Blütenschwarz - Silke Bauerfeind - E-Book

Blütenschwarz E-Book

Silke Bauerfeind

4,9

Beschreibung

Wie ist es, wenn man seine Umgebung ganz anders wahrnimmt und sich wie "Aus der Welten Krümmung" geworfen fühlt? Davon erzählt ein junger Mann und vermittelt eine ganz ungewohnte Sichtweise auf das sonst Gewohnte. Was Elena mit dem „Geruch von Schnee“ verbindet, bleibt bis zur letzten Zeile ihrer Erzählung ein Geheimnis. Ihre Geschichte führt in eine Kindheit, die berührt und erschüttert, und in eine Gegenwart, die versucht, das Erlebte zu verarbeiten. Philosophisch angehaucht und lebenskritisch sind die Fragen, die eine Frau "an einen Dirigenten" stellt. In einer ausweglosen Situation sucht sie Halt und Trost in der Kunst. Auf drei Zeitebenen begegnen sich in „Bittermandel“ Menschen verschiedener Generationen, die eine Geschichte verbindet. Katharina schreibt rückblickend ein Stück Familienchronik und deckt dabei mehrere Geheimnisse auf. Die biographischen Aufzeichnungen dieser sehr unterschiedlichen Personen laden dazu ein, intensiv mitzuerleben und mitzufühlen. Spannend, sensibel, sorgsam recherchiert.

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die Autorin:

Silke Bauerfeind wurde 1970 geboren und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Nürnberg. Sie studierte Kulturwissenschaften mit den Fächern Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte und arbeitet als Autorin und freischaffende Künstlerin.

Neben den beiden Lyrikbänden „Wunderstachelblumenanderswelt“ und „Da Capo al Fine“ veröffentlichte sie bisher zudem gemeinsam mit der autistischen Malerin Kristin Behrmann das Kunstbuch „Meine Lieblingsfarben klingen“.

Einen umfassenden Einblick in ihre Arbeiten gibt ihre Website: www.silke-bauerfeind.com

Inhalt:

Aus der Welten Krümmung

Der Geruch von Schnee

An einen Dirigenten

Bittermandel

Aus der Welten Krümmung

Von. Anfang. An.

War alles Chaos.

Schon beim ersten Atemzug werde ich das unbestimmte Gefühl gehabt haben, in einer Welt angekommen zu sein, für die meine Sinne nicht gemacht sind. Natürlich kann ich das heute nicht mehr genau wissen, denn meine bewusste Erinnerung setzt erst später ein, aber es muss so gewesen sein, dass alles anfing, wie es weiter ging und alles weiter ging, wie es anfing, immer und immer wieder, auch heute noch und in Zukunft, so wie die Sonne jeden Tag auf- und wieder untergeht, so wie der Mond jede Nacht durch unseren Garten schleicht und mit seinem Licht die Gräser streichelt, so wie wir jeden Morgen die Augen aufschlagen, einen tiefen Atemzug nehmen, den Tag beginnen, mit den immer gleichen angenehmstrukturigen oder lästigklebrigen Ritualen, so wie in jeder Minute Kinder im Zeitenlauf ausgelöscht und eingewoben werden.

So wie all das setzt sich auch mein Empfinden fort, endlos wellend bis zu einem Tag, der mir nicht bekannt ist, von dem wir alle nichts wissen.

Damals, also zu der Zeit, über die ich heute nur spekulieren kann, aber die ich ab meinem bewussten Erleben als logische Fortsetzung in die Vergangenheit ansehe, damals konnte ich das Gefühl nicht fassen, denn alles war neu und ich wusste nicht, ob es richtig war, so wie es war, und ob ich einfach nicht in der Lage war, das als allgemein anerkannt Richtige in mein Leben zu lassen. Ich konnte mich nicht verbal artikulieren und ich kann mich an diese Zeit nicht im Detail erinnern; aber mit dem, was ich inzwischen weiß, muss es so gewesen sein, als ob ich aus einer harmonisch-warmen Umgebung mitten ins Dröhnen und Trommeln, ins Laut und Kalt gekommen war. Ein Schleudern aus der Welten Krümmung mitten in die Einsiedelei unserer Zeit, die mich fremd riechend begrüßte. Von aller bisher erlebten Stummheit abgenabelt musste ich meinen Weg als SelbstAtmer beginnen und schaffte es nicht sofort ohne diese übelriechende Maske, die sich um mein Gesicht legte. So fing mein Dasein als der ständig Hilfesuchende an, denn ich brauchte mein lästiges Umfeld schon in den ersten Sekunden, um existieren zu können, und zwar dort, wohin meine überforderten Sinne mich nicht geschickt haben konnten.

