Blutadler - Craig Russell - E-Book

Blutadler E-Book

Craig Russell

4,5

Beschreibung

Ein Meisterwerk der Spannung.

Ein Serienmörder versetzt Hamburg in Angst und Schrecken. Der Täter folgt einem blutigen Ritus, der aus der Zeit der Wikinger stammt. Hauptkommissar Jan Fabel, dessen ungewöhnliche Methoden nicht unumstritten sind, wird mit dem Fall betraut. Er stößt auf einen geheimnisvollen Kult, dessen Mitglieder vor keinem Opfer zurückschrecken. Doch noch eine Organisation ist involviert: der Bundesnachrichtendienst ...

»Mit Jan Fabel hat Craig Russell eine Figur geschaffen, die jeden Thrillerleser begeistern wird.« Hamburger Abendblatt.

Auftakt der Serie um den Hamburger Hauptkommissar. Verfilmt mit Peter Lohmeyer als Jan Fabel.

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Über Craig Russell

Craig Russell, Jahrgang 1956, wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, seine Bücher wurden in 23 Sprachen übersetzt. Er hat sich schon als Student für deutsche Kultur interessiert und lebt in der Nähe von Edinburgh.

Drei Romane um den Hamburger Polizisten Jan Fabel sind mit Peter Lohmeyer in der Hauptrolle für das deutsche Fernsehen verfilmt worden.

Der neue Roman »Auferstehung« erscheint bei Rütten & Loening.

Informationen zum Buch

Ein Meisterwerk der Spannung!

Ein Serienmörder versetzt Hamburg in Angst und Schrecken. Der Täter folgt einem blutigen Ritus, der aus der Zeit der Wikinger stammt. Hauptkommissar Jan Fabel, dessen ungewöhnliche Methoden nicht unumstritten sind, wird mit dem Fall betraut. Er stößt auf einen geheimnisvollen Kult, dessen Mitglieder vor keinem Opfer zurückschrecken. Doch noch eine Organisation ist involviert: der Bundesnachrichtendienst …

»Mit Jan Fabel hat Craig Russell eine Figur geschaffen, die jeden Thrillerleser begeistern wird.« Hamburger Abendblatt.

Verfilmt mit Peter Lohmeyer als Jan Fabel.

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Craig Russell

Blutadler

Thriller

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter

Inhaltsübersicht

Über Craig Russell

Informationen zum Buch

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Erster Teil

Hamburg-Pöseldorf, Mittwoch, den 4. Juni, 4.30 Uhr

Hamburg-St. Pauli, Mittwoch, den 4. Juni, 6.00 Uhr

Hamburg-St. Pauli, Mittwoch, den 4. Juni, 7.30 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Mittwoch, den 4. Juni, 10.00 Uhr

Leichenhalle des Instituts für Rechtsmedizin, Hamburg-Eppendorf, Mittwochmittag, den 4. Juni

Polizeipräsidium Hamburg, Mittwoch, den 4. Juni, 14.45 Uhr

Hamburg-Pöseldorf, Mittwoch, den 4. Juni, 16.30 Uhr

Hamburg-Altona, Hotel Krone, Mittwoch, den 4. Juni, 16.30 Uhr

B 73 Hamburg-Cuxhaven, Mittwoch, den 4. Juni, 18.45 Uhr

Außenalster, Hamburg, Mittwoch, den 4. Juni, 19.40 Uhr

Alsterarkaden, Hamburg, Mittwoch, den 4. Juni, 20.45 Uhr

Außendeich bei Cuxhaven, Mittwoch, den 4. Juni, 21.00 Uhr

Hamburg-Altona, Mittwoch, den 4. Juni, 23.50 Uhr

Hamburg-Pöseldorf, Donnerstag, den 5. Juni, 10.00 Uhr

Stadtkrankenhaus Cuxhaven, Donnerstag, den 5. Juni, 10.00 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Donnerstagmittag, den 5. Juni

Vierlande bei Hamburg, Donnerstag, den 5. Juni, 14.45 Uhr

Zweiter Teil

Hamburg-St. Pauli, Freitag, den 13. Juni, 1.50 Uhr

Alsterarkaden, Hamburg, Freitag, den 13. Juni, 11.50 Uhr

Hamburg-Rotherbaum, Freitag, den 13. Juni, 15.45 Uhr

Hamburg-Harvestehude, Freitag, den 13. Juni, 19.30 Uhr

Hamburg-Harburg, Freitag, den 13. Juni, 23.00 Uhr

Cuxhaven, Samstag, 14. Juni, 11.00 Uhr

Hamburg-Övelgönne, Samstag, den 14. Juni, 15.50 Uhr

Hamburg-Pöseldorf, Samstag, den 14. Juni, 20.00 Uhr

Hamburg-Uhlenhorst, Samstag, den 14. Juni, 20.50 Uhr

Hamburg-Pöseldorf, Samstag, 14. Juni, 23.30 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Sonntag, den 15. Juni, 1.30 Uhr

Hamburg-Uhlenhorst, Sonntag, den 15. Juni, 2.15 Uhr

Hamburg-Harburg, Sonntag, den 15. Juni, 9.45 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Montag, den 16. Juni, 10.05 Uhr

Hamburg-Harburg, Montag, den 16. Juni, 11.50 Uhr

Hamburg-Altona, Montag, den 16. Juni, 14.00 Uhr

Hamburg-Pöseldorf, Montag, den 16. Juni, 23.00 Uhr

Hamburg-Uhlenhorst, Dienstag, den 17. Juni, 5.20 Uhr

Hamburg-Harvestehude, Dienstag, den 17. Juni, 20.30 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Dienstag, den 17. Juni, 11.00 Uhr

Hamburger Hafen, Mittwoch, den 18. Juni, 15.00 Uhr

Hamburg-Blankenese, Mittwoch, den 18. Juni, 19.00 Uhr

Dritter Teil

Hamburger Rathaus, Donnerstag, den 19. Juni, 10.20 Uhr

Kunstgalerie Nordholt, Bremen, Donnerstag, den 19. Juni, 14.20 Uhr

Hamburg-Pöseldorf, Donnerstag, den 19. Juni, 18.00 Uhr

Hamburg-Schanzenviertel, Freitag, den 20. Juni, 10.00 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Freitagmittag, den 20. Juni,

Hamburg-Neustadt, Freitag, 20. Juni, 14.30 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Freitag, den 20. Juni, 19.00 Uhr

Hamburg-St. Pauli, Freitag, den 20. Juni, 20.00 Uhr

Alsterpark, Hamburg, Freitag, den 20. Juni, 20.00 Uhr

Hamburg-St. Pauli, Freitag, den 20. Juni, 21.00 Uhr

Speicherstadt, Hamburg, Freitag, den 20. Juni, 21.00 Uhr

Hamburg-St. Pauli, Freitag, den 20. Juni, 21.10 Uhr

Speicherstadt, Hamburg, Freitag, den 20. Juni, 21.05 Uhr

Hamburg-Altona, Freitag, den 20. Juni, 21.25 Uhr

Speicherstadt, Hamburg, Freitag, den 20. Juni, 21.15 Uhr

Niederhafen, Hamburg, Freitag, den 20. Juni, 21.40 Uhr

Speicherstadt, Hamburg, Freitag, den 20. Juni, 21.40 Uhr

Niederhafen, Hamburg, Freitag, den 20. Juni, 22.00 Uhr

Hamburg-Harburg, Samstag, den 21. Juni, 1.04 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Samstag, den 21. Juni, 4.00 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Samstag, den 21. Juni, 10.00 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Samstag, den 21. Juni, 13.30 Uhr

Hamburg-Harburg, Samstag, den 21. Juni, 15.30 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Samstag, den 21. Juni, 17.30 Uhr

Speicherstadt, Hamburg, Samstag, den 21. Juni, 20.00 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Samstag, den 21. Juni, 21.00 Uhr

Hamburg-Pöseldorf, Samstag, den 21. Juni, 21.30 Uhr

Hamburg-Eimsbüttel, Samstag, den 21. Juni, 21.00 Uhr

Polizeipräsidium Hamburg, Samstag, den 21. Juni, 21.40 Uhr

Hamburg-Harvestehude, Samstag, den 21. Juni, 22.00 Uhr

Auf der Elbe, unweit der Landungsbrücken, Hamburg, Samstag, den 21. Juni, 21.40 Uhr

Auf der Elbe bei Hamburg, Samstag, den 21. Juni, 22.00 Uhr

Auf der Elbe, zwischen Hamburg und Cuxhaven, Samstag, den 21. Juni, 22.15 Uhr

Hamburg-Harvestehude, Samstag, den 21. Juni, 22.20 Uhr

Außendeich, zwischen Hamburg und Cuxhaven, Sonntag, den 22. Juni, 0.05 Uhr

Danksagung

Impressum

Für Wendy, Jonathan, Sophie und Helen

Nirgends war das Mittelalter finsterer als in den Landen der Wikinger.

Mächtige Kulte gediehen, deren Aberglaube und blutige Rituale geheimnisvolle Wurzeln hatten. Eines der grässlichsten dieser Rituale war das Opfer des Blutadlers.

Ein Menschenopfer.

Erster TeilMittwoch, den 4. Juni, und Donnerstag, den 5. Juni

E-MAIL

VON: SON OF SVEN

GESENDET: 3. JUNI 2003, 23.00 UHR

AN: ERSTEN KRIMINALHAUPTKOMMISSAR JAN FABEL

POLIZEI HAMBURG

MORDKOMMISSION

BETREFF: ZEIT

DIE ZEIT IST ETWAS SELTSAMES, NICHT WAHR?

ICH SCHREIBE, UND SIE LESEN, UND WIR TEILEN UNS DEN EINEN MOMENT. DOCH WÄHREND ICH DIES SCHREIBE, HERR HAUPTKOMMISSAR, SCHLAFEN SIE, UND MEIN NÄCHSTES OPFER LEBT NOCH. UND WÄHREND SIE DIESE ZEILEN LESEN, IST SIE BEREITS TOT. UNSER TANZ GEHT WEITER.

