Bluterbe - Ladina Bordoli - E-Book

Bluterbe E-Book

Ladina Bordoli

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Beschreibung

Leg dich nicht mit Gentle Annie an! In den wilden schottischen Highlands beherrschte lange Zeit ein dämonischer Schrecken die Mythen. Mairi McNamara weiß jedoch, dass Gentle Annie keine Legende ist – denn sie ist ihre Tochter. Belastet durch das mütterliche Erbe, führt Mairi zusammen mit ihrem herzensguten Vater ein einsames Leben auf Namara Castle, in ständiger Furcht, den Menschen zu schaden. Und nicht zu Unrecht – als das Dämonische in ihr unkontrolliert hervorbricht, kommt ein Gehilfe zu Tode. Die junge Frau sieht daraufhin keine Zukunft mehr für sich und verzweifelt am Leben. Das Schicksal scheint sich zu wenden, als ein attraktiver junger Mann aus fremden Landen die neue Stelle antritt. Die jungen Leute fühlen sich sofort wie magisch zueinander hingezogen, verbindet sie doch vor allem der persönliche Kampf gegen ihr schreckliches Bluterbe, das anzunehmen keiner von beiden gewillt ist. Denn auch Tom führt ein düsteres Geheimnis mit sich: Er ist auf der Flucht vor seinem Clan. Doch Vlads Erben denken gar nicht daran, den überaus bedeutenden Nachkommen ziehen zu lassen und setzen sich auf seine Spur …

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Seitenzahl: 304

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Ladina Bordoli

Bluterbe

Roman

Von der Autorin sind bisher bei Fabylon erschienen:Die Lazarus-Verschwörung (SteamPunk)

Das Buch:

Leg dich nicht mit Gentle Annie an!

In den wilden schottischen Highlands beherrschte lange Zeit ein dämonischer Schrecken die Mythen.

Mairi McNamara weiß jedoch, dass Gentle Annie keine Legende ist – denn sie ist ihre Tochter. Belastet durch das mütterliche Erbe, führt Mairi zusammen mit ihrem herzensguten Vater ein einsames Leben auf Namara Castle, in ständiger Furcht, den Menschen zu schaden. Und nicht zu Unrecht – als das Dämonische in ihr unkontrolliert hervorbricht, kommt ein Gehilfe zu Tode. Die junge Frau sieht daraufhin keine Zukunft mehr für sich und verzweifelt am Leben.

Das Schicksal scheint sich zu wenden, als ein attraktiver junger Mann aus fremden Landen die neue Stelle antritt.

Die jungen Leute fühlen sich sofort wie magisch zueinander hingezogen, verbindet sie doch vor allem der persönliche Kampf gegen ihr schreckliches Bluterbe, das anzunehmen keiner von beiden gewillt ist.

Denn auch Tom führt ein düsteres Geheimnis mit sich: Er ist auf der Flucht vor seinem Clan. Doch Vlads Erben denken gar nicht daran, den überaus bedeutenden Nachkommen ziehen zu lassen und setzen sich auf seine Spur …

Die Autorin

Ladina Bordoli lebt und arbeitet in der Schweiz. Seit ihrer Kindheit verfasste sie Gedichte, Kurzgeschichten und philosophische Texte. Im Jahr 2008 veröffentlichte sie ihr Erstlingswerk »Wild Cherry« und publiziert seither regelmäßig in verschiedenen Genres und Verlagen.

Umschlagbild und Gestaltung: pixabay, Agentur Michael SteinmannLektorat: Uschi Zietsch

Deutscher Fantasy Preis 2017© 2019 by Fabylon VerlagVermittelt durch: Agentur Asherawww.fabylon.deeMail: [email protected]

Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.

eISBN: 978-3-943570-98-4

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Epilog

Prolog

»Nimm es mit! Schaff es mir aus den Augen! Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse es!«, schrie Annie, warf einen Stein nach dem Kobold und ließ sich erschöpft auf den felsigen Boden ihrer Höhle fallen.

Wut sammelte sich in ihrem Inneren an. Unbändige Wut.

»Was für ein verfluchtes Schicksal!«, donnerte sie. Ihre Worte hallten als schauriges Echo von den Wänden der Grotte wider.

»Ich hasse es, ich hasse es«, wimmerte sie erneut und wiegte ihren Körper hin und her, als empfände sie Schmerzen.

Während sie weiterhin unverständliche Sätze vor sich hinmurmelte, fuhren ihre krallenbewehrten Finger in einem unablässigen Rhythmus über die Steinwände. Das kontinuierliche Scharren schien sie zu beruhigen. Doch nur für einen kurzen Augenblick, dann sprudelte der Zorn in ihrem Inneren wieder an die Oberfläche.

Sie brüllte wie von Sinnen.

Uralte Worte, grauenhafte Worte.

Ihre Stimme überschlug sich.

Sie schleifte ihren müden, alten Köper zum Höhleneingang und nach draußen. Endlich war die Sonne untergegangen.

Ihre Haut schimmerte bläulich im matten Licht des Mondes.

»Bring sie nie mehr zurück oder sie wird sterben!«, schrie Annie in die Stille der Nacht und hörte, wie ihre Worte vom Wind über die endlosen Weiten der schottischen Highlands getragen wurden.

Der Leprechaun gab seinem Pferd die Sporen. Er hörte das entsetzliche Gebrüll noch lange durch das Schweigen der eiskalten Nacht hallen. Sie war ein grauenhaft böses Geschöpf; er war sehr betrunken gewesen, als er sich auf sie eingelassen und mit ihr ein Kind gezeugt hatte.