Die liebliche Stimme meiner Mutter, die ich wochenlang durch eine wärmende Hülle vernommen hatte, gellte ab diesem Zeitpunkt viele Monate lang in meinem Ohr, wenn sie mit mir sprach, oder wenn sie mir etwas vorsang. Ich konnte es nicht ertragen und musste alle Vibrationen mit meinem eigenen Schreien übertönen. Und ich schrie, um selbst bestimmen zu können, was ich hörte, und um all die Töne und Klänge und Geräusche und Verursacher dieser Welt zu überlisten, damit sie sich nicht mehr in meine kleinen Gehörgänge setzten und dort herumflogen wie eine wild gewordene, gefangene Fliege in einem Glas.

Es dauerte lange bis ich andere Strategien entwickeln konnte, die mich von dem Getöse meiner Umwelt erlösten.

Wenn mich jemand berührte, um mich zu trösten, rollte ich mich in den ersten Jahren ein und wand mich ab, jeder Fingerstrich, jede zarte Berührung schmerzte. Das Sanfte wurde zu einem brennenden Spalt auf zarter Haut und vorsichtiges Massieren verursachte elektrisierendes Kribbeln, das durch Mark und Bein ging. Niemand wusste, wie ich auf Hautkontakt reagieren würde, ich selbst konnte es auch nicht einschätzen, denn alles wandelte sich täglich. Und so wurde mein Leben zu einem stetigen Empfindungsroulette, bei dem mein Umfeld und vor allem ich mitspielen mussten, ob wir wollten oder nicht.

Wenn ich mich in mein leisestachelwattiges Innere verkroch, suchte meine Mutter mich und wartete sehnsüchtig auf meine Rückkehr, denn so sehr ich sie brauche, so sehr braucht sie auch mich – das sagt sie oft.

Ich bin anders, auch wenn alle anderen damals und manchmal noch heute denken, ich sei sehr krank und unendlich zu bemitleiden in meinem Dasein – ich bin einfach anders, anders einfach, anders, aber nicht einfach, denn kognitiv kann ich allen das Wasser reichen, auch wenn mich beinahe jeder unterschätzt und mich behandelt wie einen geistig Kranken – und so versuche ich einen Weg zwischen Besonderheit und Anpassung zu finden, der es mir ermöglicht zu existieren.

Meine Wahrnehmung spielte mir damals immer wieder einen Streich und so konnte ich meine Bewegungen oft nicht kontrollieren, kniff, wenn ich streicheln wollte, biss, wenn ich küssen wollte, schrie, wenn ich leise sein wollte – und! Es ist nicht so, dass ich heute damit zurechtkäme. Nein – ich bestrafe mein Gehirn für die Befehlsverweigerung der korrekten Weitergabe meiner Emotionen und Bewegungsabsichten an meine Gliedmaßen, indem ich es immer wieder gegen Wände schlage. Irgendwann wird es schon begreifen lernen, denn ich kann leider nicht hineingreifen, nicht eingreifen, es muss selbst begreifen, mein verworrenes Hirn mit seinen Tücken und Talenten.