ICH HABE MEIN GANZES LEBEN AM RAND DER FOTOS VON ANDEREN VERBRACHT. UNBEMERKT. ABER TIEF IN MEINEM INNERN, OHNE MEIN WISSEN UND VOR DER WELT VERBORGEN, LAG DER KEIM VON ETWAS GROSSEM UND EDLEM.

NUN LEUCHTET JENE GRÖSSE AUS MIR HERAUS.

NICHT, DASS ICH SIE FÜR MICH SELBST BEANSPRUCHTE. ICH BIN BLOSS DAS INSTRUMENT, DAS MITTEL.

SIE HABEN DEN AKT GESEHEN, DESSEN ICH FÄHIG BIN: MEINEN HEILIGEN AKT. NUN IST ES MEINE HEILIGE PFLICHT, MEINE MISSION, FORTZUFAHREN, WIE ES IHRE PFLICHT IST, MIR EINHALT ZU GEBIETEN. SIE WERDEN LANGE BRAUCHEN, MICH ZU FINDEN, HERR FABEL. UND BEVOR ES IHNEN GELINGT, WERDE ICH DIE SCHWINGEN DES ADLERS ZU IHRER VOLLEN LÄNGE AUSGEBREITET HABEN. ICH WERDE MEIN ZEICHEN IN BLUT AUF UNSEREM HEILIGEN BODEN HINTERLASSEN.

SIE KÖNNEN MICH AUFHALTEN, DOCH SIE WERDEN MICH NIE FASSEN.

ICH WERDE NICHT MEHR AM RAND DER FOTOS ANDERER SEIN. NUN IST ES AN MIR, INS ZENTRUM ZU RÜCKEN.

SON OF SVEN

Hamburg-Pöseldorf, Mittwoch, den 4. Juni, 4.30 Uhr

Fabel träumte.

Hamburgs Element ist das Wasser. In Hamburg gibt es mehr Kanäle als in Amsterdam oder Venedig. Die Außenalster ist der größte städtische Binnensee Europas. Auch regnet es das ganze Jahr hindurch. In dieser Nacht – nach einem Tag, an dem die Luft wie ein feuchter, erstickender Mantel über der Stadt gelegen hatte – öffnete der Himmel seine Schleusen.

Während das Gewitter blitzend und polternd über die Stadt zog, zuckten Fabel Bilder durch den Kopf. Die Zeit implodierte und faltete sich zusammen. Menschen und Ereignisse, die durch Jahrzehnte getrennt waren, trafen sich an einem Ort außerhalb der Zeit. Fabel träumte immer von denselben Dingen: der Unordnung des Lebens, den unverrichteten Arbeiten, den ungenutzten Möglichkeiten. Dann schoben sich die entwirrten Fäden eines Dutzends Ermittlungen in jeden Winkel seines schlafenden Hirns. In diesem Traum schritt Fabel, wie in so vielen Träumen zuvor, zwischen den im Lauf von fünfzehn Jahren Ermordeten dahin. Er kannte sie alle, jedes vom Tod gebleichte Gesicht, genau so wie sich die meisten Menschen an die Gesichter ihrer Verwandten erinnern. Die Mehrzahl der Toten, deren Mörder er gefasst hatte, nahm ihn nicht zur Kenntnis und ging vorbei. Aber die leblosen Augen derjenigen, deren Fälle er nicht gelöst hatte, musterten ihn kühl und anklagend, und die Opfer stellten ihre Wunden zur Schau.

Die Menge teilte sich, und Ursula Kastner trat vor Fabel hin. Sie trug dieselbe elegante graue Chaneljacke wie bei dem einen, dem einzigen Mal seiner Begegnung mit ihr. Er bemerkte einen winzigen Blutfleck auf der Jacke. Der Fleck wurde größer. Das Rot vertiefte sich. Ihre blutleeren grauen Lippen formten die Worte: »Warum haben Sie ihn nicht gefasst?« Einen Moment lang war Fabel verwirrt – auf die vage, distanzierte Art, die für Träume typisch ist –, weil er ihre Stimme nicht hören konnte. Lag es daran, dass er sie nie zu ihren Lebzeiten gehört hatte? Dann begriff er: Der Grund war natürlich der, dass man ihr die Lunge herausgerissen hatte und sie keinen Atem besaß, der ihre Worte hätte tragen können.

Ein Geräusch weckte ihn. Jenseits des Panoramafensters grollte der Donner, und Regen prasselte an die Scheiben. Dann hörte er das drängende Schrillen des Telefons. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und griff nach dem Hörer.

»Hallo …«

»Hallo Chef … hier ist Werner. Komm am besten her, Jan, es ist wieder passiert …«

Der Sturm tobte weiter. Blitze züngelten über den Hamburger Himmel und ließen die schwarzen Silhouetten des Fernsehturms und des Michels wie gemalte Bühnenkulissen erscheinen. Die Scheibenwischer von Fabels BMW waren auf maximale Geschwindigkeit eingestellt. Trotzdem hatten sie Mühe, die dicken, klebrigen Tropfen fortzuschieben, die auf dem Glas explodierten und das Licht der Straßenlaternen und der Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge in zersplitternde Sterne verwandelten. Fabel hatte Werner Meyer, der seine beträchtliche Leibesfülle nur mit Mühe auf dem Beifahrersitz unterbringen konnte, am Polizeipräsidium abgeholt. Der Geruch seines vom Regen durchnässten Mantels erfüllte das Auto.

»Ist es wirklich unser Mann?«, fragte Fabel.

»Nach dem zu schließen, was der Kollege von der Kripo Davidwache sagt, ja … Sieht nach unserem Mann aus.«

»Shit, dann ist er mit Sicherheit ein Serienmörder. Hast du die Spurensicherung angerufen?«

»Ja.« Werner zuckte die breiten Schultern. »Leider war’s der Blödmann Möller. Er wird schon da sein.«

»Was ist mit einer E-Mail? Ist was gekommen?«

»Noch nicht.«

Fabel fuhr auf der Ost-West-Straße nach St. Pauli und bog in die Reeperbahn ein, die sündige Meile, die um fünf Uhr morgens freudlos im Regen glitzerte. Der Sturzregen schwächte sich zu einem dichten Nieseln ab, während Fabel in die Große Freiheit einschwenkte. Traditionelle Unsittlichkeit und importierte Banalität führten einen Krieg miteinander, und hier verlief die Front. Pornoläden und Stripclubs bestritten ein Rückzugsgefecht gegen modische Weinbars und Musicals vom Broadway oder aus dem Londoner Westend. Leuchtende Hinweise auf Live Sex, Peepshows und Hardcore Movies wetteiferten mit noch strahlenderen Anzeigen für Cats, Der König der Löwen und Mamma Mia. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Fabel durch die Unsittlichkeit weniger gestört.

»Hast du die Nachricht bekommen, dass ein Professor Dorn mit dir Kontakt aufnehmen will?«, fragte Werner. »Er sagt, er muss mit dir über den Fall Kastner sprechen.«

»Matthias Dorn?« Fabel wandte den Blick nicht von der Straße, als könne er dadurch die dunklen Geister bannen, die sich tief in seiner Erinnerung regten.

»Weiß ich nicht. Er hat nur gesagt, er sei Professor Dorn und kenne dich von der Universität Hamburg. Möchte unbedingt mit dir reden.«

»Was zum Teufel hat Matthias Dorn mit dem Fall Kastner zu tun?«, murmelte Fabel vor sich hin und bog in die Davidstraße ein. Sie rollten am schmalen Eingang der Herbertstraße vorbei, der durch Metalltore abgeschirmt war. Vor Jahren hatte Fabel in diesem Bezirk gearbeitet. Hinter den Toren saßen trostlos beleuchtete Prostituierte in ihren Schaukästen, während die schattenhaften Gestalten der suchenden Freier durch den in Licht getauchten Nieselregen glitten. Fabel fuhr weiter durch die pulsierende Tanzmusik, die aus der »Weißen Maus« in der Taubenstraße in die Nacht hämmerte, und stoppte vor der roten, bugartigen Backsteinfassade der Davidwache. Ein Paar hatte im Eingang Zuflucht gesucht. Der Mann war schlaksig und strohblond, das Mädchen zierlich und hübsch mit stacheligem Haar und feuerroten Lippen. Sie trug eine übergroße schwarze Lederjacke. Fabel wunderte sich unwillkürlich, wie jung die beiden aussahen.

»Morgen, Chef.« Kriminalkommissarin Anna Wolff schob sich auf den Rücksitz und rutschte auf die andere Seite, sodass ihr Partner Paul Lindemann einsteigen und die Tür hinter sich zuschlagen konnte. »Ich habe mir den Weg von der Kripo Davidwache beschreiben lassen. Ich lotse dich.«

Sie ließen die Davidstraße hinter sich, und der falsche Glamour von St. Pauli wurde nun zur bloßen Schäbigkeit. Die grellen Neonversprechungen der Wollust zerrissen die einsame Nacht und spiegelten sich trist in den regennassen Gehsteigen. Ab und zu schlurften Fußgänger dahin, die Schultern im Regen gekrümmt, und manche nahmen die Einladungen der lustlos-enthusiastischen Stripclub-Koberer an. Eine weitere Kurve, wiederum bergab. Die Eingänge waren nun von hageren, trübe wirkenden Prostituierten, teils erschreckend jung, teils unglaublich alt, oder von betrunkenen Pennern besetzt. In einem Torweg goss ein lebendes Lumpenbündel eine Flüssigkeit aus einer Flasche in sich hinein und schimpfte kreischend auf die vorbeifahrenden Autos, die Prostituierten, auf alle und niemanden. Hinter den Türen, hinter den leeren, blinden Fenstern wurde das Geschäft mit dem Fleisch betrieben. Dies war Hamburgs ewiges Zwielicht: ein Ort, wo Menschen zu jedem Zweck und zu jedem Preis gekauft werden konnten; ein Ort der sexuellen Anarchie, an dem sich die düstersten Winkel der Seele erforschen ließen.