Sie hatte sich ihm als junge, bildhübsche Jungfrau mit schimmernder Haut in Kobaltblau offenbart. Cody war gebürtiger Ire, woher hätte er ahnen sollen, wer sie wirklich war? Er fühlte sich damals einsam, entwurzelt und ausgegrenzt. Liebeskummer zerfraß sein Koboldherz. Das Einzige, was ihn an diesem Abend zu trösten vermochte, war der gesamte Flascheninhalt eines irischen Whiskeys, den der Wirt zufällig im Keller fand. Kein Mensch trank in Schottland ausländischen Single Malt. Cody erstand daher die komplette Flasche und verdrückte sich in eine Ecke, um sein Heimweh und sein gebrochenes Herz zu ertränken. Da entdecke er sie. Eine exotische Schönheit mit traurigen Augen, die ebenso verloren zu sein schien wie er. Woher hätte eine unbescholtene Seele wie Cody ahnen sollen, dass ihre äußerliche Unschuld nur dem Umstand geschuldet war, dass sie das Blut jener trank, deren Lebenssaft aus eben dieser Reinheit bestand?

Gentle Annie war nämlich alles andere als lieblich und friedfertig. Sie war ein Dämon aus alten Zeiten. Meist in Gestalt einer betagten, krallenbewehrten, blauhäutigen Frau. Mit süßen Versprechungen und vertrauenserweckenden Worten lockte sie ahnungslose Kinder in ihre Höhle, trank ihr Blut, aß ihr Fleisch und nähte Kleider aus ihren Häuten.

Die Vergangenheit konnte der Leprechaun jedoch nicht mehr ändern, die Gegenwart war nun wichtig.

Ein Lächeln hellte seine Züge auf, als er das warme Bündel, das er sich an den Leib geschnürt hatte, spürte. Er fühlte das leise Pochen eines kleinen Herzens nahe dem seinen. Das Gesicht der Neugeborenen wirkte so friedlich im Schlaf.

Er würde sie immer lieben, egal, woher sie kam und unter welch widrigen Umständen sie entstanden war.

Endlich erreichte der Leprechaun sein Schloss. Er zügelte das Pferd, stieg vorsichtig ab und beeilte sich, hineinzugelangen. Er wollte nicht riskieren, dass sich das Kleinkind erkältete. Der Mond wurde von Gewitterwolken verdeckt und ein kalter Wind zerrte am Umhang des Kobolds. Der Winter war nicht mehr fern.

Aleen, die Amme, hatte im Turmzimmer bereits ein Feuer entfacht, damit der Raum bei der Ankunft ihres Herrn wohlig warm war.

Der Kobold legte das winzige Geschöpf, das immer noch schlief, behutsam in die Wiege, die er speziell für sie hatte anfertigen lassen.

»Ich nenne sie Mairi, in Anlehnung an den irischen Namen meiner Mutter. Sie ist meine Tochter!«, sagte der Leprechaun voller Liebe und strich dem Mädchen mit seinen Koboldfingern sanft über die Wange.

Aleen lächelte ebenfalls.

Ein halbes Jahr später, im Schlossgarten blühten bereits die ersten Narzissen, fand der Leprechaun die Amme am Boden liegend im Zimmer seiner Tochter.

Sie war tot.

Ihr Handgelenk wies Bisswunden auf.

Kapitel 1

Namara Castle, Nordschottland

Mairi

Gedankenverloren schlürfte sie ihren Tomatensaft und nahm einen widerwilligen Bissen von dem Stangensellerie, den sie anstelle eines Löffels in das dickflüssige Getränk gesteckt hatte.

Es schmeckte grauenhaft, so viel stand fest.

Sie schob das Glas lustlos beiseite und starrte betrübt vor sich hin.

Cody, ihr Vater, erschien ihm Türrahmen. Ein freudiger Ausdruck breitete sich auf seinem bärtigen Gesicht aus.

»Oh, du hast Frühstück gemacht!«, stellte er begeistert fest.

Mairi nickte halbherzig und versuchte, das nagende Gefühl in ihrem Inneren noch eine Weile zu verbergen.

»Ja, Leprechaun-Frühstück, wie du es gerne magst, Dad. Frische Wurzeln, getrocknete Beeren und Früchte sowie ein herzhaftes Stück Brot mit Butter!«, zählte sie auf und schob ihm die Schale mit den Beeren hin.

»Möchtest du Tee?« Sie griff nach dem dampfenden Krug. »Ich habe ihn aus getrockneter Pfefferminze zubereitet. Aus unserem Garten.«

Bei dem Wort Garten wäre ihr der Teekrug beinahe zu Boden gefallen, so stark zitterte sie.

Cody nahm ihr das Gefäß langsam aus den Händen und stellte es ab. Er musterte sie mit seinen großen, unschuldigen Koboldaugen. »Was ist los, Liebes? Was bedrückt dich?«

Mairi wusste, dass er die Antwort längst kannte und seine Frage daher mehr rhetorischer Natur war. Er zeigte sich ihr gegenüber dennoch immer ruhig und verständnisvoll, unabhängig davon, mit welchem Anliegen sie zu ihm kam. Er gewährte ihr so stets die Möglichkeit, ihn selbst über das Vorgefallene in Kenntnis zu setzen.

Als sie nach mehreren Minuten immer noch nichts über ihre Lippen brachte, schob Cody seinen Teller weg, faltete die Serviette und fragte: »Geht es um Pierre?«

Anstelle einer Antwort brach Mairi in Tränen aus und wurde von einem unkontrollierten Schluchzen geschüttelt. Cody erhob sich und kam auf sie zu. Ihr Leid betrübte ihn – das konnte sie in seinen vor Schmerz dunklen Augen sehen. Er umarmte sie und drückte sie an sich. Sie schlang die Arme um ihren Vater und legte ihr Gesicht an seine Schulter. Sein grünes Leprechaun-Jackett war bestens dafür geeignet, Damentränen aufzufangen. Regen konnte ihm ebenso nichts anhaben.

Eine Weile verharrten sie so. Cody summte eine beruhigende Melodie und strich Mairi immer wieder über die Haare. So, als wäre sie ein kleines, verstörtes Kind, dem man die Puppe weggenommen hatte. Viel besser fühlte sich Mairi dadurch allerdings nicht.

»Ist schon in Ordnung, mein Mädchen, du kannst ja nichts dafür«, flüsterte er besänftigend.

