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Ada Fink

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Beschreibung

Ein brutaler und düsterer Thriller aus der Nachwendezeit. Ein spannungsgeladenes Ermittlerduo, sie aus dem Osten, er aus dem Westen. 1993, Ostdeutschland. Auf einem Bett aus Blütenzweigen und den Körper übersät mit germanischen Runen - so wird in einem abgelegenen Waldstück bei Wussnitz eine Mädchenleiche gefunden. Die ehrgeizige Kommissarin Ulrike Bandow und der neue westdeutsche Kollege Ingo Larssen übernehmen ihren ersten gemeinsamen Fall. Rätselhafte Spuren führen das ungleiche Ermittlerpaar bis in die deutsch-deutsche Vergangenheit, wo sie auf eine bisher unentdeckte, bizarre Mordserie stoßen. Jetzt ist der Täter zurückgekehrt, an den Ort, an dem alles begann. Um ihn aufzuhalten, müssen die Ermittler lernen, einander zu vertrauen. Doch das ist nicht einfach, denn Ulrikes eigene Schuld führt zu einem tiefen Abgrund, in den sie niemals schauen wollte…

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Seitenzahl: 539

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ada Fink

Blütengrab

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Ein brutaler und düsterer Thriller aus der Nachwendezeit. Ein spannungsgeladenes Ermittlerduo, sie aus dem Osten, er aus dem Westen.

 

1993, Ostdeutschland. Auf einem Bett aus Blütenzweigen und den Körper übersät mit germanischen Runen - so wird in einem abgelegenen Waldstück bei Wussnitz eine Mädchenleiche gefunden. Die ehrgeizige Kommissarin Ulrike Bandow und der neue westdeutsche Kollege Ingo Larssen übernehmen ihren ersten gemeinsamen Fall. Rätselhafte Spuren führen das ungleiche Ermittlerpaar bis in die deutsch-deutsche Vergangenheit, wo sie auf eine bisher unentdeckte, bizarre Mordserie stoßen. Jetzt ist der Täter zurückgekehrt, an den Ort, an dem alles begann. Um ihn aufzuhalten, müssen die Ermittler lernen, einander zu vertrauen. Doch das ist nicht einfach, denn Ulrikes eigene Schuld führt zu einem tiefen Abgrund, in den sie niemals schauen wollte…

Vita

Ada Fink ist das Pseudonym einer deutschen Roman- und Drehbuchautorin. Neben diversen Auszeichnungen und Nominierungen im Kino- und Fernsehbereich erreichte ihr Debütroman sogleich die Spiegel-Bestseller-Liste. Es folgten weitere erfolgreiche Veröffentlichungen unter ihrem Klarnamen. Ada Fink mag Mary Shelley und vegetarische Schnitzel, und hasst es, nachts in hell erleuchteten Räumen ohne Vorhänge zu sein. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Berlin und Brandenburg.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Shutterstock; Image Source/Getty Images

ISBN 978-3-644-00690-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

August 1975

Wo ist sie, verdammt? Ulrike bleibt außer Atem stehen und schaut sich suchend um. «Christa?» Ihr Ruf hallt zwischen den hohen Bäumen hindurch, hinter denen die Sonne schon verschwunden ist, und verliert sich in den Zweigen.

Keine Antwort. Noch einmal, lauter jetzt. «Christa!» Sie dreht sich um die eigene Achse und lässt den Blick schweifen. Was soll das jetzt? Bald wird am Lagerfeuer gesungen, und sie werden großen Ärger bekommen, wenn sie nicht sofort wieder zu den anderen zurückgehen. Ulrike kneift die Augen zusammen und kann in der Ferne den hohen Stacheldrahtzaun des militärischen Sperrgebiets erkennen. So weit ist sie also schon gelaufen? Es ist verboten, hier zu sein, und das weiß Christa doch ganz genau! Das plötzliche Gefühl von Verzweiflung zieht Ulrikes Herz hinunter in ihre Beine, und sie verspürt den Impuls, einfach umzudrehen. Warum sollte sie sich wegen ihrer Freundin in Schwierigkeiten bringen? Könnte doch sein, dass Christa schon wieder bei den anderen am Feuer sitzt und mit ihnen darüber lacht, weil sie so lange vergeblich nach ihr sucht? Zuzutrauen wäre es ihr doch! Nein, bremst Ulrike sich sofort, Christa würde sie nicht hier allein im Wald zurücklassen. Niemals, so ist Christa nicht. Wenn du einmal ihre beste Freundin bist, hält sie für immer zu dir. Deswegen darf Ulrike sie jetzt auch nicht im Stich lassen.

Da!

Ulrike dreht sich erschrocken um. Sie hat etwas gehört. Oder nicht? Sie fährt noch einmal herum. Nichts ist zu sehen. Nur Bäume, und oben, über den Tannenspitzen, ein kleines Stückchen Himmel. Kein Vogel zwitschert, alles still. Aber Ulrike spürt etwas Fremdes. Etwas, was sich wie ein unsichtbarer Nebel auf sie zubewegt. Ein beklemmender Druck, der gegen ihre Brust presst und ihr das Atmen erschwert. Oder ist es nur ihre eigene Angst? Nein, da ist etwas … oder – … jemand? Ulrike versucht, es zu wittern. Als könnte ein Kind das. Oder Menschen überhaupt. Sie hört nichts, sie sieht nichts, sie riecht nichts, und sie schmeckt nichts Beunruhigendes. Aber ihre Haut sagt ihr, dass da etwas ist. Ulrike fröstelt, und die kleinen Härchen an ihren Unterarmen stellen sich auf. Sie signalisieren Abwehr. Komm nicht näher. Bleib weg. Hau ab.

Nun doch ein Geräusch! Ein Rascheln. Dort bewegt sich etwas.

Ulrike kann es nicht richtig erkennen, doch, jetzt … dichtes Fell, runder Rücken, gebeugter Gang … was ist das? Mit zwei schnellen Schritten sucht sie erschrocken Schutz hinter einem Baum, stellt sich seitlich, zieht den Bauch ein, macht sich so schmal wie möglich, wagt nicht zu atmen. Sie wartet ein, zwei Sekunden, dann beugt sie sich vorsichtig ein Stück nach vorne und sieht die Gestalt durchs Unterholz hasten. Ulrike beißt die Zähne aufeinander, um nicht laut aufzuschreien. Das, was sie dort sieht, ist weder Mensch noch Tier, es ist irgendetwas dazwischen. Der Pelz hängt ihm in Fetzen vom Körper, und der haarige Kopf mit den aufgestellten Ohren hat Ähnlichkeit mit dem eines Wolfes. Nur die nackten Füße und Hände sehen menschlich aus, sie sind schwarz verschmiert. Das Wesen ist nicht groß, nur ein bisschen größer als sie selbst, und immer wieder dreht es sich gehetzt um, als sei es auf der Flucht. Es kommt näher, genau in ihre Richtung! Ulrike weicht sofort wieder zurück hinter den Baum, bevor es sie noch entdeckt.

Sie hört sein Keuchen und dazwischen eine Art Winseln. Weinerliches Gewimmer, wie eine verletzte Kreatur, die vor etwas flieht und jeden anfallen wird, der sich ihr in den Weg stellt. Es klingt grauenhaft. Bald hat es sie erreicht, und Ulrike weiß nicht, auf welcher Seite es vorbeilaufen wird. Ihr bleiben nur noch wenige Sekunden, um sich zu entscheiden, in welche Richtung sie sich in Sicherheit bringt. Nach rechts? Nach links? Oder doch rechts? Was, wenn sie sich ihm direkt in die Arme dreht? Sie muss sich entscheiden … jetzt! Es kommt! Sie kneift die Augen zusammen, macht einen Schritt nach links und hört im selben Moment das Wesen auf der anderen Seite vorbeihuschen. Ulrike öffnet die Augen wieder und sieht es von hinten, wie es stolpernd tiefer in den Wald rennt. Sein langer Schwanz schlägt mit jedem Schritt gegen die Zweige. Ulrike schaut der unheimlichen Gestalt mit wild klopfendem Herzen hinterher, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden ist. In ihrem Kopf beginnt sich plötzlich alles zu drehen. Einen Augenblick später knicken ihre zitternden Knie ein, und sie sackt auf dem Waldboden zusammen. Dort hockt sie und versucht, sich selbst zu beruhigen. Es ist weg, es ist weg, es ist weg … So vergehen fünf oder zehn oder auch fünfzehn Minuten, wer kann das in so einer Lage schon sagen? Aber als sie nach einer gefühlten Ewigkeit wieder den Kopf hebt, wirkt der Wald wieder so unberührt und friedlich, dass sie sich schon fragt, ob alles nur Einbildung gewesen sein könnte. Möglicherweise hatte sie sich hier einfach hingesetzt, ist eingeschlafen und … Erneut ein Geräusch! Sofort ist sie auf den Beinen und atmet dann erleichtert auf, als sie Christas weiße Jungpionierinnen-Bluse in der Entfernung leuchten sieht. Ihre Freundin rennt auf sie zu und macht außer Atem vor ihr halt. Sie lacht. «Mann, ich hab mich echt kurz verlaufen …» Dann bemerkt sie erst, dass mit Ulrike irgendetwas nicht stimmt. Dass sie kreidebleich ist und die Hände zu Fäusten verkrampft hat. «Was ist?»

Ulrike schaut ihre Freundin an und flüstert, als sei es ein Geheimnis. «Ich habe gerade ein Monster gesehen.»

