Blut und Seide - Marita Spang - E-Book
SONDERANGEBOT

Blut und Seide E-Book

Marita Spang

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein kluger und spannender historischer Roman über Recht und Unrecht im Mittelalter - Die Gesamtausgabe von "Blut und Seide" Das Jahr 1260. Der junge Simon wird nach dem Raubmord an seinen Eltern als Ziehsohn des Grafen Johann von Sponheim zum Ritter ausgebildet. Heinrich, Johanns jüngerer Bruder, schikaniert ihn von Anfang an. Simon ist machtlos, als die Frau, die er liebt, zur Ehe mit Heinrich gezwungen wird. Verbittert verlässt er die Heimat und kämpft mit dem Habsburger König Rudolf gegen dessen Rivalen Ottokar von Böhmen. Doch die Intrigen der Mächtigen stoßen ihn ab. Als Heinrich nach Simons Rückkehr eine Fehde gegen seinen Bruder Johann anzettelt, stehen sich die beiden Todfeinde urplötzlich auf dem Schlachtfeld gegenüber. Ein großer Roman über das Fehdewesen und die Stellung der Frau im Mittelalter

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1161

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marita Spang

Blut und Seide

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die Kauzenburg bei Bad Kreuznach um 1260: Simon wächst als Ziehsohn des Grafen Johann von Sponheim auf, sehr zum Missfallen von dessen jüngerem Bruder Heinrich, der um Johanns Gunst und damit um sein Erbe fürchtet. Die Situation eskaliert, als Simon sich in Heinrichs Verlobte verliebt, die seine Gefühle erwidert. Diesmal kann ihm auch Johann nicht helfen, denn er hat die Verlobung seines Bruders selbst arrangiert. Erst viele Jahre später wird Simon die Chance erhalten, erneut um sein Glück zu kämpfen, als sich die Brüder Johann und Heinrich als Feinde auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen.

Inhaltsübersicht

WidmungMottiVorbemerkungDramatis personaeKartenPrologAufmarschKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7AngriffKapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12RückschlagKapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19HinterhaltKapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26ScheingefechtKapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33NahkampfKapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42SiegKapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48EpilogAnhangWahrheit und FiktionGlossarVerzeichnis der wichtigsten QuellenLeseprobe »Die Rose des Herzogs«
[home]

 

 

 

 

Für Jürgen, Viktoria und Tina

[home]

 

 

 

 

Kein Ritter darf mit einem falschen Gerichtsurteil einverstanden sein, noch sich an irgendeiner Art von Verrat beteiligen; er muss Frauen und Jungfrauen ehren und bereit sein, ihnen nach allen Kräften beizustehen.

Aus dem L’Ordène de Chevalerie;zitiert nach Maurice Keen, Das Rittertum

 

 

 

Sieht man in der Fehde eine Urform des Krieges und nimmt die anderen Formen der Gewaltanwendung wie Raub und Überfall hinzu, herrschte das gesamte Mittelalter hindurch eigentlich immerfort Krieg.

Rolf Schneider, Alltag im Mittelalter

[home]

Diese Löwenskulptur von 1729 wurde im Jahr 1814 in den Ruinen der Kauzenburg in Bad Kreuznach aufgestellt. Sie erinnert an Michel Mort, den Lebensretter des Grafen von Sponheim in der Schlacht bei Sprendlingen im Jahr 1279 gegen den Erzbischof Werner von Mainz.

[home]

Dramatis personae

Es werden nur die handlungstragenden Figuren aufgeführt. Historisch belegte Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Die Grafenfamilie von Sponheim in Kreuznach

Johann von Sponheim*, regierender Graf

Adelheid von Leiningen-Sponheim*, seine Gemahlin

Margarete von Sponheim*, seine Mutter

Heinrich von Sponheim*, sein jüngerer Bruder

Die Familie von Montfort

Simon von Montfort, Waise und Ziehsohn des Johann von Sponheim

Raimund und Irmhild von Montfort, Simons ermordete Eltern

Philipp von Montfort, Simons Onkel

Gisela von Sayn, Simons erste Gemahlin

Die Familie von Katzenelnbogen auf dem Rheinfels

Eberhard von Katzenelnbogen*, regierender Graf

Christina von Katzenelnbogen, seine Tochter

Agathe von Hunolstein, eine ältliche Verwandte

Die Familie Michels von Kreuznach

Michel*, Metzgersohn und Waffenknecht des Simon von Montfort

Adalbert, sein Vater

Gernot, sein jüngerer Bruder

Marie, seine Verlobte

Walter, Maries gebrechlicher Vater

Historisch belegte bedeutende Persönlichkeiten

Rudolf I. von Habsburg*, deutscher König von 1273 bis 1291

Ottokar Premysl II.*, König von Böhmen, geb. um 1232, gest. 1278

Werner von Eppstein*, Kurfürst und Erzbischof von Mainz von 1259 bis 1284

Rheingraf Siegfried*, Graf im Nahegau mit Besitztümern am Rhein

Siegfried von Mahrenberg*, ein von Ottokar hingerichteter Adliger

Offo von Emerberg*, ein Verwandter des Siegfried von Mahrenberg

Burgbesatzung und Gesinde

Hildebrand, Waffenmeister auf dem Rheinfels

Dankwart von Schmittburg, Knappe auf dem Rheinfels

Gisbert und Roland, Männer der Burgbesatzung des Rheinfels

Greta und Tilda, Mägde Christinas von Katzenelnbogen

Rutger, Burgvogt auf Montfort

Mitglieder der Geistlichkeit

Bruder Markus, Burgkaplan auf der Kauzenburg

Bruder Paulus, Burgkaplan auf dem Rheinfels

Bruder Pankratius, Burgkaplan auf Böckelheim

Gervasius, Abt des Klosters auf dem Disibodenberg

Bruder Basileus, Subprior der Abtei Himmerod

Bruder Damianus, ein entlaufener Mönch

Weitere handlungstragende Figuren

Graf Gerlach von Veldenz, Verbündeter des Erzbischofs von Mainz

Ida, Kräuterfrau im Hunsrück

Ein gelehrter Medicus aus Kreuznach

[home]
[home]

Prolog

Juni 1259

Er sah die Raben schon von weitem. Sie kreisten unaufhörlich über der Stätte der Untat und stießen immer wieder hinab in die Tiefe.

Unwillkürlich verkrampfte sich Johanns Magen. Obwohl es noch früh am Tag war, brach ihm der Schweiß unter dem Kettenhemd aus. Darüber trug er wie seine Begleiter den mit dem blau-goldenen Wappen der Grafen von Sponheim geschmückten Waffenrock.

Der Burgvogt, der an der Spitze des kleinen Zuges durch den lichten Laubwald ritt, hielt seine Fuchsstute plötzlich an und hob den rechten Arm. Er drehte sich zu Graf Johann um, der ebenso wie seine Gefolgsleute sein Pferd zügelte.

»Dort muss es sein, Herr. Hier verengt sich der Weg und führt zwischen Felsen hindurch. Die Meuchelmörder werden sich dahinter verborgen haben.«

Johann nickte mühsam. Bittere Galle stieg ihm die Kehle hoch.

»Wenn Ihr wollt, reite ich mit zwei Mannen voraus«, erbot sich der Burgvogt. »Sie liegen jetzt schon zwei Tage in der Sommerhitze. Ich fürchte, der Anblick wird nicht sehr erbaulich sein.«

Mit einer heftigen Gebärde winkte Johann ab. Er gab seinem Pferd die Sporen und trabte voraus.

Noch ehe er um die letzte Biegung kam, stieg ihm unverkennbar süßlicher Verwesungsgeruch in die Nase. Er schluckte schwer, um den stärker werdenden Brechreiz zu bezwingen. Dann wappnete er sich für die Szenerie, die ihn dort erwarten mochte.

Was er sah, übertraf seine schlimmsten Vorstellungen. Der Weg war zertrampelt und aufgewühlt, getrocknetes Blut bedeckte den Boden und klebte an Grasbüscheln und zarten Sommerblumen. Überall lagen die nackten Leichen der Überfallenen. In der Sommerhitze hatten sie sich bereits schwärzlich verfärbt. Fliegen schwirrten um sie herum.

Auf den ersten Blick konnte er Raimund unter den toten Reisigen gar nicht ausmachen. Er erkannte ihn schließlich an der Narbe über dem Ellbogen, die er sich auf seinem ersten Turnier zugezogen hatte.

Fassungslos starrte er auf den verkrümmten Leichnam seines besten Freundes. Raimund, Graf von Montfort, und er selbst hatten dem Rheingrafen Siegfried gemeinsam als Knappen gedient. Während dieser Zeit waren sie unzertrennlich gewesen und besuchten sich auch danach regelmäßig auf ihren nicht weit voneinander entfernten Burgen.

Raimund musste sich wie ein Berserker gewehrt haben, um seine junge Frau Irmhild und seinen kleinen Sohn Simon zu verteidigen. Sein Körper starrte vor klaffenden Wunden. Rüstung, Waffen, selbst die leinene Unterwäsche hatten ihm die Strauchdiebe geraubt. Ob er schon tot gewesen war, als ihn die Mörder verstümmelten, ließ sich im Nachhinein nicht mehr ausmachen.

Schleifspuren am Wegrand führten ihn zu Irmhild. Auch ihre Leiche war nackt, das wunderbare blonde Haar zerzaust und blutverkrustet. In ihrem zarten Gesicht mit den gebrochenen veilchenblauen Augen, deren Blick ehemals jedes Männerherz betört hatte, stand noch der Ausdruck von Entsetzen und Pein. Offensichtlich hatte man sie vor ihrem Tod auf das Grausamste geschändet.