»Ich bin fünfundzwanzig, Dad! Eine erwachsene Frau – natürlich kann ich etwas dafür!«, widersprach sie und merkte, wie sich ihre Stimme überschlug und erneut in hysterischem Geheul endete.

»Mit dieser Tomatensaft-Diät erreichst du jedenfalls überhaupt nichts. Das kann deinen anderen Drang unmöglich ersetzen!«, sagte Cody in bestimmtem Ton.

»Meistens esse ich ja Leprechaun-Nahrung, wie du. Aber ab und zu … da übermannt es mich wie ein hinterlistiger Feind. Ich bin dann nicht mehr ich selbst, verstehst du?« Weiterhin konnte sie die Tränen nicht zurückhalten.

»Ja, das verstehe ich. Mach dir nichts draus, Mairi, ich werde mich darum kümmern. Wo ist er?«, fragte Cody noch immer in diesem beruhigenden, beinahe geflüsterten Singsang.

»Pierre? Draußen, im Garten … bei den verblühten Narzissen«, sagte Mairi und ihre Lippen zitterten.

»Gut, dann iss du jetzt erstmal dein Frühstück – ich werde alles andere erledigen, dann sehen wir weiter«, erklärte Cody in sachlichem Ton, knöpfte sein moosgrünes Jackett zu und stapfte die Treppe nach unten.

Cody

Draußen im Garten lief er den kurzen Kiesweg entlang, der die Beete voneinander trennte, bis er bei den Narzissen ankam. So wie die Blumen ihre Köpfe hängen ließen und kaum mehr Blüten aufwiesen, lag auch der arme Pierre vertrocknet und kreidebleich auf dem erdigen Boden.

Cody kniete nieder und drehte das Haupt des Toten behutsam zur Seite.

Nackenbiss. Wie meistens. Manchmal nahm sie das Handgelenk, aber sie bevorzugte eindeutig den Nacken.

Cody seufzte und wandte den Blick zurück zum Haus. Mairi stand im ersten Stock am Fenster und starrte mit betrübter Miene auf den Garten herunter.

Er winkte ihr beruhigend zu. Das war nicht das erste, bestimmt auch nicht das letzte Mal. Cody hatte irgendwann aufgehört, zu zählen. Schade um den guten Pierre. Er war attraktiv, fleißig und freundlich gewesen. Irgendwie hatten sie beide, er und Mairi, gehofft, sie würde es schaffen, den Franzosen in Ruhe zu lassen. Immerhin war sie nun erwachsen, wie sie selbst sagte. Vermutlich hatte das Alter eines Menschen jedoch wenig mit seinen Instinkten zu tun. Manche Dinge waren einfach programmiert, in den Genen verankert. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass Cody seine Tochter bedingungslos liebte – und zwar jeden einzelnen Tag. Sie war wunderschön mit ihren rot schimmernden Haaren. Wenn sie lachte, bekam sie diese liebenswerten Grübchen und ihr Gekicher war Musik in seinen Ohren. Mairi war intelligent und hatte ein großes Herz. Sie war wie eine sensible Pflanze. Seine Mairi. Sie trug so viel Mitgefühl für andere Menschen in sich und liebte die Natur und die Tiere.

Es gab nur eine Erklärung für all das Paradoxe hier.

Sie war so geboren worden.

Es war nicht ihre Schuld.

Es war das Bluterbe, das sie zeitlebens in sich tragen würde, egal wie viel Leprechaun sonst noch in ihr vorherrschte. Ein Stück von ihr würde immer ein unberechenbares Tier bleiben; der Schatten eines Schreckens, den nur Cody je in vollem Umfang gesehen hatte.

Er wollte jetzt aber nicht weiter darüber nachdenken. Er beeilte sich, im Schuppen eine Schaufel zu holen und hob bei der stattlichen Eiche im westlichen Teil des Anwesens eine Grube aus, die groß genug war, den zierlichen Pierre in sich aufzunehmen.

Cody war froh, dass Namara Castle eine Autostunde vom nächsten Ort entfernt war. Das machte den wöchentlichen Einkauf und den Marktbesuch zwar wesentlich umständlicher, aber dafür ließ ihm die Einsamkeit hier genug Zeit und Raum, die Spuren dieses Verbrechens rechtzeitig zu beseitigen. Niemand würde nach Pierre fragen. Er war ein Fremder gewesen, der kaum jemanden hier gekannt hatte. Um genau zu sein, war er einfach nicht lange genug hier gewesen, um mit den Menschen in der Stadt Bekanntschaft zu machen.

Nachdem Cody Pierres Leiche unter der Eiche begraben hatte, sammelte er einige Tulpen und legte sie auf den frischen Erdhügel – für die schottischen Primeln war es Mitte Mai noch zu früh. Das machte er immer so. Aus Respekt gegenüber dem geopferten Leben.

Viele hatte er hier schon begraben, viele Male Blumen gesammelt. Zu oft hatte Mairi deshalb geweint. Er wünschte sich, ihr helfen zu können, doch er wusste nicht, wie.

Es wurde außerdem nicht einfacher.

So oft war sie schon von Amors Pfeil getroffen worden, nur um dann wieder enttäuscht zu werden. Cody war sicher, dass sie sich auch in Pierre verliebt hatte. Sie war seit zehn Jahren in diesem Alter, in dem Mädchen und junge Frauen gerne in Leidenschaft entflammten – mit all den romantischen Vorstellungen von Hochzeit und einer Schar Kinder. Die meisten jungen Frauen drüben im Städtchen waren bereits verheiratet oder in einer langjährigen Beziehung und sie alle waren nicht halb so schön wie seine Tochter. Doch Mairi wagte es nicht, sich in einen Jungen aus der Stadt zu verlieben. Sie wusste wohl, dass bis jetzt jeder Mensch, den sie wirklich geliebt hatte, gestorben war. Es hatte mit Aleen, ihrer ersten Amme, angefangen, war mit ihrem Privatlehrer weitergegangen und gipfelte nun schon beim dritten Gärtner in Folge.