Mai 1993

Tag 1

Die Sonne zögert noch, sich zu zeigen. Ulrike Bandow läuft im Dunkeln auf dem menschenleeren Sportplatz verbissen ihre Runden. Alles brennt. Der Schweiß in ihren Augen, die Lunge und jeder einzelne Muskel in ihren Beinen. Aber so muss es sein. Dafür kommt sie täglich her, um einmal richtig durchzubrennen, damit es den Rest des Tages nicht passiert. Dieses regelmäßige Training ist eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Stressabbau oder was auch immer. Jeden Tag wieder, zu jeder Jahreszeit, morgens um fünf.

Außerdem liebt sie diesen Sportplatz seit ihrer Kindheit, alles daran, alle schmutzigen Details. Die abgenutzte Kampfbahn, die graue Betontribüne mit den ausgeblichenen Plastiksitzen, an der der Grünspan hochkriecht, die maroden Zäune rundherum und den Rasen, der schon lange sich selbst überlassen ist. An der seitlichen Bande ist nur noch schwach der verwitterte Schriftzug «SC Dynamo Wussnitz» zu lesen, und Ulrike erinnert sich noch an den Sommertag vor vielen Jahren, als kleine schwarze Fliegen in dessen frischer Farbe kleben blieben. Wenn Ulrike morgens ihre alte Jacke der Sportvereinigung Deutsche Volkspolizei anzieht, sieht sie natürlich den bizarren Kontrast zu den nagelneuen Nike-Laufschuhen. Aber das sind jetzt die Zeiten. Seit der Wende sind die Gegensätze überall, auch hier in der Mecklenburger Provinz. Ulrike versucht, die Verunsicherungen um sich herum nicht zu nah an sich heranzulassen. Sie betrachtet es nüchtern, dass die hohen Erwartungen sich nicht erfüllen, erst recht nicht die großen Versprechungen. Bringt nichts, jetzt zu jammern. Dass das alles nicht einfach werden würde, war doch klar. Wen wundert’s.

Ulrike schaut auf ihre Uhr und muss sich beeilen. Marc ist letzte Nacht wieder viel zu spät nach Hause gekommen, und sie muss dafür sorgen, dass ihr Bruder pünktlich zur Arbeit kommt. Sie beschleunigt ihren Schritt, das Brennen wird noch stärker, aber da muss sie durch.

 

Der letzte Teil des Rückwegs führt eine ruhige Straße hinunter. Kleine Familienhäuser aus der EW-Reihe 58, in den 70er Jahren nach dem Katalog des Architekten Wilfried Stallknecht gebaut. «Entwerfen im System». Typenhäuser, die überhaupt nur mit Eigenleistung und vielen Tauschgeschäften bei der Beschaffung des Materials entstehen konnten. Allen sind der fast quadratische Grundriss, der graue Kratzputz und das steile Dach mit der leicht ausgestellten Traufe gemein, aber im Detail unterscheiden sie sich dann doch. Einige stehen leer und warten auf Käufer, denn viele Leute sind weggezogen.

Außer Atem und verschwitzt öffnet Ulrike die Gartenpforte des vorletzten Hauses, das im Gegensatz zu allen anderen in der Nachbarschaft eine Garage besitzt, auf deren Dach sich eine eingezäunte Terrasse befindet. Der Rasen im kleinen Vorgarten ist gemäht, hier und da wachsen Blumen, doch eher zufällig als bewusst gepflanzt. Die violetten Blüten der großen Tulpenmagnolie vor dem Küchenfenster sind verwelkt und fallen seit ein paar Tagen vom Baum. In diesem Haus sind Ulrike und ihr Bruder aufgewachsen, und hier wohnen sie immer noch. Allein, seit die Mutter direkt nach der Maueröffnung in den Westen gegangen ist. So schnell konnte man gar nicht gucken, da war sie schon weg.

 

Ulrike streift im Flur die schmutzigen Laufschuhe ab und wirft die Schlüssel auf die Ablage der Garderobe. Auf klammen Socken geht sie zur Zimmertür ihres Bruders und klopft an: «Marc? Gleich halb!» Keine Reaktion. Sie wartet, klopft dann erneut. «Steh auf, ich fahr dich rum!»

Hinter der Tür ist unwilliges Gemurmel zu hören, danach wieder Stille. «Marc?»

Gereizte Antwort: «Was willst du schon wieder?»

«Nur dein Bestes!» Ein Scherz, aber mit sehr viel Wahrheit darin.

«Wenn das das Beste ist, scheiß ich drauf!»

Ulrike atmet einmal tief durch. «In zehn Minuten ist das Bad frei!» Sie wendet sich ab und geht duschen. Aufstehen muss er schon allein.

*

Ingrid schaut ihrem Vater zu, wie er die Petroleumlampe anzündet. Er hat schon oft erzählt, dass diese Laterne bereits seinem Vater gehört hatte. Für Ingrids Empfinden etwas zu oft. Anders als die meisten Kinder mag die Dreizehnjährige keine Geschichten von früher. Zumindest nicht, wenn ihr Vater darin vorkommt. Sie kann ihn sich einfach nicht als Kind vorstellen. Als ein Kind, das seinem Vater dabei zusieht, wie er ein Streichholz in diese Petroleumlampe hält und daraufhin die kleine blaue Flamme zu lodern beginnt. Das kriegt Ingrid nicht hin, ihren Vater anders zu sehen als groß, streng und unerbittlich. Jetzt allerdings lächelt er, als er sich zu ihr, ihrem zehnjährigen Bruder Ragnar und ihrer Mutter umdreht. «Alle bereit?»

Sie nicken, und Ragnar macht das, was er immer macht, wenn er aufgeregt ist: Er drückt seinen glatten, blonden Pony mit der flachen Hand an den Kopf, sodass der Seitenscheitel wie geleckt aussieht. Wie es sich für einen anständigen deutschen Jungen gehört. Streber. Ingrid ist nicht sofort aus dem Bett gekommen, als der Wecker um fünf Uhr klingelte, und deswegen sind ihre Affenschaukeln noch von gestern. Einzelne, kürzere Härchen stehen kissenzerwühlt von ihrem Kopf ab, und der missbilligende Blick der Mutter hat sie sofort getroffen. Aber nun ist keine Zeit mehr. Die Sonne geht gleich auf.

Der Vater öffnet die Tür des Herrenhauses, und das Licht der Lampe erhellt die Stufen der maroden Freitreppe. Aus den Augenwinkeln beobachtet Ingrid ihren Bruder, dem eine freudige Anspannung ins Gesicht geschrieben steht. Klar freust du dich. Du wirst ja auch wieder bevorzugt. Missmutig folgt sie ihrer Familie die Stufen hinunter, und ihr Herz wird ein kleines bisschen leichter, als sie den Frühlingsgeruch in der frühen Morgenluft wahrnimmt. Eigentlich schön. Ihre Schritte werden etwas langsamer, und sie schaut sich um. An dem kräftigen Walnussbaum in der Auffahrt, unter dem der neue dicke Geländewagen parkt, bilden sich erste zarte Knospen. Alle anderen Bäume rundherum sind früher dran, tragen längst dichte Blätter, und ihre schwarzen Konturen werden von der aufgehenden Sonne langsam ins Tagbunte getaucht. Ingrid hat dafür einen Blick. Für Farben, Oberflächen, Licht und Schatten, und wie sich das von Minute zu Minute ändern kann. Sie fotografiert diese Momente oft mit ihrer Kamera und hat schon vier Alben mit Bildern voll geklebt. Ihr größter Wunsch wäre eine von diesen neuen Digitalkameras, doch das würden ihre Eltern niemals erlauben. Die Technokratie ist nämlich der Abgrund, und man muss sich dem Ursprünglichen zuwenden. Zum Beispiel jetzt wünschte Ingrid, sie könnte das festhalten, wie der allererste Sonnenstrahl dort über dem Scheunendach hervorlugt und den Tau auf den Grashalmen glitzern lässt. Aber heute ist dafür keine Zeit, und genau in diesem Augenblick schiebt sich auch ein anderes Bild vor ihr inneres Auge: das des fremden Mädchens in der letzten Nacht. Wie es zitternd dastand, um Hilfe schrie, und Ingrid nichts anderes tun konnte, als in ihr Zimmer zu laufen, sich dort das Kissen auf die Ohren zu drücken und zu hoffen, dass es bald aufhören würde. Ingrid weiß, sie muss das Gesehene vergessen, und sie versucht, die Bilder vor ihrem inneren Auge wegzuschieben. Aber das Mädchen bleibt, Ingrid hört ihr Schreie und hat jetzt kein Kissen, um sie zu ersticken.

«Nun komm endlich!» Ihre Mutter dreht sich zu ihr um und winkt ungeduldig.

Ingrid beeilt sich, mit ihrer Familie Schritt zu halten. Schweigend gehen sie auf den Ebereschenbaum neben dem Schweinestall zu, dessen weiße Blüten auch in diesem fahlen Licht leuchten. Der Vater holt ein schmales Kupferblech aus seiner Jackentasche und schneidet einen Zweig ab. Dann wendet er sich Ragnar zu, natürlich ihm, und überreicht ihm den Zweig mit feierlicher Geste. Ingrid mustert ihren Bruder, der dasteht und auf seiner Unterlippe herumkaut. Na, kannst du den Text noch? Sie stellt sich vor, dass er im Kopf noch einmal den Spruch durchgeht. Bestimmt hat er Angst zu versagen, und das zu Recht. Der Vater ist derweil im Schweinestall verschwunden und kommt mit einem Zinkeimer wieder heraus, in dem eine dicke, rote Flüssigkeit schwappt. Blut.

