Blutige Fesseln - Karin Slaughter - E-Book
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Blutige Fesseln E-Book

Karin Slaughter

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Beschreibung

»Mit ‚Blutige Fesseln‘ zeigt sich wieder einmal, dass die Thriller von Karin Slaughter Garanten für fesselnde Lesestunden sind« Gudrun Loher Es ist der persönlichste Fall in Will Trents Laufbahn. Das spürt der Ermittler schon in dem Moment, als er das leer stehende Lagerhaus betritt und die Leiche entdeckt – die Leiche eines Ex-Cops. Blutige Fußabdrücke weisen auf ein zweites Opfer hin. Eine Frau. Von ihr fehlt jede Spur. Das Brisante: Gegen den prominenten Eigentümer des Lagerhauses ermittelt Will bereits seit einem halben Jahr wegen Vergewaltigung. Erfolglos! Als am Tatort zudem ein Revolver gefunden wird, der auf Wills Noch-Ehefrau Angie zugelassen ist, ahnt er, dass dies ein Spiel auf Leben und Tod wird. »Stoff für schlaflose Nächte!" buchjournal »Karin Slaughter gebührt ein Ehrenplatz auf der großen Thriller-Bühne! Und nach drei Jahren Pause auch endlich wieder ein neuer Will-Trent-Roman. Ihre Fans werden es ihr danken.« Michele Leber, Booklist »Ein typischer Karin Slaughter-Thriller: Toll ausgestaltete Figuren und ein spannender Fall, der bis zum überraschenden Ende für den Leser undurchsichtig bleibt.« Caroline Sielfang, Wochenpost »Garantiert die absolut richtige Literatur um dunkle kalte Winterabende perfekt zu überbrücken. In einer kuscheligen und gemütlichen Umgebung kann man sich das spannende Buch in aller Ruhe vornehmen. Ein toller Krimi.« Magazin Köllefornia »Mit ‚Blutige Fesseln‘ zeigt sich wieder einmal, dass die Thriller von Karin Slaughter Garanten für fesselnde Lesestunden sind, aus denen man gar nicht mehr auftauchen möchte. Eine ideale Lektüre für kalte und schmuddelige Herbst- und Winterabende.« Gudrun Loher, Artikeldienst Online »Definitiv eine der besten Thriller-Autorinnen unserer Zeit.« Gillian Flynn »Karin Slaughters Helden sind weder strahlend noch fehlerfrei, und deswegen überzeugend.« Frauke Kaberka, dpa Inklusive einer exklusiven Amazon-Leseprobe zum neuen Thriller »Die letzte Witwe«, dem 7. Band der erfolgreichen Georgia-Serie um Will Trent und Sarah Linton von Karin Slaughter.

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Seitenzahl: 772

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Blutige Fesseln

HarperCollins®

Copyright © 2016 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: The Kept Woman Copyright © 2016 by Karin Slaughter erschienen bei HarperCollins Publishers, New York

Covergestaltung von Hafen Werbeagentur, Hamburg Coverabbildung von plainpicture / C&P, Groundback Atelier / Shutterstock Lektorat: Silvia Kuttny-Walser, Claudia Wuttke E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959676076

www.harpercollins.de

WIDMUNG

FÜR MEINE LESER

PROLOG

Zum ersten Mal im Leben hielt sie ihre Tochter in den Armen.

Vor vielen Jahren hatte die Schwester im Krankenhaus sie gefragt, ob sie ihr Baby halten wolle, aber sie hatte es abgelehnt. So wie sie es auch abgelehnt hatte, dem kleinen Mädchen einen Namen zu geben. Oder die Papiere zu unterschreiben, um es freizugeben. Sie hatte sich nach allen Seiten abgesichert, wie sie es immer tat. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Jeans hochgezerrt hatte, ehe sie das Krankenhaus verließ. Die Hose war noch feucht von der geplatzten Fruchtblase gewesen, und um die Mitte war sie weit wie ein Sack, wo sie zuvor stramm gesessen hatte. Sie hatte den überschüssigen Stoff mit der Hand zusammengerafft und festgehalten, als sie die Treppe zum Hinterausgang hinuntergegangen und dann ins Freie gerannt war, zu dem Jungen, der um die Ecke im Wagen wartete.

Es gab immer einen Jungen, der auf sie wartete, etwas von ihr erwartete, sich nach ihr verzehrte, sie hasste. Solange sie zurückdenken konnte, war es so gewesen. Als sie zehn war, hatte der Zuhälter ihrer Mutter ihr eine Mahlzeit als Gegenleistung für ihren Mund angeboten. Mit fünfzehn gab es einen Pflegevater, der gern Verletzungen zufügte. Mit dreiundzwanzig einen Soldaten, der Krieg gegen ihren Körper führte. Mit vierunddreißig einen Polizisten, der sie davon überzeugte, dass es keine Vergewaltigung war. Mit siebenunddreißig einen Polizisten, der ihr weismachte, er würde sie für immer lieben.

Für immer dauerte nie so lange, wie man dachte.

Sie berührte das Gesicht ihrer Tochter. Sanft diesmal, nicht wie zuvor.

So schön.

Die Haut war weich und faltenlos. Die Augen waren geschlossen, aber die Lider bebten leicht. Der Atem ging pfeifend.

Vorsichtig strich sie dem Mädchen das Haar hinters Ohr. Sie hätte das im Krankenhaus tun können, damals, vor vielen Jahren. Eine gerunzelte Stirn glatt streichen. Zehn winzige Finger küssen, zehn winzige Zehen liebkosen.

Manikürte Fingernägel jetzt. Lange Zehen, strapaziert von Ballettstunden, durchtanzten Nächten und zahllosen anderen Ereignissen, die ihr aufregendes, mutterloses Leben ausgefüllt hatten.