Einzig Cody blieb von ihrem unkontrollierten Vampirbiss verschont. Das mochte vor allem daran liegen, dass Leprechauns gar kein Blut in den Adern hatten, sondern so etwas wie flüssiges Gold. Der herb-bittere Geschmack von Gold war für die blutverwöhnte Nase nicht köstlich genug. Außerdem war Mairi zur Hälfte Leprechaun.

Cody schlenderte zurück zum Haus. Er würde auch noch frühstücken, denn ihm stand ein harter Tag mit viel Arbeit bevor. Arbeit, die sonst sein Gehilfe und Gärtner für ihn erledigt hätte. Ein kurzer Blick in den klaren, blauen Himmel verriet dem Kobold, dass heute mit gutem Wetter – Gartenwetter – zu rechnen war. Die Narzissen sollten abgeschnitten werden, ebenso einige der Tulpen. Die Beete mussten umgegraben und für die Saat der Bohnen vorbereitet werden.

Mairi saß zusammengesunken und mit hängenden Schultern am Tisch. Sie knabberte an einem Stück Brot. Wenigstens musste sie sich nicht ausschließlich von Blut ernähren. Der Leprechaun-Teil ihrer Gene war weit ausgeprägter als der … andere. Der ihrer grauenhaften, Kinder mordenden Dämonen-Mutter.

»Ich werde nachher in die Stadt gehen, um einige Besorgungen zu erledigen. Ich nehme an, du möchtest mich lieber nicht begleiten? Wärest du dann so lieb und würdest Pierres Arbeit im Garten beenden? Mein Rücken und meine Gelenke schmerzen so sehr, dass ich das nicht selbst machen kann«, erklärte Cody und blickte Mairi fragend an.

Sie nickte eifrig und ein feines Lächeln erhellte ihre Züge. Sie war immer sehr hilfsbereit. Cody hoffte, dass das Verrichten der Gartenarbeit bei ihr eine kathartische Wirkung haben und sie dadurch wieder ein wenig zu sich selbst finden würde. Vielleicht würde der lodernde Selbsthass, den sie zu empfinden schien, bis zum Abend auf ein erträgliches Maß herabgesunken sein.

»Ich weiß, das Thema ist dir unangenehm, aber … wenn ich schon in der Stadt bin, werde ich auch eine Annonce aufgeben müssen. Wir brauchen dringend einen neuen Gehilfen. Du weißt, dass ich die gesamte Arbeit im und um das Anwesen herum nicht mehr selbst verrichten kann und für eine Frau allein ist es auch zu viel. Wir benötigen einen Mann im Haus, der uns hilft.«

Mairi nickte nur und schluckte betreten.

»Ich habe Angst, Dad!«, flüsterte sie und in ihren Augen flackerte es wild. Cody erkannte in ihrem Blick Hilflosigkeit und Schmerz, gemischt mit einer ungesunden Portion Selbstverachtung. Sie fürchtete sich vor dem unkontrollierbaren Biest in ihrem Inneren.

»Ich weiß«, sagte er nur, »ich weiß. Ich werde dir mehr Tierblut besorgen. Das kannst du sofort trinken, wenn du wieder einen Anfall bekommst. Dummerweise ging das Ziegenblut aus, bevor Pierre Nachschub besorgen konnte. Wir müssen diese Sache ernster nehmen, gewissenhafter sein, Mairi. Es geht nicht anders.« Cody sah seine Tochter eindringlich an.

Mairi nickte und wischte sich eine einzelne Träne aus den Augen. »Weißt du, Dad, ich habe Pierre gemocht. Er … hatte Humor.« Ihre Stimme brach erneut. Plötzlich stand sie ruckartig vom Tisch auf, stieß dabei beinahe den Stuhl um und stürmte aus dem Raum. »Mich wird nie jemand lieben können. Ich werde bis in alle Ewigkeit eine einsame, alte Jungfrau bleiben!«, schrie sie verzweifelt und polterte nach oben in ihr Turmzimmer.

Cody seufzte betrübt.

Sie hatte Recht. Er befürchtete dasselbe. Eine Frau, so ansehnlich wie sie, mit einem sensiblen Herz. Sie war in der Lage, eine wirklich tiefe, alles verändernde Liebe und Leidenschaft zu empfinden. Wäre sie kaltherzig und grausam wie ihre Mutter, wäre das alles nicht so problematisch.

Aber so?

Ihre innersten Empfindungen, ihre Sehnsüchte, würden wohl für immer unerfüllt bleiben. Cody befürchtete, dass ihre Seele daran zerbrechen könnte.

Sollte dies geschehen, würde er das nicht verkraften.

Cody machte sich mit einem unguten Gefühl in der Magengegend auf den Weg ins Städtchen. Er würde den ganzen Vormittag wegbleiben und erst am frühen Nachmittag wieder zurück sein. Er hoffte, dass Mairi in dieser Zeit nichts Unüberlegtes tat. Besser war es, sich zu beeilen. Er drückte das Gaspedal seines alten Wagens, eines hellblauen Ford Taunus, Jahrgang 1978, noch weiter hinunter. Als er das in den nördlichsten Ausläufern Schottlands gelegene Städtchen Thurso erreichte, machte er sich umgehend daran, seine Besorgungen zu erledigen.

Thurso war ein Ort mit besonderem Liebreiz, der normalerweise zum Verweilen einlud. Hätte Cody mehr Zeit gehabt, hätte er sich bestimmt für einen kurzen Augenblick in die Bibliothek gesetzt, eines der Pubs oder Cafés besucht oder wäre die Strandpromenade entlanggelaufen. Selbstverständlich hätte es auch den einen oder andern Freund gegeben, dem der Kobold gerne einen Besuch abgestattet hätte. Es war ja nicht so, dass er weit und breit der Einzige seiner Art war. Leprechauns waren oft sehr wohlhabend und so kam es nicht von ungefähr, dass der Juwelier von Thurso eher kleinwüchsig war …

Cody suchte als Erstes den lokalen Metzger auf und bestellte ein Fass Ziegenblut. Er war einer der wenigen Kunden, die das Blut in solchen Mengen benötigte. Gab es kein Ziegenblut, nahm er auch ein Fass der hiesigen Highland Cattle. Anscheinend war Ziegenblut jedoch zarter im Geschmack als Rinderblut. Das jedenfalls hatte Mairi behauptet.