Ich war nicht, wie ich sein sollte und deshalb wurde ich therapiert, um möglichst weitgehend geheilt werden zu können. Aber ich bedurfte und bedarf keiner Heilung, sondern ich sehne mich danach, einen Schlüssel gereicht zu bekommen, der es mir ermöglicht, aus meinem inneren Gesundsein herauszutreten. Die Krankheitsbeseitiger versuchten die verschiedensten Methoden, um mich zum Laufen, zum Sprechen, zum Spielen, zum Andereanblicken, zum Anderewahrnehmen, zum Andereberühren, zum Andereimmerwiederandere-aushaltenmüssen zu bringen. Sie meinten, mir helfen zu müssen, mich Selbst, mein Ich zu finden. Aber ich war doch schon da.

Mit Hilfe einer Besonderheit konnte ich erlernen, zumindest zeitweise meine Sinne zu regulieren. Und das bemerkte ich, als ich im Sommer auf einer Wiese saß, die schon lange nicht mehr gemäht worden war und auf der deshalb viele lange Grashalme standen. Diese schlanken Stängel, wie sie sich im Winde sanft hin und her wogen, liebkosten meine Augen und mein Gemüt und ich begann sie mir näher anzusehen. Zunächst befühlte ich sie mit meiner Zunge und schmeckte süßlich herrlich glatten Frühling, dessen Streicheln mir so angenehm war, wie bisher nichts zuvor. Dann ließ ich die Halme sehr vorsichtig durch meine Handflächen gleiten und konnte mich dabei beherrschen, nicht sofort zuzugreifen – wie sonst immer bei allem, was das Innere meiner Hände berührt – dieses Mal genoss ich das Kribbeln und den Hauch Grün, der von meiner Haut als Melodie in mein Ohr kroch. Ich fühlte Zungenwind, schmeckte Strukturglatt, roch Halmeslängen und hörte Farbengrün und es war das Wundervollste, das mir bis dahin zuteil geworden war.

Gräser wurden zu meinen Freunden und ich kann noch heute an keinem Halm vorübergehen, ohne mit ihm einen liebreizenden Kreiseltanz zu vollführen. Dieses Kreiseln und Zwirbeln des Grases zwischen meinen Fingern lässt mich alles vergessen, versetzt mich in die Lage, nur noch Kreiselgras zu fühlen und ermöglicht mir, das Chaos der Welt für eine Weile zu ignorieren. Das Durcheinander meiner Sinne lässt mich ein Wunderwerk der Natur wahrnehmen, weil ich meine Eindrücke nicht selektiere.

Das. Chaos. Wird. Zu. Einem. Konzert.

Bis heute spreche ich nicht, weil die Worte dieser Welt in mir eingefaltet liegen. Manchmal schreibe ich, wie jetzt, Buchstaben nieder, aber es ist mühselig und dauert sehr lange. Ich höre und fühle sie, manchmal schmecke ich sie und einige gedachte Buchstaben legen sich wie Erdbeereis oder Kakao auf meine Zunge. Hin und wieder habe ich das Bedürfnis, etwas an die Außenwelt weiterzugeben, doch meistens wallen die Geräusche in mir an Wände, die unüberwindbar um mich herum existieren. Sie prallen dort ab und schnellen zu mir zurück, so dass ich sie doppelt und dreifach höre, mir die Ohren zuhalte und wieder beginne zu schreien. Die Monotonie des Sprechens verläuft in Wellen und wird lauterundlauterundlauter. Das Echo knallt phrasengleich. Phrasen genügen sich ohnehin klanglos und Botschaften sende ich wellend aus und manchmal – ganz selten – begegne ich jemandem, der mein Stumm hören kann.

Wie. Loanne.

Loanne lernte ich an meinem ersten Schultag kennen. Sie beheimatete das wunderschönste Blau unter einem langen dunkelbraunen Lockenumhang, so dass ich von Beginn an verführt war, mit ihren Haaren zu spielen, sie zu kreiseln, zu zwirbeln, mit ihnen zu tanzen, um dadurch Loannes Musik zu hören. Die Länge ihres seidigen Schmucks schmeckte beim Ansehen nach Zimtsternen und wenn sie vorüberging, hörte ich den Wind und fühlte das Leise über meine Arme streichen. In diesen Momenten liebte ich das Chaos in mir, das es nicht schafft all die Sinneswahrnehmungen auseinanderzuhalten und sie stattdessen vermischt, mich gleichzeitig lauschen, riechen, schmecken und einfach genießen lässt. Diese Komposition in Loannes Gegenwart war die schönste, die ich je hörte.