Sie berührte die Lippen ihrer Tochter. Kalt. Das Mädchen verlor zu viel Blut. Der Messergriff, der aus ihrer Brust ragte, pulsierte im Takt des Herzschlags, manchmal wie ein Metronom, dann wieder stolpernd wie der große Zeiger einer Uhr, die bald stehen bleiben würde.

All die verlorenen Jahre.

Sie hätte ihre Tochter damals in der Klinik im Arm halten sollen. Nur dieses eine Mal. Sie hätte eine Erinnerung an ihre Berührung in dem Mädchen verankern müssen, damit es nicht zusammenzuckte und vor ihrer Hand zurückwich wie vor der Hand einer Fremden.

Sie waren Fremde.

Sie schüttelte den Kopf. Was sie alles verloren hatte und warum – das war ein Kaninchenbau, in den sie nicht steigen durfte. Sie musste daran denken, wie stark sie war, dass sie ein Mensch war, der sich nicht unterkriegen ließ. Sie war ihr Leben lang auf der Schneide einer Rasierklinge vor all dem fortgerannt, zu dem es die meisten Leute hinzog: ein Kind, ein Mann, ein Zuhause, eine Existenz.

Glück. Zufriedenheit. Liebe.

Jetzt begriff sie, dass ihr Fortrennen sie geradewegs an diesen dunklen Ort geführt hatte, wo sie ihre Tochter zum ersten Mal hielt – und zum letzten Mal, da das Mädchen in ihren Armen verblutete.

Vor der geschlossenen Tür war ein Scharren zu hören. In dem schmalen Streifen Licht am Boden sah sie den Schatten zweier Füße, die sich über den Boden schoben.

Der zukünftige Mörder ihrer Tochter?

Ihr eigener Mörder?

Die hölzerne Tür ratterte in dem Metallrahmen. Nur ein erleuchtetes Quadrat zeigte an, wo der Türgriff gewesen war.

Sie überlegte, was sie als Waffe benutzen konnte: die Stahlstifte in ihren High Heels, die sie ausgezogen hatte, als sie über die Straße gelaufen war. Das Messer, das in der Brust ihrer Tochter steckte.

Das Mädchen atmete noch. Die Messerklinge drückte gegen etwas Lebenswichtiges in ihrem Körperinnern und verhinderte, dass das Blut wie ein Sturzbach herausschoss. Deshalb war ihr Sterben eine so langsame und mühselige Angelegenheit.

Sie berührte das Messer für eine Sekunde, ehe sie die Hand behutsam wieder zurückzog.

Die Tür ratterte wieder. Ein Kratzen war zu hören, Metall auf Metall. Das Lichtquadrat wurde schmaler und verschwand, als ein Schraubenzieher in die Öffnung gerammt wurde.

Klick-klick-klick, wie das trockene Feuer einer ungeladenen Waffe.

Langsam ließ sie den Kopf ihrer Tochter zu Boden sinken. Sie drehte sich auf die Knie und biss sich auf die Unterlippe, als ihr ein heftiger Schmerz in die Rippen fuhr. Die Wunde an ihrer Seite brach auf, Blut lief an ihren Beinen hinab. Muskelkrämpfe setzten ein.

Sie kroch in dem dunklen Raum umher und achtete nicht auf den grobkörnigen Belag aus Holz- und Metallspänen, der sich in ihre Knie bohrte, nicht auf den stechenden Schmerz unterhalb der Rippen, den stetigen Blutfluss, der eine Spur hinter ihr bildete. Sie fand Schrauben und Nägel, und dann strich ihre Hand über etwas, das kalt, rund und aus Metall war. Sie hob den Gegenstand auf. Ihre Finger verrieten ihr in der Dunkelheit, was sie in der Hand hielt: den herausgebrochenen Türgriff. Massiv. Schwer. Der zehn Zentimeter lange Dorn ragte wie ein Eispickel heraus.

Das Türschloss klickte ein letztes Mal. Der Schraubenzieher fiel klappernd auf den Betonboden. Die Tür ging einen Spalt weit auf.

Sie kniff die Augen zum Schutz vor dem Licht zusammen und dachte daran, auf welche Arten sie Männer schon verletzt hatte. Einmal mit einer Schusswaffe. Einmal mit einer Nadel. Unzählige Male mit ihren Fäusten. Mit ihrem Mund. Mit ihren Zähnen. Mit ihrem Herzen.

Die Tür wurde vorsichtig noch einige Zentimeter weiter geöffnet. Die Mündung einer Waffe tauchte auf.

Sie hielt den Türgriff so, dass der Dorn zwischen ihren Fingern herausragte, und wartete darauf, dass der Mann hereinkam.

KAPITEL 1

Will Trent machte sich Sorgen um seinen Hund. Betty bekam eine Zahnreinigung, was sich nach einer irrsinnigen Geldverschwendung bei einem Haustier anhörte, aber nachdem der Tierarzt ihn über all die schrecklichen Auswirkungen mangelhafter Zahnhygiene bei Hunden aufgeklärt hatte, wäre Will bereit gewesen, sein Haus zu verkaufen, um dem armen Ding ein paar weitere kostbare Jahre zu ermöglichen.

Offenkundig war er nicht der einzige Idiot in Atlanta, der seinem Haustier eine bessere medizinische Versorgung ermöglichte, als viele Amerikaner sie bekamen. Er betrachtete die Warteschlange vor der Tür der Dutch Valley Animal Clinic. Eine störrische Dänische Dogge versperrte den Eingang, und einige Katzenbesitzer warfen einander wissende Blicke zu. Will wandte seinen Blick wieder zur Straße. Er wischte sich den Schweiß aus dem Nacken und wusste nicht, ob er wegen der großen Hitze schwitzte, die jetzt, Ende August, herrschte, oder wegen der schieren Panik, womöglich die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Er hatte nie zuvor einen Hund besessen. Er war nie ganz allein für das Wohlergehen eines Tiers verantwortlich gewesen. Er legte die Hand auf die Brust. Noch immer meinte er dort Bettys Herzschlag zu spüren, schnell wie ein Tamburin, als er sie der Tierarzthelferin übergab.