Im Rahmen einer Ermittlung hatte sich Fabel einmal ein Snuff-Movie ansehen müssen. Es entsprach dem Wesen seines Berufes, dass er die Bühne normalerweise betrat, nachdem der Akt beendet war. Er hatte es mit der Leiche, den Indizien, den Zeugen zu tun und musste sich dann ein Bild von der Ermordung machen: eine langsame Vergegenwärtigung des Todesmoments. Aber in diesem Fall wurde Fabel zum ersten Mal Zeuge des Verbrechens, das er untersuchte. Er hatte auf den Fernsehschirm gestarrt – tief in seinem Innern regten sich Furcht und Abscheu – und zugesehen, wie eine nichts ahnende Pornoschauspielerin ihre gewohnte Rolle mit einer faden Tünche der Ekstase spielte. Im Lauf der brutalen Penetration durch drei Männer mit PVC-Masken stöhnte sie unter offensichtlich vorgetäuschter Verzückung, ohne das Ende des Dramas vorhersehen zu können. Plötzlich legte ihr einer der Männer mit einer raschen, geschickten Bewegung einen Lederriemen um den Hals. Fabel bemerkte die Überraschung und das vage Unbehagen in ihrem Gesicht. Das gehörte nicht zum Drehbuch, wenn solche Dinge je ein Drehbuch hatten, doch sie ließ sich auf das Spiel ein und mimte erhöhte sexuelle Erregung. Dann straffte sich der Riemen, und ihre falsche Ekstase wich echter Furcht. Ihr Gesicht lief dunkelrot an, und sie schlug wild um sich, als sich der Riemen zuzog und ihr das Leben aus dem Leib presste.

Die Täter waren nie gefasst worden, und sie hatte sich der anklagenden Legion von Ermordeten angeschlossen, die durch Fabels Träume geisterten. Das Video war in der Nähe aufgenommen worden, hinter einem dieser leeren Fenster. Vielleicht entstand gerade ein weiteres, während die Polizisten vorbeifuhren.

Fabel bog in eine Wohnstraße ein, die von vierstöckigen Häuserblocks gesäumt war. Die plötzliche Normalität irritierte ihn. Noch eine Kurve, weitere Wohnhäuser, doch nun endete die Normalität. Eine kleine Menschenmenge hatte sich um eine Absperrkette versammelt, die eine Gruppe von Polizeifahrzeugen vor einem wuchtigen Wohnblock aus den Fünfzigerjahren umgab.

Fabel ließ seine Hupe ertönen, und ein uniformierter Obermeister bahnte ihm einen Weg durch die Menge. Es war die übliche Mischung aus unbedeutenden Typen mit leeren oder kläglich neugierigen Gesichtern. Manche stellten sich auf die Zehenspitzen oder versuchten, mit zuckendem Kopf an den anderen Gaffern vorbeizuschauen. Einige waren aus Nachbarwohnungen herbeigerannt und trugen Schlafanzüge und Hausschuhe. Vielleicht weil Fabel an diese Menschenscharen gewöhnt war, bemerkte er den alten Mann. Das Auto schob sich durch die Menge, und da sah Fabel ihn: Ende sechzig, klein – nicht größer als einen Meter fünfundsechzig –, doch kräftig gebaut. Sein Gesicht erinnerte an eine Fläche mit scharfen Winkeln, besonders durch die hohen Wangenknochen und die kleinen, bohrenden grünen Augen. Diese Augen schienen sogar im schwachen Licht der Straßenlaternen und Scheinwerfer hell und kalt zu glänzen. Es war ein Gesicht aus dem Osten: aus dem Baltikum oder Polen oder von noch weiter her. Im Gegensatz zu den anderen zeigte die Miene des alten Mannes mehr als ein beiläufiges, krankhaftes Interesse. Und ebenfalls im Gegensatz zu den anderen hatte er sich nicht dem geschäftigen Treiben der Polizisten vor dem Wohnblock zugewandt. Vielmehr musterte er Fabel durch das Seitenfenster des BMW.

Der uniformierte Beamte drängte sich zwischen den alten Mann und das Auto, beugte sich vor und prüfte die Kripomarke, die Fabel ihm hinhielt. Dann hob er die Hand zum Gruß und winkte einem anderen Uniformierten zu, damit dieser das Absperrband hob und den Wagen durchließ. Als der Polizist zur Seite getreten war, suchte Fabels Blick nach dem alten Mann mit den leuchtenden Augen, aber er war verschwunden.

»Hast du den Alten gesehen, Werner?«

»Was für einen Alten?«

»Und ihr?«, fragte Fabel Anna und Paul über die Schulter hinweg.

»Tut mir Leid, Chef«, erwiderte Anna.

»Was ist mit ihm?«, wollte Paul wissen.

»Nichts.« Fabel zuckte die Achseln und fuhr zu den anderen Polizeiwagen am Eingang des Gebäudes.

Es waren drei Treppenaufgänge bis zur Wohnung. Das Treppenhaus war in den kalten Glanz der an der Wand angebrachten Halbkugeln getaucht, eine auf jedem Absatz. Während Fabel und sein Team hinaufstiegen, mussten sie anhalten und sich an die Treppenhauswand drücken, damit uniformierte Beamte und Kriminaltechniker an ihnen vorbeieilen konnten. Sie bemerkten den grimmigen Ernst in den stummen Gesichtern, von denen einige nicht nur durch das trübe elektrische Licht bleich wirkten. Fabel war klar, dass dort oben etwas sehr Übles auf sie wartete.

Ein junger uniformierter Polizist stand halb vorgebeugt wie ein Sportler, der gerade einen Marathonlauf hinter sich hatte. Sein Rückgrat lehnte am Türrahmen, seine Beine waren ein wenig eingeknickt, seine Hände stützten sich auf die Knie, und der Kopf war nach unten geneigt. Er atmete langsam und konzentriert, wobei er den Fußboden betrachtete, als wolle er sich jede Schramme und jeden Kratzer auf dem Beton einprägen. Bis zum letzten Moment bemerkte er Fabel nicht. Dieser hielt ihm seine ovale Kripomarke hin, und der junge Polizist richtete sich steif auf. Als er seinen ungebärdigen rotblonden Schopf zurückstrich, kam ein Gesicht zum Vorschein, das unter der Ansammlung von Sommersprossen blass war. Nun erkannte er Fabel.

»Entschuldigung, ich hatte Sie nicht gesehen.«

»Macht nichts. Alles in Ordnung?« Fabel musterte das Gesicht des Mannes und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der junge Polizeimeister wurde ein wenig lockerer und nickte. Fabel lächelte. »Ist das Ihr erster Mord?«

Der Mann erwiderte Fabels Blick. »Nein, Herr Hauptkommissar. Nicht der erste, aber der schlimmste … So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Ich wahrscheinlich schon, leider Gottes«, sagte Fabel.

Inzwischen hatten Paul Lindemann und Maria Klee den Treppenabsatz ebenfalls erreicht. Ein Spurensicherer, der seinen Tatort-Overall trug, reichte jedem der vier ein Paar hellblaue Plastiküberschuhe und ein Paar weiße Latexhandschuhe. Nachdem sie die Sachen übergestreift hatten, wies Fabel mit einer Kopfbewegung zum Eingang.

»Wollen wir?«

Als Erstes bemerkte Fabel die Frische des Dekors. Es war, als wäre der kurze Flur unlängst gestrichen worden. Die Farbe erinnerte an helle Butter: freundlich, doch fade, neutral, anonym. Vom Flur gingen drei Türen ab. Unmittelbar links neben Fabel lag das Badezimmer. Ein rascher Blick zeigte, dass es kompakt und, wie der Flur, sauber und frisch war. Es wirkte fast unbenutzt. Auf den wenigen Ablagen und Regalen sah man kaum eine der Kleinigkeiten, die Badezimmern gewöhnlich eine persönliche Note verleihen. Die zweite Tür stand weit offen und führte in den zentralen Raum: ein Schlafzimmer mit Wohnfläche. Es war ebenfalls klein und wirkte durch die Ansammlung von Polizisten und Kriminaltechnikern, die sich bei ihrer Arbeit manchmal wie in einem unbeholfenen Ballett mit erhobenen Armen aneinander vorbeidrängten, noch enger. Fabel bemerkte, dass alle Gesichter einen Ernst erkennen ließen, den man in einer solchen Situation erwarten würde, der in Wirklichkeit jedoch selten ist. Normalerweise hätte ein gewisser Galgenhumor geherrscht, der denen, die sich mit dem Tod befassen müssen, hilft, von ihm unberührt zu bleiben. Aber dies war etwas anderes. Hier hatte der Tod in ganz besonderer Weise nach ihnen gegriffen und ihre Herzen mit knöchernen Fingern gepackt.

Als Fabel zum Bett hinüberblickte, wurde ihm der Grund klar. Hinter ihm flüsterte Werner: »Verdammt!«

Eine Explosion von Rot. Scharlachrote Strahlen waren auf das Bett, den Teppich und die Wand hinauf gespritzt. Das Bett selbst war von dunklem, klebrigem Blut durchtränkt, und sogar die Luft schien von seinem Kupfergeruch gesättigt zu sein. Mitten in dem Chaos sah Fabel den Körper einer Frau. Ihr Alter ließ sich schwer schätzen, aber wahrscheinlich war sie fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt gewesen. Sie lag mit ausgestreckten Gliedern auf dem Bett. Ihre Handgelenke und Knöchel waren an die Bettpfosten gebunden, und der aufgeschnittene Bauch wirkte grotesk entstellt. Jemand hatte ihr gleichzeitig den Brustkorb aufgeschlitzt und die Rippen nach außen gezerrt, bis sie einem Schiffsaufbau glichen. Das Weiß der zertrennten Rippen schimmerte durch das aufgerissene rohe Fleisch hindurch und hob sich von den dunkel glänzenden Eingeweiden ab. Zwei blutige Gewebeklumpen – ihre Lungenflügel –, gesprenkelt mit schaumigen, hellen Blutstropfen, waren seitwärts über ihre Schultern geworfen worden.

Es war, als hätte man ihr Inneres gesprengt.

Fabels Herz pochte so wild, dass er das Gefühl hatte, sein Brustkasten werde ebenfalls platzen. Er wusste, dass sein Gesicht bleich geworden war, und als Werner sich an dem Polizeifotografen vorbeizwängte, merkte Fabel, dass sich die gleiche Blässe über die Züge seines Mitarbeiters gelegt hatte.