Loanne wurde von mir niemals gekniffen oder gebissen und von anderen wurden wir interessiert beobachtet. Warum ist er so nett zu ihr, warum kommt es nie zu Entgleisungen, warum lässt er ihre Nähe zu, was geschieht mit ihm, warum, warum, warum? Niemand begriff, dass sich Loanne in mein Empfinden einfügte und mir die Harmonie wiederbrachte, die ich an jenem ersten Tag hinter mir hatte lassen müssen. Nur Loanne und ich wussten, dass sie einen Schlüssel besaß, mit dem sie zu mir vordringen konnte, um sich daraufhin gleichermaßen zu öffnen und mich in ihr Innerstes zu lassen. So holten wir uns ab und komplettierten uns, denn niemand kann allein existieren, auch eine Wunderstachelblume – so nennt mich meine Mutter manchmal – wie ich nicht.

Und Loanne? Sie war stumm wie ich und hatte trotzdem so viel zu sagen. Sie sprach mit mir, wenn wir auf einer Wiese saßen und unsere Hände gemeinsam über Grashalme strichen. Im Winter lagen wir als Wartekinder auf weißen Teppichen, die unsere geliebten Halme bedeckten, und in den Schneeflocken schmeckten wir das sehnlichsommerliche Zungenprickeln.

Manchmal berührten sich unsere Finger ganz leicht und ohne uns anzusehen, wussten wir, dass wir in jenem Moment dieselbe wundersame Melodie hörten.

Eines Tages unternahmen wir einen Klassenausflug zu einem Schloss, das von einem prächtigwunderschönruhigen Garten umgeben war. Hier wogen sich alte und junge Bäume im Wind und genügten sich allein durch ihre Anwesenheit, verursachten keinen unnötigen Lärm und schenkten sich einander lautlos. In der Ferne sahen wir ein Glashaus, in dem viel Grün wohnte und ein sanfter Geschmack von Himbeereis vermischte sich mit dem süßlichen Klang einer angenehmen Stimme, die von der Schlossseite des Parks herüber wehte. Loanne musste das auch gehört haben, denn wir wandten uns zeitgleich um und sahen eine grüßende Weide sich vorsichtig verneigend. Dahinter stand ein Fensterflügel im ersten Stock des Schlosses weit geöffnet, aus dem ein junges Mädchen winkte. Ihr Haar flatterte im Wind und ein Seidenschal verdeckte kurz den kleinen Mund. „Zitalina...“ hörte ich aus dem Inneren des Schlosses und das Mädchen am Fenster drehte sich um. „Zitalina, komm zu mir“ – und ich nahm Loannes Hand in die meine, um die sanftsummende Weide zu besuchen.

Diese stolze alte Dame schenkte uns viele dünne Äste, die sie entbehren konnte, mit denen ich KreiselkurbelzwirbelGlückstänze vollführte und mit Loanne an meiner Seite in ein Dasein eintauchte, das unseres war, in dem wir nicht therapiert, geradegebogen, verbessert, gesundet und normalisiert werden mussten.

Wir besuchten die Weide daraufhin an vielen Tagen und ließen uns von ihren langen Ästen in den Schlaf summen, inmitten eines ummantelnden Stumm.

Zitalina konnte ich immer mal wieder an verschiedenen Fenstern des Schlosses entdecken, aber immer nur kurz, dann wurde sie gerufen und verschwand. Meistens hatte ich den Eindruck, dass sie Loanne zuwinkte, als seien sie Freundinnen, die sich auf ein Wiedersehen freuten. - - -

Loanne habe ich schon lange nicht mehr gesehen; sie flog eines Tages mit dem Wind davon. Es war Herbst und Heu lag auf der Wiese; sein Anblick roch schwarz.

Sie lag eine Weile lächelnd neben mir, bevor sie summend zu den Wolken flog und nicht wiederkam.