 

Zusammen gehen sie zur Weide, auf der die drei Jungkühe grasen. Der Vater nickt Ragnar auffordernd zu, und der Junge taucht den Zweig in den Eimer. Die weißen Blüten färben sich tiefrot. Ragnar klettert mit dem Zweig in der Hand durch den Zaun und nähert sich vorsichtig einem der Tiere. Er darf sie nicht erschrecken, das weiß er. Die Färse schaut ihn neugierig an. Leicht schlägt Ragnar ihr mit dem Zweig dreimal auf den Rücken und hinterlässt dabei Blutspuren auf dem Fell. Er ruft: «Quick, quick, quick, bring Milch wohl in den Strick! Der Saft kommt in die Birken, einen Namen geb ich in den …» Die Kuh wendet sich verärgert ab und läuft mit zwei kleinen Bocksprüngen weg. Das bringt Ragnar völlig aus dem Konzept. Er vergisst den Text und schaut unsicher zum Vater, der regungslos abwartet, wie sein Sohn mit der Situation umgehen wird. Die Schwelle zum Versagen ist schon fast überschritten, es wird knapp. Ragnars Blick geht zur Mutter, dann hilflos zu Ingrid, und keiner wagt es, ihm beizuspringen. Die Stille dehnt sich aus. Der Junge steht mit hängenden Schultern mitten auf der Wiese, die Rinder haben ihm ihre Hinterteile zugewandt, Ingrid erträgt es nicht mehr länger und souffliert: «Einen Namen geb ich in den Stirken!»

Der Schmerz ist schneller da, als sie die Ohrfeige auf sich zufliegen sieht. Ingrid hält sich die glühende Wange und verkneift sich die Tränen. Sie traut sich nicht, ihren Vater anzuschauen, der nur den Schlag für sich sprechen lässt. Mehr muss er auch nicht sagen. Sie weiß genau, was sie falsch gemacht hat. Verdient! Und trotzdem fühlt es sich ungerecht an.

Ragnar ist ihr Ungehorsam eine Hilfe, jetzt weiß er wieder, wie der Spruch weitergeht: «Einen Namen geb ich in den Stirken, der Saft kommt in die Buchen, das Laub kommt in die Eichen, Odarike sollst du heißen! Quick, quick, quick!» Ragnar lässt den Zweig sinken. Geschafft.

«Das hättest du besser machen können, Ragnar.» Der Vater runzelt missbilligend die Stirn und setzt dann etwas milder nach: «Sie wird uns trotzdem viele gesunde Kälber schenken.» Ragnar macht den Rücken gerade, bevor er auch dazu noch ermahnt werden muss. Ingrid blickt zu Boden und spürt, wie die heiße Wange langsam anschwillt. Ihre Mutter legt tröstend den Arm um sie und flüstert: «Wir zwei machen nachher den Kranz. Der wird das Böse von uns fernhalten.»

Ingrid nickt, obwohl sie denkt, das Böse ist doch schon da.

*

Als hätte jemand den Stecker gezogen, denkt Ulrike, während sie ihren Wagen durch Wussnitz lenkt. Das trifft es eigentlich auch, denn die Stadt ist wie ausgestorben. Nur noch etwa 5000 Einwohner, fast ein Drittel weniger als vor der Wende. Viele Gebäude stehen leer und sind dem Verfall überlassen, die Straßen sind in einem schlechten Zustand und kaum befahren, nur vereinzelt schleichen Leute mit hochgezogenen Schultern an den schmuddeligen Fassaden entlang. Man muss es schon auf die frühe Tageszeit schieben, um sich nicht in endzeitlicher Stimmung zu verlieren. Und selbst dann findet Ulrike heute Morgen wenig Anlass, bester Dinge zu sein. Marcs Alkoholfahne stinkt den ganzen Wagen voll und stößt Ulrike im wahrsten Wortsinn mit der Nase darauf, dass in ihrem Leben so einiges nicht rundläuft. Ihr Bruder sitzt ungewaschen, müde und maulfaul auf dem Beifahrersitz. Möglichst beiläufig kurbelt sie die Fensterscheibe ein Stück herunter, damit er es nicht als stummen Vorwurf versteht. Ulrike hat nicht die Absicht, sich jetzt zu streiten. In letzter Zeit entzieht Marc sich. Ulrike weiß nicht, mit wem er abhängt, und wenn sie sich erkundigt, antwortet er, sie solle ihn in Ruhe lassen. Dass er immer so blass ist, seine Haut ungesund und pickelig, dass er zu viel trinkt und sie sein Zimmer nicht mehr betreten darf, alarmiert sie natürlich. Aber was soll ich machen? Meinem achtzehnjährigen Bruder hinterherspionieren? Die Situation ist doch in ihrer Unklarheit so klar: Das Land, in dem sie aufgewachsen sind, wurde einmal aus den Angeln gehoben und ist danach auf den Boden gekracht. Wie soll sie oder irgendjemand sonst von einem ohnehin schon labilen jungen Mann erwarten, dass er in dem Schutt etwas findet, aus dem sich eine Zukunft machen lässt? Nicht jeder ist so anpassungsfähig wie sie, und inwieweit das überhaupt eine gute Eigenschaft ist, war schon immer die große Frage.

Marc hatte in der Schule von Anfang an die Rolle des Außenseiters, und seine schlechten Leistungen wurden mit mangelndem Ehrgeiz und klassenfeindlichem Egoismus erklärt. Mit Ulrikes Hilfe hat er schließlich doch eine Ausbildung als Schiffszimmerer abgeschlossen, aber die Elbewerft Boizenburg wurde bald nach der Wende von der Treuhand abgewickelt, und damit war dann auch seine Anstellung dort beendet. Ulrike weiß, dass er sich von diesem Tiefschlag immer noch nicht erholt hat, auch wenn er selbst es so nicht formuliert.

Das Leben ist unfair, und Ulrike trägt diesen tiefen Wunsch nach Gerechtigkeit in sich. Man mag es kindlich schimpfen, aber das ist der Antrieb all ihres Tuns. Deswegen ist sie Polizistin geworden, so abgeschmackt und banal das auch klingen mag. Das Schicksal hat bestimmt, dass sie immerhin bis zum dreizehnten Lebensjahr einen Vater haben durfte. Marc, der Nachzügler, nicht. Ulrike kann diese Ungerechtigkeit nicht ausgleichen, das weiß sie, aber sie sieht es als ihre Aufgabe an, ihren jüngeren Bruder nicht hängenzulassen. Ihm etwas von ihrer Kraft abzugeben.

«Sag doch mal, gibt’s eigentlich was Neues?»

Er schaut sie an, als sei es das Abwegigste überhaupt. «Was Neues?»

«Ja, könnte doch sein.»

Marc hat sich eine Zigarette zwischen die Lippen gesteckt und klopft seine Jackentasche nach einem Feuerzeug ab. Die Antwort kommt genuschelt: «Gibt nichts Neues.»

Ulrike hebt die Augenbrauen. «Okay, aber dann verstehe ich nicht, warum du jede Nacht erst um drei, vier Uhr nach Hause kommst.»

«Du verstehst so einiges nicht.»

«Aha.» Was auch immer das heißen soll. Ulrike macht eine kurze Pause, um den Ärger runterzuschlucken. «Ich hab nur Sorge, dass du den Job nicht hinkriegst, wenn du völlig übermüdet da ankommst.»

Marc zündet sich eine Zigarette an. «Wahnsinn. Du klingst genauso, wie Mama nie sein wollte.»

«Ach, vermisst du sie?» Sie grinst ihn an.

Marc atmet den Rauch aus und muss schmunzeln. Von wegen. Für einen kleinen Augenblick ist das alte Bündnis zwischen ihnen wieder da. Eine geschwisterliche Wärme, die Ulrike gerne festhalten würde, doch nun sind sie am Supermarkt-Discounter angekommen. Ulrike hält an, Marc schnallt sich ab und steigt aus, ohne sie anzuschauen. «Danke fürs Bringen.»

«Ist doch klar.»

Ulrike beobachtet, wie er auf den viereckigen Klotz zuschlurft. Desillusioniert und antriebslos. Es schmerzt, ihn so zu sehen. Am Personaleingang wirft Marc seine Zigarette weg und verschwindet im Gebäude, ohne sich noch einmal umzudrehen.

*

Das Polizeirevier ist ein abweisender Kasten aus Beton. Nichts Schönes, damit hier keiner auf dumme Gedanken kommt. Allerdings ist es mit den dummen Gedanken ja so eine Sache. Erstens, immer eine Frage der Perspektive, und zweitens, nur eingeschränkt steuerbar. Aber seit der Wende hat das Gebäude ohnehin seine einschüchternde Wirkung verloren, und es ist ein bisschen so, als würde man der Zersetzung eines alten Mannes zugucken, vor dessen Autorität man immer gekuscht hat, der nun aber sabbert und sich einnässt. Kalt, kaputt und undicht. Die fünf nagelneuen grün-weißen Ford Scorpios auf dem Parkplatz unterstreichen die Tristesse nur noch mehr.

 

Auf dem Flur kommt Ulrike ihr Kollege Manfred entgegen. Er hält einen jungen Mann am Arm, eine Zuführung – Nein, neuerdings heißt es Festnahme – der letzten Nacht. «Moin, Frede.»