Sollte er wieder hineingehen und sie retten?

Der schrille Ton einer Autohupe riss ihn aus seinen Überlegungen. Er sah es rot aufblitzen, als Faith Mitchell in ihrem Mini vorbeifuhr. Sie wendete in einem weiten Bogen und hielt dann neben Will. Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, aber sie kam ihm zuvor und stieß die Tür von innen auf.

»Beeilen Sie sich«, sagte sie, und ihre Stimme erhob sich über das Tosen der Klimaanlage, die auf eine arktische Temperatur eingestellt war. »Amanda hat bereits zwei SMS geschickt, wo zum Teufel wir bleiben.«

Will zögerte, ehe er in den winzigen Wagen stieg. Faith’ Dienstwagen, ein Chevrolet Suburban, war in der Werkstatt. Auf der Rückbank des Mini war ein Babysitz festgeschnallt, womit Will auf dem Beifahrersitz rund achtzig Zentimeter blieben, auf denen er seine eins dreiundneunzig verstauen konnte.

Faith’ Handy zirpte, als eine neue SMS eintraf. »Amanda.« Sie sprach den Namen wie einen Fluch aus, so wie es die meisten Leute taten. Deputy Director Amanda Wagner war die Vorgesetzte der beiden im Georgia Bureau of Investigation. Und sie war nicht für ihre Geduld bekannt.

Will warf sein Sakko auf die Rückbank, dann faltete er sich wie ein Burrito in den Wagen. Den Kopf hielt er schräg in die Aussparung für das geschlossene Sonnendach, was ihm ein paar zusätzliche Zentimeter einbrachte. Das Handschuhfach drückte gegen seine Schienbeine. Seine Knie berührten fast das Gesicht. Falls sie in einen Unfall gerieten, würde der Coroner Wills Nase von der Innenseite des Schädels kratzen müssen.

»Mord«, sagte Faith und löste die Bremse, bevor Will auch nur die Tür geschlossen hatte. »Männlich. Achtundfünfzig Jahre alt.«

»Nett«, sagte Will. Nur ein Polizeibeamter konnte am Tod eines Mitmenschen derart Gefallen finden. Zu seiner Verteidigung musste man sagen, dass er und Faith die letzten sieben Monate damit verbracht hatten, Felsblöcke sehr steile Hänge hinaufzurollen. Sie waren an eine Task Force ausgeliehen gewesen, die den Betrugsskandal an Atlantas öffentlichen Schulen untersuchte, und er hatte in der speziellen Hölle eines aufsehenerregenden Vergewaltigungsfalls festgesteckt.

»Der Anruf ging heute Morgen gegen fünf bei der Notrufzentrale ein«, sagte Faith. Sie strahlte geradezu freudige Erregung aus, als sie die Einzelheiten berichtete. »Ein nicht identifizierter männlicher Anrufer sagte, es gebe eine Leiche bei diesen aufgelassenen Lagerhäusern an der Chattahoochee. Viel Blut. Keine Mordwaffe.« Sie bremste vor einer roten Ampel ab. »Sie teilen die Todesursache nicht über Funk mit, es muss also ziemlich übel sein.«

Im Wagen begann etwas zu piepen. Will tastete blind nach seinem Sicherheitsgurt. »Warum bearbeiten wir die Sache?« Das GBI konnte sich einen Fall nicht einfach unter den Nagel reißen. Sie mussten einen Befehl des Gouverneurs erhalten oder von der örtlichen Polizei um Hilfe gebeten werden. Die Polizei von Atlanta hatte jede Woche mit Mord zu tun. Im Allgemeinen baten sie nicht um Hilfe. Schon gar nicht die Polizei des Bundesstaats.

»Das Opfer ist ein Polizist aus Atlanta.« Faith griff nach seinem Gurt und schnallte ihn an, als wäre er eins ihrer Kinder. »Detective Dale Harding, im Ruhestand. Mal von ihm gehört?«

Will schüttelte den Kopf. »Und Sie?«

»Meine Mom kannte ihn. Hat aber nie mit ihm gearbeitet. Er machte Wirtschaftskriminalität. Nahm früh aus gesundheitlichen Gründen seinen Abschied, dann tauchte er in der privaten Sicherheitsbranche wieder auf. Hauptsächlich für Zuhälter und Geldeintreiber.« Faith war fünfzehn Jahre lang bei der Polizei von Atlanta gewesen, bevor sie Wills Partnerin geworden war. Ihre Mutter war als Captain in Ruhestand gegangen. Gemeinsam kannten die beiden praktisch jeden bei der Truppe. »Mom sagt, angesichts von Hardings Ruf ist er wahrscheinlich dem falschen Zuhälter auf die Zehen getreten oder hat seinen Buchmacher um seinen Anteil geprellt und eine mit den Baseballschläger übergebraten bekommen.«

Der Wagen fuhr mit einem Ruck an, als die Ampel umschaltete. Will spürte einen heftigen Stich in den Rippen, der von seiner Glock herrührte. Er versuchte, sein Gewicht zu verlagern. Trotz der eiskalten Klimaanlage klebte sein Hemd vor Schweiß bereits am Sitz, der Stoff löste sich zäh wie ein Pflaster von der Haut. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 7:38 Uhr. Er durfte nicht daran denken, wie drückend heiß es mittags sein würde.