»Machst du wieder Würste?«, fragte der Metzger, als Cody seine Bestellung aufgab.

»Oh ja, sie sind fabelhaft, meine Tochter und ich lieben sie!«, antwortete Cody in gespielter Begeisterung. Um den Schein zu wahren, stellte er jedes Mal ein Dutzend Blutwürste her, doch selbst Mairi schmeckten sie nicht. Er als Leprechaun bevorzugte ohnehin eine naturbelassene und eher vegetarische Küche mit ab und an einem Stück luftgetrocknetem Rindfleisch. Er hatte dem Metzger einmal eine seiner Würste zum Kosten mitgebracht, doch da nie eine Nachfrage kam, ging Cody davon aus, dass Barry sie ebenso widerwärtig fand wie er selbst und seine Tochter.

Während er sich mit Barry, dem Metzger, über den neusten Klatsch und Tratsch in Thurso austauschte und wartete, bis dessen Gehilfe das Blut abgefüllt hatte, betrat unauffällig ein Fremder den Laden.

»Und wie geht es deinem Garten?«, wollte Barry zuletzt wissen, denn er bestellte aus Codys Anpflanzung für seine Frau ab und zu einige Spezialitäten wie Pfefferminzblätter oder Beeren.

»Na ja«, begann Cody achselzuckend, »der neue Gehilfe ist wieder davongelaufen. Wir haben auch wirklich ein Pech mit diesen Ausländern. Anscheinend bekommt ihnen das Klima hier im Norden nicht. Ich weiß ja, dass die Stadt ein verschlafenes Nest ist, das den jungen Leuten nicht außerordentlich viel bietet. Dennoch … wenn man die Natur liebt, hat man hier wunderbare Möglichkeiten, um zu verweilen. Wie dem auch immer sei, ich werde heute wohl wieder eine Annonce aufgeben müssen.«

Barry schüttelte den Kopf. »Die jungen Menschen heutzutage sind einfach nicht mehr bereit, sesshaft zu werden oder einmal eine Herausforderung anzunehmen. Es fehlt ihnen an Dankbarkeit gegenüber der Stille und der Natur – sie wissen diese Vorteile, die wir hier haben, nicht zu schätzen. Sie suchen heutzutage alle den Lärm, schade eigentlich.« Er zuckte die Schultern und ging nach hinten, um nachzusehen, ob sein Gehilfe mit dem Abfüllen des Blutes bald fertig war.

Der Fremde, den Cody bereits wieder vergessen hatte, räusperte sich hörbar.

Cody drehte sich erstaunt um und erblickte einen hochgewachsenen, muskulösen Mann, den er auf Mitte zwanzig schätzte. Er hatte dunkle Haare und ebenso schwarze, buschige Augenbrauen. Der Fremde lächelte. Er hatte ein sympathisches und warmes Lächeln, fand Cody; fast wie ein Leprechaun – nur war dieser Junge hier bestimmt zweimal so groß wie er und trug keinen Bart.

»Ich habe Sie hier noch nie gesehen?«, meinte Cody in der typisch neugierigen Art der Bewohner des Nordens.

Der junge Mann schmunzelte, hielt dem Leprechaun seine Hand hin und sagte: »Mein Name ist Toma, oder ›Tom‹, wie ihr mich nennen würdet. Ich bin seit zwei Wochen in Schottland unterwegs und heute Morgen hier im Norden der Insel angekommen. Ich suche Arbeit. Wie ich hörte, suchen Sie einen Gehilfen?« Seine Stimme hatte einen warmen Ton, und er sprach gut englisch, mit exotisch anmutendem Akzent.

Cody stemmte die Hände in die Hüften und musterte den Burschen. Schließlich meinte er: »Nun, ich bin nicht mehr der Jüngste, aber ich habe ein großes Anwesen, das Haus verteilt auf drei Etagen, fünfzig Hektar Land und einen stattlichen Gemüse- und Blumengarten, der bewirtschaftet sein will. Zurzeit habe ich vier Pferde, die inklusive der Stallungen versorgt sein müssen. Also, wenn du einschlägst, bekommst du einen anständigen Lohn und kannst kostenlos bei uns wohnen und essen – ich bin der Koch«, erklärte Cody nicht ohne Stolz. »Samstag und Sonntag hast du frei; wir sind hier ja nicht mehr im Mittelalter! Wenn du ausgehen möchtest, darfst du mein Auto nehmen, denn wir leben etwa eine Stunde von hier entfernt«, fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu.

Tom hatte ihm aufmerksam zugehört und bis jetzt geschwiegen. Das Einzige, was er fragte, war: »Wir? Wer wohnt denn noch auf dem Anwesen?«

»Meine Tochter Mairi«, antwortete Cody und er wusste, ein Schatten zeigte sich dabei in seinem Blick, den er rasch zu verbergen suchte, indem er ihn senkte.

Der Fremde stellte ihm gottlob keine weiteren Fragen zu Mairi und meinte stattdessen nur lachend: »Gut, für mich klingt das recht nett! Ich war noch nie in einem Schloss in den Highlands und ich liebe die Natur. Ich bin kräftig und arbeitsam … also. Wenn ich mich hier offiziell für die Stelle bewerbe, habe ich dann eine Chance, wieder von Ihnen zu hören?«

»Willst du gleich mitkommen, Tom? Oder hast du bereits andere Pläne? Ich bin übrigens Cody, und du kannst du zu mir sagen, wie jeder hier.« Der Kobold reichte Tom seine furchige Hand.

Tom lachte und seine Augen leuchteten. »In diesem Fall komme ich gerne mit, der Rucksack hier ist alles, was ich habe, und ich hätte mich sowieso um eine Bleibe kümmern müssen. Eine Burg ist mehr, als ich mir erträumt hatte!«, gestand er und wirkte aufgeregt.