Einen Moment wurde Johann schwarz vor Augen. Unwillkürlich tauchten Bilder vor ihm auf. Raimund und er, wie sie jauchzend um die Wette ritten. Irmhild, die mit strahlendem Lächeln an seiner Seite den Tanz anführte. War das wirklich erst drei Tage her? Die beiden waren Gäste auf Burg Sponheim gewesen, wo man den Mittsommer mit einer prächtigen Jagdgesellschaft gefeiert hatte.

Ein Bauer hatte das Massaker am späten gestrigen Nachmittag entdeckt. Es war schon dunkel gewesen, als ihn die furchtbare Nachricht auf Burg Sponheim erreichte. Nur mit Mühe hatte sein Vater ihn daran hindern können, noch in der Nacht loszureiten.

Leises Gemurmel riss ihn aus seiner Erstarrung. Seine Begleiter, sechs Burgsoldaten, in zahlreichen Kämpfen gestählt, standen verstört um die Toten und bekreuzigten sich. Der saure Geruch von Erbrochenem mischte sich mit dem Gestank des Todes.

Mit einem heftigen Ruck riss sich Johann den Waffenrock vom Leib und bedeckte damit notdürftig Irmhilds Blöße. Dann wandte er sich an den Burgvogt.

»Habt Ihr den Leichnam des Knaben gefunden, Oswald?« Seine Stimme klang barscher, als ihm zumute war.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Wir haben die ganze Umgebung abgesucht, Herr. Er ist nicht zu finden. Sicherlich haben ihn wilde Tiere verschleppt.«

Unwillkürlich entrang sich Johann ein Stöhnen. So war seinem Patenkind, Raimunds einzigem Sohn, nicht einmal ein Begräbnis in geweihter Erde vergönnt. Er spürte seine Augen feucht werden.

»Schafft die Leichen von Raimund und Irmhild in die Sänfte.« Er wies auf das an Stangen befestigte kastenförmige Sitzgestell, das umgestürzt unterhalb der Felsen lag. »Die Körper der Reisigen zieht in den Schatten der Bäume und bedeckt sie vorläufig mit Steinen und Geäst. Wir holen sie morgen ab.«

Die Männer machten sich schweigend an ihr grausiges Werk. Ziellos wanderte Johann umher. Die Mörder hatten alles mitgenommen, was ihnen verwertbar vorgekommen war. Selbst die Vorhänge der Sänfte hatten sie abgerissen. Blicklos starrte Johann in die dunklen Fensterhöhlen. Da vernahm er plötzlich ein leises Wimmern.

Mit einem Satz sprang er auf die Sänfte zu und riss den Verschlag auf. Tatsächlich, wieder ein kläglicher Laut. Ratlos sah er sich um. Die Sänfte war leer. Natürlich hatten die Strauchdiebe auch Irmhilds Reisegepäck mitgenommen. Ein heftiges pochendes Geräusch schreckte ihn auf. Es schien aus dem Innern der hölzernen Sitzbank zu kommen. Natürlich, die Sitzbank war hohl! Irmhild hatte ihm einmal erzählt, dass sie über einen verborgenen Schließmechanismus verfügte. Zu ungeduldig, um danach zu suchen, riss Johann mit aller Kraft an dem massiven Brett. Doch es rührte sich nicht von der Stelle. Wieder ertönte das leise Jammern.

»Albrecht, komm her!«, rief Johann dem Soldaten zu, der ihm am nächsten stand. »Gib mir deine Streitaxt.« Verwundert löste der Mann sie vom Gürtel.

Mit kraftvollen und zugleich behutsamen Schlägen hieb Johann auf das hölzerne Sitzbrett ein. Das Wimmern wurde lauter. Endlich war das Loch groß genug, um hineinzugreifen.

»Der Herr sei gelobt. Es ist das Kind, und es lebt. Durchsucht den Proviant aus der Burgküche, ob er etwas enthält, womit wir es stärken können.«

Wenig später eilte der Burgvogt mit einem kleinen Schlauch Ziegenmilch herbei. Vorsichtig flößte Johann seinem Patensohn das Getränk ein. Der kleine Junge war sichtlich ausgezehrt und völlig erschöpft. Aber er trank durstig und fing danach kräftig zu schreien an.

Staunend umstanden die Burgmannen das Wunder. »Der Herrgott selbst muss seine Hand über Simon gehalten haben, dass er in der Hitze so lange ohne Nahrung und Flüssigkeit überlebt hat. Lasst uns niederknien und ein Dankgebet sprechen«. Johanns Stimme zitterte vor Rührung. Murmelnd stimmten seine Gefolgsleute in die vertrauten Worte ein.

»Der Sitzkasten war das Versteck für das Geschmeide der Gräfin, wenn sie auf Reisen war«, erklärte Johann, nachdem sich alle wieder erhoben hatten. »Sie hat ihren Sohn dort verborgen, als sie die Gefahr erkannte.«

»Und befindet sich auch ihr Schmuck noch dort?«, erkundigte sich der Burgvogt.

Johann ließ sich nicht anmerken, dass er die Frage ungebührlich fand. Auch seine Mannen waren von den Ereignissen mitgenommen.

»Nein, Oswald. Sie muss ihn herausgenommen haben, um die Mörder abzulenken.«

»So haben wir vielleicht eins ihrer Schmuckstücke gefunden.« Oswald winkte einem jungen Dienstmann, der darauf zögernd nach vorn trat. Auf seiner flachen Handfläche reichte er Johann einen silbernen Gegenstand.

Der betrachtete ihn prüfend im Sonnenlicht. »Nein, Oswald. Das gehörte nicht Irmhild. Keine christliche Frau würde so etwas tragen. Es ist ein heidnischer Anhänger, vielleicht ein Beutestück aus den Kreuzzügen. Es sind arabische Schriftzeichen darauf.«

Er hob das Schmuckstück an seiner Kette hoch und zeigte es herum. Zum ersten Mal an diesem furchtbaren Tag verspürte er so etwas wie Zuversicht.

»Doch es wird uns zu ihren Mördern führen. Auf dass sie wie die Ungläubigen, die es geschmiedet haben, auf ewig in der Hölle schmoren.«

[home]

Teil 1:

Aufmarsch

Kapitel 1

Die Kauzenburg in Kreuznach, Sommer 1262

Die Angst schnürte ihm den Atem ab. Eiserne Klauen legten sich um seine Brust und drohten ihn zu ersticken. Vor seinen geschlossenen Augen tanzten rote Flecken. Sein Herz raste, das Blut rauschte in seinen Ohren. Kalter Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper.

Hilflos presste sich Simon enger in die Mauernische, als die Geräusche von allen Seiten über ihn hereinbrachen. Rufe, Schmerzensschreie, Waffengeklirr. Er barg den Kopf tief in den Armen und senkte ihn zwischen die Knie. Die spitzen Mauervorsprünge stachen schmerzhaft in seinen Rücken.

Er zwang sich, tiefer und ruhiger zu atmen, wie es ihm sein Ziehvater Johann gezeigt hatte, nachdem er ihn schreiend aus der dunklen Vorratskammer befreit hatte, in die Simon von Heinrich gelockt worden war. Wie dumm von ihm, erneut auf den Schurken hereinzufallen. Der Zorn überflutete Simon wie eine Woge und wusch die Beklemmung für einen Moment mit sich fort.

Nicht lange genug, um ihm die Angst vor der Dunkelheit und den unheimlichen Geräuschen zu nehmen, die in seinen Ohren dröhnten. Aber lange genug, um sich zu erinnern.

»Die schwarz-weiße Katze hat im Weinkeller gejungt. Wenn du willst, zeige ich dir ihren Wurf. Sobald der Burgvogt ihn entdeckt, werden die Kleinen alle im Brunnen ertränkt. Vielleicht erlaubt dir mein Bruder ja, eins zu behalten.« Das Angebot war allzu verlockend gewesen. Dennoch hatte Simon gezögert. Heinrich war in der Regel nicht zu trauen.

»Oder bist du nicht mannhaft genug, in den Keller zu steigen?« Der Spott klang Simon noch immer in den Ohren. Er hatte an die Rede seines Ziehvaters gedacht, nachdem Heinrich ihn das letzte Mal eingesperrt hatte. »Ich habe meinen jüngeren Bruder gezüchtigt und ihm alsdann einen Eid abgenommen, dich liebevoll zu behandeln, wie es sich geziemt. Er bereut seine Tat aus ganzem Herzen. Du kannst ihm also nunmehr vertrauen.«

Simon war zwar nicht überzeugt gewesen, aber er kannte den Ort, an den Heinrich ihn heute führen wollte. Die Treppe in den Keller mit seinen mächtigen Fässern wurde wie dieser selbst bei Tag und Nacht von Fackeln erhellt, die in eisernen Halterungen an den Wänden des tonnenförmigen Gewölbes steckten. Sein Ziehvater hatte ihn des Öfteren hierhin mitgenommen, um ihm die Angst vor düsteren Orten zu nehmen, die Simon befiel, seitdem er denken konnte. Es gab eine Menge davon in der Kauzenburg, die sich mächtig über den Weinbergen von Kreuznach erhob, dem Wohnsitz der Grafen von Sponheim.

Und weil er sich vor dem fünf Jahre Älteren nicht hatte lächerlich machen wollen, war er ihm zwar misstrauisch, aber tapfer nach unten gefolgt.