Faith’ Handy zirpte wieder, weil eine SMS kam. Und zirpte noch einmal. Und noch einmal. »Amanda«, stöhnte sie. »Warum trennt sie die Zeilen? Sie schickt drei einzelne Sätze in drei einzelnen Nachrichten. Komplett in Großbuchstaben. Alles, was recht ist.« Faith steuerte mit einer Hand und tippte mit der anderen eine SMS, was gefährlich und verboten war, aber Faith gehörte zu den Polizisten, die Übertretungen nur bei anderen Menschen wahrnahmen. »Wir brauchen noch etwa fünf Minuten, oder?«

»Wahrscheinlich eher zehn bei dem Verkehr.« Will streckte die Hand aus und griff ins Lenkrad, damit sie nicht auf dem Gehsteig landeten. »Wie ist die Adresse von dem Lagerhaus?«

Faith scrollte durch ihre Nachrichten. »Es ist eine Baustelle in der Nähe der Lagerhäuser. Beacon 380.«

Will biss die Zähne so fest zusammen, dass ihm ein Schmerz vom Kiefer in den Nacken schoss. »Das ist Marcus Rippys Nachtclub.«

Faith sah ihn überrascht an. »Machen Sie Witze?«

Will schüttelte den Kopf. Was Marcus Rippy betraf, war ihm nicht nach Witzen zumute. Der Mann war ein Basketballprofi, dem man vorwarf, eine Studentin unter Drogen gesetzt und vergewaltigt zu haben. Will hatte die letzten sieben Monate damit verbracht, eine ziemlich solide Anklage gegen das verlogene Arschloch zusammenzuzimmern, aber Rippy konnte zig Millionen Dollar für Anwälte, Experten und Medienspezialisten ausgeben, die alle dafür gesorgt hatten, dass der Fall nie vor Gericht ging.

»Wie kommt ein toter Expolizist in Marcus Rippys Nachtclub, keine zwei Wochen nachdem eine Vergewaltigungsanklage gegen Rippy fallen gelassen wurde?«, fragte Faith.

»Ich bin sicher, bis wir dort sind, werden Rippys Anwälte eine plausible Erklärung dafür parat haben.«

»Himmel!« Faith ließ ihr Handy in die Becherhalterung gleiten und legte beide Hände wieder aufs Lenkrad. Sie schwieg einen Moment, wahrscheinlich dachte sie über die in vielerlei Hinsicht üble Wendung nach, die diese Geschichte soeben genommen hatte. Dale Harding war ein Cop, aber er war ein mieser Cop gewesen. Die bittere Wahrheit über Mord in der großen Stadt war, dass sich die Verstorbenen selten als vorbildliche, aufrechte Bürger herausstellten. Nicht, dass irgendwer den Opfern die Schuld zuschieben wollte, aber häufig waren sie eben in Aktivitäten verwickelt – wie Zuhälter verärgern oder Buchmacher nicht bezahlen –, wo es nur folgerichtig war, dass sie früher oder später ermordet wurden.

Marcus Rippys Beteiligung änderte alles.

Faith verlangsamte das Tempo, da der morgendliche Verkehr immer zähflüssiger wurde. »Ich weiß, Sie haben gesagt, dass Sie nicht darüber reden wollen, wie und warum Ihr Fall in die Hosen ging, aber jetzt muss ich etwas darüber wissen.«

Will wollte immer noch nicht darüber reden. Rippy hatte sein Opfer über einen Zeitraum von fünf Stunden immer wieder angegriffen, mal geschlagen, mal bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Als Will drei Tage später am Krankenbett der jungen Frau stand, konnte er die Male erkennen, wo Rippys Finger sich in ihren Hals gekrallt hatten, als würden sie einen Basketball halten. Im medizinischen Bericht waren weitere Verletzungen vermerkt, Schnitte, Risse, Einwirkung stumpfer Gewalt, Blutungen. Die Frau konnte kaum mehr als flüstern, aber sie hatte ihre Geschichte dennoch erzählt, und sie erzählte sie jedem, der ihr zuhörte, bis Rippys Anwälte sie zum Schweigen brachten.

»Will?«, fragte Faith.

»Er hat eine Frau vergewaltigt, und er hat sich dann freigekauft.

Er wird es wieder tun. Wahrscheinlich ist es auch früher schon passiert. Aber all das spielt keine Rolle, weil er gut mit einem Basketball umgehen kann.«

»Wow, das ist ja eine Fülle an Informationen. Vielen Dank.«

Der Schmerz in Wills Kiefer wurde stärker. »Am Neujahrstag um zehn Uhr morgens wurde das Opfer von einem Dienstmädchen bewusstlos in Rippys Haus gefunden. Das Mädchen rief den Leiter von Rippys Sicherheitsdienst an, der wiederum Rippys Manager anrief, und der Manager rief dann Rippys Anwälte an, die das Opfer schließlich von einem privaten Rettungsdienst ins Piedmont Hospital bringen ließen. Zwei Stunden bevor das Opfer angeblich gefunden wurde, gegen acht Uhr morgens, hob Rippys Privatjet mit ihm und seiner gesamten Familie an Bord nach Miami ab. Er behauptet, der Urlaub sei schon lange geplant gewesen, aber der Flugplan wurde erst eine halbe Stunde vor dem Start eingereicht. Rippy sagte, er hätte keine Ahnung gehabt, dass sich das Opfer im Haus aufhielt. Er habe die Frau nie gesehen, nie mit ihr gesprochen, kenne ihren Namen gar nicht. Sie hätten eine große Silvesterparty gefeiert, mit ein paar Hundert Leuten, es sei ein ständiges Kommen und Gehen gewesen.«

»Es gab einen Facebook-Post von …«, begann Faith.