Cody mochte den jungen Mann, weshalb er es auch schon wieder bereute, ihm den Job als Gehilfen überhaupt angeboten zu haben. Was, wenn er in einigen Wochen wie eine wächserne Ausgabe seiner selbst zwischen den Karotten und dem Salat lag und Cody wieder den Spaten aus dem Schuppen holen musste?

Solche Gedanken durfte er sich schlichtweg nicht leisten. Ein Minimum an Optimismus brauchte ein Kobold, wenn er weiterleben wollte.

Er hoffte, dass es Mairi bis heute Abend besserging. Er würde ihr fürs Erste vorschlagen, sich mit ein wenig Ziegenblut in ihr Zimmer zurückzuziehen. Wenn sie sich dann in ein oder zwei Tagen wieder beruhigt hatte und sich die Wogen in ihrer zerbrechlichen Seele geglättet hatten, konnte sie den Neuen beim gemeinsamen Abendessen kennenlernen.

Endlich kam Barry mit dem Ziegenblut. Cody bezahlte und wollte das Fass gerade mühsam nach draußen in sein Auto schleppen, als ihm Tom zu Hilfe kam. »Lass das, Cody, solche Sachen erledige ab jetzt ich!«, sagte er grinsend und hob das Fass hoch, als wäre es nicht schwerer als ein Blatt Papier. Als der Geruch von Blut das Innere des Autos erfüllte, meinte er mit vor Ekel verzogenem Mund: »Das riecht ja übel. Würde es dir was ausmachen, das Fenster während der Fahrt offenzulassen? Ich kann nicht gut mit Blut, da wird mir immer speiübel!«

Cody nickte und beeilte sich, das Fenster herunterzukurbeln. Er hatte sich an die Gegenwart und den Gestank von Blut in seinem Leben schon dermaßen gewöhnt, dass er manchmal vergaß, dass unbedarfte Menschen damit nicht so gut umgehen konnten.

Cody lenkte den Wagen in den Verkehr, der in der Zwischenzeit zugenommen hatte. Die Bewohner von Thurso waren offensichtlich aufgewacht. Cody machte noch bei seinem Freund, dem Whisky-Brenner, Halt und kaufte einige Flaschen des edlen Tropfens für seine Hausbar. Dann ging es weiter auf den Wochenmarkt. Cody bevorzugte es, dort seine Nahrungsmittel frisch zu kaufen. Vieles kultivierte er in seinem Garten selbst. Ab und zu gelang es ihm sogar, ein Stück Ziegen- oder Kuhmilchkäse herzustellen – vorausgesetzt, er hatte zuvor eine Ziege oder Kuh gekauft, was im Moment nicht der Fall war. Dennoch fehlten ihm einige Dinge, die der moderne Mensch für sich beanspruchte. Brot kaufte Cody gerne auf dem lokalen Markt, ebenso das wenige Frischfleisch, das er und Mairi sich gönnten. Mairi liebte außerdem das selbstgemachte Kräutershampoo der alten Brianna.

Als er mit seinen Einkäufen fertig war und Tom auch nichts mehr benötigte, nahmen sie den Heimweg nach Namara Castle in Angriff.

Tom

Die Landschaft lud zum Träumen ein, die sich rechts und links des Weges in scheinbar endlosen Bahnen zu entfalten schien.

Die Highlands waren von wilder, sinnlicher Schönheit und faszinierten durch ihre Weite. Sie trugen den unverwechselbaren Duft nach Freiheit, Leidenschaft und Geborgenheit. Tom, der zum ersten Mal hier war, hatte den Eindruck, als käme er von einer mühsamen, lärmgepeitschten Reise nach Hause.

In den Schoß der Stille.

Als er Namara Castle vor seinen Augen auftauchen sah, wusste er sofort, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, sein Heimatland zu verlassen und die Reise nach Schottland zu wagen.

Tom half Cody, die Besorgungen aus dem Wagen zu laden und ins Schloss zu tragen. Das meiste kam in die Küche.

Tom war fasziniert. Alle Räume in diesem Herrschaftsgebäude glichen Hallen mit riesigen, steinernen Gewölben. Wandteppiche versuchten, das übermächtige Echo, das bei Kammern dieser Größe wohl einfach dazugehörte, zu dämpfen. Er liebte den leicht modrigen Geruch von alten Gemäuern. Sie erinnerten ihn daran, wie vergänglich die Zeiten waren und wie allgegenwärtig die Geschichte eines Landes blieb. Schottland war eines jener Gebiete, das immer mit großem Stolz auf seine Ahnen blickte – das jedenfalls hatten die zahlreichen Reiseführer behauptet, die er sich als Vorbereitung auf seine Reise zu Gemüte geführt hatte.

Welcher Held mochte hier wohl einst gewohnt, ein Feuer im Kamin entfacht und sich nach einer Schlacht ausgeruht haben?

In Toms Heimat gab es auch viele Burgen und Schlösser, doch auf seine Ahnen war er nicht besonders stolz, weshalb er froh war, weit weg von ihnen zu sein.

»Komm, Tom, ich zeige dir den Garten! Du wirst ihn mögen, alle lieben ihn!«, rief Cody und winkte hektisch, während er sich schon in Richtung Treppe entfernte.

Tom beeilte sich, dem zwergenwüchsigen Mann zu folgen. Cody hatte nicht übertrieben. Der Garten war atemberaubend. Voller berauschend schöner Farben und Düfte, liebevoll gepflegt.

Während sie die einzelnen Beete und ihren Inhalt genauer betrachteten, spürte Tom plötzlich ein Kribbeln in seinem Nacken. Er hatte einen ausgesprochen scharfen Instinkt und sein Spürsinn nahm manchmal fast seismografische Ausmaße an. Tom täuschte sich selten.

Auch dieses Mal nicht.