Doch Heinrich hatte ihn wieder getäuscht. Kaum hatte Simon die Tür zum Weinkeller geöffnet, stülpte er ihm von hinten einen Mehlsack über den Kopf und stieß ihn brutal hinein, so dass er zu Boden fiel. Noch während er sich hilflos aufrappelte, hörte er, wie Heinrich laut lachend die schwere Eichentür zuwarf und verriegelte. Als Simon sich endlich aus dem stinkenden Sack befreit hatte, umgab ihn undurchdringliche Finsternis. Sein Schreien und Klopfen hatte ihm nur eine schmerzende Kehle und blutige Fingerknöchel eingetragen. Und dann hatte ihn wieder die Angst gepackt …

Vorsichtig streckte Simon die verkrampften Glieder und öffnete die Augen. Heinrich musste den Streich von langer Hand geplant haben, denn Johann von Sponheim war gestern Morgen nach Burg Dill aufgebrochen, die zu seinen Besitztümern zählte. Vor morgen Abend würde er nicht zurückkehren.

Niemand würde den Weinkeller während seiner Abwesenheit betreten. Margarete von Sponheim, des Grafen verwitwete Mutter, lebte seit dem Tod ihres Gatten wie eine Einsiedlerin inmitten des geschäftigen Treibens auf der Burg und ernährte sich nahezu ausschließlich von Gemüse, Wasser und Brot.

Wieder griffen die Klauen der Angst nach ihm. »Ruhig Blut«, mahnte Simon sich selbst und tastete umher. Dann versuchte er, sich an das zu erinnern, was ihm sein Ziehvater noch vor wenigen Tagen über den Keller erzählt hatte. »Die Kauzenburg ist tief in den Berg gebaut. Dieses Gewölbe liegt zur Gänze unter der Erde. Hierhin können wir fliehen, wenn die Burg einmal erobert wird und die Feinde in den inneren Burghof eingedrungen sind. Am hinteren Ende gibt es einen geheimen Gang, verborgen in einer Nische rechter Hand. Er lässt sich nur kriechend durchqueren, doch er führt unter den Mauern hindurch geschützt in den Bergfried.«

Etwas krabbelte über Simons Hand. Der kaum fünfjährige Junge zuckte vor Ekel zurück. Die schwarzen Spinnen, die hier unten hausten, konnten so groß wie sein Handteller werden. Er musste hier heraus, koste es, was es wolle.

Vorsichtig stand er auf und tastete sich Fass um Fass in den hinteren Teil des Gewölbes. Mit seiner Angst und dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren kamen auch die Töne der Hölle wieder zu ihm zurück. So hatte Simon den infernalischen Lärm genannt, der ihn in seinen Alpträumen und an stockdunklen Orten regelmäßig heimsuchte. Stimmen brüllten sich etwas zu, eine Frau schrie schrill in höchster Todesnot. Doch Simon konnte niemals sehen, was gerade geschah. Alles um ihn herum blieb schwarz.

Die Amme war totenblass geworden, als sich ihr der kleine Junge anvertraut hatte, nachdem sie den Tobenden aus einem Alptraum geweckt hatte. Sie schlug das Kreuz über ihm. »Bete ein Paternoster, mein Kind, wenn du dieses Getöse hörst. Es stammt nicht von dieser Welt.«

Unwillkürlich bewegten sich Simons Lippen auch jetzt im Gebet. Der Rat der Nährmutter zeitigte einmal mehr Wirkung. Wenn er sich auf die vertrauten Worte und seinen Weg konzentrierte, wurden die Geräusche zu einem dumpfen Gemurmel. Endlich ertasteten seine Finger die Wand am Ende des Gewölbes. Er wandte sich nach rechts und ließ sich auf die Knie hinab.

Schon nach wenigen Ellen fand er den Gang. Es war so finster, dass er die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Unablässig betend krabbelte er hinein. Vorsichtig schob er sich voran und merkte rasch, dass der Gang leicht, aber beständig abfiel. Ab und an machte er eine Biegung, und Simon schlug sich Fingerknöchel oder Stirn hart am Mauerwerk an. Schon bald hatte er jede Orientierung verloren.

Schließlich packte ihn Verzweiflung. Vielleicht führte dieser Weg ja nirgendwo hin. Vielleicht hatte er seinen Ziehvater falsch verstanden. Mit der Zunge fing er die salzigen Tränen auf, die ihm unwillkürlich über die Wangen liefen. Doch er kroch weiter.

Endlich schimmerte in der Ferne ein schwaches Licht. Mit neuem Mut strebte Simon darauf zu und erreichte nach einer Weile den Fuß einer engen Stiege, die sich in schmalen Kurven nach oben wand. Kaum handbreite Schießscharten warfen das erste Licht, das Simon seit Stunden gesehen hatte, auf die Stufen. Er richtete sich auf und eilte die Treppe hinauf, so schnell es seine wunden Glieder erlaubten.

Nur kurze Zeit später schnürte ihm bittere Enttäuschung die Kehle zu. Er stand vor einer niedrigen Holztür. Sie war verschlossen. Wieder hörte niemand sein verzweifeltes Rufen und Klopfen. Tränenüberströmt sah er sich um.

Knapp fünf Fuß über ihm ließ ein kleiner Mauerdurchbruch das abendliche Dämmerlicht einfallen. Mit letzter Kraft zog Simon sich an der schartigen Mauer empor, der Schnitte und Kratzer nicht achtend, die seine blutigen Hände und Füße noch mehr aufschürften.

Endlich erreichte er den Sims. Die Mauer war so dick, dass er sich bäuchlings in seiner ganzen Länge durch die Öffnung zwängen konnte. Schließlich sah er durch den verengten, kaum einen Fuß breiten Spalt hinaus. Die ersten Sterne blinkten am wolkenlosen Himmel. Tief unter sich konnte er die Weinstöcke erkennen, die am Fuße der Kauzenburg wuchsen. Kein Mensch war zu sehen. Auf einmal spürte er seine Erschöpfung.

»Hilfe, so helfe mir doch jemand.« Seine Stimme war mittlerweile so heiser, dass sie sich wie das Krächzen eines Raben anhörte. Er verspürte brennenden Durst. Weit und breit rührte sich nichts.

Stöhnend vor Schmerz kroch Simon zurück, drehte seinen zerschundenen Körper in der engen Öffnung, schob sich dann auf dem Bauch mit den Füßen voran und zwängte sich durch den Spalt, bis er endlich mit den Beinen halb über der Mauer hing. Mit den Füßen suchte er Halt an den Mauervorsprüngen. Schließlich schwebte er mit seinem ganzen Gewicht über dem Abgrund, seine Fußspitzen in die Steinspalten geklemmt, seine blutigen Finger um die glatte obere Mauerkante geklammert. Er spürte, wie ihn seine Kräfte verließen.

»Heilige Jungfrau, beschütze mich«, murmelte er mit verkrusteten Lippen. Dann stieß er sich ab und sprang rücklings in die Tiefe hinab.

 

»So kann es nicht weitergehen, verehrte Frau Mutter.« Graf Johann von Sponheim konnte den Ärger in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Diesmal hätte Heinrichs Bubenstreich, wie Ihr seine Missetat zu nennen beliebt, Simon das Leben kosten können.«

Margarete von Sponheims Augen füllten sich mit Tränen. Doch dieses Mal ließ sich Johann vom Schmerz seiner Mutter nicht berühren. Sie hatte seinen um siebzehn Jahre jüngeren Bruder, ihr letztes Kind, schon zu Lebzeiten des Vaters viel zu sehr verzärtelt.

»So schlage vor, was nun zu tun ist, mein Sohn.« Sie sprach so leise, dass Johann sie kaum verstand. Noch bevor er antworten konnte, fuhr sie fort. »Ehe du Heinrich weiter so schwer bestrafst, dass er Schaden an Leib und Seele zu nehmen droht, sage mir, was du im Sinn hast.«

Johann biss sich auf die Lippen. Simon war noch immer nicht aus dem Zustand der Bewusstlosigkeit erwacht, in dem ihn die Burgwachen am frühen Morgen gefunden hatten. Seine rechte Hand war gebrochen. Immerhin hatte seine Mutter dafür gesorgt, dass der Bader gerufen wurde, der Simon so gut wie möglich behandelt hatte.

»Ihr haltet mich also für zu streng und ungerecht gegenüber Heinrich?« Johann musterte seine Mutter. Seit dem Tod des Vaters im vergangenen Herbst schien sie um Jahre gealtert. Dennoch ersparte er ihr die harten Worte, die schon lange hätten gesagt werden müssen, nicht. »Es war Euer Wunsch, dass Heinrich den Dienst bei Graf Siegfried quittiert, wo er als Page zufrieden war. Ihr könntet es nach dem Tod unseres Vaters nicht ertragen, Eure Söhne in der Ferne zu wissen, war Eure Rede. Doch seither verbringt Ihr Eure Tage mit Wehklagen und Beten, anstatt Euch in Gottes Willen zu fügen und Euch Eures jüngsten Sohnes anzunehmen. Ich selbst kann mich kaum um Heinrich kümmern und ihm schon gar nicht den Vater ersetzen. Die Regierung der Grafschaft verlangt in diesen rechtlosen Zeiten meine volle Aufmerksamkeit.«

Ein Funken Zorn flammte in den Augen seiner Mutter auf. In früheren Zeiten war Margarete für ihr aufbrausendes Temperament bekannt gewesen. Und selbst jetzt war trotz des unförmigen schwarzen Gewandes und des streng um den Kopf gebundenen Witwenschleiers eine Spur ihrer alten Lebendigkeit zu erahnen. »Auch du hast dich verändert, mein Sohn, seitdem es dem Herrn gefiel, deine Gemahlin Katharina in der Blüte ihrer Jugend zu sich zu nehmen. Mich dünkt, die Trauer um ihren Verlust ist der wahre Grund für deine beständige Rastlosigkeit.«

Der Hieb saß. Unwillkürlich zuckte Johann zusammen. In Margaretes Augen las er, dass sie ihn mit ihren Worten bewusst hatte treffen wollen. Doch bevor er zu einer heftigen Erwiderung ansetzen konnte, verschleierte sich auch schon ihr Blick.