»Das ist er wieder. Schlimm, Chef, wirklich schlimm. Ein wüsterer Psychopath könnte hier gar nicht rumlaufen.«

Einen Moment lang konnte Fabel den Blick nicht von der Leiche abwenden. Dann holte er Atem und wandte sich Paul zu. »Zeugen?«

»Keine. Frag mich nicht, wie ein solches Gemetzel angerichtet werden kann, ohne dass es jemand hört, aber genauso ist sie gefunden worden. Wir haben nur den Mann, der sie entdeckt hat. Niemand hat etwas gesehen oder gehört.«

»Deutet etwas auf ein gewaltsames Eindringen hin?«

Paul schüttelte den Kopf. »Der Mann, der sie gefunden hat, sagt, die Tür sei angelehnt gewesen. Aber sonst … Kein Zeichen für ein gewaltsames Eindringen.«

Fabel trat auf die Leiche zu. Es kam ihm besonders grausam vor, dass ein derart gewalttätiges und entsetzliches Lebensende unbemerkt geblieben war. Ihr Schrecken war einsam gewesen. Ihr Tod – den er sich nicht vorstellen konnte, wie anschaulich er ihm auch geschildert wurde – hatte sich in einem elenden, einsamen Universum vollzogen, das nur von der erbarmungslosen Gewalt ihres Mordes erfüllt war. Er richtete den Blick von der Zerstörung ihres Körpers auf ihr Gesicht. Es war ebenfalls mit Blut bespritzt. Der Mund stand ein wenig offen, die Augen waren aufgerissen. Sie zeigten kein Entsetzen; weder Furcht noch Hass, aber auch kein Gefühl des Friedens. Es war eine ausdruckslose Maske, die nichts über die einst hinter ihr versteckte Persönlichkeit verriet.

Der Gerichtsmediziner Dr. Möller, maskiert und mit seiner weißen Spurensicherungsmontur angetan, untersuchte den weit klaffenden Bauch. Er bedeutete Fabel durch eine ungeduldige Geste, ihn nicht zu stören. Fabel löste seine Aufmerksamkeit von der Leiche. Sie war nicht bloß ein physischer Gegenstand, sondern ein zeitliches Gebilde: ein Termin, ein Ereignis. Sie repräsentierte den Moment, in dem der Mord verübt worden war, und in der versiegelten Tatortszene gehörte alles in ihrer Umgebung entweder zu der Zeit vor oder nach jenem Moment.

Er musterte das Zimmer und versuchte, es sich ohne das Gewimmel von Polizisten und Kriminaltechnikern vorzustellen. Es war klein und aufgeräumt. Auch hier fehlten persönliche Dinge, als sei es kein Teil einer Wohnung, sondern ein reiner Funktionsbereich. Ein kleines verblichenes Foto lehnte an der Lampe auf dem Frisiertisch neben der Tür. Es fiel ins Auge, denn es war der einzige wirklich persönliche Gegenstand im Zimmer. An der Wand hing der Druck einer sich zurückbeugenden Nackten, die die Augen wie vor erotischer Verzückung halb geschlossen hatte – kein Bild, das eine Frau üblicherweise zu ihrem eigenen Vergnügen wählen würde. Ein breiter Standspiegel an der Wand zum nächsten Zimmer, das, wie Fabel vermutete, die Küche sein musste, zeigte ein Bild des Bettes. Er bemerkte eine Korbschüssel auf dem Nachttisch, die mit verschiedenenfarbigen Präservativen gefüllt war. Fabel wandte sich an Anna Wolff. »Eine Nutte?«

»Sieht so aus, obwohl niemand von der Sitte in der Davidwache sie kennt … kannte.« Annas Gesicht war bleich unter dem dunklen Haarschopf. Sie gab sich Mühe, nicht in Richtung der entstellten Leiche zu blicken. »Aber wir kennen den Mann, der angerufen hat.«

»Tatsächlich?«

»Er heißt Klugmann. War früher bei der Polizei Hamburg.«

»Ein Expolizist?«

»Er gehörte sogar zum Mobilen Einsatzkommando. Behauptet, ihr Freund gewesen zu sein. Er ist der offizielle Wohnungsmieter.«

»Behauptet?«

»Die Kollegen hier meinen, dass er ihr Zuhälter gewesen sein muss«, schaltete Paul sich ein.

»Nun mal sachte.« Fabels ungeduldige Miene deutete an, dass er Paul die Schuld an seiner Verwirrung gab. »Der Mann war früher beim MEK, und nun ist er Zuhälter?«

»Das halten wir für gut möglich. Er arbeitete beim MEK häufiger für die Abteilung Organisierte Kriminalität, aber dann ist er rausgeflogen.«

»Warum?«

»Anscheinend ist er auf den Geschmack gekommen«, antwortete Anna Wolff. »Man fand etwas Kokain bei ihm, und dann wurde er entlassen. Bekam fast ein Jahr auf Bewährung.«

»Du scheinst die Geschichte ziemlich gut zu kennen.«

Anna lachte. »Als Paul und ich auf der Davidwache auf euch warteten, haben wir uns das Ganze dort von einem der Kollegen erzählen lassen. Klugmann war an zwei Razzien in St. Pauli beteiligt. Typische Überraschungsangriffe des MEK auf Drogenküchen der türkischen Mafia. Beide Male waren die Gebäude blitzsauber, als hätte jemand den Türken einen Wink gegeben. Da es gemeinsame Aktionen mit der Kripo Davidwache waren, versuchte das MEK, die Davidwache für Sicherheitsmängel verantwortlich zu machen. Aber nach Klugmanns Verhaftung passte alles zusammen.«

»Hat er seinen Stoff mit etwas anderem als Bargeld gekauft?«

»Das wird angenommen. Das MEK versuchte nachzuweisen, dass er der Ulugbay-Organisation Daten zugespielt hatte, aber es konnte nicht mit Fakten aufwarten.«

»Klugmann kam also mit einem blauen Auge davon.«

»Ja, und nun arbeitet er in einem von Ulugbays Stripclubs.«

Fabel lächelte. »Und als Zuhälter.«

»Genau, das vermutet die Ortspolizei … und einiges mehr.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Fabel. »Ein früherer MEK-Mann muss unglaublich wertvoll für Ulugbay sein: für seine Schlägertruppe und für Insiderinformationen. Kommt er hier als Verdächtiger in Frage?«

»Er muss überprüft werden, aber ich bezweifle es. Anscheinend war er wirklich schockiert, als die Ortspolizei eintraf. Wir haben auf der Davidwache kurz mit ihm gesprochen. Er ist ein brutal aussehender Kerl, aber man merkte, dass er sich keine plausibel klingende Geschichte ausgedacht hat. Sagte immer nur, dass er mit ihr befreundet war und sie besuchen wollte.«

»Haben wir einen Namen für sie?«

»Das ist es eben«, erwiderte Paul. »Wir scheinen es mit einer geheimnisvollen Frau zu tun zu haben. Klugmann sagt, er kannte sie nur als ›Monique‹.«

»Ist sie Französin?«

Paul schaute Fabel mit einem halben Lächeln an und suchte nach einem Zeichen von Ironie in dessen Miene. Er kannte den Ruf des »englischen Kommissars«, einen britischen Humor zu haben. Nein, keine Ironie. Nur Ungeduld. »Nicht laut Klugmann. Klingt mir nach ihrem Berufsnamen.«

»Was ist mit ihren persönlichen Habseligkeiten und mit ihrem Personalausweis?«

»Nichts zu finden.«

Fabel bemerkte, dass man den Nachttisch auf der Suche nach Fingerabdrücken bereits eingestaubt hatte. Er zog eine der Schubladen auf. Darin lagen ein übergroßer Vibrator und vier Pornozeitschriften: eine davon war ein Bondage-Spezialmagazin. Er schaute den Körper erneut an. Die Handgelenke und Knöchel waren mit schwarzen Strümpfen straff an die Bettpfosten gefesselt worden. Es schien sich um eine praktische und ungeplante Maßnahme, nicht um eine vorsätzliche, erotische Methode gehandelt zu haben, zumal das ganze andere Bondage-Zubehör fehlte. Die zweite Schublade enthielt noch mehr Präservative, eine große Schachtel mit Papiertüchern und eine Flasche Massageöl. Die dritte Schublade war leer, abgesehen von einem Schreibblock und zwei Kugelschreibern. Fabel wandte sich an den Chef des Spurensicherungsteams.

»Wo ist Holger Brauner?« So hieß der Leiter der Spurensicherungsabteilung.

»Er hat bis zum Wochenende Urlaub.«

Fabel wünschte sich, dass Brauner Dienst gehabt hätte. Der Mann konnte einen Tatort interpretieren wie ein Archäologe eine Landschaft. Er entdeckte die für alle anderen unsichtbaren Spuren derjenigen, die vorher am selben Ort gewesen waren. »Kann einer Ihrer Leute all das Zeug für mich eintüten?«

»Natürlich, Herr Hauptkommissar.«

»Und sonst war nichts in der unteren Schublade?«

Der Teamchef runzelte die Stirn. »Nein. Alles, was wir zur Untersuchung und zum Einstäuben entfernt haben, ist wieder an seinem Platz. Sonst war da nichts.«

»Haben Sie ihren Terminkalender gefunden?« Wieder sah der Mann verblüfft aus. »Sie war eine Nutte, aber kein Straßenmädchen«, erklärte Fabel. »Ihre Kunden dürften Termine gemacht haben, wahrscheinlich per Telefon. Also muss sie einen Terminkalender besessen haben.«

»Wir sind auf keinen gestoßen.«

»Wenn sie einen hatte, würde ich meinen, dass er dort war«, sagte Fabel und nickte zu der immer noch geöffneten dritten Schublade hinüber. »Wenn wir ihn nicht ausfindig machen können, dann vermute ich, dass unser Mann ihn mitgenommen hat.«

»Um sich zu schützen? Meinst du, sie ist von einem Freier umgebracht worden?«, fragte Paul.