«Moin, Uli.» Seine Erschöpfung ist nach vierzehn Stunden Einsatz so groß, dass es nicht einmal für ein Lächeln reicht. Die Tatsache, dass er sich nur von Keksen und Kaffee ernährt, macht es ihm nur vordergründig leichter, diese Schichten durchzuhalten. Die Wessis lästern immer über den Bananen-Enthusiasmus, aber in Fredes Fall hat die Wiedervereinigung Bahlsen beschert. Das ist das Gute Gefühl. Alles, was das Herz begehrt. Die Keks- und Kaffeebegeisterung haben seinen Körper aufgeschwemmt und ihn unbeweglich gemacht. Frede ist unglücklich darüber, und sein Arzt schimpft auch schon, aber das Einzige, was ihn trösten kann, sind noch eine Packung «Ohne Gleichen» und dazu eine weitere Tasse Kaffee. Ulrike mag ihn für diese Schwäche, aber auch für viele seiner anderen Eigenschaften.

Sie geht weiter und kann durch die Scheiben in die Büros sehen, in denen die Kollegen mit weiteren jungen Männern sitzen und Personalien aufnehmen. Die Stimmung ist müde und gereizt. Wenn einer hochschaut und sich ihre Blicke treffen, hebt Ulrike kurz die Hand zum Gruß, erntet manchmal ein müdes Nicken oder ein vielsagendes Augenrollen.

Plötzlich knallt es irgendwo am Ende des Flurs, vermutlich ein Stuhl, der umgefallen ist, und ein junger Mann kommt aus einem Büro gestürmt. Eine Stimme ruft: «Halt, hiergeblieben!!»

Ulrike reagiert schnell und fängt den Kerl ab. «Hey, stopp, stopp, stopp!» Erst bekommt sie nur die Ärmel seines Wildlederblousons zu fassen, kann ihn dann aber trotz massiver Gegenwehr am Handgelenk packen. Ulrike dreht ihm resolut den Arm auf den Rücken.

«Puść mnie! Nic nie zrobiłem!» Der Mann macht zwei, drei Versuche, sie abzuschütteln, er hat keine Chance. Der Kollege Holger Kiezmann kommt aus seinem Büro geeilt. Er flucht und schiebt sich seine Tropfenbrille die Nase hoch. «Jetzt hab ich die Schnauze aber voll!» Wie immer trägt er einen Rollkragenpullover. Er hat sechs Stück, heute ist der dunkelblaue dran.

Ulrike kann sich schon denken, um was es hier geht. «Autos?»

«Was sonst? ’ne scheiß Nacht war das mal wieder.»

Ulrike lächelt mitfühlend. Glaubt sie sofort. Die Autodiebstähle haben massiv zugenommen. Die relative Nähe zu Hamburg und Berlin sowie die Tatsache, dass immer mehr West-Autos auf den Straßen sind, lockt organisierte Banden in die Gegend. Die Fahrzeuge werden entweder ausgeschlachtet oder nach Osteuropa gebracht, und schon mehrmals kam es mit der Polizei zu wilden Verfolgungsjagden über die Landstraßen. Die Lage wächst ihnen langsam über den Kopf, mit Unterstützung ist nicht zu rechnen.

Kiezmann wendet sich ab und führt den Mann zurück ins Büro.

Ulrike ruft ihm hinterher: «Ich komm gleich zu euch.»

Der Kollege hebt im Weggehen die Hand, als Zeichen, dass er es gehört hat.

 

Als Ulrike ihr Büro betritt, öffnet sie als Erstes das Fenster. Ein unbewusster Impuls, um ein bisschen von dem Stress rauszulassen, der hier in der Inspektion die Luft zusammenpresst. Der Raum ist, wie alle anderen auch, zweckmäßig ausgestattet: eine rechteckige Durchsicht zum Flur, beige gestrichene Wände und zwei Schreibtische, die parallel zum Fenster gegeneinandergestellt sind. Im Rücken beider Arbeitsplätze gibt es jeweils einen zweitürigen Furnier-Aktenschrank sowie eine Hängeregistratur aus Metall, deren Lack schon an vielen Stellen abgeplatzt ist. Ulrike nutzt den linken Schreibtisch als Arbeitsplatz und den rechten als Ablagefläche für Ordner und Papiere. Wohin sonst damit? Das Archiv wird derzeit umdisponiert, die zuständige Kollegin hat gerade ein Baby bekommen, und es gibt seit einem halben Jahr einen Rückstau. Ulrike will schon wieder das Büro verlassen, um den Kollegen bei den Aussagen zu helfen, doch sie stößt vor der Tür mit ihrem Chef Jürgen Dubbe zusammen.

«Ah, du bist schon da, gut.» Dubbe ist bis auf einen leichten Bauchansatz schlank, hat eine Halbglatze und wache, helle Augen. Seine Autorität ist spürbar, sobald er einen Raum betritt, und trotzdem wirkt er weder hart noch verkniffen. Unermüdlich setzt er sich im Chaos der Umstrukturierung für seine Leute ein, und sowohl seine Erfahrung als auch die lebenslange Verbundenheit mit der Gegend sichern ihm den Respekt der gesamten Belegschaft. Im Gegensatz zu allen anderen Kolleginnen und Kollegen über fünfzig ist er nach dem Systemwechsel nicht in den Vorruhestand versetzt worden, sondern hat die Leitung der Polizeiinspektion übernommen.

«Morgen, Jürgen. Wie geht’s?» Ulrike schaut ihn prüfend an und sieht in seinen müden Augen die schlaflosen Nächte, die Sorgen und die Angst, obwohl er versucht, das nach außen hin abzuschirmen. Seit einem Jahr ist seine Frau Anne in Behandlung, doch der Krebs breitet sich immer weiter aus.

«Könnte besser sein.»

«Das tut mir wirklich sehr leid.»

«Ich weiß, Uli, danke.» Dubbe nickt, und weil er jetzt gar nicht weiter über die Krankheit sprechen möchte, kommentiert er lieber den vollgerummelten Schreibtisch. «Du weißt, dass heute der Kollege aus Kiel kommt?»

Natürlich weiß Ulrike das. Aber sie hat auch schon mehrfach gesagt, dass sie es vorzieht, alleine in einem Raum zu arbeiten. «Jürgen, das ergibt doch gar keinen Sinn. Hier sind noch so viele Büros frei …»

Dubbe merkt Ulrikes Widerstand und lächelt fast väterlich. «Hab mir schon was dabei gedacht, euch zusammenzustecken. Der ist ein sehr erfahrener Ermittler. Hast du gleich den direkten Einblick.»

Ulrike ist daran wenig interessiert. «Kein Bedarf, aber soweit ich weiß, brauchen wir jemanden fürs Archiv.»

Dubbe ignoriert die Spitze. «Machst ein bisschen Platz, ja?»

«Bisher seh ich ihn hier noch nirgends.»

Dubbe guckt zur Uhr, zuckt mit den Achseln und murmelt: «Ja, weiß ich jetzt auch nicht.» Ulrike grinst so breit und triumphierend, dass auch Dubbe schmunzelnd den Kopf schüttelt.

*

Die alten Zäune und Schranken stehen noch, aber selbstverständlich ist die Durchfahrt frei. Larssens Opel holpert über das Pflaster des ehemaligen Grenzübergangs Gudrow, und durch das geöffnete Seitenfenster weht warme Luft ins Auto. Im Vorbeifahren mustert er die verwaisten Gebäude. Einige Fenster sind eingeschlagen, Unkraut drängt sich durch die Risse im Betonboden. Von einer Wand der Zollabfertigung springt ein Graffito ins Auge: Die DDR hat’s nie gegeben! Ein dystopisches Bild.

Ingo Larssen auf den Weg in den Osten. Wenn ihm das jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, hätte er ihn ausgelacht. Nichts gegen die Ossis, wirklich nicht, aber bisher gab es für ihn keinen Grund, sich näher mit der neuen Hälfte Deutschlands zu beschäftigen. Kann sich halt schnell ändern, so was. Die Kieler Kolleginnen und Kollegen haben verständnislos ihre Köpfe geschüttelt und gefragt, ob er nicht ganz dicht sei. Die vorherrschende Meinung ist, dass man nur in den Osten geht, wenn es im Westen mit der Karriere nicht so richtig läuft oder man dringend Geld braucht. Auf Larssen trifft das beides nicht zu. Er hat andere Gründe.

 

Rechts und links ziehen die Wiesen und Felder vorbei, über denen noch der letzte Nebeldunst hängt. Eine geisterhafte Stimmung. Ein bisschen romantisch, ein bisschen verloren. Apropos verloren: Die Karte auf dem Beifahrersitz stimmt nicht mehr mit den Straßen überein. Oder ich bin einfach zu blöd. Auf jeden Fall ist Larssen im Kreis gefahren, denn diese Weggabelung kommt ihm bekannt vor. Er braucht nicht auf die Uhr zu schauen, um zu wissen, dass er gleich an seinem ersten Arbeitstag zu spät kommen wird. Aber dann ist es eben so, juckt ihn jetzt eigentlich nicht. Außerdem muss er mal pinkeln, und deswegen fährt er erst mal rechts ran.

Neben der Straße grast ein einzelnes Pferd auf einer großen Weide. Larssen schaut sich um, während er im Gehen schon einmal seine Hose öffnet. Überall nur Wald und Wiesen, allerdings kann er in einiger Entfernung ein größeres Anwesen ausmachen. Vielleicht ein Gutshof oder etwas in der Art. Larssen stellt sich an den Zaun, und gerade, als er Wasser lässt, kommt das Pferd langsam und gemächlich angetrottet. Es bleibt direkt vor ihm stehen und stupst ihn über das Holzgatter hinweg mit der Schnauze an.