»Instagram«, fiel ihr Will ins Wort, denn er hatte das Vergnügen gehabt, stundenlang das Internet nach Handyvideos von der Party durchzukämmen. »Ein Partyteilnehmer hatte ein GIF gepostet, auf dem das Opfer etwas lallt, bevor es sich in einen Eiskübel übergibt. Rippys Leute haben im Krankenhaus ein Drogenscreening machen lassen. Sie hatte Haschisch, Amphetamine und Alkohol im Blut.«

»Sie sagten, sie sei bewusstlos gewesen, als man sie ins Krankenhaus brachte. Hat sie denn eingewilligt, dass man Rippys Leuten ihren Drogentest zeigte?«

Will schüttelte den Kopf, denn es spielte keine Rolle. Rippys Team hatte jemanden im Krankenhauslabor bestochen und die Ergebnisse an die Presse durchsickern lassen.

»Sie müssen zugeben, dass er einen tollen Namen für einen Vergewaltiger hat. Rippy.« Faith verzog den Mund bei dem Gedanken. »Das Haus ist riesig, oder?«

»Siebzehnhundert Quadratmeter.« Will hatte den Grundriss des Hauses so oft studiert, dass er sich ihm eingeprägt hatte. »Es ist wie ein Hufeisen geformt, mit einem Swimmingpool in der Mitte. Die Familie wohnt im Haupttrakt, dem oberen Teil des Hufeisens. Die beiden Flügel beherbergen eine Reihe von Gästesuiten, es gibt ein Nagelstudio, ein Indoor-Basketballfeld, Massageraum, Fitnesszentrum, Privatkino, Spielzimmer für die beiden Kinder, einfach alles.«

»Also könnte logischerweise etwas Schlimmes in einem Teil des Hauses passieren, ohne dass es jemand im anderen Teil mitbekommt.«

»Ohne dass es zweihundert Leute mitbekommen? Ohne dass es die Dienstmädchen und Butler, die Jungs, die die Autos einparken, die Caterer und Köche und Barkeeper und was weiß ich wer mitbekommen?« Will hatte eine zweistündige Führung durch das Anwesen der Rippys vom Sicherheitschef der Familie erhalten. Auf der Außenseite des Hauses deckten Kameras jeden Quadratmeter ab. Es gab keine toten Winkel. Bewegungsmelder reagierten auf alles, was schwerer war als ein Blatt, das im Garten landete. Niemand konnte das Grundstück betreten oder verlassen, ohne dass es jemand erfuhr.

Außer in der Nacht des Überfalls. Es hatte ein schweres Unwetter gegeben. Der Strom fiel ständig aus. Die Generatoren waren auf dem neuesten Stand der Technik, aber aus irgendeinem Grund war die Aufzeichnungsanlage für die Überwachungskameras nicht mit dem Notstromaggregat verbunden.

»Okay, ich habe die Nachrichten gesehen«, sagte Faith. »Rippys Leute behaupteten, das Mädchen sei eine Verrückte, die nur abkassieren wollte.«

»Sie haben ihr Geld geboten. Sie hat abgelehnt.«

»Sie könnte natürlich auf ein höheres Angebot gehofft haben.« Faith trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. »Ist es denkbar, dass sie sich die Wunden selbst zugefügt hat?«

Das hatten Rippys Anwälte behauptet. Sie hatten sogar einen Experten gefunden, der bereit war zu bezeugen, dass die riesigen Fingerspuren an ihrem Hals, Rücken und Oberschenkeln von ihrer eigenen Hand stammten.

»Sie hatte diese Prellung hier …« Will deutete auf seinen eigenen Rücken. »Wie ein Faustabdruck zwischen ihren Schulterblättern. Von einer großen Faust. Sie hatte eine massive Leberprellung. Die Ärzte verordneten ihr zwei Wochen Bettruhe.«

»Es gab ein Kondom mit Rippys Sperma …«

»Das in einer Toilette im Flur gefunden wurde. Seine Frau sagte, sie hätten in dieser Nacht miteinander geschlafen.«

»Und er hinterlässt das benutzte Kondom in einer Toilette im Flur statt im Bad des Elternschlafzimmers?« Faith runzelte die Stirn. »War die DNA der Frau auf der Außenseite des Kondoms?«

»Das Kondom lag auf einem Fliesenboden, der kurz zuvor mit einem bleichehaltigen Reinigungsmittel gewischt worden war. Es gab nichts auf der Außenseite, was wir verwenden konnten.«

»Wurde irgendwelche DNA am Opfer gefunden?«

»Es gab einige nicht identifizierte Stränge, alle weiblich, wahrscheinlich aus ihrem Studentenwohnheim.«

»Hat das Opfer gesagt, von wem es zu der Party eingeladen wurde?«

»Sie kam mit einer Gruppe von Freunden aus dem College. Niemand von ihnen kann sich noch daran erinnern, wer ursprünglich die Einladung erhalten hat. Niemand von ihnen kannte Rippy persönlich. Oder zumindest gab niemand es zu. Und alle vier distanzierten sich umgehend von dem Opfer, als ich anfing, an ihre Türen zu klopfen.«

»Und das Opfer hat Rippy eindeutig identifiziert?«

»Sie stand vor der Toilette an. Das war, nachdem sie in den Eiskübel gekotzt hatte. Sie sagt, sie habe nur einen Drink gehabt, aber von dem sei ihr schlecht geworden, als habe etwas nicht mit ihm gestimmt. Rippy sprach sie an. Sie erkannte ihn sofort. Er war nett, er sagte, es gebe noch eine weitere Toilette im Gästeflügel. Sie folgte ihm. Es war ein langer Weg dorthin, und ihr war ein wenig schwindlig. Also legte er den Arm um sie und stützte sie. Er führte sie in die letzte Gästesuite am Ende des Flurs. Sie ging auf die Toilette. Als sie wieder herauskam, saß er nackt auf dem Bett.«

»Und dann?«

»Und dann wachte sie am nächsten Tag im Krankenhaus auf. Sie hatte eine schwere Gehirnerschütterung von Schlägen auf den Kopf. Sie war offenbar wiederholt gewürgt worden und hatte ein paar Mal das Bewusstsein verloren. Die Ärzte glauben, dass ihre Erinnerung an diese Nacht nie vollständig zurückkehren wird.«

»Hm.«

Will spürte das ganze Gewicht ihrer Skepsis in diesem Laut.