»Da habe ich meine Zweifel. Unser Mann – und das hier ist unser Mann – wäre nicht so blöd, sich eine Frau auszusuchen, die ihn bereits kennt.«

»Es ist also mit Sicherheit der Kerl, der die Kastner umgebracht hat?«

»Wer denn sonst, verdammt noch mal?«, sagte Werner und deutete zu der Leiche hinüber. »Das ist doch eindeutig seine Vorgehensweise.«

Sie verstummten und gaben sich ihren eigenen Gedanken darüber hin, was das Auftauchen eines Serienmörders für sie bedeutete. Alle wussten, dass sie den Abstand zu diesem Ungeheuer nicht überbrücken konnten, bis es erneut gemordet hatte. Und mehr als einmal. Jeder Tatort würde ein wenig mehr Aufschluss bringen: kleine Ermittlungsschritte, die mit dem Blut unschuldiger Opfer bezahlt wurden. Fabel unterbrach das Schweigen.

»Wenn unser Mann den Terminkalender nicht mitgenommen hat, dann hat Klugmann ihn vielleicht eingesteckt, um die Identität seiner Kunden zu schützen.«

Dr. Möller, der Gerichtsmediziner, war immer noch über die Leiche gebeugt und spähte in die zerfetzte Bauchhöhle der Frau. Dann richtete er sich auf, streifte seine blutigen Latexhandschuhe ab und erklärte, an den Hauptkommissar gewandt: »Es ist tatsächlich derselbe Mann, Herr Fabel.« Mit überraschender Zartheit strich Möller das blonde Haar aus dem Gesicht der Frau. »Genau die gleiche Vorgehensweise wie bei dem anderen Opfer.«

»Das sehe ich selbst, Herr Möller. Wann ist sie gestorben?«

»Diese Art der extremen Verstümmelung macht Temperaturmessungen …«

Fabel schnitt ihm das Wort ab. »Ihre genauest mögliche Schätzung?«

Möller hob das Kinn. Er war um einiges größer als Fabel und blickte auf den Hauptkommissar hinunter, als wäre dieser seiner Aufmerksamkeit nicht würdig. »Ungefähr zwischen ein und drei Uhr morgens.«

Eine hoch gewachsene blonde Frau in einem eleganten grauen Hosenanzug trat aus dem Flur ins Zimmer. Sie sah aus, als würde sie sich im Sitzungssaal einer Bank wohler fühlen als an einem Mordschauplatz. Es war Kriminaloberkommissarin Maria Klee, der letzte Neuzugang zu Fabels Team. »Chef, das musst du dir ansehen.«

Fabel folgte ihr hinaus auf den Flur und in eine extrem schmale Küche. Wie der Rest der Wohnung wirkte die Küche fast unbenutzt. Auf der Anrichte standen ein Wasserkessel und ein Päckchen Teebeutel. Eine einzelne ausgespülte Tasse lag umgedreht auf dem Abtropfbrett. Sonst deutete nichts auf die Einzelheiten eines Alltagslebens hin. Keine Teller stapelten sich im Ausguss, keine Briefe lagen auf der Anrichte oder auf dem Kühlschrank, nichts ließ erkennen, dass sich hier menschliches Leben abgespielt hatte. Maria Klee zeigte auf die geöffnete Tür eines Wandschranks. Fabel steckte den Kopf hinein und sah, dass man ein Stück der Wand entfernt und eine Glasscheibe eingesetzt hatte, die einen unverstellten Blick auf das Zimmer dahinter gestattete. Er schaute auf das blutgetränkte Bett.

»Einweg?«, fragte Fabel.

»Ja. Die andere Seite ist der Standspiegel. Guck dir das an.« Sie zwängte sich an Fabel vorbei, steckte ihre von Latex umhüllte Hand in den Schrank und zog ein Elektrokabel hervor. »Hier dürfte eine Videokamera gewesen sein.«

»Unser Mann ist also vielleicht auf Video aufgenommen worden?«

»Bloß, dass nichts mehr da ist«, sagte Maria. »Vielleicht hat er die Kamera gefunden und mitgenommen.«

»Okay. Sieh zu, dass die Techniker alles unter die Lupe nehmen.«

Fabel wollte die Küche verlassen, doch Maria hielt ihn zurück. »Ich erinnere mich, dass meine Klasse, als ich noch zur Schule ging, einen Ausflug zu den NDR-Fernsehstudios gemacht hat. Man zeigte uns ein Set für irgendeine Serie wie ›Großstadtrevier‹. Das Zimmer sah vollkommen echt aus – bis man näher heranging. Dann merkte man, dass der Himmel vor den Fenstern aufgemalt war und dass sich die Schranktüren nicht öffnen ließen.«

»Worauf willst du hinaus, Maria?«

»Hier gibt es alles, was man in der Wohnung eines Callgirls erwarten würde. Aber sie wirkt wie die Idee eines Bühnenbildners, der sich vorstellt, wie so eine Wohnung aussehen sollte. Man hat den Eindruck, dass hier niemand je wirklich gewohnt hat.«

»Vielleicht hat hier ja tatsächlich niemand gewohnt. Es könnte einfach ein ›Geschäftsbereich‹ für mehrere Mädchen gewesen sein.«

»Ich weiß. Aber irgendwas stimmt einfach nicht. Verstehst du, was ich meine?«

Fabel atmete tief ein und wartete eine Weile, bevor er ausatmete. »Ich verstehe ganz genau, was du meinst, Maria.« Er kehrte ins Wohn- und Schlafzimmer zurück. Der Tatortfotograf machte gerade detaillierte Aufnahmen von der Leiche. Er hatte eine Lampe an einem Stativ angebracht, und das grelle Licht konzentrierte sich auf das Opfer. Dadurch trat das im Zimmer verspritzte Blut noch stärker hervor, und der Eindruck explosiver Gewalt steigerte sich. Der junge uniformierte Polizist stand jetzt in der Tür und starrte auf die Leiche. Fabel stellte sich zwischen ihn und das Bett.

»Wie heißen Sie, Junge?«

»Beller, Herr Hauptkommissar. Uwe Beller.«

»Gut, Herr Beller. Haben Sie mit einem der Nachbarn gesprochen?«

Bellers Blick war wieder über Fabels Schulter zu den Gräueln im Innern des Raumes geglitten. Mühsam riss er sich zusammen. »Was? O … ja. Entschuldigung. Ja, das habe ich. Im Parterre wohnt ein Ehepaar und direkt unter uns eine alte Dame. Sie haben nichts gehört. Aber die alte Frau ist praktisch taub.«

»Kennen Sie den Namen des Opfers?«

»Nein. Alle sagen, dass sie sie fast nie zu Gesicht bekamen. Früher wohnte hier eine andere alte Frau, die vor ungefähr einem Jahr gestorben ist. Die Räume standen etwa drei Monate lang leer und wurden dann neu vermietet.«

»Haben sie heute Abend jemanden kommen oder gehen sehen?«

»Nein. Nur den Mann, der um halb drei eintraf und der uns angerufen hat. Das Ehepaar im Parterre wurde dadurch geweckt, dass die Haustür zuschlug. Sie hat ein Federscharnier und schließt sich mit einem Knall, der ein bisschen im Treppenhaus widerhallt. Davor hat niemand etwas gehört. Aber wie gesagt, das Ehepaar im Parterre hat geschlafen, und die alte Frau unter uns ist fast taub.« Beller neigte den Kopf, um die Leiche wieder über Fabels Schulter hinweg zu betrachten. »Jedenfalls war es ein total Verrückter. Aber natürlich brauchte sie sich nicht zu wundern. Wer sich auf dieses Geschäft einlässt, zieht ja alle möglichen perversen Brüder von der Straße an.«

Fabel griff nach dem zerknitterten Foto, das an der Lampe auf dem Nachttisch lehnte. Ein abgenutztes Fragment aus dem Leben, dem wirklichen Leben eines Menschen. Es passte so gut in diese leblose Wohnung wie ein Sandkorn ins Auge. Man hatte das Bild, so vermutete Fabel, an einem sonnigen Tag in Planten un Blomen aufgenommen. Das alte Foto, von schlechter Qualität, war aus einiger Entfernung geknipst worden, doch er konnte die Züge eines etwa vierzehnjährigen Mädchens mit mausfarbenem Haar gerade noch erkennen. Es war weder ein hässliches noch ein hübsches Gesicht, sondern eines, das man auf der Straße überhaupt nicht bemerken würde. Neben ihr standen ein älterer Junge von etwa neunzehn Jahren und ein Paar von Mitte vierzig. Sie strahlten eine Vertrautheit und Ruhe aus, die sie sofort als Familie erkennen ließen.

»Sie ist immer noch ein Mensch«, sagte Fabel, ohne den jungen Polizeimeister anzusehen, »immer noch eine Tochter. Die Frage ist, wessen Tochter.« Er zog einen Kunststoffbeutel aus der Jackentasche und legte das Foto hinein. Dann bat er Möller: »Lassen Sie mir Ihren Bericht so bald wie möglich zukommen.«

Hamburg-St. Pauli, Mittwoch, den 4. Juni, 6.00 Uhr

Im Treppenhaus forderte Fabel den Polizeimeister auf, ihn in die Wohnung im ersten Stock zu begleiten. Dort wartete bereits ein uniformierter Beamter, der mit einer alten Frau Tee trank. Sie hatte ein vogelähnliches Äußeres und papierdünne Haut. Die Wohnung hatte genau denselben Grundriss wie die in der darüber liegenden Etage. Aber die Jahrzehnte, die die alte Frau hier bereits verbrachte, hatten sich in die Wände eingeätzt, sodass die Wohnung zu einem Teil der Mieterin geworden war. Im zweiten Stock dagegen war es nicht das Leben, sondern der Tod eines Menschen, der die einzige dramatische Spur hinterlassen hatte.

Der Beamte erhob sich aus dem Sessel, als Fabel eintrat, doch dieser bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. Beller nannte den Namen der Mieterin: Frau Steiner. Sie starrte mit großen, runden, wässrigen Augen zu Fabel hinauf. Dies und ihre vogelartige Zerbrechlichkeit ließen ihn an eine Eule denken. An einer Wand stand ein Tisch mit mehreren Stühlen. Fabel zog einen heran und nahm der alten Frau gegenüber Platz.