«Nee, komm, weg.» Larssen geht ein paar Schritte zur Seite. Das Pferd folgt ihm und schnuppert an seiner Jacke. Kann man hier nicht mal in Ruhe pissen? Larssen lässt das Pferd an seiner Jacke knabbern, bis er zu Ende gepinkelt hat, und zieht sich dann seine Hose wieder zu. Der erwartungsvolle Blick des Pferdes klebt an ihm. Es guckt, als wollte es sagen: Ich bin so allein. Was für ein Blödsinn! Ein Pferd will nichts sagen. Aber diese großen schwarzen Augen und die langen Wimpern, so was kann man ja nicht ignorieren. Knapp tätschelt Larssen ihm den Hals, und kurz schleicht sich ein widerwilliges Lächeln in sein Gesicht. Ich weiß, wie das ist.

*

Marc füllt die Obstkisten in den Regalen nach, und jedes Mal, wenn er sich bückt, spannt der Kittel im Rücken, und die Ärmel rutschen so weit hoch, dass sein halber Unterarm rausguckt. Der Kittel ist viel zu klein, außerdem tailliert, irgendeine Frauengröße, bei der Bestellung ist was schiefgegangen. Er sieht aus wie ein Volltrottel.

«Muss die in den Kühlschrank?»

Marc dreht sich um, und da steht eine ältere Frau mit ihrem Einkaufswagen. Sie hat eine Kiwi in der Hand. «Keine Ahnung.»

«Aber Sie arbeiten doch hier.» Die Kundin hält immer noch die Kiwi hoch, als hätte sie sie gerade selbst gepflückt.

«Ja, und?»

«Sie müssen doch wissen, wie man die Ware lagert.»

«Nee, nur, wie man Kartons schleppt und auspackt.» Und damit macht Marc jetzt auch weiter. Woher soll ich das wissen, wohin mit so einer bekloppten Kiwi? Nicht sein Problem, wenn die Leute nur noch Südfrüchte fressen wollen. Überhaupt, wer braucht Obst mit Haaren? Ist doch ekelhaft.

«So geht das aber nicht!» Eine Männerstimme. Marc dreht sich ertappt um. Die Kundin ist weg, aber nun steht der Filialleiter da und doziert aufgeplustert: «Kiwi? Essfertig: In den Kühlschrank. Zum Nachreifen: Nicht über 10 Grad. Merk dir das. Sonst: Da draußen hoffen einige auf so eine Chance, wie du sie sie hier hast!» Doppelt «sie», verhaspelt. Marc würde dem Typen am liebsten eine reinhauen, aber er muss klein beigeben. «Kommt nicht wieder vor.»

«Hinten wartet Chinakohl!» Der Chef geht weiter. Wie immer mit zusammengekniffenen Arschbacken, als hätte er Durchfall und müsste das die ganze Zeit anhalten. Ein fieses Schwein, da braucht es keine zwei Meinungen. Marc wirft im Rhythmus seiner Flüche Gemüse in die Kisten. «Wichser. Wichser. Wichser.»

Ein Klopfen an der großen Scheibe. Marc sieht Sabrina draußen stehen. Springer-Stiefel, Donkey-Jacke, blondierter Federschnitt und Kippe im Mund – für Marc ist sie das coolste und schönste Mädchen, das er je gesehen hat. Er kann sich nicht erklären, was sie an ihm findet. Sabrina schielt und zieht eine Grimasse. Marc muss lachen und macht ihr ein Zeichen, dass sie sich hinten auf dem Parkplatz treffen.

 

Als er aus dem Personalausgang kommt, steht sie schon da, in einer Wolke aus Zigarettenrauch. «Na?»

Marc kommt zu ihr und stellt sich dicht vor sie. Er verhakt seine Hände hinter ihrem Rücken, und sie lehnt sich dagegen. «Na?» Sie küssen sich. Sabrina hält ihm ihre Zigarette hin, damit er einen Zug nehmen kann. Beim Ausatmen fragt er: «Musst du heute gar nicht arbeiten?»

«Doch. Gleich.»

Er grinst breit. «Hast mich vermisst, oder?»

Sie lächelt ein bisschen widerwillig. Selbst wenn, sie würde es nie laut sagen. Marc weiß das. Noch ein Kuss.

Sabrina streicht Marc eine Haarsträhne aus der Stirn. «Frank meinte, er braucht dich nachher mal. Ausladen. Kannst du?»

«Klar. Wenn ich damit punkten kann.»

«Bei Frank schon», Sabrina verzieht abschätzig das Gesicht, «aber bei meiner Mutter weißte ja.»

Marc nickt. Ihre Liebe steht leider unter keinem guten Stern, und wenn es nach ihm ginge, sollte auch seine Schwester nie von Sabrina erfahren. Bisher ist es ihm gut gelungen, Ulrike da rauszuhalten.

Ein lautes Räuspern lässt sie auseinanderfahren. Der Filialleiter steht in der Tür und schüttelt den Kopf: «Mittagspause um elf oder wie?»

Marc guckt Sabrina entschuldigend an. «Muss jetzt wieder.»

Sabrina nickt und schnippt dem Filialleiter ihre Zigarette ans Bein, bevor sie sich zum Gehen wendet.

«He! Wo gibt’s denn so was? Das ist doch asozial, ist das doch!» Er guckt Marc entgeistert an, doch der verzieht keine Miene. «Und du wirst hier nicht fürs Rumstehen bezahlt.» Kopfschüttelnd verschwindet der Chef wieder im Gebäude. Marc folgt ihm und unterdrückt dabei ein Feixen. Typisch Sabrina. Zeigt Arschlöchern, wann Schluss ist.

*

Moos, Zweige, Blaubeerbüsche, und oben bilden die Nadelbäume ein schattiges Dach. Ingrid pirscht durch das Unterholz, hört die Vögel zwitschern und das Knacken unter ihren Füßen. Sie hat den Rock gegen eine lange Hose getauscht, die Sandalen gegen feste Schuhe und einen ledernen Köcher mit Pfeilen am Gürtel befestigt. Den Bogen hält sie in der Hand und benutzt ihn gelegentlich, um Zweige aus dem Weg zu schieben. Sie hat ihn sich selbst gebaut, aus einem Ebereschenstock. Die Langeweile an den Nachmittagen hatte sie fast aufgefressen, und irgendwann war ihr die Idee gekommen, sich eine Waffe zu bauen. Es ist kein Kinder-Bogen, für den man einen Zweig mit einem Stück Garn spannt, sondern ein richtiger. Es hat beinahe zwei Wochen gedauert, bis er fertig war. Ingrid musste die Rinde mit einem Messer abschälen, das Holz in Form schnitzen, einölen und dann mit dem Bunsenbrenner erhitzen, um es in Form zu biegen. Zwei Mal ist ihr ein Stock beim Spannen der Sehne gebrochen, aber beim dritten Mal hat es geklappt. Gerade als der Bogen fertig war und sie begonnen hatte, Pfeile zu schnitzen, hatte ihr Vater die Scheune betreten. Sein Kommentar war vernichtend. «Pfeil und Bogen sind heimtückisch, Ingrid. Nicht umsonst haben die Germanen den Nahkampf vorgezogen.» Und dann hatte er Ingrid einfach stehenlassen. Es hatte sich angefühlt, als hätte sie sich gerade in die Hose gemacht und müsste nun selbst damit klarkommen. Danach hatte sie sich geärgert, weil ihr zu spät eingefallen war, dass sogar auf dem berühmten Runenkästchen von Auzon der Bogenschütze Egil abgebildet ist. Damit hätte sie ihrem Vater das Gegenteil beweisen können. Natürlich wäre dies ein respektloses Widerwort gewesen, aber wenn Egil so mutig gewesen war, bei der großen Schlacht von Ragnarök den Götterpalast mit Pfeil und Bogen zu verteidigen, wie konnte man das mit Heimtücke beschimpfen?

Ingrid hatte also weiter an den Pfeilen geschnitzt und ist seitdem jeden Nachmittag bis zum Abend und am Wochenende sogar vor Sonnenaufgang in den Wald gegangen, um zu jagen. Bisher hatte sie noch nichts getroffen, aber ihre Eltern würden Augen machen, wenn sie mit einem erlegten Fuchs oder Reh nach Hause käme. Von wegen heimtückisch. Was sind denn dann ein Gewehr oder sogar ein Panzer? Manchmal widerspricht sich ihr Vater, findet Ingrid. Diesen Gedanken behält Ingrid natürlich für sich, aber wenn ihre Eltern hier in Wussnitz wirklich ein Ferienlager aufbauen wollen, damit Kinder und Jugendliche in Wehrsportübungen trainiert werden, dann ist damit bestimmt auch nicht nur Nahkampf gemeint.

 

Ingrid bewegt sich langsam und möglichst geräuschlos, denn sie möchte keine Tiere aufschrecken. Sie hätte früher losgehen sollen, aber das Kälberquicken am Morgen hat ihren täglichen Streifzug auf den späteren Vormittag verschoben. Außerdem hatte ihre Mutter noch darauf bestanden, den Kranz zu basteln. «Das ist Frauensache», hatte sie gesagt und ihr dabei verschwörerisch zugezwinkert. Ingrid hatte nicht widersprochen, folgsam den blutigen Blütenzweig mit weißen Bändern und Eierschalen zu einem Kranz geschnürt und ihn an die Haustür gehängt. Gegen das Böse. Ingrid hofft, dass der Kranz etwas bewirkt, obwohl sie nicht sicher ist, ob sie daran glauben soll.