»Du gleichst deinem Vater von Tag zu Tag mehr, Johann. Nicht nur vom Antlitz her. Ich erkenne in dir auch seine Strebsamkeit und Beharrlichkeit. Jedoch fehlt es dir noch an seiner Weisheit und Güte. Heinrich kommt eher nach mir. Er mag manchmal unbesonnen sein, aber schlecht ist er nicht.«

Wieder spürte Johann den brennenden Zorn, der ihn gepackt hielt, seitdem er von Simons Verletzungen erfahren hatte. Obwohl dies der Ehrerbietung zuwiderlief, die er seiner Mutter schuldete, wandte er ihr brüsk den Rücken zu und beobachtete das Treiben im Burghof durch die Bogenfenster des großen Saals im Palas.

Eine neue Gruppe blutjunger Dienstleute war aus der Stadt Kreuznach angekommen. Johann fiel ein ungefähr zwölfjähriger Junge auf, der die anderen um mehr als einen Kopf überragte. Das musste Michel, der Metzgersohn, sein. Sein Ruf als wackerer Kämpfer mit außergewöhnlichen Kräften eilte ihm trotz seiner Jugend voraus.

»Verzeiht, was habt Ihr gesagt?« Schuldbewusst drehte sich Johann zu seiner Mutter um, die wieder das Wort an ihn gerichtet hatte. Sein lahmes Bein, eine Folge der Kinderkrankheit, die ihn fast das Leben gekostet hatte, begann wieder zu schmerzen.

»Ich habe beschlossen, mich auf mein Wittum, die Burg Sponheim, zurückzuziehen«, wiederholte Frau Margarete. »Schicke Heinrich zum Rheingrafen Siegfried zurück. So wird er auf der Kauzenburg kein weiteres Unheil anrichten und Simon nicht wieder schaden. Vor allem wird er nicht erneut deinen Zorn erregen.«

Obwohl der Vorschlag Johann mehr als gelegen kam, hörte er den Vorwurf heraus. Er hatte den geständigen Heinrich mit der Hundepeitsche geschlagen, da er sein Wort gebrochen hatte, Simon nicht wieder zu drangsalieren. Nun schmachtete er mit wundem Rücken bei Wasser und Brot im Verlies. »So lange, bis Simon wieder genesen ist«, hatte er seiner entsetzten Mutter gesagt, die sich vergeblich für ihren Jüngsten eingesetzt hatte.

Mit ihrem Entschluss, die Kauzenburg zu verlassen, um fortan auf ihrem Witwengut zu leben, wollte sie zweifelsohne bewirken, dass er seine Härte gegenüber dem jüngeren Bruder bereute. Erneut befiel ihn der Zorn.

Doch bevor er sich über seine Antwort im Klaren war, wurde das schwere Portal des Saals aufgerissen. Eine Magd erschien auf der Schwelle und versank in einem tiefen Knicks. »Der Bader bittet Euch in aller Demut, ans Krankenbett Eures Ziehsohns zu kommen. Er ist soeben aus seiner Ohnmacht erwacht.«

 

Im Verlies tief unter dem Bergfried wälzte sich Heinrich stöhnend im schmutzigen Stroh. Kein Sonnenlicht drang durch die dicken, immer feuchten Mauern zu ihm hinab. Nur die blakende Pechfackel am Treppenaufgang spendete ein wenig Licht.

Sein Rücken fühlte sich an wie eine einzige offene Wunde. Noch nie hatte ihn Johann mit solcher Wucht und Erbarmungslosigkeit geschlagen. Hätte die Mutter nicht gefleht und gedroht, er wäre wohl nicht einmal verbunden worden. Die blutigen Striemen hätten sich entzünden und sogar seinen Tod herbeiführen können. So war es vor Jahren jedenfalls einem ungehorsamen Knecht ergangen, der nach der Peitsche elendiglich am Wundbrand verreckt war.

Wieder stiegen Heinrich vor Schmerz und Wut Tränen in die Augen. Was hatte er denn verbrochen? Den schwächlichen Patensohn seines Bruders eine Weile in den Keller gesperrt. Er hätte diese Memme schon wieder daraus befreit! Voller Genugtuung hatte er sich ausgemalt, wie er mit seinem Bruder den weinenden Feigling im Weinkeller gefunden hätte. Vielleicht hätte Johann dann endlich erkannt, dass er seine Liebe an einen Unwürdigen verschwendete, während er ihn, sein eigen Fleisch und Blut, schmählich missachtete. Und das, obwohl er sein Nachfolger auf dem Sessel des Grafen von Sponheim war, solange Johann kinderlos blieb.

Verbittert entsann sich Heinrich der Szene, die er vor wenigen Monaten hinter einem Wandschirm verborgen beobachtet hatte. Johann unterhielt sich mit dem Bruder seiner soeben an den Pocken verstorbenen Frau Katharina. »Ich entbiete Euch mein aufrichtiges Mitgefühl«, sagte Graf Eberhard von Katzenelnbogen, Herr der über dem Ort St. Goar liegenden Burg Rheinfels. »Ich kenne Euren Schmerz nur zu gut. Auch ich war meiner Gemahlin Sieglinde in aufrichtiger Liebe zugetan, bevor sie der Herrgott weit vor der Zeit zu sich rief. Dass Er nun gleichermaßen mit meiner jungen Schwester verfuhr, gehört zu Seinen für uns Sterbliche unergründlichen Ratschlüssen.«

»Ich danke Euch für den Zuspruch, Eberhard.« Die Stimme seines Bruders klang belegt. »Lasst unsere Familien dem Sensenmann zum Trotz auch weiterhin eng miteinander verbunden bleiben.«

Eine Weile herrschte Schweigen, und Heinrich überlegte bereits, wie er den Rittersaal unbemerkt verlassen könnte, als plötzlich sein Name fiel.

»Ich möchte Euch einen Vorschlag machen, Johann, der unser beider Schmerz um Katharina lindern könnte. Meine einzige Tochter Christina wird nun mutterlos aufwachsen, denn ich gedenke nicht, mich noch einmal zu vermählen. Christina ist meiner verstorbenen Schwester schon jetzt wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich entbiete sie Eurem Bruder Heinrich zur Frau, sobald sie das Jungfrauenalter erreicht hat. So weiß ich mein einziges lebendes Kind schon jetzt gut versorgt, und Ihr behaltet eine Erinnerung an Eure Gemahlin.«

»Ein trefflicher Vorschlag«, antwortete Johann zu Heinrichs Freude und Stolz. »Mein Bruder ist nur um fünf Jahre älter als Christina. Es ist mir eine Ehre, Euer Eheangebot anzunehmen.«

Trotz der Trauer um ihren Gemahl war auch Johanns und Heinrichs Mutter vor Freude schier außer sich, als sie von dem Verlöbnis erfuhr. »Damit wirst du der Erbe einer der reichsten und mächtigsten Grafschaften am Rhein«, eröffnete sie ihm. »Eberhards Söhne aus erster Ehe sind nicht aus dem Kreuzzug des französischen Königs Ludwig heimgekehrt. Somit ist Christina seine einzige Erbin. Manch einer wird dich um diese Verbindung beneiden.«

Beim Hochamt des darauffolgenden Sonntags besiegelten Johann und Eberhard ihren Pakt mit einem feierlichen Gelöbnis vor Gott und den Menschen. Niemals hatte sich Heinrich so geehrt gefühlt wie an jenem Tag. Und nicht geglaubt, sich je wieder so elend zu fühlen wie jetzt.

Die schwere Tür, die zu den Verliesen führte, wurde quietschend geöffnet. Hölzerne Trippen klapperten die Stufen hinab. Heinrich richtete sich mühsam auf. Vor dem vergitterten Fensterloch erschien seine Mutter, gefolgt von zwei Wachen mit qualmenden Fackeln.

»Ich bringe dir gute Kunde, mein Sohn.« Margarete versuchte, ihrer Stimme einen fröhlichen Klang zu verleihen. »Ich habe soeben erfahren, dass Simon aus seiner Ohnmacht erwacht ist. Nun währt es nur noch eine Weile, bis dich Johann aus diesem Gefängnis entlässt.«

Heinrich rührte sich nicht. Derweil begann seine Mutter zu schnuppern. »Warum stinkt es wieder so unerträglich in diesem Loch?«, wandte sie sich hochfahrend an die Wachen. »Habe ich euch nicht persönlich befohlen, den Eimer mehrmals täglich zu leeren?«

Achselzuckend öffnete einer der Männer den Kerker und ergriff den übel riechenden Ledereimer. Demonstrativ schloss er hinter sich wieder ab.

»Und habe ich euch nicht befohlen, die Fußfessel zu lösen?« Margarete gab keine Ruhe.

Diesmal bot ihr die verbliebene Wache Paroli. »Graf Johann hat das ausdrücklich verboten, wohledle Herrin.« Er verbeugte sich knapp.

Schnaubend wandte Margarete ihm den Rücken zu. »Hab noch etwas Geduld, mein Sohn. Sicherlich wird dich dein Bruder schon bald befreien.«

Diesmal entschloss sich Heinrich zu antworten. »Weshalb seid Ihr Euch dessen so sicher, Frau Mutter?«

»Ich habe Johann persönlich darum gebeten.«

Heinrichs ohnehin winziger Hoffnungsfunke erlosch.