Während Cody weiter wie ein Wasserfall auf ihn einredete, drehte er sich unauffällig ein wenig zur Seite, um in die Richtung hinter seinem Rücken blicken zu können.

Und dann sah er sie.

Das musste Codys Tochter sein!

Tom konnte am Fenster des Turmzimmers nur einen Schatten ausmachen. Einen Augenblick war ihm, als würden sie sich beide anstarren, dann verschwand die Silhouette hastig hinter den Vorhängen.

»Wie alt ist deine Tochter, Cody?«, erkundigte sich Tom neugierig und unterbrach den Schlossherrn mitten in seinem Vortrag über die richtige Auswahl von qualitativ hochstehendem Saatgut.

»Mairi?«, fragte Cody daher verwirrt und schien völlig aus dem Konzept gebracht.

Tom nickte stumm.

»Sie ist fünfundzwanzig, eine erwachsene Frau«, sagte er schließlich und betonte das letzte Wort mit Nachdruck.

»Wie ich«, kommentierte Tom möglichst sachlich und unterstrich seine Aussage mit einem Lächeln. Der Kleinwüchsige erwiderte seinen freundlichen Gesichtsausdruck nicht. Tom konnte sich des Eindruckes nicht erwehren, dass der Schlossherr gewisse Geheimnisse hatte, über die er nicht sprechen wollte. Codys in Falten gelegte Stirn und der stumme Schmerz in seinen Augen ließen Tom vermuten, dass er gerade irgendwelchen unguten Erinnerungen nachhing. Er beschloss, seinen neuen Arbeitgeber nicht zu bedrängen. Er fing schließlich gerade erst an. Außerdem hatte er genug eigene Probleme, die seiner Aufmerksamkeit bedurften.

Mairi erschien an diesem Abend nicht zum Essen.

»Sie fühlt sich nicht besonders«, erklärte Cody und spielte verlegen mit einem pfeilförmigen Kunststoffamulett an seinem Hals. Tom nickte nur. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass das nicht die volle Wahrheit war, aber es stand ihm nicht zu, in das Privatleben dieser Leute vorzudringen.

Er verbrachte einen geselligen Abend mit Cody. Nach dem Essen setzten sie sich in zwei wuchtige, samtene Ohrensessel und entfachten ein Feuer im Steinkamin. Der flackernde Schein der Flammen tanzte die Wände entlang und verlieh dem steinernen Gewölbe etwas Geheimnisvolles. Als Kind hatte Tom geglaubt, die Mauern in den Schlössern würden nach Einbruch der Dunkelheit flüstern. Kam dann noch das ungeduldige Zucken und Züngeln von Flammen dazu, hatte er stets angenommen, dass die Langfingerelfen ihr Unwesen trieben. Seine Mutter hatte ihn dann umarmt und ihm versichert, dass sein Schutzengel ihn jederzeit beschützen würde.

Seine Mutter. Sie war die einzige, liebgewonnene Erinnerung, die Tom an seine Kindheit hatte. Den Rest hatte er aus gutem Grund verdrängt.

Er nahm einen Schluck von dem Single Malt, den Cody ihm eingeschenkt hatte.

»Und? Wie findest du meinen Highland Park 12?«, fragte der Kleinwüchsige, der etwas Koboldhaftes an sich hatte, ungeduldig.

»Schmeckt köstlich!«, sagte Tom und leckte sich die Lippen.

Cody beugte sich in seinem Sessel ein wenig vor und flüsterte vertraulich: »In Irland, woher ich stamme, sagen wir, dass der Whiskey die Seele eines Landes einzufangen vermag. Ebenso seine Träume. Im schottischen Lebenswasser spürt man den Torfboden, aber auch das Lied der Freiheitskämpfer. Ich schmecke den kalten Wind, der von den Orkneys herüberweht und den Duft der Wälder. Wenn man genau hinhört, erzählt der Whisky noch unendlich viel mehr. Versuch du es mal!« Cody blinzelte Tom aufmunternd zu.

Tom konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Er mochte Codys gesellige Art und seine Verschrobenheit. Hatte er sich also doch nicht getäuscht, schon beim Betreten des Ladens hatte er es vermutet. Vor ihm saß ein waschechter Leprechaun, wie ihn die Bücher beschrieben. In Toms Heimat gab es auch Kobolde, doch waren diese eher duckmäuserisch und gemein.

»Was hat dich eingefleischten Iren nach Schottland verschlagen?« Tom konnte seine Neugierde nicht länger zurückhalten.

Ein Schatten legte sich über Codys Blick und eine Furche bildete sich zwischen seinen Augen. Tom hatte offenbar eine unliebsame Erinnerung wachgerufen.

»Es war eineinhalb Jahre vor Mairis Geburt … Ich habe mich damals in eine schottische Kaufmannstochter verliebt. Sie war reicher Herkunft und befand sich mit ihren Eltern auf einer Irlandreise, um mehr über unsere einheimischen Produkte zu erfahren. Sie wollten damit Handel betreiben. Sie versicherte mir ihre ewige Liebe und nahm meinen Heiratsantrag an. Ich liebestrunkener Naivling reiste ihr wie vereinbart einen Monat nach ihrer Abreise hinterher nach Schottland. Das führte zum Bruch mit meiner Familie, die mich eindringlich vor der Verbindung und der sehr wahrscheinlichen Enttäuschung warnte. Ich wollte nicht hören und trat die Reise dennoch an. Ich erwarb sogar ein Schloss, dieses hier, um ihr etwas bieten und sie beeindrucken zu können. Als ich vor ihrer Tür stand, lachte sie mich aus, als wäre ich ein absurder Sonderling mit Wahnvorstellungen. Sie verschmähte mich. Ich schämte mich, nach Hause zurückzukehren und meine Niederlange vor meinen Eltern und den anderen Leuten in meinem Dorf einzugestehen. Außerdem war ich nun Herr eines leeren Schlosses. Also quälte ich mich monatelang durch die schottischen Kneipen, wo ich eines Abends, sturzbetrunken und von seelischen Schmerzen gepeinigt … auf Mairis Mutter traf. Tja, auch dies sollte keine glückliche Verbindung werden, aber immerhin entstand daraus das größte Geschenk, das mir das Leben je gemacht hat. Meine Mairi. Danach gab es ohnehin kein Zurück mehr in meine Heimat. Man hätte mich und das Kind wie Aussätzige behandelt. Außerdem … nun, die Sache mit Mairis Mutter war … etwas kompliziert. Was denkst du nun über den Whisky?«, würgte Cody das Thema ab und wich Toms Blick plötzlich aus.