»Die Toilette, in der das Kondom gefunden wurde …?«, sagte Faith.

»Liegt sechs Türen von der Gästesuite entfernt, sie sind also auf dem Weg dorthin daran vorbeigekommen, und er ist auf dem Rückweg zur Party erneut daran vorbeigekommen. Es gibt Handyvideos, die ihn während der ganzen Nacht immer wieder irgendwo auf der Party zeigen, er muss also hin- und hergelaufen sein, um sich ein Alibi zu verschaffen. Außerdem stützt ihn sein halbes Team. Jameel Gordon, Andre Dupree, Reuben Figaroa. Die erschienen am nächsten Tag mit ihren Anwälten bei der Polizei und erzählten alle genau die gleiche Geschichte. Als das GBI schließlich den Fall übernahm, erklärte sich keiner von ihnen mehr zu einer erneuten Vernehmung bereit …«

»Typisch«, bemerkte Faith. »Rippy sagt, er habe das Opfer auf der Party nicht einmal gesehen?«

»Richtig.«

»Seine Frau hat sich ziemlich lautstark geäußert, oder?«

»Sie war das reinste Megafon.« LaDonna Rippy war in jede Talkshow und jede Nachrichtensendung gegangen, in der man sie reden ließ. »Sie hat alles bekräftigt, was ihr Mann sagte, auch dass sie das Opfer nicht auf der Party gesehen hat.«

»Hm.« Faith hörte sich noch skeptischer an.

»Und Leute, denen das Opfer an dem Abend auffiel, sagen, sie sei betrunken gewesen und über jeden Basketballspieler hergefallen, den sie in die Finger bekam«, ergänzte Will. »Was einleuchtend klingt, wenn man sich die Aufnahme anschaut, wie sie kotzt, und das Ergebnis des Drogentests dazunimmt. Aber dann liest man den medizinischen Befund, und man sieht, dass sie brutal vergewaltigt wurde, und sie selbst weiß noch, dass Rippy nackt auf diesem Bett saß, als sie aus dem Bad kam.«

»Soll ich Advocatus Diaboli spielen?«

Will nickte, obwohl er wusste, was kommen würde.

»Ich kann verstehen, woran es gescheitert ist. Aussage steht gegen Aussage, und im Zweifelsfall muss für Rippy entschieden werden, denn so will es die Verfassung. Unschuldsvermutung und so weiter, blabla. Und vergessen wir nicht, dass Rippy stinkreich ist. Würde er in einem Wohnwagen hausen, hätte sein Pflichtverteidiger fünf Jahre wegen Freiheitsberaubung für ihn herausgeholt, um ihn vor der Anklage wegen eines Sexualvergehens zu bewahren, und fertig.«

Will antwortete nicht, denn es gab nichts mehr zu sagen.

Faith umklammerte das Lenkrad. »Ich hasse Vergewaltigungsfälle. Wenn du einer Jury einen Mordfall präsentierst, fragt niemand, ob der Kerl wirklich tot ist oder ob er lügt, weil er Aufmerksamkeit provozieren will. Und was er überhaupt in diesem Teil der Stadt verloren hatte. Warum er getrunken hatte. Und was mit all den anderen Mördern ist, mit denen er sich früher getroffen hat.«

»Sie weckte kein Mitgefühl.« Es widerte Will an, dass das überhaupt eine Rolle spielte. »Chaotische Familienverhältnisse. Alleinerziehende drogensüchtige Mutter. Keine Ahnung, wer ihr Dad ist. Sie selbst hatte Drogenprobleme in der Highschool und fügte sich Schnittverletzungen zu. Sie war wegen schlechter Noten vom Rauswurf aus dem College bedroht. Sie traf sich ständig mit Männern und verbrachte viel Zeit auf Tinder und OkCupid, wie alle Leute in ihrem Alter. Rippys Anwälte fanden heraus, dass sie vor einigen Jahren eine Abtreibung gehabt hatte. Im Wesentlichen hat sie ihnen die Prozessstrategie geschrieben.«

»Es macht nicht viel Unterschied, ob man ein braves Mädchen ist oder ein böses, aber wenn man die Grenze einmal überschritten hat …« Faith blies Luft aus den Backen. »Sie können sich nicht vorstellen, welchen Scheiß die Leute über mich erzählt haben, als ich mit Jeremy schwanger wurde. An dem einen Tag war ich noch ein hoffnungsvolles Highschool-Mädchen mit Bestnoten und am nächsten eine Teenagerversion von Mata Hari.«

»Sie wurden als Spionin erschossen?«

»Sie wissen, was ich meine. Ich war ein Paria. Jeremys Dad wurde zu Verwandten in den Norden geschickt. Mein Bruder hat mir noch immer nicht verziehen. Mein Dad wurde aus seiner Loge gedrängt. Er verlor massenhaft Kunden. Keine meiner Freundinnen redete noch mit mir. Ich musste die Schule verlassen.«

»Zumindest war es anders, als Sie Emma bekamen.«

»O ja, sicher. Als fünfunddreißigjähriger weiblicher Single mit einem zwanzigjährigen Sohn und einer einjährigen Tochter werden Sie pausenlos zu Ihren vorzüglichen Lebensentscheidungen beglückwünscht.« Sie wechselte das Thema. »Sie hatte einen Freund, oder? Das Opfer, meine ich.«

»Er hatte eine Woche vor dem Überfall mit ihr Schluss gemacht.«

»Du lieber Himmel, auch das noch.« Faith hatte genügend Vergewaltigungsfälle bearbeitet, um zu wissen, dass eine Klägerin mit einem Exfreund, den sie eifersüchtig machen wollte, der Traum eines jeden Strafverteidigers war.