»Für mich gebeten habt Ihr meinen Bruder schon oft, Frau Mutter. Allein, in der Regel widersetzt er sich Euren Wünschen.«

»Diesmal ist es anders, Heinrich.« Er hörte den Ärger in ihrer Stimme. »Ich werde die Kauzenburg verlassen und nach Burg Sponheim übersiedeln. Damit erübrigt sich deine Gegenwart in Kreuznach, aus der ich so viel Trost nach dem Hinscheiden deines Vaters zog. Ich habe Johann gebeten, dich wieder in die Dienste des Rheingrafen Siegfried zu schicken.«

Anstatt der beabsichtigten Erleichterung spürte Heinrich Hass in sich aufsteigen.

»Hätte sich der Bankert bei dem Sprung aus dem Turm doch nur das Genick gebrochen«, stieß er wütend hervor.

Seine Mutter bekreuzigte sich erschrocken. »Heinrich, so darfst du um deiner ewigen Seligkeit willen nicht sprechen. Freut es dich nicht, auf Burg Stein zurückzukehren? Graf Siegfried war doch wie ein zweiter Vater für dich.«

»Mein Platz wäre hier auf der Kauzenburg«, knirschte Heinrich mit zusammengebissenen Zähnen. »Dort, wo sich jetzt dieser Feigling breitmachen wird, der mir die Zuneigung meines Bruders stiehlt.«

»Auch Simon wird die Kauzenburg in wenigen Jahren verlassen, um seine Ausbildung zum Ritter zu beginnen«, wandte Margarete mit schwacher Stimme ein.

Aber Heinrich hörte ihr gar nicht zu. »Nur Ihr habt mich jemals geliebt, Mutter. Für meinen Vater wie für meinen Bruder war ich immer nur eine Last.«

»Heinrich, da bist du im Irrtum. Dein Vater war dir von Herzen zugetan. Aber er war schon zu alt, um nachsichtig mit den Streichen der Jugend umzugehen. Und Johann eifert ihm in allem nach. Du wirst sehen, dass er seine Meinung ändern wird, wenn du erst einmal Herr der Grafschaft Katzenelnbogen bist.«

»Dies wird noch Jahre dauern. Und wer weiß, ob Johann die Erbtochter Christina am Ende nicht selbst zur Frau nehmen will.«

Hilflos streckte Margarete die Hand durch das Gitter, um ihren Sohn zu berühren. Doch er wich vor ihr zurück.

»Heinrich, so komme doch zur Besinnung. Johann hat einen heiligen Eid auf euer Verlöbnis geleistet. Nur der Erzbischof, wenn nicht sogar nur der Papst, könnte dieses Versprechen wieder lösen.«

Heinrich antwortete nicht. Stattdessen drehte er ihr den Rücken zu.

»So nehme ich denn jetzt Abschied, mein Sohn«, sagte Margarete mit trauriger Stimme. »Morgen breche ich schon nach der Frühmesse nach Burg Sponheim auf. Wenn der Rheingraf dich beurlaubt, bist du mir dort zu jeder Zeit willkommen. Willst du mir nicht wenigstens eine gute Reise wünschen?«

Heinrich gab keinen Laut von sich. Schließlich hörte er seine Mutter seufzen. »Ich segne dich, Heinrich, und hoffe mit dir auf bessere Zeiten. Lebe wohl.«

Als ihre Tritte auf der Treppe verklangen, loderte der Hass in ihm wie eine Feuersbrunst.

»Ich schwöre, du wirst es mir büßen, Simon, dass du mir die Liebe meines Bruders geraubt hast. Selbst wenn ich dafür einst in der Hölle schmore.«

Kapitel 2

Kauzenburg, Sommer 1262, einige Tage später

Der kleine Trupp Reiter näherte sich Kreuznach von der Osterburger Seite her. Kurz vor der hölzernen Brücke über die Nahe zügelte ihr Anführer sein Pferd und ließ seinen Blick zur Kauzenburg schweifen.

»Fürwahr eine prächtige Wohnstatt hat sich der Vater des jetzigen Grafen Johann von Sponheim da errichtet«, murmelte er in seinen buschigen schwarzen Bart, den bereits erste graue Fäden durchzogen.

Die beiden trutzigen Türme der Außenmauer, zwischen denen der klobige Bergfried zu sehen war, ermöglichten einen weiten Blick über das Städtchen, das sich beidseits der Nahe erstreckte, und das dahinterliegende Land. Eine mächtige Mauer mit einem Wehrgang, auf dem Wachen mit silberglänzenden Kettenhauben hin- und hergingen, zog sich von Turm zu Turm und machte die Burg von der Stadtseite her nahezu uneinnehmbar.

»Zum Glück muss ich mir mein Recht nicht mit Gewalt erzwingen«, setzte der Anführer sein Selbstgespräch fort. Während sie durch die schmalen Gassen unterhalb der Burg ritten, wandte er sich an den Mönch in der formlosen grauen Kutte an seiner Seite.

»Bruder Martin, habt Ihr die Abschrift der Urkunde wohl verwahrt bei Euch?«

Der Angesprochene nickte ungeduldig, als ob er die Frage schon öfter gehört hätte.

Schließlich erreichten die Reiter das Tor, das in den äußeren Burgbereich führte. Ein Wachhauptmann im Kettenhemd und dazugehöriger Haube trat ihnen entgegen. Auf seinem Waffenrock prangte das Wappen der Sponheimer mit dem blau-goldenen Schachbrettmuster.

Nach kurzem Wortwechsel ließ er die Gruppe passieren. Nachdenklich blickte er ihr nach, als sich die Pferde vorsichtig den gewundenen steilen Hang zum inneren Burgtor hinaufbewegten. Dann schüttelte er den Kopf und sagte leise zu sich selbst:

»Alle Welt glaubte, er sei als Märtyrer im Kreuzzug gefallen. Ich wüsste zu gerne, ob Graf Johann dieser unerwartete Besuch willkommen ist.«

 

»Ich sehe, es geht dir schon viel besser, mein Sohn.« Ganz gegen seine Gewohnheit strich Johann Simon über die blonden schulterlangen Locken.

Je älter der Junge wurde, desto ähnlicher sah er Irmhild, seiner Mutter. Sie hatte ihm nicht nur die fein geschnittenen Gesichtszüge vererbt, sondern auch die Farbe ihres Haars, das wie gesponnenes Gold in der Sonne geleuchtet hatte. Wehmütig dachte Johann an die Zeit zurück, in der er und Raimund um die schöne Wildgrafentochter freiten. Sie hatte sich zwar für seinen besten Freund entschieden. Doch das bescherte ihm sein kurzes Glück mit Katharina von Katzenelnbogen, die er auf Irmhilds und Raimunds Hochzeit kennengelernt hatte. So waren Neid und Missgunst ihrer Freundschaft ferngeblieben.

Unwillig drehte Simon seinen Kopf zur Seite. »Nur Mädchen werden gestreichelt«, knurrte er. Johann musste lächeln. In diesem Verhalten erkannte er Raimund wieder, der Simon mehr mitgegeben hatte als nur die schlanken, drahtigen Glieder und die rehbraunen Augen. Der Junge war ein Kämpfer und ließ sich durch nichts unterkriegen. Das hatte er schon mehr als einmal bewiesen.

»Wann darf ich die Kemenate endlich verlassen?«, maulte Simon. »Draußen scheint seit Tagen die Sonne, und ich liege hier nutzlos herum.«

Johann bemühte sich krampfhaft um eine ernste Miene, bevor er antwortete. »Du warst schwer verletzt, mein Sohn. Solange dir immer noch schwindelt, wenn du aufstehst, musst du dich noch ein Weilchen gedulden. Auch deine Hand ist noch nicht zu gebrauchen. Der Bader sagt zwar, der Bruch verheilt gut, aber wenn du zu früh damit hebst oder greifst, kann der Arm steif bleiben.«

Missmutig warf sich Simon auf die andere Seite. »Aber es ist hier so öde und langweilig.«

Nun runzelte Johann die Stirn. »Erst gestern habe ich dir Gaukler geschickt, die eine ganze Stunde lang Späße und allerlei Kunststücke zu deiner Kurzweil getrieben haben. Glaub mir, mein Sohn, ich weiß, wie es ist, keine gesunden Gliedmaßen zu haben.«

Schuldbewusst blickte Simon auf. »Seid Ihr durch eine Krankheit lahm, Oheim?«, fragte er mit der rücksichtslosen Offenheit eines Kindes.

Johann nickte. »Als ich ungefähr so alt war wie du, warf mich ein heftiges Fieber danieder. Zwei meiner Geschwister sind daran gestorben. Auch ich wurde nie wieder ganz gesund. Das linke Bein blieb verkürzt und schlaff.«

»Aber Ihr könnt doch gehen, reiten und sogar kämpfen, Oheim«, warf Simon ein. Wieder benutzte der Junge die vertraute Anrede, um die Johann das Kind, seitdem es sprechen konnte, gebeten hatte. »Gevatter« war ihm zu förmlich erschienen und »Vater« wollte er sich im Gedenken an seinen ermordeten Freund nicht nennen lassen.

Er seufzte insgeheim, verzog aber keine Miene. »Dabei zählt allein der Wille, Simon. Jahrelang hatte ich große Schmerzen, doch ich wollte ein Ritter werden.« Er verschwieg, dass er bis heute keinen Schritt ohne Pein gehen konnte.

Simon richtete sich auf und stopfte ein großes Federkissen in seinen Rücken. Einen Moment verzerrte sich sein noch mädchenhaft zartes Gesicht mit den langen dunklen Wimpern und Irmhilds sanft geschwungenem Mund. Der Kopf tut ihm also immer noch weh, dachte Johann grimmig. Doch Simon ließ sich nichts weiter anmerken. »Auch ich will kämpfen lernen, sobald ich aufstehen kann«, erklärte er trotzig. »Nie wieder …« Er stockte und biss sich auf die Lippen.

Johann erriet seine Gedanken. »Nie wieder soll dich Heinrich in einen Keller sperren«, ergänzte er den unvollendeten Satz.