Dieser beschloss, den Kobold nicht mit weiteren Fragen zu bedrängen, und tat, als habe er den seltsamen Stimmungsumschwung nicht bemerkt.

Er nahm einen kräftigen Schluck Whisky und schnupperte dann an dem goldenen Getränk. »Nicht lachen …«, warnte Tom, »ich bin vielleicht ein hoffnungsloser Fall.«

Er konzentrierte sich und versuchte es schließlich: »Ja, da ist noch mehr in diesem Whisky. Leidenschaft, eine Umarmung von Freunden, der Geruch nach wilden Pferden, das Lächeln einer schönen Frau …«

»Hm«, brummelte Cody nachdenklich. »Romantiker?« Er warf ihm einen scheelen Blick zu.

»Ich würde mich eher als Philosophen bezeichnen. Ich denke gerne nach. Über das Leben, über die Menschen, einfach über alles.«

»Das ist schön«, meinte Cody und leerte den letzten Schluck in seinem Glas. »Du entschuldigst mich, aber ich bin keine fünfundzwanzig mehr und meine Knochen tun mir weh. Ich würde mich gerne schlafen legen. Dein Zimmer ist gleich die Treppe hoch, am Fuße des Turms. Der Turm ist vergeben, er gehört Mairi, meinem Mädchen«, sagte Cody und bei der Erwähnung des Namens seiner Tochter nahm seine Stimme einen von Zärtlichkeit durchdrungenen Klang an.

Tom nickte und blieb noch eine Weile vor dem Feuer sitzen. Nachdem er seinen Whisky getrunken hatte, waren seine Gedanken von leichtem Nebel und wohliger Wärme erfüllt, weshalb er beschloss, sich ebenfalls schlafen zu legen. Morgen wartete auf ihn schließlich ein beträchtlicher Berg Arbeit.

Er schlurfte die Treppe nach oben und erkannte sofort, welche Tür zu seinem Zimmer führen musste.

Es gab neben der Turmtür nur eine einzige.

Er wollte gerade die Klinke nach unten drücken, als ihn ein leises Rascheln aufhorchen ließ.

Langsam drehte er sich um.

Da stand sie. Völlig unerwartet. In der Tür, die zum Turm führte. Sie musste wohl angenommen haben, dass er sich bereits schlafen gelegt hatte, denn ihr Gesicht zeigte dieselbe Überraschung wie seines.

»Du musst Mairi sein«, sagte Tom leise, als würde jedes zu laut ausgesprochene Wort die Heiligkeit dieses Moments ruinieren.

Sie nickte langsam und schwieg. Ihr Blick wirkte ängstlich, ihre Augen waren verquollen und ihre Wangen gerötet.

Sie hatte geweint.

Sie musterten sich gegenseitig stumm.

Neugierig, erstaunt.

Schließlich senkte Mairi den Blick. »Ich konnte nicht schlafen, also … gehe ich jetzt in die Küche«, erklärte sie und knetete verlegen ihre Hände.

Aus irgendeinem Grund hatte Tom den Eindruck, dass sie beide sich auch ohne Worte verstanden. Sie fragte jedenfalls nicht nach seinem Namen und er hatte auch keine Fragen an sie. Sie huschte mit gesenktem Blick an ihm vorbei. Ihre roten Haare bauschten sich auf und ihre Bewegung löste einen leichten Luftzug aus.

Tom schnupperte.

Er mochte ihren Geruch.

Fremd, aber irgendwie spannend. Erinnerte ihn an Codys Whisky. Er erkannte das Kobold-Blut in ihren Adern … und noch etwas, das er nicht zuzuordnen vermochte.

Mairi

Eilig drückte sie sich an dem Fremden vorbei Richtung Küche. Tom sollte er heißen, hatte ihr Vater gesagt. Der Vorfall mit Pierre war viel zu frisch, als dass sie sich über den schnell gefundenen Nachfolger gefreut hätte. Ihr Herz war eine klaffende Wunde und ihr Selbsthass das Salz, das sie sich hineinstreute.

Er hatte einen intensiven und inquisitiven Blick, dieser Neue. Mairi fühlte sich auf eine schwer zu beschreibende Art nackt vor ihm. Es war, als könne er mehr sehen oder spüren, als man bereit war, ihm zu zeigen. In seinen Augen zeigte sich diese seltene Form von Reife, die nur durch schmerzhafte Erfahrungen entstehen konnte. Das würde auch erklären, warum Mairi nicht in der Lage war, ihr eigenes, inneres Leid vor ihm zu verbergen.

Sie war verwirrt und aufgewühlt. Sie nahm sich ein Glas Ziegenblut und trank in kleinen Schlucken davon.

Erst dann fiel ihr das Offensichtliche auf.

Sein Blut hatte einen außerordentlich fremdartigen Duft! So etwas hatte Mairi noch nie wahrgenommen. Bei keinem Menschen. Die schwere, verlockende Süße fehlte …

Oder war sie einfach nur müde und so von ihrer Trauer eingenommen, dass die körperlichen Sehnsüchte im Augenblick nicht die wichtigsten waren?

Sie beschloss, der Sache morgen unauffällig nachzugehen.

Tom

Erneut derselbe Traum. Er war fünf Jahre alt. Zu groß, um den Schmerz nicht zuzuordnen, zu klein, um ihn vollends verstehen zu können.

»Steh auf und konzentriere dich, Toma Dumitrescu!« Die Peitschenhiebe brannten wie Feuerschlangen auf seinem Rücken.