistelltisch aus Holz direkt neben mir stand. Bald musste ich mir mal die Zeit nehmen, den Wintergarten ein bisschen mit Lichterketten und Weihnachtkram zu dekorieren. Meine Gedanken wanderten nochmal einen Augenblick zu Adrien. Es hatte Spaß gemacht, mit ihm zu kochen und zu reden. Die Ablenkung hatten wir beide wirklich gebraucht. Obwohl es nur zwei Stunden gewesen waren, wurde mir wieder bewusst, wie selten solche Auszeiten im Moment bei mir waren. Immer wieder überlegte ich, wie ich die Situation verbessern konnte, aber mir fiel keine Lösung ein. Es würde mir also nichts übrig bleiben, als mich erstmal damit abzufinden und mich mit solchen kleinen Unternehmungen zufrieden zu geben.

Kapitel 3

Zwei Tage später kam Lily nicht so beflügelt in den Blumenladen, wie ich es erwartet hätte. Ihre Mundwinkel zeigten nach unten, ihre Haare hingen platt herunter.

»Wie war das Schokoladen-Date?«, fragte ich sie dennoch und band mir meine grüne Schürze um. Ich hatte schon alles vorbereitet und der Laden öffnete erst in fünf Minuten, deswegen hatten wir noch kurz Zeit zum Reden.

»Frag nicht.« Sie seufzte und ließ sich im Pausenraum auf einen Stuhl fallen. »Es hat gut angefangen und war eigentlich auch total schön. Wir hatten viel Spaß zusammen. Aber kurz nachdem ich zu Hause war, hat Nicole mir eine Nachricht geschrieben, dass sie glaubt, dass es zwischen uns nicht passt und sich deswegen nicht wieder treffen will.« Lily schluckte sichtlich.

»Oh nein, das tut mir leid«, sagte ich aufrichtig und ging vor ihr in die Hocke.

Lily zuckte mit den Schultern. »Schon okay. Wir kannten uns ja kaum.« Obwohl sie das so sagte, entdeckte ich ein leichtes Schimmern in ihren Augen. Doch bevor ich irgendwelche tröstenden Worte finden konnte, kam auch schon Cédric herein.

»Guten Morgen«, murrte er und griff nach seiner Schürze.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Lily und schien plötzlich von ihrem eigenen Kummer abgelenkt zu sein.

»Ich bin müde. Habe kaum geschlafen, weil die Kleine die ganze Nacht geweint hat.«

»Wie alt ist sie inzwischen eigentlich?«, fragte ich und stand wieder auf.

»Zwei Monate und drei Tage.« Cédric gähnte. »Ich liebe sie wirklich über alles, aber ein bisschen Schlaf wäre schon manchmal schön.«

»Das legt sich bestimmt bald«, versuchte ich ihn aufzumuntern.

»Also meine Schwester hat keine Nacht durchgeschlafen, bis ihre Tochter ein Jahr alt war«, wandte Lily ein und Cédrics Blick verwandelte sich von müde in verzweifelt.

Ich stupste Lily an. »Du machst ihm aber keinen Mut.«

»Schon gut«, sagte Cédric. »Selbst wenn ich keine Minute mehr schlafen dürfte, wäre sie das wert.«

»Wisst ihr was?«, fragte ich und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich hole uns allen jetzt erstmal einen leckeren Latte macchiato beim La Petite, was haltet ihr davon?«

Cédric faltete die Hände vor der Brust, als würde er beten. »Dich schickt der Himmel.«

»Krieg ich auch ‚nen Cappuccino?«, fragte Lily leise und schniefte gespielt.

»Ausnahmsweise. Aber dafür machst du den Laden auf, es ist nämlich gleich zehn.«

»Deal.«

Ich streifte mir meine Schürze also wieder ab und parkte sie auf einer Stuhllehne, ehe ich mir auch schon mein Portemonnaie schnappte und nach vorne ging. Unsere Chefin Marie kam im selben Moment in den Laden gehetzt. »Sorry Leute, ich stand im Stau, ihr kennt das ja.« Sie warf ihre Sachen über den Tresen und wirbelte auch schon an uns vorbei nach hinten.