Ich bin, wann immer es mir möglich ist, im Park bei der alten Trauerweide mit ihren ausladendumarmenden Ästen. Sie wiegt sich im Wind und ich sehe Loanne zwischen den Wolken tanzen und singen, ich rieche ihre Haare auf meiner Haut, schmecke Erdbeereis und halte meine Hände über die Ohren, damit unsere Melodie nicht entweicht.

Zitalina begegnete ich nicht mehr, die Fenster sind immer geschlossen – so wie ich – denn niemand fand bisher den Schlüssel, den Loanne irgendwo liegengelassen hat. Vielleicht hat sie ihn aber auch mitgenommen, dann sollte ich möglicherweise versuchen, ihr zu folgen. Aber im Schloss regt sich nichts, nur die Sonne, die jeden Tag auf- und wieder untergeht, spiegelt sich in seinen Fenstern und der Mond, der jede Nacht durch den Park schleicht, streichelt mit seinem Licht die Giebel.

Und so schlage ich jeden Morgen die Augen auf, nehme einen tiefen Atemzug, beginne den Tag mit seinen immer gleichen angenehmstrukturigen oder lästigklebrigen Ritualen und warte auf den Zeitenlauf.

Meine Mama hat gelernt, mich zu begleiten und so liegt sie manchmal neben mir. Ob sie wohl mit zu Loanne käme, wenn ich sie fragte?

Ganz selten darf sie meine Hand nehmen und dann kommt sie mir ein Stück entgegen in meine Welt, die sie mir unwissend geschenkt hat, damals, an diesem Tag.

Ganz. Am. Anfang.

Worte eurer Welt

liegen eingefaltet in mir

und genügen sich

klanglos

im überFluss bunt

kieseliger Wahrnehmung

versickert Ungesagtes

und die Muschel

schließt sich schützend

im Dunkel um mich

Hörst du wenigstens

das eine

mir so lauvertraute

Stumm:

?

Der Geruch von Schnee

Vielleicht müssen uns einfach die richtigen Menschen im Leben über den Weg laufen, damit sich Dinge aus der Vergangenheit ordnen lassen. Was nur, wenn man diesem Jemand niemals begegnet, was passiert dann mit all den unverarbeiteten Geschehnissen, die wie schwingende Bleiseile in unseren Köpfen mal rechts, mal links anstoßen und gegen unsere Schläfen hämmern?

Ich bin Elena. Meine Therapeutin sagte mir, ich solle meine Erlebnisse aufschreiben, dann könne ich vielleicht noch besser Ordnung in alles bringen und die Bleiseile endgültig abhängen. Ich habe keine Ahnung, ob das hilft, aber es schadet wohl auch nicht. Eigentlich geht es mir auch schon viel, viel besser, aber die Seile sind im Moment nur zur Seite gespannt, damit sie nicht mehr pendeln können. Wer weiß, wie lange die Fixierung hält. Es ist eine trügerische Stille, die in mir eingezogen ist, und daher werde ich – hoffentlich ein letztes Mal – alles noch einmal Revue passieren lassen. Einen Roman soll ich nicht schreiben, sagte meine Therapeutin, sondern nur skizzieren, was mir im Nachhinein besonders wichtig erscheint, um es dann endgültig abzulegen.

Damit das gelingt, brauche ich ein Gegenüber, dem ich alles erzählen kann, und daher ziehe ich dich ins Vertrauen, stelle mir vor, dass du mir zuhörst und dich für meine Geschichte interessierst.

Am leichtesten wird es sein, erst einmal über mein aktuelles Leben zu schreiben.