»Geht’s Ihnen gut, Frau Steiner? Ich weiß, das alles muss ein Schock für Sie sein. Eine schreckliche Sache. Bestimmt stört es Sie, dass wir hier herumtrampeln. Zu viel Lärm …«

Die alte Frau beugte sich vor und runzelte die Stirn über den Eulenaugen, als müsse sie sich stark auf seine Worte konzentrieren. »Keine Sorge, der Lärm stört mich nicht. Ich bin nämlich ein bisschen taub.«

»Aha«, sagte Fabel und hob leicht die Stimme. »Dann haben Sie gestern Nacht nichts gehört?«

Plötzlich wirkte Frau Steiner tief traurig. »Also, wahrscheinlich doch. Vielleicht habe ich etwas gehört, ohne es zu wissen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Fabel.

»Ohrenklingen. Das geht leider mit meiner Taubheit einher. Wenn ich nachts mein Hörgerät herausnehme, scheine ich Geräusche zu hören: Schläge, ein hohes Pfeifen, sogar Schreie. Aber es ist nur mein Ohrenklingen. Besser gesagt, ich weiß nicht, ob es mein Ohrenklingen ist oder nicht.«

»Ach so, tut mir Leid. Das muss unangenehm sein.«

»Man muss es innerlich ausschalten. Sonst würde man verrückt werden.« Sie schüttelte ihren kleinen, vogelartigen Kopf ganz langsam, als könne eine plötzliche Bewegung ihn verletzen. »Ich habe es schon sehr, sehr lange, junger Mann. Seit Juli 1943, um genau zu sein.«

»Die britischen Bombenangriffe?«

»Freut mich, dass Sie sich mit der Geschichte auskennen. Ich muss unglücklicherweise mit meiner leben. Oder wenigstens mit ihren Echos. Ich bin draußen überrascht worden, als die erste Welle kam. Beide Trommelfelle geschädigt. Und das hier …« Sie schob einen schwarzen Wollärmel hoch und entblößte einen unglaublich mageren Arm. Die runzlige Haut war rosa-weiß gescheckt. »Dreißigprozentige Verbrennungen. Aber was mir am meisten zu schaffen macht, ist das Ohrenklingen.« Sie schwieg einen Moment lang, und tiefe Trauer schien in den Eulenaugen aufzusteigen. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass das arme Mädchen um Hilfe gerufen hat und ich es nicht gehört habe.«

Fabel schaute am Kopf der Frau vorbei auf die Sammlung alter Schwarzweißfotos auf der Anrichte: Da war sie als Kind und als junge Frau, bereits mit Eulenaugen, aber zusammen mit einem schwarzhaarigen Mann. Ein anderes Foto zeigte denselben Mann in einer Wehrmachtsuniform, wie Fabel zuerst glaubte. Dann erkannte er, dass es sich um die Uniform eines Polizei-Reservebataillons handelte. Keine Kinder. Keines der Fotos war weniger als fünfzig Jahre alt.

»Sind Sie ihr oft begegnet?«

»Nein. Eigentlich habe ich nur einmal mit ihr gesprochen. Ich war gerade dabei, die Treppe zu fegen, als sie auf dem Weg nach oben an mir vorbeikam.«

»Haben Sie sich mit ihr unterhalten?«

»Kaum. Sie sagte guten Tag und machte eine Bemerkung über das Wetter, bevor sie weiterging. Ich hätte sie zu einer Tasse Kaffee hereingebeten, aber sie schien es eilig zu haben. Sie sah aus wie eine Geschäftsfrau – sehr elegant angezogen. Teure Schuhe, wenn ich mich recht erinnere. Wunderbare Schuhe. Ausländische. Sonst habe ich sie nicht oft auf der Treppe gehört. Ich dachte, dass sie wahrscheinlich eine Menge Geschäftsreisen macht.«

»Hatte sie viele Besucher. Besonders Männer?«

Frau Steiner zog ihr Gesicht wieder in konzentrierte Falten. »Nein … nein, ich habe kaum jemanden gesehen.«

»Ich weiß, es ist sehr unerfreulich, aber ich muss Sie das fragen, Frau Steiner: Deutete irgendetwas darauf hin, dass sie eine Prostituierte gewesen sein könnte?«

Unglaublicherweise weiteten sich die Eulenaugen noch mehr. »Nein, auf keinen Fall. War sie das?«

»Wir wissen es nicht. Wenn sie das war, hätten Sie wohl mehr Männer kommen und gehen sehen.«

»Nein, ich bin sicher, dass mir nur zwei oder drei Besucher begegnet sind. Aber da Sie es erwähnen – alle waren Männer. Ich habe nie eine andere Frau bemerkt.«

»Können Sie die Männer beschreiben?«

»Nein, bestimmt nicht.« Wieder schüttelte sie langsam den Kopf. »Ich bin mir nicht einmal sicher, dass es mehr als zwei Männer waren. Vielleicht habe ich denselben mehr als einmal gesehen.« Sie zeigte an Fabel vorbei durch den Flur auf die matte bronzene Glasscheibe in ihrer Wohnungstür. »Es waren nur Gestalten vor der Tür – eigentlich bloß Schemen.«

»Sie würden also keinen von ihnen wieder erkennen?«

»Nur den jungen Mann, der ihr die Wohnung untervermietet hat …«

»Das muss Klugmann sein, Herr Hauptkommissar«, warf Beller ein. »Er hat die Leiche entdeckt und uns angerufen.«

»Ist er oft hierher gekommen?«, fragte Fabel.

Die alte Frau hob ihre schmächtigen Schultern. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen. Wie gesagt, er könnte eine der Gestalten gewesen sein, die rauf- oder runtergingen. Oder vielleicht waren die beiden Male seine einzigen Besuche.« Sie warf einen Blick auf die Glasscheibe der Tür am Ende des kurzen Flures. »So ist es, wenn man alt wird, junger Mann. Die Welt schrumpft und schrumpft, bis sie nur noch aus Schatten besteht, die an deiner Tür vorbeigehen.«

»Wann hat Klugmann sie Ihres Wissens zum letzten Mal besucht?«

»Letzte Woche oder vielleicht in der Woche davor. Entschuldigung, ich habe kaum darauf geachtet.«

»Macht nichts, Frau Steiner. Vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe.« Fabel stützte sich ab, während er sich aus dem Sessel erhob.

»Herr Hauptkommissar?« Die wässrigen Eulenaugen blinzelten.

»Ja, Frau Steiner?«

»Hat sie sehr gelitten?«

Es hatte keinen Zweck zu lügen, denn bald würden die Einzelheiten in allen Zeitungen stehen. »Leider ja. Aber nun hat sie ihren Frieden gefunden. Auf Wiedersehen, Frau Steiner. Wenn noch irgendetwas ist, wenden Sie sich bitte an einen der Beamten.«

Die Worte schienen die alte Frau nicht zu erreichen, denn sie schüttelte nur traurig den Kopf. »Tragisch. Sehr tragisch.«

Als sie die Wohnung verließen, fragte Fabel den Polizeimeister: »Sie waren also als Erster am Schauplatz?«

»Ja, Herr Hauptkommissar.«

»Und sonst war niemand da?«

»Nein. Nur der Mann, der uns angerufen hat. Und dann auch das junge Ehepaar von unten.«

»Sie haben keinen älteren Mann herumlungern sehen?«

Beller schüttelte nachdenklich den Kopf. »Auch später nicht, als sich die Gaffer angesammelt hatten? Einen kleinen, stämmigen Mann von Ende sechzig? Er scheint Ausländer zu sein. Slawe, vielleicht Russe.«

»Nein, tut mir Leid. Ist es wichtig?«

»Keine Ahnung«, meinte Fabel. »Vermutlich nicht.«

Hamburg-St. Pauli, Mittwoch, den 4. Juni, 7.30 Uhr

Das Vernehmungszimmer der Davidwache lieferte ein Beispiel für effektiven Minimalismus. Die Strenge der getünchten Wände wurde nur von der Tür und einem einzelnen Fenster durchbrochen, das auf die Davidstraße hinausgeschaut hätte, wäre seine Scheibe nicht trübe gewesen wie gefrorene Milch, sodass die Morgendämmerung zu einem vagen Glühen wurde. Ein Ende des Vernehmungstisches war an die Wand geschoben worden, und an den beiden Schmalseiten standen jeweils zwei Metallrohrstühle. Auf dem an die Wand grenzenden Tischende ruhte ein schwarzes Kassettenaufnahmegerät. Darüber hing eine Anweisung für die Räumung im Falle eines Feuerausbruchs und über ihr ein Schild mit der Aufschrift »Rauchen verboten«.

Fabel und Werner hatten an der einen Tischseite Platz genommen. Dem Hauptkommissar gegenüber saß ein hoch gewachsener Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren mit dichtem, öligem schwarzem Haar. Die zurückgekämmten glänzenden Strähnen fielen ihm dauernd in die Stirn, und seine kräftigen Schultern dehnten das billige schwarze Leder der zu engen Jacke. Er sah aus wie ein heruntergekommener ehemaliger Athlet. Eine beginnende Beleibtheit hatte sich um seine Hüften gelegt, unter den Augen sah man dunkle Ringe, und hinter dem schwarzen Haar und den zwei Tage alten Bartstoppeln hob sich die Haut bleich ab. Das Gesicht, immer noch eckig und stark, ließ die ersten Anzeichen der Erschlaffung erkennen.

»Sie sind Hans Klugmann?«, fragte Fabel, ohne von dem Bericht aufzublicken.

»Ja.« Klugmann beugte sich vor, krümmte die Schultern, legte die Handgelenke auf den Tischrand und kratzte mit dem Nagel des einen Daumens an der Haut des anderen. Seine Haltung hätte fast der eines Betenden geglichen, wäre seine Nervosität nicht gewesen.

»Sie haben die Frau gefunden …« Fabel blätterte ein paar Seiten um. »… ›Monique‹.«

»Ja.« Der Daumennagel kratzte tiefer. Ein Bein, das auf dem Fußballen ruhte, begann unter dem Tisch zu zucken. Dadurch zitterten auch Klugmanns Hände rhythmisch.