»Willst du auch einen Kaffee?«, rief ich ihr nach.

»Ohne Kaffee keine Marie, du kennst mich doch inzwischen, Zoé!«

Also streifte ich mir meine Winterjacke über und verließ den Laden, um unseren Energielieferanten zwei Häuser weiter zu holen.

Das Café war klein, aber dennoch rund um die Uhr gut besucht. Wenn man an einem Tisch am Fenster saß, hatte man einen tollen Ausblick auf die Seine. Vor allem an einem sonnigen Tag wie heute war das besonders schön. Hier kam genau wie bei uns im Laden viel Laufkundschaft vorbei, aber man sah auch immer wieder dieselben Gesichter an den Tischen sitzen.

Als ich eintrat, stieg mir sofort der Geruch von frischem Kaffee in die Nase. Das Café war grundsätzlich modern eingerichtet, hatte aber einige rustikale Akzente, wie zum Beispiel eine alte Holzkommode, auf der man sich Zucker, Milch und Servietten nehmen konnte. An einer Wand hingen ganz viele Uhren in verschiedenen Farben, Formen und Stilen. Es war einfach gemütlich.

Die junge Frau hinter dem Tresen, die ich hier noch nie gesehen hatte, wirkte überfordert mit den zwei Kunden, die sie gerade bedienen sollte. Ich wartete geduldig und als ich an der Reihe war, bestellte ich für Marie, Cédric und mich einen Latte macchiato und für Lily einen Cappuccino zum Mitnehmen.

»Kommt sofort.« Die Mitarbeiterin machte sich an der Maschine zu schaffen. Kurz darauf ließ mich ein kurzer Aufschrei zusammenfahren. Sie hatte einen der Becher umgeworfen und den gesamten Kaffee über ihrer Schürze, der Theke und dem Boden verteilt.

»So eine Scheiße!«, fluchte sie und knallte den Becher hin. Als sie mein erschrockenes Gesicht sah, schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Tut mir leid! Das … hätte mir nicht so rausrutschen dürfen.« Sie ließ die Schultern hängen. »Es ist erst mein dritter Tag hier und ich stelle mich an wie der größte Trottel überhaupt.« Sie atmete einmal tief durch. »Geben Sie mir eine Minute. Ich mach das kurz weg, dann mache ich Ihnen einen neuen Kaffee, in Ordnung?«

»Alles gut, nur keinen Stress«, gab ich zurück und lächelte sie aufmunternd an.

Ich stellte mich an die Seite, während sie einen Lappen holte und anfing, die Sauerei aufzuwischen. Währenddessen schaute ich mich um, als mein Blick plötzlich an einem bekannten Gesicht hängen blieb. In einer hinteren Ecke des Cafés saß Adrien mit einer Frau mittleren Alters. Vor ihnen stand ein Laptop, auf den die Frau deutete und irgendetwas erzählte. Adrien zog konzentriert die Brauen zusammen und nickte.

»So. Die Kollegin macht Ihre Kaffees fertig, ich kassiere nur noch schnell, bevor ich mich umziehen gehe«, lenkte die junge Frau meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Das macht dann bitte fünfzehn Euro und zwanzig Cent.«

Ich kramte das Geld aus meinem Portemonnaie und reichte es ihr samt Trinkgeld über die Theke. »Das stimmt so.«

»Vielen Dank.« Sie sortierte das Geld in die Kasse ein und verabschiedete sich. »Noch einen erfolgreichen dritten Arbeitstag«, wünschte ich ihr und wartete darauf, dass ihre Kollegin meine Bestellung zubereitete, als ich bemerkte, dass die Dame an Adriens Tisch aufstand und sich von ihm verabschiedete. Er wirkte nicht besonders glücklich, als er ihr die Hand schüttelte. Sie bahnte sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch in Richtung Ausgang und ich beschloss kurzerhand, Adrien Hallo zu sagen, und ging bis nach hinten zu seinem Tisch durch. Heute sah er erholter aus als vor zwei Tagen, als ich bei ihm gewesen war. Er trug einen blauen Pullover mit einem Hemd darunter, und die Augenringe waren zurückgegangen. Ich war froh, dass er aus seinem Arbeitstrott hinausgefunden hatte und sich nun wieder etwas mehr um sich selbst kümmerte.