Zorn flammte in den dunklen Augen des Jungen auf. »Das nächste Mal schlage ich ihn zu Boden«, stieß er heraus.

Johann war unwillkürlich gerührt. Was für ein tapferes Herz schlug doch in der Brust dieses erst fünfjährigen kleinen Jungen! Als »weibisch und feige«, hatte Heinrich Simon häufig verspottet. In der Tat war sein zehnjähriger Bruder grobknochig und ungeschlacht und überragte Simon um mehr als einen Fuß. Zwar war er kräftig und schien Talent zum Kämpfen zu haben, doch fürderhin war er nichts als ein Maulheld. Schließlich bedurfte es keinen Mutes, den kleineren Simon so zu traktieren! Wahrscheinlich neidete Heinrich dem Jungen nur, dass er ihm bereits in mancher Hinsicht an Geistesgaben überlegen war. Wieder fühlte Johann beim Gedanken an seinen Bruder das vertraute Gemisch aus Scham und Wut.

»Wo ist Heinrich jetzt?«, fragte Simon, als hätte er Johanns Gedanken erraten.

»Ich habe ihn zurück auf Burg Stein geschickt, nicht ohne Graf Siegfried seine strenge Erziehung ans Herz zu legen. Dort wird er bleiben, bis er seine Pagen- und Knappenzeit absolviert hat und zum Ritter geschlagen wird.«

Simon starrte trübe auf die leinene Bettdecke. »Auch ich würde dereinst gern ein Ritter werden«, murmelte er.

Johann musterte ihn erstaunt. »Was ficht dich nun wieder an, Patensohn? Natürlich wirst du zum Ritter geschlagen, sobald deine Ausbildung vollendet ist.«

Mit strahlenden Augen blickte Simon auf. »Ist das wirklich wahr, Oheim? Heinrich hat gesagt, ich sei viel zu arm, um die Ritterwürde bezahlen zu können.«

Brennender Ärger rötete Johanns Wangen. »Du bist der Erbe der Herrschaft Montfort, Simon. Ab deiner Volljährigkeit hättest du keine Mühe, aus den Einnahmen deiner Güter die Kosten der Ausbildung und Schwertleite zu bestreiten. Aber du wirst es nicht nötig haben. Ich werde selbst dafür einstehen.«

Zu seiner Verblüffung schien Simon sich nicht darüber zu freuen. »Dann ist es also wahr, dass ich Heinrich sein Erbe stehle?«

Schnaubend sprang Johann auf und trat ans offene Fenster. Die mit Pergament bespannten Rahmen, mit denen im Winter die Zugluft abgehalten wurde, waren für den Sommer entfernt worden. Gedankenvoll starrte er hinaus. Ein Trupp Reiter bewegte sich auf das Burgtor zu. Sicher die neuen Reisigen, die der Burgvogt rekrutiert hatte.

Mit einem Ruck wandte er sich wieder zu Simon um. »Was hat Heinrich dir sonst noch gesagt?«

Simons Gesicht verzog sich kurz, als wolle er weinen. Doch schnell hatte er sich wieder im Griff.

»Nichts weiter, Oheim.«

Doch nun war Johanns Argwohn geweckt. »Was?«, beharrte er unnachgiebig.

Simon wich seinem Blick aus. »Dass mein Vater kein edler Ritter gewesen ist. Sonst hätten die Meuchelmörder ihn nicht überwältigen können.« Johann musste sich niederbeugen, um das Kind zu verstehen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

»Was noch?«

»Dass sie Unzucht mit meiner Mutter getrieben haben, wie es der Mattes mit der Bärbel getan hat.« Nun schwang ein Schluchzen in Simons Stimme mit.

Johann knirschte vor Wut mit den Zähnen. Die Vergewaltigung der Magd Bärbel durch einen Burgsoldaten hatte vor einiger Zeit großes Aufsehen auf der Kauzenburg erregt. Der Mann war zur Strafe öffentlich ausgepeitscht worden.

Bewahre dich Gott davor, mir in der nächsten Zeit in die Hände zu fallen, Heinrich, raste Johann stumm. Die Hundepeitsche wäre diesmal zu gut für dich.

Simon zuliebe riss er sich zusammen. »Dein Vater war einer der tapfersten Männer, die ich je gekannt habe. Er hat sich wie ein Löwe gewehrt, um deine Mutter und dich zu beschützen. Doch die Übermacht war einfach zu groß. Sie wurden alle niedergemacht.«

»Warum hat man die Mörder nie gefunden?«

Wieder raste Johanns Herz vor Zorn. »Wir haben Monat um Monat landauf und landab nach ihnen gesucht. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Auch von der Beute ist kein einziges Stück je wieder aufgetaucht.«

»Manchmal höre ich ihre Schreie«, flüsterte Simon.

Johann fasste ihn hart an der Schulter. »Was sagst du da?« Er ließ sofort los, als er Simons verstörten Blick bemerkte.

»Wenn es dunkel ist und mir das Blut in den Ohren rauscht, höre ich Hilferufe und Waffengeklirr.«

Fassungslos starrte Johann ihn an. »Warum hast du mir nie davon erzählt?«

»Die Amme meint, die Geräusche kämen geradewegs aus dem Jenseits. Sie riet mir zu beten und meine Seele Gott zu empfehlen.«

»Strohdummes Weibsstück«, entfuhr es Johann.

»Aber es hilft tatsächlich, Oheim«, verteidigte Simon die alte Frau, die ihn bis vor wenigen Monaten betreut hatte. Dann lenkte er ab. »Gab es denn an der Stelle des Überfalls gar nichts, was auf die Mörder hindeutet?«

Johanns Hand fuhr an seinen Hals. Eine Weile kämpfte er mit sich. Doch der Junge war alt genug. Konnte er allein im Dunkeln die Schlachtgeräusche ertragen, so konnte er auch mit dem einzigen Zeugnis umgehen, das auf die Mörder verwies.

Er nestelte die silberne Kette unter seinem Wams hervor. »Schau her, Simon. Das fand man an der Stätte der Untat. Es ist ein heidnischer Anhänger mit den arabischen Schriftzeichen für Allah, den Gott der Ungläubigen. Einer der Schurken muss ihn im Kampf verloren haben.«

Simon streckte die Hand aus. »Darf ich ihn mir einmal ansehen?« Johann beobachtete, wie er das Schmuckstück von allen Seiten betrachtete. Es war ungefähr so groß wie ein Silberdukaten und mit winzigen Edelsteinsplittern besetzt, die, einer dicht neben dem anderen, fremdartige Schriftzüge bildeten. Sie glänzten auf der schwarzen polierten Scheibe, die das Zentrum des Anhängers bildete. »Onyx« hatte ein jüdischer Goldschmied den Stein genannt. Er war mit fein ziseliertem Silber umrahmt.

Johann fasste einen Entschluss. »Behalte den Anhänger, Simon. Er soll dich daran erinnern, dass der Tod deiner Eltern noch ungesühnt ist.« Eigenhändig legte er dem Jungen die silberne Kette um den Hals.

Simon umfasste den Anhänger mit beiden Händen. »Ich werde ihn tragen, bis ich den Mord an meinen Eltern gerächt habe. Und ich schwöre bei Gott, ich werde die Untäter finden und mit eigener Hand richten.«

Erschrocken fasste Johann nach Simons gesunder Hand. »Bedenke, was du sagst, mein Sohn. Du bist noch zu jung, um dich durch einen solch schwerwiegenden Eid zu binden.«

Trotz und Schmerz standen in Simons Augen, als er den Blick seines Ziehvaters erwiderte.

»Ich bin alt genug, um sie zu töten. Die Räuber hätten auch mich getötet, wenn meine Mutter mich nicht verborgen hätte.«

Johann lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. War es richtig gewesen, den jungen Knaben mit solch schwerem Wissen zu belasten?

Plötzlich klopfte es an die Tür.

»Unerwartete Gäste sind eingetroffen, wohledler Herr.« Der Burgvogt Oswald war persönlich gekommen, um ihm die Kunde zu überbringen. Das war höchst ungewöhnlich.

Johann richtete sich zu voller Größe auf. Der Schmerz pochte in seinem Bein.

»Wen beliebt Ihr zu melden, Oswald?«

»Philipp von Montfort, hoher Herr. Er ist aus dem Morgenland heimgekehrt.«

 

Aufmerksam sah sich Philipp von Montfort im großen Saal des Palas der Kauzenburg um. »Prächtig, prächtig«, murmelte er in seinen Bart, als er die Wandbehänge aus gewebter Wolle und die Steinfliesen des Fußbodens unter den frischen Binsen betrachtete. »Kein gestampfter Lehm wie in der Halle von Montfort.«

Er kostete einen Schluck des Weißweins, den man ihm kredenzt hatte. »Wahrlich ein herrlicher Tropfen. Ich wüsste zu gerne, aus welcher Lage er stammt.«

Rastlos schritt er in der weitläufigen Halle auf und ab. Mit der Zeit bildete sich eine steile Zornesfalte auf seiner Stirn. Graf Johann ließ auf sich warten. Augenscheinlich, um ihn mürbe zu machen. Aber woher sollte er von der Urkunde wissen?

Missmutig versetzte er seinem Knappen, der sich in einer Ecke des Saals die Zeit damit vertrieb, Philipps Schild zu polieren, einen Fußtritt. »Mach nicht solch einen Lärm, Bursche«, grollte er.

Von draußen klangen die Geräusche von Übungskämpfen in den Saal. Der Waffenmeister schrie seine Befehle, Holz stieß mit einem dumpfen Knall auf Holz. Müßig trat Philipp in eine der Fensternischen, deren steinerne Sitzbänke mit bestickten Kissen belegt waren, und schaute hinaus.