»Es muss ein Schock … sehr unangenehm für Sie gewesen sein.«

Unverfälschter Schmerz stand in Klugmanns Augen. »Das können Sie wohl sagen.«

»Monique war eine Freundin von Ihnen?«

»Ja.«

»Aber Sie behaupten, ihren Nachnamen nicht zu kennen?«

»Das stimmt.«

»Hören Sie zu, Herr Klugmann, ich muss zugeben, dass ich Ihre Hilfe wirklich benötige. Ich bin ratlos, und Sie müssen mir helfen, meine Ratlosigkeit zu überwinden. Bis jetzt habe ich die Leiche einer anonymen jungen Frau. Sie liegt zerstückelt in einer Wohnung, in der es abgesehen von einer einzigen Kleidergarnitur in einem Schrank keine Spur von persönlichen Habseligkeiten gibt. Kein Täschchen, keine Papiere, und außerdem sind keine Lebensmittel im Kühlschrank, bloß ein Liter Milch. Und wir haben einiges von dem Zubehör gefunden, das man in einer für Prostitution genutzten Wohnung erwarten würde. Die Wohnung liegt bequemerweise in der Nähe des Rotlichtviertels, wenn auch nicht in dessen Grenzen. Aber nichts deutet auf eine Menge männlicher Besucher hin. Verstehen Sie, weshalb ich irritiert bin?« Klugmann zuckte die Achseln. »Und dann erfahren wir auch noch, dass der offizielle Mieter der Wohnung ein früherer MEK-Beamter ist, der behauptet, den Nachnamen seiner Untermieterin nicht zu kennen.« Fabel ließ seine Worte wirken. Klugmann starrte mit unbewegter Miene auf seine Hände. »Warum also hören Sie nicht auf, uns zu verarschen, Herr Klugmann? Wir wissen beide, dass die Wohnung zu Prostitutionszwecken benutzt wurde, aber auf höchst selektive Art, und dass diese Monique dort kaum gewohnt hat. Hören Sie, ich habe kein Interesse an Ihrer Vereinbarung mit der Frau, sondern nur an den Informationen, die Sie mir über Monique geben können. Ist das klar?« Klugmann nickte, doch er wandte den Blick nicht von seinen Händen ab. »Also, wie hieß sie?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Das schwöre ich. Ich habe sie immer nur Monique genannt. Und so nannte sie sich selbst auch.«

»Aber sie war Prostituierte?«

»Na ja, kann sein. Ich weiß nicht, vielleicht im Nebenberuf. Das hatte nichts mit mir zu tun. Jedenfalls hatte sie immer genug Geld – es kann also sein.«

»Wie lange haben Sie sie gekannt?«

»Erst seit drei oder vier Monaten.«

»Wenn Sie ihren Namen nicht kennen«, mischte sich Werner ein, »dann muss es andere geben, die besser Bescheid wissen. Mit wem ging sie um?«

»Weiß ich nicht.«

»Sie sind nie einem ihrer Bekannten begegnet?«, fragte Fabel, ohne seine Zweifel zu verhehlen.

»Nein.«

Fabel schob ein Foto des ersten Opfers, Ursula Kastner, über den Tisch. »Erkennen Sie die Frau?«

»Nein. Oder doch, aber nur aus den Zeitungen. Ist sie nicht die Anwältin, die ermordet wurde? Etwa auf die gleiche Art und Weise?«

Fabel ignorierte die Fragen und ließ das Foto auf dem Tisch liegen. Klugmann schien Ursula Kastners Gesicht jedoch bewusst nicht anzuschauen. Irgendwo tief in Fabels Innern wallte eine Ahnung auf.

»Und Moniques Adresse, bevor sie in die Wohnung einzog?«

Klugmann zuckte die Achseln.

»Langsam wird es lächerlich.« Werner schob den Oberkörper vor. Seine Masse und die Grobheit seiner Züge ließen seine Bewegungen oft bedrohlicher wirken als beabsichtigt. Klugmann richtete sich auf seinem Stuhl auf und warf den Kopf trotzig zurück. »Wollen Sie uns weismachen, dass die Frau mit Ihnen Freundschaft geschlossen hat und in Ihre Wohnung gezogen ist, ohne dass Sie ihren vollen Namen kannten oder irgendetwas über sie wussten?«

»Sie müssen zugeben, zumal als früherer Polizist«, bekräftigte Fabel, »dass die Sache etwas merkwürdig erscheint.«

Klugmann entspannte sich. »Ja, vielleicht haben Sie Recht. Aber ich sage die Wahrheit. Die Dinge sind eben ganz anders da draußen. Monique ist eines Abends ganz einfach in dem Club erschienen, wo ich arbeite, und wir sind ins Gespräch gekommen.«

»Sie war allein?«

»Ja. Deshalb habe ich mit ihr gesprochen. Arno, mein Chef, hielt sie für eine teure Nutte, die in unserem Club jemanden aufreißen wollte. Ich sollte ihr Beine machen. Aber als ich mit ihr redete, kam sie mir wie ein nettes Mädchen vor. Sie wollte wissen, wo sie ein Zimmer oder eine Wohnung mieten konnte, und ich erzählte ihr von meiner.«

»Warum haben Sie Monique Ihre Wohnung angeboten? Wieso haben Sie nicht selbst dort gewohnt?«

»Tja, ich habe was mit einem der Mädchen aus der Tanzbar, Sonja. Meistens habe ich bei ihr übernachtet, weil es so nahe bei der Tanzbar ist. Nachdem ich die neue Wohnung gemietet hatte, bin ich zu Sonja gezogen, während die Bude renoviert wurde. In dem Moment begegne ich Monique, und sie sagt, sie ist bereit, anständig – und im Voraus – für eine vernünftige Wohnung zu zahlen. Es sollte nur für sechs bis neun Monate sein. Ich fand, dass das eine gute Möglichkeit war, ein paar Euros zusätzlich zu verdienen.«

»Und Sie sollten wegbleiben?«, fragte Werner.

»So war es ausgemacht.«

»Was hatten Sie dann mitten in der Nacht dort zu suchen?«

»Ich bin einfach mal bei ihr vorbeigegangen. Ab und zu habe ich nach dem Rechten geschaut. Wir haben uns gut verstanden.«

»Sie haben ihr um halb drei morgens einen Höflichkeitsbesuch abgestattet?«, hakte Fabel nach.

»Wir hatten beide keinen normalen Tagesablauf.«

»Was genau ist Ihre Tätigkeit, Herr Klugmann?«

»Wie gesagt, ich arbeite in einem Nachtclub – einer Tanzbar. Als stellvertretender Geschäftsführer.«

Fabel blätterte wieder in der Akte. »Ach ja, die Tanzbar Paradies neben der Großen Freiheit. Richtig?«

»Ja.«

»Und Sie arbeiten für …?«

»Sie wissen, für wen ich arbeite.« Klugmann betrachtete den Daumennagel, den er nun mit dem anderen freilegte.

Fabel zog eine zweite Akte unter der ersten hervor. Er schlug sie auf und überflog die erste Seite. Klugmann bemerkte sein eigenes Foto in der rechten oberen Ecke. Seine gekrümmten Schultern sackten nach unten. »Ja …« Fabel lehnte sich zurück und musterte Klugmann nachdenklich. »Ihr gegenwärtiger Arbeitgeber ist Ersin Ulugbay. Nicht gerade ein Hamburger Musterbürger, oder?«

»Kann sein.«

»Ein seltsamer Karriereschritt«, kommentierte Werner, »von einer Spitzentruppe der Polizei zur türkischen Mafia.«

»Ich hatte keine große Wahl nach meinem Ausscheiden aus der Polizei.« Klugmann lächelte zynisch. »Das wissen Sie ja wahrscheinlich längst. Außerdem arbeite ich nicht für die ›Mafia‹. Ich weiß, was Ulugbay treibt, aber damit habe ich nichts zu tun. Mein Chef ist Arno Hoffknecht, der Geschäftsführer, auch wenn Ulugbay die Bar gehört. Offiziell bin ich Arnos Stellvertreter, aber in Wirklichkeit ist das nur eine andere Bezeichnung für einen Türsteher. Jedenfalls halte ich meine Nase aus allem raus.«

»Tatsächlich?«, fragte Werner. »Eine interessante Formulierung. Ich bin mir nicht sicher, dass Sie Ihre Nase wirklich raushalten. Und das ist nicht bildlich gesprochen.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wann haben Sie sich die letzte Prise reingezogen?«

Klugmann beugte sich vor, und sein Nacken straffte sich. »Lass den Quatsch, du Arsch.«

Werners Augen loderten, und seine mächtige Gestalt schien einer Explosion nahe zu sein. Jetzt griff Fabel ein. »Ich hoffe, dass Sie sich nicht unkooperativ zeigen, Herr Klugmann. Dann könnte die Sache noch schlechter für Sie aussehen.«

»Was soll das heißen, ›schlechter für mich‹? Das Ganze hat ’nen Scheißdreck mit mir zu tun. Und Sie haben keine Beweise gegen mich …«

»Sie verschweigen uns etwas.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, wo Moniques Terminkalender ist.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Oder die Videokamera, die Sie hinter dem Spiegel versteckt hatten. Was war ihr Zweck? Erpressung? Oder wollten Sie nur einen Porno drehen?«

Einen Augenblick lang wirkte Klugmann verblüfft. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Überhaupt keine Ahnung, verflucht noch mal.«

Fabel lehnte sich zurück. Werner begriff den Wink, schob seinen mit Stoppeln übersäten Kugelkopf vor und lächelte. »Ich kann dich nicht leiden, Klugmann.«

»Ach was?« Klugmann tat so, als wäre er gekränkt. »Dabei dachte ich, wir hätten vielleicht eine gemeinsame Zukunft.«

»Ich kann dich nicht leiden, weil du ein Verräter und ein Gauner bist. Du hast die Polizei angeschissen und Informationen an Ulugbay verkauft.« Werner verzog verächtlich das Gesicht. »Du stinkst nach der Gosse, du Drecksack. Du lebst mit einer Nutte zusammen …«

Klugmann spannte sich und schien aufspringen zu wollen. Fabel hob die Hand. »Lass gut sein.«

Werner fuhr unbeeindruckt fort: »Du lebst mit einer Nutte zusammen, vermietest deine Wohnung an eine andere Nutte, damit sie ein verrückter Scheißkerl zerfetzen kann, und du arbeitest in einem Dreckstall für einen türkischen Paten. Wie fühlst du dich denn, Klugmann, wenn du morgens in den Spiegel blickst? Herrje, du warst Polizist – und nach den Unterlagen sogar ein guter. Irgendwann musst du doch mal Ehrgeiz gehabt haben. Und nun …« Werner streckte die Arme aus, als müsse er etwas Abscheuliches von sich fern halten. Dann schob er sein Gesicht noch näher an Klugmann heran. »Und nun bist du Ungeziefer, Klugmann. Ich glaube keine Sekunde lang, dass du nicht fähig gewesen wärst, so etwas mit dem Mädchen anzustellen. Und ich glaube keine Sekunde lang an den Blödsinn, dass du nicht mehr über sie weißt als ihren Vornamen.«

Werner verstummte jäh. Im Zimmer herrschte Schweigen, ein von beiden Seiten genau kalkuliertes Schweigen. Klugmann ließ sich auf seinem Stuhl zurückfallen, ein Bein ausgestreckt, während das andere immer noch nervös zuckte. Fabel musterte Klugmanns Miene, die übliche Maske der Gleichgültigkeit. Eine bemühte Langeweile, wie sie zahllose andere an diesem Vernehmungstisch im Laufe der Jahre vorgetäuscht hatten. Damit sollte ein Mangel an Besorgnis demonstriert werden, aber Fabel durchschaute die Täuschung stets. Nun merkte er jedoch, dass er die Maske in Klugmanns Fall nicht durchdringen konnte.