Seit ihre Familie vor einem halben Jahr hierhergezogen ist, um im Einklang mit der Natur und ihren völkischen Wurzeln zu leben, fühlt sie sich zerrissen. Sie mag den Hof, die Tiere und den Wald, und sie haben jetzt auch viel mehr Platz als in dem engen Reihenhaus in Göttingen. Das ist natürlich toll, und Ingrid weiß das zu schätzen, ehrlich. Aber eigentlich ist alles enger geworden. Ingrid wusste damals nicht, was damit gemeint war, als der Vater sagte «zurückgezogen». Es klang schön und behaglich, dabei war es nur ein anderes Wort für einsam gewesen. Das konnte sie beurteilen, denn mit Einsamkeit kannte sie sich inzwischen gut aus. In der neuen Schule hat sie wieder keine Freundinnen gefunden, obwohl sie sich wirklich bemühte. Die Mädchen aus der Klasse kennen sich schon seit dem Kindergarten, interessieren sich überhaupt nicht für Die aus dem Westen, und die einzige andere Mitschülerin, die auch nicht dazugehört, heißt Ayshe. Die hat sich dann auch sofort gierig auf Ingrid gestürzt, ihr im Unterricht kleine Zettel mit Ankreuzfragen geschickt – Magst du Tiere? Magst du Musik? Hast du Geschwister? – und sie zu sich nach Hause eingeladen. Aber das geht natürlich nicht. Man darf sich nur Freunde der eigenen Art suchen. Ingrid hat ein schlechtes Gewissen, denn, ehrlich gesagt, hätte sie sich gerne mit Ayshe verabredet. Das war kein gutes Zeichen, und selbstverständlich hat sie zu Hause verschwiegen, dass sie im Unterricht neben einer Kümmeltürkin sitzt. Ihr Vater würde sofort bei der Lehrerin anrufen, und im Nu wäre wieder die Rede vom «Nazikind» und was nicht noch alles. In Göttingen musste sie deswegen zwei Mal die Schule wechseln, und dieses Mal möchte Ingrid so lange wie möglich kein Nazikind sein.

Sie bleibt stehen, denn sie hat etwas entdeckt. Da vorne. Am Rande der Lichtung sitzt ein Kaninchen. Mit langsamen Bewegungen zieht sie einen Pfeil aus dem Köcher und spannt den Bogen. Konzentriert zielt sie. Das Geschoss saust los und … trifft! Doch das Kaninchen rennt trotzdem weiter und verschwindet im hohen Gras, obwohl der Pfeil in seiner Flanke steckt. Enttäuscht schnalzt Ingrid mit der Zunge und läuft schnell auf die Lichtung, um das Kaninchen einzuholen. Es soll sich nicht quälen! Sie wird es mit einem zweiten Pfeil aus nächster Nähe erlösen müssen. Aber das Gras ist hochgewachsen, und sie findet es nicht. Es ist doch in diese Richtung gelaufen … Suchend schaut sie sich um, während sie einen Schritt nach dem anderen macht. Hier muss es doch irgendwo sein … Wo denn nur? …

Sie sieht erst den Berg aus weißen Blüten. Dann die blutleere Hand. Ingrid schreit laut auf und lässt den Bogen fallen.

*

Ulrike hat die letzten zwei Stunden die polnischen Aussagen der Männer aufgenommen und ist nun dabei, sie abzutippen. Zwei der sieben festgenommenen Autodiebe sind noch unter 16 Jahren und durften daher sofort nach der Befragung gehen. Muss man sich auch erst mal daran gewöhnen, dass das jetzt so ist. Die anderen fünf sind auf dem Weg nach Schwerin in die Untersuchungshaft. Als Ulrike von ihrem Schreibtisch aufsteht, um ein neues Formular aus dem Fach zu holen, sieht sie, wie unten auf dem Parkplatz ein gelber Opel mit Kieler Kennzeichen anhält. Ein großer Typ, bestimmt über fünfzig, steigt aus. Er zündet sich eine Zigarette an und lässt seinen Blick über die Fassade schweifen. Schnell weicht Ulrike ein Stück vom Fenster zurück, beobachtet aber weiter. Wenn das der neue Kollege ist, dann schönen Dank auch. Irgendein alter Sack, der sich hierher hat versetzen lassen, um die «Buschzulage» zu kassieren. Jeder weiß, dass sie den Kollegen aus dem Westen mehr Gehalt zahlen, wenn sie den unterbelichteten Ossis beim BRD-Polizei-Einmaleins unter die Arme greifen. Drüben wahrscheinlich gescheitert und jetzt hier den großen Affen machen, von der Sorte gibt es in den anderen Abteilungen schon ein paar. Zwischen Ulrikes Augenbrauen bildet sich eine skeptische Falte. Sie beobachtet, wie der Typ sich an sein Auto lehnt, die Einsatzwagen mustert und in beide Richtungen die leere Straße hinunterschaut. Offensichtlich weiß er nicht so ganz, was er von dem fremden Ort hier halten soll. Hier gibt’s nicht viel zu sehen. Gewöhn dich dran.

«Uli?»

Ulrike zuckt zusammen und dreht sich um. Ihr Kollege Kiezmann steht alarmiert in der Tür, und erst jetzt bemerkt sie, dass auf dem Flur einiges los ist. Mehrere Kollegen von der Schutzpolizei ziehen im Laufen ihre Jacken an und eilen Richtung Ausgang. Kiezmanns Gesicht ist ernst. «Leichenfund im Dohlenwald. Ein Mädchen.»

 

Der Neue steht immer noch an sein Auto gelehnt und raucht. Das registriert Ulrike, als sie mit Kiezmann, Frede und den anderen Polizisten aus dem Gebäude kommt. Sie klemmt sich hinter das Steuer eines Fords, und Frede nimmt neben ihr auf dem Beifahrersitz Platz. Sie sind ein eingespieltes Team, die Wagen werden gestartet. Als Ulrike aus der Parklücke zurücksetzt, kommt sie kurz neben dem Opel zum Halt. Der Typ aus Kiel bleibt ungerührt an seinem Auto stehen und zieht an seiner Zigarette. Er glotzt durch das Beifahrerfenster zu Ulrike und Frede in den Wagen. Ohne eine Miene zu verziehen, atmet er den Rauch aus.

«Ist das der Neue?» Frede fragt ganz ungeniert, obwohl der Kerl es bestimmt durch die dünne Glasscheibe hören kann. Ulrike antwortet nicht, sondern gibt stattdessen einfach Gas. Die anderen Einsatzwagen folgen ihr. Sie schaut in den Seitenspiegel und sieht, dass der Neue ihnen hinterherguckt.

Frede schnalzt vorwurfsvoll mit der Zunge: «Das war aber nicht so nett.»

Ulrike zuckt mit den Achseln. Ja. Weiß ich selber.

 

Die Fahrt dauert fünfzehn Minuten. Der Dohlenwald ist ein 35 Hektar großes Gebiet, welches während der DDR-Zeiten zur Harz- und Holzgewinnung bewirtschaftet wurde. Kiefern so weit das Auge reicht. Seit der Wende ist die Zukunft dieses Gebiets unklar, die Zuständigkeit noch nicht geregelt. Nachdem vor drei Jahren zwei schwere Winterstürme großen Schaden angerichtet haben, wurde das Sturmholz bis heute noch nicht gänzlich weggeschafft. Der Plantagenwald ist von umgeknickten und entwurzelten Bäumen durchbrochen, viele Wege tief im Inneren sind nicht befahrbar, weil gestürzte Baumstämme sie versperren.

«Bist du sicher, dass es hier ist?» Ulrike lenkt den Wagen im Schritttempo über den holprigen Waldweg, gefolgt von den anderen Einsatzfahrzeugen.

Frede klebt dicht an der Windschutzscheibe, um möglichst weit in die Ferne schauen zu können. «Eigentlich schon. Weg Nummer 37…» Blick in die Notizen. «Irgendwo müsste es rechts gehen …» Hundert Meter weiter macht der Weg tatsächlich einen Knick, und nachdem sie um die Ecke gebogen sind, ist in einiger Entfernung ein Geländewagen zu sehen. «Da vorne.»

Als sie näher kommen, wird die Fahrertür des Mercedes geöffnet, und ein Mann steigt aus. Er bleibt neben seinem Fahrzeug stehen und schaut zu, wie die Polizeikolonne langsam auf ihn zufährt. Nachdem Ulrike den Scorpio hinter seinem Wagen geparkt hat, steigen sie und Frede aus. Die drei anderen Polizeiautos kommen ebenfalls zum Halt, die Kollegen halten sich für weitere Anweisungen bereit. Der Mann wirkt angespannt, das sieht sie gleich.

«Bandow, Kriminalpolizei. Mein Kollege Becker.» Ulrike geht auf den Mann zu und bemerkt seine für die heutige Zeit ungewöhnliche Kleidung. Altmodisch, bäuerlich. Mit anderen Worten könnte Ulrike es jetzt auch nicht beschreiben.

«Götz Heisler.»

Ulrike registriert, dass auf der Rückbank des Geländewagens ein zusammengesunkenes Mädchen sitzt. Sie trägt eine beigefarbene Jacke, irgendetwas Selbstgestricktes mit Zopfmuster, und eine weiße Bluse. Ulrike nimmt auch die zerzausten Affenschaukeln zur Kenntnis und wendet sich wieder dem Mann zu. «Dann erzählen Sie mal.»

Heisler zeigt ins Unterholz. «Die Tote liegt auf einer Lichtung. Etwa zweihundert Meter da rein.»

«Haben Sie sie gefunden?»

«Nein, meine Tochter. Ingrid hat mich hierhergeholt.» Er zeigt zum Auto, und als die Polizisten noch einmal zum Mädchen schauen, sitzt sie immer noch regungslos da.

Ulrikes Herz zieht sich bei dem Anblick zusammen. «Sie sieht sehr mitgenommen aus. Ich würde Ihnen gerne psychologische Betreuung anbieten, aber die Stelle wurde noch nicht genehmigt …»

Götz Heisler hebt abwehrend die Hände. «Hören Sie auf, meine Tochter zu bedauern. Sie hat eine Mutter.»