»Er hat sich nach dem Überfall gut verhalten«, sagte Will, obwohl er kein Fan des Exfreunds war. »Blieb an ihrer Seite. Gab ihr Sicherheit. Oder hat es zumindest versucht.«

»Dale Hardings Name ist im Zuge der Ermittlungen nie aufgetaucht?«

Will schüttelte den Kopf.

Der Truck eines Nachrichtensenders brauste vorbei und wechselte für zwanzig Meter auf die Gegenfahrbahn, bevor er verbotswidrig abbog.

»Sieht so aus, als hätten die Mittagsnachrichten ihren Aufmacher«, sagte Faith.

»Denen geht es nicht um Nachrichten. Die wollen Klatsch.« Bis Rippys Fall abgelehnt worden war, hatte Will die GBI-Zentrale nicht verlassen können, ohne dass irgendein gut frisierter Reporter ihm eine Äußerung zu entlocken versuchte, die seine Karriere beendet hätte. Verglichen mit den Todesdrohungen und Hetzbeiträgen im Internet, die Rippys Fans gegen seine Anklägerin losließen, war er jedoch noch gut davongekommen.

»Ich denke, es könnte einfach Zufall sein«, sagte Faith. »Dass Harding tot in Rippys Club gefunden wurde.«

Will warf ihr einen zweifelnden Blick zu. Kein Polizist glaubte an Zufälle, schon gar nicht eine Polizistin wie Faith.

»Okay«, lenkte sie ein und folgte dem Wagen des Nachrichtensenders bei seinem verbotenen Manöver. »Wenigstens wissen wir jetzt, warum Amanda vier SMS geschickt hat.« Ihr Telefon zirpte. »Fünf.« Faith griff nach dem Handy. Ihr Daumen glitt über das Display, während sie scharf abbog. »Jeremy hat endlich ein Update seiner Facebook-Seite gemacht.«

Will griff wieder ins Lenkrad, während sie eine Nachricht an ihren Sohn tippte, der die Sommermonate ohne College dazu nutzte, mit drei Freunden quer durchs Land zu fahren, anscheinend mit dem einzigen Ziel, seiner Mutter Sorgen zu bereiten.

Unterm Schreiben beklagte Faith murmelnd die Dummheit von Kids im Allgemeinen und ihres Sohnes im Besonderen. »Sieht dieses Mädchen für Sie wie achtzehn aus?«

Will warf einen Blick auf ein Foto von Jeremy, der sehr nah neben einer spärlich bekleideten Blondine stand. Das hoffnungsfrohe Grinsen auf seinem Gesicht zerriss einem das Herz. Jeremy war ein dürrer, nerdiger Junge, der an der Georgia Tech Physik studierte. Die Blondine spielte so eindeutig nicht in seiner Liga, dass er ebenso gut eine Zuckermelone hätte sein können. »Ich wäre eher wegen der Haschpfeife auf dem Boden besorgt.«

»Ach du Scheiße.« Faith sah aus, als würde sie das Handy am liebsten aus dem Fenster werfen. »Der soll mal beten, dass seine Großmutter das nicht sieht.«

Will sah zu, wie Faith das Foto an ihre Mutter weiterleitete, um sicherzustellen, dass genau das geschah.

Er deutete zur nächsten Kreuzung. »Das ist die Chattahoochee.« Faith fluchte immer noch über das Foto, als sie abbog. »Als Mutter eines Sohnes schaue ich auf dieses Bild und denke: ›Schwängere sie bloß nicht.‹ Dann sehe ich es mir als Mutter einer Tochter an und denke: ›Bekiff dich nicht mit einem Typen, den du gerade erst kennengelernt hast, weil seine Freunde dich vergewaltigen und tot in einem Hotelschrank liegen lassen könnten.‹«

Will schüttelte den Kopf. Jeremy war ein anständiger Junge mit anständigen Freunden. »Er ist zwanzig. Sie müssen sich irgendwann dazu durchringen, ihm zu vertrauen.«

»Nein, muss ich nicht.« Sie ließ das Handy wieder in den Becherhalter fallen. »Nicht, solange ich diejenige bin, von der er Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, eine Krankenversicherung, ein iPhone, Videospiele, Taschengeld, Benzingeld …«

Will blendete die Litanei der zahlreichen Dinge aus, die Faith ihrem armen Sohn gegebenenfalls vorenthalten würde. Sofort schwenkten seine Gedanken wieder zu Marcus Rippy. Das blasierte Gesicht des Basketballspielers, als er mit verschränkten Armen schweigend auf seinem Stuhl lümmelte. Die hasserfüllten Blicke seiner Frau bei jeder Frage, die Will stellte. Sein arroganter Manager und seine aalglatten Anwälte, die alle so austauschbar waren wie die Schurken bei James Bond.

Keisha Miscavage, Rippys Anklägerin.

Sie war eine zähe junge Frau, kampflustig, selbst von ihrem Krankenhausbett aus. Ihr heiseres Flüstern war durchsetzt von Flüchen und Schimpfwörtern, und sie hatte permanent die Augen zusammengekniffen, als würde sie Will befragen statt andersherum. »Sie brauchen kein Mitleid mit mir zu haben«, hatte sie gesagt. »Machen Sie einfach Ihren Scheißjob.«

Will musste zugeben, wenn auch nur sich selbst gegenüber, dass er eine Schwäche für feindselige Frauen hatte. Es brachte ihn fast um, dass er Keisha so elend enttäuscht hatte. Er konnte nicht einmal mehr beim Basketball zusehen, geschweige denn es selbst spielen. Jedes Mal, wenn seine Hand einen Ball berührte, hätte er ihn am liebsten Marcus Rippy in den Rachen gestopft.