Werner setzte erneut an: »Du warst kein Freund, und du warst kein Kunde. Es war ja wohl kaum so, dass du mal eben für vierhundert Euro mit ihr vögeln wolltest. Nach allem, was wir über ›Monique‹ wissen, war sie unerreichbar für dich – und viel zu teuer.« Klugmann antwortete nicht und starrte auf den Tischrand. »Und ich glaube auch nicht, dass du einfach nur der unglückliche Vermieter einer anonymen Frau bist, die zufällig in deiner Wohnung abgeschlachtet wurde. Was also sollen wir daraus schließen?«, fragte Werner. »Kein Freund. Kein Kunde. Damit bleiben nur zwei Möglichkeiten: Du hast sie entweder selbst zerstückelt, oder du bist einer von Ulugbays Schlägern und warst gleichzeitig ihr Zuhälter. Meiner Meinung nach wolltest du etwas abholen, und ich meine mehr als die Miete. Und wenn sie aufmuckt, scheuerst du ihr eben eine. Trifft das die Sache?«

Schweigen.

»Vielleicht gefällt dir deine Arbeit. Vielleicht geilt es dich auf, wenn du den Mädchen ein paar Schläge verpasst. Vielleicht hast du dir gestern Nacht einen besonderen Spaß ausgedacht.«

Klugmann verlor die Beherrschung. »Das ist doch bescheuert. Sie haben gesehen, in welchem Zustand das Zimmer war. Wenn ich es getan hätte, wäre ich doch am ganzen Körper mit Blut bedeckt.«

»Vielleicht hast du dich ja vor dem Vergnügen ausgezogen. Vielleicht sollten wir dich mal von den Spurensicherern unter die Lupe nehmen lassen.«

»Macht doch, was ihr wollt, ihr Säcke. Gut, ich arbeite für Ulugbay. Aber das hat mit der Sache von gestern Nacht nichts zu tun. Es hat nichts mit ihm zu tun, und ich ziehe ihn auch nicht mit hinein. Ihr macht mir nicht so viel Angst wie die verdammten Türken. Ihr wisst doch Bescheid: Wenn sie glauben, dass ich mit euch über sie spreche, werde ich mit abrasiertem Gesicht im Wald enden.«

Fabel kannte das Vorgehen, von dem Klugmann sprach und das von der türkischen Mafia regelmäßig angewandt wurde: Wer sie bei einem Drogendeal übervorteilt oder der Polizei Informationen geliefert hatte, wurde irgendwann in den Wäldern nördlich von Hamburg ohne Hände, mit ausgeschlagenen Zähnen und mit abgeschnittenem Gesicht aufgefunden. Dadurch wurde die Identifizierung des Opfers erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht, und die Ermittlungen verzögerten sich oft so sehr, dass die Spur erkaltete und keine Verurteilung mehr zuließ.

»Schon klar«, beruhigte ihn Fabel. »Aber Sie müssen einsehen, dass Sie der Einzige sind, der nach unseren Erkenntnissen mit Sicherheit in Moniques Wohnung war.«

»Ja, für lächerliche dreißig Sekunden. Sobald ich sie sah – in diesem Zustand –, bin ich rausgelaufen, um die Polizei anzurufen.«

»Sie haben nicht Moniques Telefon benutzt?«

»Nein. Mein Handy. Dort wollte ich nicht bleiben. Ich musste raus aus der Wohnung.«

»Sie sind gegen halb drei eingetroffen?«, fragte Fabel.

»Ja.«

»Und Sie haben nichts angefasst?«

»Nein, dazu war ich zu schnell wieder draußen.«

»Wie sind Sie reingekommen? Haben Sie einen Schlüssel?«

»Nein. Das heißt, doch, aber ich habe ihn nicht benutzt. Die Tür war nicht verschlossen, sondern nur angelehnt.«

»Ihr Anruf wurde um zwei Uhr fünfunddreißig bei der Einsatzzentrale registriert. Wo waren Sie, bevor Sie die Wohnung aufsuchten?«

»In der Tanzbar Paradies, bei der Arbeit.«

»Bis wann genau?«

»Etwa ein Uhr fünfundvierzig.«

»Es dauert keine Dreiviertelstunde, um ihre Wohnung von der Großen Freiheit aus zu erreichen.«

»Musste noch was Geschäftliches erledigen.«

»Was denn?«

Klugmann streckte die Arme mit den Handflächen nach oben aus und neigte den Kopf zur Seite. Fabel nahm einen Kugelschreiber und ließ ihn über seine Zähne rattern.

»Wenn Sie uns keine Auskunft geben können oder wollen, müssen wir vermuten, dass Sie Gelegenheit hatten, die Frau umzubringen, sich zu säubern und dann zu behaupten, Sie seien gerade eingetroffen und hätten die Leiche gefunden.«

»Okay, okay. Ich hab mich am Hafen mit ’nem Bekannten getroffen und etwas Stoff gekauft.«

»Mit wem haben Sie sich getroffen?«

»Das soll wohl ein Witz sein.«

Fabel schob ihm ein Tatortfoto über den Tisch zu. Die Szene war in grellen Farben aufgenommen worden und sah geradezu unwirklich aus. »Das ist kein Witz.«

Klugmann wurde starr und erbleichte. Offensichtlich kehrte seine Erinnerung zurück. »Wir waren befreundet. Das ist alles.« Werner seufzte. Klugmann beachtete ihn nicht, sondern blickte dem Hauptkommissar in die Augen. »Und Sie wissen, dass ich sie nicht getötet habe, Herr Fabel.« Seine Augen und seine Haltung verloren an Intensität. »Also, ich hab vom Club zum Hafen ein Taxi genommen. Der Fahrer hat auf mich gewartet, während ich meinen Bekannten traf, und mich dann zur Wohnung gebracht. Gegen halb drei hat er mich dort abgesetzt. Er kennt jeden meiner Schritte vom Verlassen des Clubs bis zur Ankunft vor der Wohnung. Erkundigen Sie sich bei der Taxifirma.«

»Wir sind schon dabei.«

Fabel schloss die Akte und stand auf. Allem Anschein nach war Klugmann nicht der Mörder. Sie hatten keinen triftigen Grund, ihn festzuhalten, nicht einmal als unentbehrlichen Zeugen. Doch das Gespräch hatte Fabel aus der Fassung gebracht. Klugmann entsprach allen Erwartungen, aber der Hauptkommissar hatte das Gefühl, eine umgekehrt daliegende Landkarte zu betrachten. Alle Marksteine waren vorhanden, doch sie lieferten keine Anhaltspunkte, sondern desorientierten ihn nur. Mit beiden Akten unter dem Arm ging Fabel auf die Tür zu und sagte, ohne Klugmann noch eines Blickes zu würdigen: »Wir werden Sie und Ihre Kleidung trotzdem von der Spurensicherung untersuchen lassen, für alle Fälle.«

Alles an Maria Klee war forsch und munter, von ihrer präzisen Hannoveraner Aussprache bis hin zu ihren kurzen, gut frisierten blonden Haaren. Als Fabel das Vernehmungszimmer verließ, wartete sie vor der Tür auf ihn. Sie hatte ein Blatt Papier in der Hand.

»Wie ist’s gelaufen?«, fragte sie.

Fabel wollte gerade antworten, als ein Schutzpolizist eintraf, um Klugmann zur Spurensicherung zu begleiten. Klugmanns und Marias Augen trafen sich einen Moment lang, doch er schien sie nicht wahrzunehmen, während die Polizistin nachdenklich die Stirn runzelte.

»Kennst du ihn?«, erkundigte sich Fabel, als Klugmann und sein Begleiter außer Hörweite waren.

»Ich weiß nicht. Er kommt mir bekannt vor, aber ich kann nicht sagen, woher.«

»Möglich ist es schon. Er war früher bei der Polizei Hamburg.«

Maria zuckte die Achseln, als wolle sie einen ärgerlichen Gedanken abschütteln. »Egal. Was hast du rausgekriegt?«

»Er ist bestimmt nicht unser Mann, aber er hat Dreck am Stecken. Alles an ihm ist windig. Und er verschweigt uns irgendwas. Nein, er verschweigt uns eine ganze Menge. Wie ist’s bei dir gelaufen?«

»Ich habe mit dem Geschäftsführer der Tanzbar, Arno Hoffknecht, gesprochen. Er bestätigt, dass Klugmann bis nach halb zwei dort gearbeitet hat.«

»Könnte es sein, dass Hoffknecht ihn decken will?«

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie schmierig der Kerl ist. Es ist mir kalt über den Rücken gelaufen.« Maria tat so, als schaudere es sie. »Aber er deckt Klugmann nicht. Zu viele andere haben ihn während seiner Schicht gesehen. Und die Kripo Davidwache hat auch seine Behauptung überprüft, dass er überallhin mit demselben Taxi gefahren ist.«

»Genau das hat er uns ebenfalls erzählt.«