Und die ist Psychologin oder wie? «Haben Sie etwas angefasst?»

«Nein.»

Ulrike spürt die Feindseligkeit, die von dem Mann ausgeht. Er hat überhaupt keine Lust, sich mit ihr abzugeben. Irgendein überheblicher Dünkel geht von ihm aus. «Warten Sie bitte hier. Meine Kollegen werden gleich Ihre Personalien aufnehmen, und ich komme dann auch gleich noch mal zu Ihnen.»

«Kann ich meine Tochter erst nach Hause bringen?» Er dreht sich doch tatsächlich schon zum Wagen, als sei das seine Entscheidung.

«Nein. Mit ihr muss ich natürlich auch sprechen.»

Heisler hält in der Bewegung inne, und seine Augen zeigen Beunruhigung. «Wie lange dauert das alles denn hier jetzt noch?»

Zeit, den Typen mal in seine Schranken zu weisen. «So ein Leichenfund lässt sich nicht in fünf Minuten abwickeln.» Ulrike gibt zwei Kollegen ein Handzeichen, dass sie sich um Heisler kümmern sollen. Sie lässt den Mann wortlos stehen und geht zusammen mit Frede und Kiezmann ins Unterholz. «Wo bleibt Schulte?» Der Notarzt.

«Müsste bald hier sein. Wenn er es findet.»

«Und was ist mit der Staatsanwaltschaft?» Ulrike bleibt stehen, bückt sich und zieht die Socken über den Hosensaum. Sie hat keine Lust, sich Zecken einzufangen.

«Die sollen wir telefonisch informieren. Dein Lieblingsfreund aus Schwerin ist zuständig, aber er schafft es leider nicht, persönlich vorbeizukommen.» Kiezmann unterdrückt ein Schmunzeln, denn das ist nicht die passende Situation für Scherze.

«Wenigstens eine gute Nachricht.» Ulrike weiß, dass ihr Kollege auf Staatsanwalt Ulf Kleinert anspielt, der ihr bei jedem Zusammentreffen mehr oder weniger subtile Avancen macht. Ganz abgesehen davon, dass er bei ihr sowieso keine Chancen hätte, ist er in Ulrikes Augen ein aufgeblasenes Männlein, das seine geringe Körpergröße mit betont maskulinen Aftershaves zu kompensieren versucht. Natürlich auch ein Wessi, den es vor zwei Jahren hier in die Gegend verschlagen hat, weil er drüben nicht die Karrierekurve gekriegt hat.

Schweigend gehen die drei Polizisten durch das dichte Gestrüpp und können bereits nach kurzer Zeit die Lichtung ausmachen. In Ulrike wächst der innere Widerstand mit jedem Schritt. Das letzte Mordopfer ist fast ein Jahr her, Eifersucht, eine Beziehungstat, Totschlag, innerhalb von drei Tagen aufgeklärt. Ulrike hat das danach noch eine ganze Zeit beschäftigt. Sie ist in der Hinsicht nicht abgehärtet, denn in dieser Gegend passiert nicht viel. Unfalltote, ja. Besoffene, die in Winternächten auf dem Heimweg einschlafen und erfrieren, klar, auch hin und wieder, aber selten. Doch jetzt ein Kind? Wie sollte man auf so einen Moment vorbereitet sein?

Sie betreten die sonnenbeschienene Lichtung, und Frede zeigt auf eine Spur aus plattgetretenem Gras, die in die Mitte führt. Sie gehen neben der Spur her, treten nacheinander möglichst auf dieselben Bodenstellen, und nach ein paar Metern leuchtet in einiger Entfernung etwas Weißes zwischen all dem Grün hervor. Ein länglicher Hügel, und darauf die Umrisse eines liegenden Körpers, ebenfalls mit etwas Weißem bekleidet.

«Was …?» Frede bleibt einmal kurz stehen, doch sie sind noch zu weit weg, um etwas erkennen zu können.

Ulrike dreht sich zu ihm um. «Komm, weiter.» Sie nähern sich einer unwirklichen Szenerie, und das, was sie dort in der Mitte der Lichtung sehen, trifft sie alle völlig unvorbereitet. Auf einem Bett aus weißen Blütenzweigen liegt aufgebahrt ein totes Mädchen. Sie trägt ein weißes Nachthemd mit dünnen Trägern, sodass zu sehen ist, dass ihre nackten Arme und Beine über und über mit blutigen Ritzmalen geschändet sind. Ein weiteres, scharfzackiges Zeichen ist ihr in die Stirn geschnitten worden. Ich träume das nur. Wunschdenken. Durch die Ankunft der Ermittler werden unzählige Insekten aufgescheucht, schwirren für wenige Sekunden wie ein lebendiger Hauch über dem Leichnam und lassen sich dann wieder nieder, um in den zahlreichen Wunden, am Mund sowie in den Augenwinkeln des Opfers Nahrung zu finden.

«Oh Gott, das …» Kiezmanns Stimme versagt, denn er muss sich darauf konzentrieren, dass er sich nicht hier an Ort und Stelle übergibt.

Ulrike fokussiert sich auf Detailaufnahmen des Gesamtbilds: Die Augen des Mädchens sind geschlossen. Ihr blondes langes Haar ist gekämmt und um ihren Kopf drapiert. Das weiße Gewand sieht selbstgenäht aus, und all das Weiß – die Blüten, das Kleid, die blutleere Haut – steht in einem bizarren Kontrast zu den schwarz verkrusteten Zeichen, die die Gliedmaßen des toten Kindes bedecken. Eckige Striche, gerade und schräg, sich kreuzend, mit kleinen Haken und ohne. Sie tritt näher, kniet sich neben die Tote und zieht dabei Gummihandschuhe über. Lange kann das Mädchen noch nicht tot sein, denn es gibt noch keinen Leichengeruch. Ulrike lässt ihren Blick über die Wunden wandern und dreht sich dann zu ihren Kollegen um, die hinter ihr stehen. «Sind das Runen?» Die drei schauen sich ratlos an. Keiner weiß es. Keiner findet Worte für das Grauen, das sich ihnen hier bietet. Wer tut so was?

«Okay, ich fang dann mal an.» Frede holt eine Kamera aus der Tasche und beginnt, Aufnahmen zu machen. Ulrike steht wieder auf, blickt aber weiter auf das Mädchen und ruft laut: «Alles absperren! Auch die Zufahrten!»

«Ist schon passiert. Bin selbst fast gar nicht durchgekommen.»

Ulrike dreht sich überrascht um. Der neue Kollege aus Kiel ist unbemerkt auf der Lichtung erschienen und steht plötzlich da. Auch Frede und Kiezmann sind irritiert.

«Was machen Sie denn hier?»

«Der Chef hat mich hinterhergeschickt. Nehme an, Sie sind Ulrike Bandow?» Er geht auf Ulrike zu und hält ihr die Hand hin. «Ingo Larssen. Wir haben uns eben schon mal kurz gesehen.»

Ulrike hebt entschuldigend die Gummihandschuh-Hände und zeigt auf die anderen. «Die Kollegen Kiezmann und Becker.»

Larssen lässt die Hand sinken. Die Männer nicken sich zu. Er wendet sich noch einmal an Ulrike. «Herr Dubbe sagte, Sie leiten die Ermittlungen?»

«Wenn er das sagt, ist das anscheinend so.» Ulrike nickt, obwohl bisher die Frage nach der Leitung noch gar nicht entschieden war.

In diesem Moment wird der Notarzt von einem Kollegen auf die Lichtung geführt. «Moin, Uli. Moin, Jungs.» Man kennt sich. Der Arzt sieht die Leiche und atmet einmal scharf ein. «Das ist ja noch ein Kind.»

Kiezmann murmelt mehr zu sich selbst: «Ja. Ich denke in etwa so alt wie mein Sohn.»

Der neue Kollege aus Kiel ist etwas näher an das tote Mädchen herangetreten und betrachtet es mit ausdrucksloser Miene. Für Ulrike ist sein Gesichtsausdruck nicht zu deuten. Er könnte beides sein, betroffen oder einfach nur hochkonzentriert.

Egal, Ulrike will jetzt Bewegung in die Sache bringen. Es hilft niemandem, wenn sie hier betroffen rumstehen und sich gegenseitig bestätigen, dass sie noch nie im Leben so etwas Fürchterliches gesehen haben. Auch wenn es stimmt. «Ich brauche alles, und zwar schnell.»

«Alles klar.» Der Notarzt macht sich sofort an die Arbeit.

Ulrike schaut das Mädchen an. Ihr lebloses, blasses Gesicht, die bläulichen Lippen und die nackten, kleinen Füße, die nie wieder einen Schritt machen werden. Ulrike atmet einmal tief ein und aus. Ihr Zwerchfell bebt, und sie muss gegen Tränen ankämpfen. Nicht jetzt, nicht hier …

«Was ist das eigentlich?»

Ulrike zuckt zusammen. «Was?»

Der Neue zeigt auf die Blüten. «Die Zweige.»

Ulrike weiß es auch nicht, aber Kiezmann antwortet. «Das ist Eberesche. Wird auch Vogelbeere genannt.»

Larssen schaut ihn interessiert an: «Ach. Die blüht so? Wusste ich gar nicht.» Kurze Pause, dann fügt er an: «Da hat sich jemand viel Mühe gemacht. Nicht sein Erster, oder?»

Was will er denn jetzt? Ulrike guckt ihn konsterniert an: «Entschuldigung, was?»