»Hey«, begrüßte ich ihn und brachte ihn erst damit dazu, von seinem Laptop aufzusehen.

Ein schmales Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Zoé, hey. Was machst du denn hier?«

Als Antwort deutete ich hinter mich Richtung Tresen. »Ich beliefere traurige, müde und gestresste Floristen zwei Häuser weiter.«

»Klingt nach einem wichtigen Job. Und nach einem Arbeitstag, der anstrengend werden könnte.«

»Das kannst du laut sagen. Und du?«, fragte ich zurück und deutete mit dem Kinn auf seinen geöffneten Laptop.

»Ich habe mich wegen meines Werbespots mit meiner Dozentin getroffen, weil ich noch einige Fragen hatte.« Er seufzte. »Sie war aber nicht wirklich zufrieden mit meiner Arbeit.«

Um nicht blöd vor seinem Tisch herumzustehen, zog ich mir kurzerhand einen Stuhl heran und setzte mich. »Und was bedeutet das jetzt?«

Er stützte sein Kinn auf seine Hand. »Vermutlich, dass ich einiges nochmal neu drehen muss. Hoffentlich hat der Freund, der mir beim letzten Mal geholfen hat, nochmal Zeit.«

»Ich drücke dir die Daumen. Wenn nicht, kannst du dich gerne bei mir melden. Falls ich dir da eine Hilfe bin, immerhin habe ich keine Ahnung von Videodreh.«

Er verzog das Gesicht. »Danke, aber das kann ich sowieso nicht annehmen.«

»Warum nicht? Ich helfe dir gern, wenn es sich zeitlich bei mir einrichten lässt. Überleg es dir einfach.« Ich stand auf, weil ich langsam wirklich zurück in den Laden musste. Die anderen fragten sich bestimmt schon, wo ich so lange blieb.

»Danke. Und viel Spaß bei deinen traurigen, müden und gestressten Arbeitskollegen.«

Nachdem ich mich bedankt und verabschiedet hatte, holte ich die vier Kaffeebecher am Tresen ab und machte mich auf den Weg zum Blumenladen.

Als ich abends nach Hause kam, saßen Maman und Pépère bereits am Küchentisch und warteten auf mich.

»Bin schon da. Tut mir leid, ich bin ein paar Minuten zu spät aus dem Laden gekommen und habe den Bus verpasst.«

»Kein Problem, wir haben uns gerade erst hingesetzt«, erwiderte Maman. Ich wusch mir die Hände und setzte mich auf meinen Platz.

»Was hast du denn da reingetan? Die Suppe schmeckt überhaupt nicht«, beschwerte Pépère sich nur wenige Sekunden später und legte den Löffel energischer als nötig auf dem Tisch ab.

»Sie schmeckt dir nicht? Ich habe sie wie immer gemacht. Nach Mamans Rezept.«

Pépère schüttelte energisch den Kopf. »Bei deiner Mutter hat die anders geschmeckt.«

»Pépère, die Kürbissuppe schmeckt wie immer«, versuchte ich in sanftem Ton zu schlichten, weil ich an Mamans Blick erkannte, dass sie kurz davor war, die Nerven zu verlieren. »Vielleicht hast du einen komischen Geschmack im Mund, trink doch einen Schluck Wasser.« Vorsichtig schob ich ihm sein Glas hin, was er allerdings nur mit einem Schnauben quittierte.

»Lass gut sein«, sagte Maman leise zu mir und legte ihre Hand auf meine, bevor sie sich wieder ihrem Vater zuwandte. »Willst du jetzt nichts essen?«

»Nicht diesen Fraß.«

Ich sah im Blick meiner Mutter, dass die harschen Worte sie trafen.