Ein junger Bursche, noch ohne jede Spur von Flaum am Kinn, hatte gerade einem offensichtlich weit älteren Kämpfer das hölzerne Übungsschwert mit seiner Streitaxt zertrümmert, die ebenfalls aus Holz gefertigt war. Wütend eilte der Waffenmeister auf die beiden zu. Anstatt den siegreichen Knaben zu loben, blaffte er ihn an. »Michel, wenn du so weitermachst, haben wir bald keine einzige Waffe mehr in der Übungskammer. Mäßige dich, bevor du uns noch alles zerschlägst.« Der Michel genannte Junge nickte betreten und trollte sich auf einen Wink seines Meisters mit hängenden Schultern.

Verblüfft beobachtete Philipp die Szene. Diesen Burschen hätte man im Morgenland gut gebrauchen können. Da wäre er nicht gescholten worden, wenn er die Ungläubigen in Stücke gehauen hätte. Im Gegenteil. Philipp grinste bei der Erinnerung. Trotz der Niederlage der Kreuzfahrer hatte er so manches Scharmützel siegreich für sich entschieden und dabei prächtige Beute gemacht. Zimperlich war man dabei beileibe nicht vorgegangen.

Von draußen näherten sich schwere ungleichmäßige Schritte. Philipp horchte auf. Es wurde aber auch Zeit.

 

Johann beeilte sich tatsächlich nicht, nachdem er die Nachricht von dem unerwarteten Besuch erhalten hatte. Er schickte Oswald voraus, die Gäste willkommen zu heißen und ihnen einen Trunk seines besten Weißweins zur Erfrischung zu reichen.

Während er die steile Treppe hinabstieg, die von den Kemenaten zum Rittersaal führte, versuchte er sich an alles, was er über Raimunds Bruder wusste, zu erinnern. Zu Lebzeiten seines Freundes war er Philipp nur ein- oder zweimal begegnet. Er war nur ein Jahr jünger als Raimund. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass zwischen den beiden schon früh eher Rivalität geherrscht hatte als brüderliche Verbundenheit.

Wie die beiden Söhne seines Schwagers Eberhard von Katzenelnbogen schloss sich Philipp schon als halbwüchsiger Knabe dem Kreuzzug Ludwigs IX. von Frankreich an. Ruhm und Ehre als Befreier der heiligen Stätten zu gewinnen stand dabei nicht im Vordergrund. Vielmehr gab sich Philipp der Hoffnung hin, in der Fremde ein Vermögen zu erwerben. Als zweitgeborenem Sohn stand ihm kein Anteil an den Gütern zu, die zur Herrschaft Montfort gehörten.

»Es wird ihm zupasskommen, mit Gottes Segen rauben, morden und plündern zu können«, erzählte Raimund Johann verächtlich, als er von Philipps Entschluss erfuhr. Sein Bruder hatte sich als Knappe bei einem Ritter verdingt, der mit anderen Gleichgesinnten als Nachzügler im Jahr des Herrn 1249 ins ferne Morgenland aufgebrochen war. Sie erreichten die ägyptische Hafenstadt Damiette gerade rechtzeitig genug, um mit in die verlustreichen Schlachten gegen den blutjungen Sultan Turan Schah zu ziehen. Diese endeten wenige Monate später mit der Gefangennahme des Königs und des größten Teils seines Heeres. Wie Eberhards Söhne galt auch Philipp seither als verschollen.

»Gebe der Herrgott, dass er in der Schlacht gefallen und nicht hernach enthauptet oder gar in die Sklaverei verschleppt worden ist.« Trotz seiner Abneigung gegen den Bruder war Raimund erschüttert, nachdem Rheingraf Siegfried seinem Knappen die Kunde überbracht hatte. »Man sagt, dass die Araber junge Gefangene als Lustknaben gebrauchen oder sie wie Ochsen kastrieren lassen, um sie zu Eunuchen für ihre Frauenhäuser zu machen.«

Nach Raimunds Tod war Philipps Schicksal in den Hintergrund getreten. Johann wusste weder Mittel noch Wege, nach ihm zu forschen, wie es Raimund gelegentlich vorgehabt hatte.

Vor dem Eingang zum Rittersaal straffte er sich. Wahrscheinlich war Philipp gekommen, um die Vormundschaft über seinen Neffen Simon zu fordern. Das stand ihm als einzigem leiblichen Verwandten zu. Also würde er bald Abschied von seinem geliebten Patensohn nehmen müssen. Der Schmerz darüber brach ihm schon jetzt das Herz.

Dessen ungeachtet ging er mit ausgestreckten Armen auf Philipp zu. »Was für eine große und freudvolle Überraschung«, heuchelte er, nachdem sich die Männer begrüßt und an dem Kastentisch Platz genommen hatten, der in der Nähe einer der Fensternischen stand. »Alle Welt dachte, Ihr säßet als Märtyrer längst zur Rechten des Allmächtigen im Paradies.«

Unverhohlener Spott zuckte über Philipps wettergegerbtes, von tiefen Falten durchfurchtes Gesicht. Johann bemerkte es wohl und musterte ihn verstohlen. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte Raimunds Bruder für weit älter gehalten als seinen toten Freund. Die Jahre in der Fremde hatten Philipp vorzeitig altern lassen, seiner gedrungenen Gestalt aber auch die Statur eines Ringkämpfers beschert. Die kräftigen Muskeln waren selbst unter dem schweren gesteppten Wams noch zu erkennen. Die schwarz behaarten Hände wirkten wie kleine Schaufeln.

Philipp verbeugte sich leicht. »Diese Ehre ist mir noch nicht zuteilgeworden, Herr Graf.« Auch in seiner Stimme schwang Spott. »Doch mein Beichtvater Bruder Martin versichert mir unentwegt, dass meine Heldentaten im Kreuzzug die Waagschale zu meinen Gunsten senken, wenn der Allerhöchste dereinst zum Jüngsten Gericht lädt.«

»Wie seid Ihr dem Gemetzel der Niederlage entronnen?«

Ein düsterer Ausdruck huschte über Philipps Gesicht. »Meinem Herrn, dem Ritter Otto von Schönberg, gelang mit ein paar Getreuen die Flucht. Wir verbargen uns halb verdurstet auf einem Hügel hinter Dornengestrüpp. Von dort aus beobachteten wir am folgenden Tag, wie die Ausgeburt der Hölle, die sich Herr aller wahren Gläubigen schimpft, unzählige edle Ritter mit ihren Knappen und Dienstleuten enthaupten ließ. Die Ebene zu unseren Füßen färbte sich rot von ihrem Blut. Aber auch uns verschonte der Sensenmann nicht. Mein Herr starb am Wundbrand, als sich sein in der Schlacht verletztes Bein in der glühenden Hitze entzündete. Zwei weitere Gefährten verloren wir beim Marsch durch die Sümpfe des Nils durch Entkräftung und Fieber.«

Auch Johann war erschüttert. »Und wie habt Ihr überlebt?«

Jetzt entstellte ein unangenehmes Grinsen Philipps Gesicht. »Der Herrgott führte uns zu einem von erwachsenen Männern verlassenen Dorf. Ein paar Greise und halbwüchsige Knaben machten wir im Schlaf nieder. Wir tarnten uns mit ihrer Kleidung als Einheimische, versteckten uns über Tag und wanderten nur bei Nacht. Dank der dabei erbeuteten Maultiere konnten wir außerdem genügend Nahrung und Wasser mitnehmen, um schließlich das Meer zu erreichen. In Alexandria fand ich dann ein Schiff, das mich bis zur oströmischen Stadt Smyrna mitnahm.«

Johann war unangenehm berührt. Er verkniff sich die Frage, was aus den Frauen und Mädchen des Dorfes geworden war. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Wesentliche.

»Eure Verwandten dachten, Ihr wäret gefallen. Warum kehrt Ihr erst nach so vielen Jahren in die Heimat zurück?«

Philipp zuckte die Achseln. »Ich verdingte mich auf dem Rückweg bei verschiedenen Herren als Söldner. Auf diese Weise verbrachte ich allein zwei Jahre in Byzanz. Hier zu Hause erwartete mich doch nichts als die Armut des Zweitgeborenen.«

»Und was änderte schließlich Euren Sinn?«

»Zuletzt stand ich in den Diensten des Erzbischofs von Köln. Dort erfuhr ich eines Nachts bei einem Saufgelage vom Tod meines Vaters und dem schändlichen Mord an meinem Bruder. Da beschloss ich, in die Heimat zurückzukehren.« Wieder verzogen sich Philipps grobe Gesichtszüge zu dem eigentümlich verzerrten Grinsen. Johann beschlich ein mulmiges Gefühl.

Trotzdem sagte er freundlich: »Ihr seid sicher um das Wohl Eures Neffen Simon besorgt und wollt ihn bei Euch aufnehmen.«

Gleichermaßen zu seiner Erleichterung wie zu seiner Empörung winkte Philipp verächtlich ab. »Wie man mir mitteilte, ist das Balg gut bei Euch aufgehoben. Mir steht nicht der Sinn danach, ein unnützes Kind aufzuziehen. Nein, ich bin gekommen, um mein Erbe von Euch zu fordern.«

Johann war völlig verblüfft. »Wovon sprecht Ihr, Mann?« Auch er wählte nun eine gröbere Sprache.

Philipp winkte den Mönch in der fleckigen grauen Kutte herbei, der bislang schweigend in der Fensternische gesessen hatte. Der Mann stand auf und zog eine Pergamentrolle hervor. Ein unerträglicher Gestank entströmte seinem Gewand, als er sich Johann näherte und sie ihm überreichte. Unwillkürlich wich dieser etwas zurück.