Ich arbeite in einer Bibliothek und habe an ganz normalen Arbeitstagen mit vielen interessierten Menschen zu tun, die sich Bücher ausleihen möchten oder Informationen brauchen, um eine spezielle Lektüre zu finden. Meistens ist das Routinearbeit. Da ich mich dort auf sicherem Terrain bewege und mich auskenne, helfe ich den Besuchern gern und überdecke mit meiner Kompetenz die Unsicherheit, die mein Leben durchzieht. Es gibt aber immer wieder auch Nachfragen, die mir zu schaffen machen, an mir rühren und mich aus dem Gleichgewicht bringen. Eine Frau erkundigte sich neulich zum Beispiel freundlich nach einem medizinischen Werk über Multiple Sklerose. Ich holte das entsprechende Buch, spürte dabei aber dieses schwere und mulmige Gefühl in der Magengegend, das sich dort oft bemerkbar macht. Es ist jedenfalls immer da, wenn ich in die medizinische Abteilung gehen muss.

Wenn ich nach Hause komme, spule ich mein übliches Programm ab. Die geregelten Arbeitszeiten ermöglichen es mir normalerweise, exakt den Rhythmus einzuhalten, den ich brauche, um die Orientierung zu behalten. Gegen 18 Uhr betrete ich die Wohnung, räume Einkäufe weg, die ich meist auf dem Heimweg noch erledige und ziehe dann meine Sportsachen an. Dann verlasse ich die Wohnung wieder und sobald ich die Tür hinter mir zugezogen habe, laufe ich los, bei Wind und Wetter, ganz egal. Es macht den Kopf frei und betäubt gleichzeitig meine Zwänge, meine vielen Zwänge und Ängste, von denen ich schreiben soll – so empfiehlt es mir jedenfalls meine Therapeutin.

Zu meinem aktuellen Leben gehört auch der freie Donnerstag, an dem ich ausschlafen, viel lesen und spazieren gehen kann. An meinen freien Tagen gönne ich mir auch eine Auszeit vom Joggen, erhole mich körperlich und verlasse selten für längere Zeit das Haus. Lieber igele ich mich ein und genieße es, wenn niemand anruft und kein Mensch etwas von mir will.

Jeden ersten Donnerstag im Monat bedaure ich jedoch, dass ich nicht arbeiten muss. Spätestens, wenn ich vor meinem Frühstück sitze, beginnt der innere Kampf. Soll ich hingehen oder soll ich mir das heute lieber ersparen? Der monatliche Besuch bei meiner Mutter verlangt mir allerhand ab, aber auch das ist Teil der Therapie und nur dieses Wissen bringt mich immer wieder dazu, schließlich doch aufzubrechen. Die Besuche sind in der Regel unspektakulär. Ich melde mich an der Pforte an, fülle das erforderliche Formular aus und tappe dann die Gänge entlang – erst rechts herum, dann eine gefühlte Ewigkeit geradeaus, zwei Stufen runter und dann links die erste Tür. Diese Strecke könnte ich inzwischen auch im Dunkeln zurücklegen, kenne sie im Schlaf nach all den Jahren.

Ich funktioniere dabei wie in Trance. Sobald ich die Schwelle zur Psychiatrie überschreite, wird ein innerer Panzer in mir aktiv, der mich vor Gefühlsattacken und Erinnerungen an meine Kindheit schützt. Auf diese Weise schotte ich jegliche Emotionen ab, so dass ich meiner Mutter wie mechanisch gegenübertrete.

„Hallo Mama, wie geht es dir?“ frage ich immer und strecke ihr meine Hand entgegen. Sie sieht dann von ihrem Stuhl hoch und strahlt, denn sie freut sich jedes Mal, wenn ich komme. Ihre Umarmung lasse ich wie eine steife Puppe über mich ergehen, das Streicheln über meine Wange brennt wie Feuer und ihr Kuss auf meine Stirn stempelt immer und immer wieder die Vergangenheit in meine Haut.

Ich bin froh, wenn sie dann wieder auf dem Stuhl sitzt, sich ihr T-Shirt glatt streicht und wie geistesabwesend vor sich hin lächelt.

Wir spielen oft Mensch-ärgere-Dich-nicht, trinken Kaffee, sprechen über das Wetter und nach etwa zwei Stunden gehe ich wieder. Sie ist am Ende immer traurig und ich muss versprechen, bald wiederzukommen.

Ich verspreche es, was auch sonst?