Larssen lässt sich von Ulrikes abwehrender Reaktion nicht beeindrucken und antwortet ruhig. «Ich meine, nicht sein erster Mord. So wie er vorgegangen ist: das Blütenbett, die eingeritzten Runen, das weiße Kleid, die gekämmten Haare. Die Art, wie er das Opfer präsentiert. Bis ins kleinste Detail durchdacht. Weist alles auf einen Mehrfachtäter hin.»

«Na, Sie scheinen ja sehr viel über den Täter zu wissen. Haben Sie uns vielleicht auch seine Adresse mitgebracht?» Ulrikes Stimme ist schneidend.

Frede wirft ihr einen verwunderten Blick zu – So bist du doch sonst nicht.

Larssen hebt beschwichtigend die Hände. «Ich möchte hier wirklich niemandem auf die Füße treten. Ich bin davon ausgegangen, dass wir die Täterhandschrift ähnlich deuten.»

Ulrike reagiert nicht darauf und wendet sich stattdessen an den Arzt. «Kannst du was zum Todeszeitpunkt sagen?»

«Vor etwa zehn bis zwölf Stunden. Alles Weitere kriegt ihr von der Rechtsmedizin.» Schulte richtet sich wieder auf, und nun sieht Ulrike, dass während seiner Untersuchung die Haare des Mädchens zur Seite gerutscht sind und eine Halskette zu sehen ist.

Moment mal … Ulrike kniet sich neben die Leiche. An der dünnen Silberkette hängt ein Anhänger in der Form eines kleinen Marienkäfers.

Das kann nicht sein. Ulrike schaut kurz zur Seite und dann wieder auf das Schmuckstück. Aber kein Zweifel. Es ist genau die gleiche Kette.

Christa.

*

«Hallo, Christa. Geht’s gut?» Marc geht auf Sabrinas Mutter zu und hält ihr die Hand hin. Bemüht wohlerzogen, fast unterwürfig, über den Verkaufstresen hinweg. Zum Glück sind keine weiteren Kunden im Tankstellen-Shop. Das fehlte Marc noch, dass jemand sieht, wie er sich hier zum Deppen macht. Er könnte noch ein bisschen winseln, das würde gut zu seinen schisserhaften Hundeaugen passen.

«Hallo.» Christa Schreiber würdigt ihn kaum eines Blickes. Sie dreht ihm den Rücken zu und schneidet mit einem Messer Kartons auf. Wrigley’s-Spearmint-Kaugummis. Sogleich mischt sich Pfefferminzduft mit dem Benzingeruch. Marc hält sich tapfer. «Ist Sabrina gar nicht da?»

«Doch, holt nur kurz was.» Christa füllt das kleine Regal neben der Kasse mit den Kaugummi-Päckchen auf. Sie tut so, als könnte sie ihn durch Nichtbeachtung verschwinden lassen. Und es ist verrückt, aber Marc hat wirklich das Gefühl, sich langsam aufzulösen. Ein paar Sekunden schwebt er in ihrem feindseligen Schweigen und nimmt schließlich noch einmal allen Mut zusammen. «Dann kommt sie gleich wieder?»

«Denk ich doch wohl.» Danach ein leises Schnauben, das vieles sagt. Zum Beispiel, dass seine Frage wieder mal seine Dummheit beweist, denn sie würde es gar nicht zulassen, dass Sabrina irgendwohin verschwindet und nicht wiederkommt. Christa hat nämlich nicht sechzehn Jahre nach ihrer Tochter gesucht, nur, um sie dann einfach wieder zu verlieren. Erst recht nicht an so einen Versager wie ihn. Das ist zumindest das, was Marc aus diesem Schnauben heraushört. Am liebsten würde er sich umdrehen und gehen, diesem erniedrigenden Moment ausweichen und sich in Sicherheit bringen, aber das wäre ein Fehler. Wenn er sich von der Alten einschüchtern lässt, verachtet sie ihn noch mehr als sowieso schon.

Er schaut abwechselnd auf seine Turnschuhe und auf Christas breites Kreuz mit den hochgezogenen Schultern. An ihr kommt er nicht vorbei, da braucht er sich gar nichts vormachen. Eine Frau zum Fürchten. Noch beobachtet sie lauernd, aber bald holt sie aus und zerhaut das Glück zwischen Sabrina und ihm wie ein böser Riese. Marc wird es nicht verhindern können. Irgendwann wird er Sabrina verlieren. Allein bei dem Gedanken daran kann er körperlich spüren, wie Sabrina von ihm weggezogen wird.

«Da bist du ja!» Sabrina ist in der Tür zum Lager erschienen und strahlt ihn an. Marc taucht aus seinen Gedanken auf und atmet geräuschvoll ein, wiederbelebt. Sabrina hat diese Wirkung auf ihn. Wie konnte er bisher ohne sie sein? Das fragt er sich oft. Morgens ist sie der einzige Grund aufzustehen. Sie trägt einen Chips-Karton in den Händen, kommt auf ihn zu und gibt ihm einen Kuss. «Die laden schon ab. Geh mal rüber. Ich bring euch gleich Bier.»

«Okay.» Die Erleichterung, endlich gehen zu können. Geschafft. Durchgehalten. Seine Liebe für Sabrina bewiesen, auch wenn Christa es ihm nicht anrechnen wird. «Dann tschüs erst mal.» Natürlich bekommt er keine Antwort.

 

Draußen lässt Marc die Tür hinter sich zufallen und fragt sich, ob die Begegnung mit Christa wirklich so schlimm war, wie es sich anfühlt. Der gelbe Minol-Pirol-Vogel in roter Latzhose, ein Wandbild direkt neben der Ladentür, zeigt mit seinem Flügel in die Richtung, in die Marc nun geht. Vorbei an den vier Zapfsäulen unter dem flachen Betondach, hinter das Gebäude, wo sich noch eine Werkstatt befindet. Frank Reinelt hat sich in den letzten drei Jahren nur wenige Neuerungen geleistet, alles ist noch im alten rot-gelben Design. Es fehlt das Geld, und außerdem muss man erst mal abwarten. Die Zukunft des Minol-Tankstellen-Netzes ist unklar. Die Mineralöl AG gehört jetzt den Franzocken. Ist doch klar, dass Leute wie Frank dann zusehen müssen, wie sie sich absichern. Marc versteht das.

Er erreicht den Hinterhof, der von der Straße aus nicht einsehbar ist. Hier ist ein großer Lkw geparkt, dessen Laderampe bereits heruntergefahren ist. Frank steht unten und nimmt die schweren Kisten an, die ihm sein Kumpel Steff Zwirns oben aus dem Laderaum anreicht. Franks Shirt ist verrutscht, in seinem verschwitzten Nacken wird das SS-Totenkopf-Symbol sichtbar. Marc durchfährt bei diesem Anblick immer wieder ein Schauer aus Unbehagen und Faszination. Marc weiß nicht, ob es richtig ist, aber er bewundert Frank dafür. Sagen, was man denkt, ohne Rücksicht. Er selbst kann das nicht. Dieses ekelhafte Gefühl, wenn man sich selbst beim Angsthaben erwischt. Marc wünscht sich, endlich das verdammte Schamgefühl loszuwerden, ein für alle Mal. Insgeheim hofft er, dass er es nicht verdient hat, sich von morgens bis abends scheiße zu fühlen. Frank hat irgendwann auch keinen Bock mehr darauf gehabt und nimmt sich jetzt einfach, was er haben will. Vielleicht kann man das abgucken und von jemandem wie Frank lernen. Dinge regeln, das Leben im Griff haben, ohne zu kuschen, sondern Kopf hoch, sodass andere Respekt vor einem haben. Manchmal spürt Marc es: Es ist wie ein Brodeln irgendwo in seiner Mitte, da bebt was, klingt bestimmt bescheuert, aber es ist vielleicht Stolz oder so was in der Art.

Frank hört Marcs Schritte auf dem Schotter knirschen und dreht sich zu ihm um. «Ah, da isser ja!»

Marc klatscht die Hand ab, die ihm hingehalten wird. «Moin, Frank. Sabrina meinte, ich soll mit anpacken?»

«Bin heute Nacht zurückgekommen. Das Zeug muss vom Lkw runter.» Frank wischt sich einmal über seinen kahl rasierten Kopf und spuckt aus. Er ist vierzig, sieht aber älter aus. Außerdem lacht er selten. Seiner Meinung nach gibt es auch nicht viel zu lachen, aber Sabrina hat Marc neulich verraten, dass der wahre Grund Eitelkeit ist. Frank knirscht seit seiner Kindheit im Schlaf mit den Zähnen, und sie sind mittlerweile nur noch halb so groß wie früher. Im Traum weggeschmirgelt.

«Ach nee, kommst du auch noch?» Steff ist oben auf der Laderampe erschienen und springt zu ihnen runter. Er trägt nur ein Unterhemd, sodass seine tätowierten Arme sichtbar sind. Reichsadler, 88, Frakturschrift, Odal-Rune – Marc riskiert immer nur kurze Blicke, nicht dass er noch angemacht wird, wieso er so blöd glotzt. Nach dem Motto schwul, oder was? Steff kann ihn nicht ausstehen, das war von Anfang an klar. Und zwar, weil er selbst was von Sabrina will und sie ihn nie rangelassen hat. Wenn Marc ehrlich ist, kann er sich eigentlich nicht erklären, warum Sabrina nicht Steff genommen hat. Der ist älter, muskulöser, selbstbewusster und hat sich zu Franks rechter Hand hochgedient. Das alles müsste für ihn sprechen. Aber Sabrina hat das wohl nicht beeindruckt. Steff überragt Marc um mindestens eine Kopflänge und guckt jetzt auf ihn runter. «Geh du oben rein und hol die Kisten raus.»