»Es ist eine Abschrift aus den Archiven des Erzbischofs von Mainz«, erklärte Philipp. »Dort ließ unser Ahnherr diese Urkunde verwahren.«

Johann zog die dünne Schnur ab und entrollte das Dokument. Wie erwartet, war es in Latein abgefasst. Herrisch winkte er dem Burgvogt.

»Oswald, lasst sofort Bruder Markus kommen.«

Nur kurze Zeit später betrat der Burgkaplan den Saal. Johann streckte ihm brüsk die Pergamentrolle hin. »Lest mir vor, was diese Urkunde besagt.«

Ungläubig lauschte er den schwülstigen Worten und meinte dann: »So erbt der nächstgeborene Sohn die Güter von Montfort, auch wenn der Erstgeborene einen männlichen Nachkommen hinterlässt?«

Philipp nickte. »Sofern der Nachkomme noch nicht mündig ist.« Er nahm schmatzend einen Schluck Wein aus dem zinnernen Pokal. »Mein Großvater war ein weiser Mann. Er trachtete zu verhindern, dass schwache Weiber die Güter von Montfort verwalten oder sich gar eine fremde Hand auf sie legt, solange es noch einen erwachsenen Erben in direkter Linie gibt.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« Johanns Hand zuckte unwillkürlich zu seinem Schwertgurt.

Philipp betrachtete ihn ungerührt. »Macht daraus, was Euch beliebt, wohledler Herr. Ihr hattet die Güter meines verstorbenen Bruders drei Jahre in Eurer Obhut. Ich lasse Euch Bruder Martin da. Er soll mit Eurem Rentmeister die Abrechnungen durchgehen, um nachzuprüfen, ob alles seine Ordnung hat. Die bereits eingetriebene Pacht mögt Ihr mir erstatten. Natürlich abzüglich des Kostgelds für meinen Neffen.«

Er grinste erneut und stand auf. »Ich selbst werde noch heute nach Montfort reiten und Wohnung auf meiner Burg nehmen.« Damit winkte er seinem Knappen und wandte sich zur Tür.

»Wollt Ihr Simon denn nicht einmal sehen?«, fragte Johann ungläubig. »Er liegt nach einem Unfall zu Bett und kann noch nicht aufstehen.«

Wieder winkte Philipp ab. »Bestellt ihm meinethalben Grüße von mir. Und Ihr, Bruder Martin, betet ein zusätzliches Paternoster für seine Genesung. Lebt wohl und seid bedankt für den Wein.«

Johann fehlten ob der Dreistigkeit des Mannes die Worte. Raimund hatte seinen Bruder schon in jungen Jahren Flegel und Raufbold geschimpft, doch dessen jetziges Verhalten übertraf Raimunds drastischste Beschreibungen bei weitem. Aber es kam noch schlimmer.

An der Tür drehte sich Philipp noch einmal um. »Ihr wisst, dass Montfort ein reichsunmittelbares Lehen ist. Doch in diesen unsicheren Zeiten werde ich Sorge tragen müssen, dass der Besitz nicht bedroht wird. Und da es keinen rechtmäßigen deutschen König gibt, unter dessen Schutz ich mich stellen kann, habe ich beschlossen, Montfort dem Grafen von Veldenz als Lehen anzutragen.«

Johann stockte der Atem. Die Burgknechte sahen sich bestürzt an. Die Veldenzer waren seit Urzeiten mit den Sponheimern verfeindet. Jetzt würde Philipp von Montfort den Einfluss des Veldenzer Geschlechts also mitten in das Gebiet der Grafschaft Sponheim tragen, nur wenige Meilen von Kreuznach entfernt.

Erst eine geraume Weile nachdem Philipp den Saal verlassen hatte, fand Johann seine Fassung wieder. Während des Disputs hatte er unwillkürlich sein linkes Bein verkrampft, das nun höllisch zu schmerzen begann.

Durch das Fenster beobachtete er, wie Philipp mit seinen Begleitern die Pferde bestieg. »Ich hoffe, du schmorst dereinst in der Hölle, Schurke, anstatt zu Rechten des Herrgotts zu sitzen«, knirschte er ohne Rücksicht auf den verbliebenen Bruder Martin. »Sei versichert, wenn ich etwas dazu tun kann, so werde ich keinen Moment lang zögern.«

Kapitel 3

Burg Rheinfels, Mai 1269, sieben Jahre später

Gebannt beobachtete Christina von Katzenelnbogen das Geschehen im Burghof. Dort übten die Knappen an der Stechpuppe, im Galopp den Schild eines Gegners zu treffen.

Egbert von Leiningen war der nächste und ritt schon in Position. Christina mochte den Sechzehnjährigen nicht besonders, dem man trotz seines jungen Alters schon nachsagte, dass er den Mägden nachstellte. Erst vor wenigen Tagen hatte er Eva, der Küchenmagd, ein blaues Auge geschlagen, weil sie ihm nicht in die Nische unter der Treppe folgen wollte, die im Palas in den Keller hinabführte.

Christina sah zu, wie Egbert die hölzerne Lanze mit der stumpfen Spitze sorgfältig in seine rechte Armbeuge legte. Dann gab er seinem kräftigen Braunen die Sporen und galoppierte auf den falschen Krieger zu, der einen Schild in der linken und einen Streitkolben in der rechten Faust hielt. Es galt, den Schild mit solcher Wucht zu treffen, dass die hölzerne Puppe auf dem Sockel, auf dem sie befestigt war, nach hinten kippte.

Doch heute war das Glück Egbert nicht hold. Im letzten Moment scheute sein Pferd, seine Lanze glitt am Schild der Puppe ab, versetzte ihr aber dennoch einen solchen Schwung, dass sie sich blitzschnell um die eigene Achse drehte. Mit lautem Krachen prallte ihr Streitkolben auf seinen Rücken und ließ Egbert beinahe von seinem Ross stürzen. Flach auf dem Pferdehals liegend sprengte er auf seinem erschrockenen Tier davon. Mit dem Waffenmeister und den beiden anderen Knappen lachte auch Christina aus vollem Halse.

»Christina!« Die schnarrende, missbilligende Stimme in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Wegen des Lärms, der aus dem Burghof durch die offenen Fenster in die Kemenate drang, hatte sie ihre Muhme nicht eintreten hören. Schuldbewusst machte sie einen flüchtigen Knicks.

»Christina!« Agathe von Hunolstein, eine ältliche Base ihrer verstorbenen Mutter, blickte ihr scharf in die Augen. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es für eine junge Dame nicht schicklich ist, heimlich Männer zu beobachten.«

Ob des Vorwurfs blitzten Christinas tiefgrüne Augen verärgert auf, ihr schlechtes Gewissen war wie weggeblasen. Sie ballte die in den Falten ihrer Cotte verborgenen Hände zu Fäusten. Mühsam verbiss sie sich eine patzige Antwort.

Was war die Alte nur für eine Plage! Aus reinem Mitgefühl hatte Graf Eberhard die verarmte Witwe, die aus einer unbedeutenden Seitenlinie der Familie ihrer Mutter stammte, auf Burg Rheinfels aufgenommen. Zu Christinas Entsetzen, aber zur Freude ihres Vaters erbot sie sich schon bald, Christina die höfischen Umgangsformen zu lehren, die sich für eine Jungfrau ihres Standes geziemten.

»Ich gestehe es wohl, liebste Base Agathe, dass ich meiner einzigen Tochter die früh verstorbene Mutter nicht habe ersetzen können.« Christina schüttelte sich noch heute in Gedanken an das Gespräch, das sie heimlich mit angehört hatte. »Umso mehr freue ich mich, dass Ihr Euch meines Augensterns annehmen wollt. Ich fürchte, ich habe meine Tochter zu sehr verwöhnt.«

»Seid versichert, teurer Vetter, dass ich mein Bestes tun werde, eine vollendete Dame aus ihr zu machen. Ihr werdet stolz auf sie sein.«

»Ich bin Euch von ganzem Herzen dankbar dafür.«

In falscher Bescheidenheit hatte Agathe ihr Haupt gesenkt, das mit einem dichten, um Kopf und Hals geschlungenen Tuch bedeckt war, das sie sommers wie winters nicht ablegte. Christina fragte sich oft, welche Farbe ihr Haar wohl hatte und ob sie es jemals wusch.

»Hörst du mir überhaupt zu?« Mit harter Hand schüttelte Agathe sie an der Schulter. Ihrem wollenen Gewand, das viel zu warm für die Jahreszeit war, entstieg ein säuerlicher Geruch. »Wie kannst du es wagen, halbnackt am Fenster zu stehen, ohne Surcotte! Man wird dich für unzüchtig halten, für eine Dirne, die sich jedermann an den Hals wirft.«

»Es ist draußen so warm, Muhme Agathe. Da wurde mir heiß in dem schweren Überkleid«, murmelte Christina.

Doch Agathe beachtete sie nicht weiter. Zielstrebig trat sie auf den verwaisten Stickrahmen zu und hob das zarte Leinengewebe anklagend in die Höhe. »Nicht einmal die Rosenknospen hast du fertig gearbeitet, obwohl eine volle Stunde vergangen ist, seitdem ich meine Andacht in der Kapelle begonnen habe.«

Trotzig starrte Christina zu Boden und blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen stiegen. Einmal mehr wünschte sie sich sehnlichst, ein Junge zu sein. Dann könnte sie mit den Knappen über die Wiesen und Felder toben, Fecht- und Reitübungen machen, wann immer es ihr Herz begehrte! Doch seitdem Agathe sich ihrer »angenommen« hatte, war sie kaum mehr zum Reiten gekommen, geschweige denn dazu, den Falken, den ihr der Vater geschenkt hatte, zur Jagd abzurichten.