»Heilige Scheiße.« Faith hielt einige Meter hinter einem Sendewagen. »Die halbe Polizei von Atlanta ist hier.«

Will ließ den Blick über den Parkplatz schweifen. Faith’ Einschätzung schien ziemlich zutreffend: Es wimmelte hier von Menschen. Ein Sattelzug schaffte Beleuchtung heran. Der Bus der Spurensicherung. Das mobile Labor der forensischen Abteilung. Streifenwagen und zivile Polizeifahrzeuge waren wie Mikado-Stäbchen kreuz und quer über den Platz verteilt. Gelbes Absperrband zog sich um ein schwelendes, ausgebranntes Auto mitten in einem Ring aus Wasser, das auf dem sengend heißen Asphalt verdampfte. Techniker wuselten umher und platzierten nummerierte gelbe Markierungen neben allem, was möglicherweise ein Beweisstück war.

»Ich wette, ich weiß, wer den Leichenfund gemeldet hat«, sagte Faith.

Will riet. »Ein Drogensüchtiger. Leute, die hier feiern wollten. Ausreißer.« Er betrachtete das gewölbeartige Gebäude vor ihnen: Marcus Rippys zukünftiger Nachtclub. Die Bauarbeiten waren vor einem halben Jahr ausgesetzt worden, als es so aussah, dass der Vorwurf der Vergewaltigung an ihm hängen bleiben würde. Die Gussbetonwände waren rau und verwittert und im unteren Teil von mehreren Schichten Graffiti verdunkelt. Unkraut hatte sich durch die Risse rund um das Fundament gearbeitet. Es gab zwei riesige Fenster, hoch oben in zwei entgegengesetzten Ecken auf der Straßenseite des Gebäudes. Das Glas war dunkel getönt.

Will beneidete die Spurensicherer nicht um ihren Job, die jedes Kondom, jede Spritze und jede Crackpfeife inventarisieren mussten. Unmöglich zu schätzen, wie viele Fingerabdrücke und Schuhabdrücke es im Gebäude gab. Zerbrochene Leuchthalsbänder und Partyschnuller wiesen darauf hin, dass diverse Raves hier getobt hatten.

»Was ist mit dem Club passiert?«, fragte Faith.

»Die Investoren haben den Bau gestoppt, bis Rippys Probleme gelöst sind.«

»Wissen Sie, ob sie jetzt schon wieder grünes Licht gegeben haben?«

Will murmelte eine Verwünschung, nicht wegen der Frage, sondern weil seine Chefin, die Hände in die Hüften gestemmt, vor dem Gebäude stand. Amanda sah auf ihre Uhr, dann starrte sie die beiden an, dann sah sie wieder auf ihre Uhr.

Faith fügte noch einen Fluch zu Wills hinzu und stieg aus, während Will noch blind nach dem runden Türgriff tastete, der etwa den Umfang eines M&M hatte. Endlich sprang die Tür auf, und sofort strömte heiße Luft in den Wagen. Atlanta erlebte das Ende des heißesten und feuchtesten Sommers seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Ins Freie zu gehen war ungefähr so, als würde man ins Maul eines gähnenden Hundes spazieren.

Will schälte sich aus dem Auto und versuchte, die Polizisten zu ignorieren, die ein paar Meter entfernt standen und ihm zusahen. Er konnte nicht hören, was sie sagten, aber bestimmt schlossen sie Wetten darüber ab, wie viele Clowns noch aus dem winzigen Gefährt klettern würden.

Glücklicherweise wurde Amandas Aufmerksamkeit inzwischen von einem der CSI-Leute in Anspruch genommen. Charlie Reed war leicht an seinem gezwirbelten Schnauzbart und einem Körperbau wie Popeye erkennbar. Will hielt nach weiteren bekannten Gesichtern Ausschau.

»Mitchell, stimmt’s?«

Will drehte sich um und sah sich einem bemerkenswert gut aussehenden Mann gegenüber. Der Typ hatte dunkles gewelltes Haar und ein Grübchen im Kinn, und er musterte Faith mit dem Blick eines Aufreißerkönigs im Studentenwohnheim.

»Hallo.« Faith’ Stimme klang seltsam hoch. »Kennen wir uns?«

»Bisher hatte ich nicht das Vergnügen.« Der Mann fuhr sich mit den Fingern durch das jungenhafte, lockere Haar. »Sie sehen wie Ihre Mom aus. Ich habe mit ihr gearbeitet, als ich noch eine Uniform trug. Ich bin Collier. Das ist mein Partner Ng.«

Ng nickte kaum merklich, um zum Ausdruck zu bringen, wie cool er war. Er trug das Haar militärisch kurz geschoren und hatte eine dunkle Pilotenbrille auf. Wie sein Partner trug er Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck APDPOLICE – ganz im Kontrast zu Will, der wie der Oberkellner in einem alten italienischen Steakrestaurant aussah.

»Trent«, sagte Will und straffte die Schultern, denn zumindest hatte er den Größenvorteil auf seiner Seite. »Was liegt vor?«

»Ein Haufen Scheiße.« Ng starrte aus dem Fenster, statt Will anzusehen. »Wie ich höre, ist Rippy bereits auf dem Weg nach Miami.«

»Waren Sie schon drin?«, fragte Faith.

»Nicht oben.«

Faith wartete auf mehr, dann versuchte sie es noch einmal. »Können wir mit den Beamten reden, die die Leiche gefunden haben?«

Ng tat so, als hätte er Schwierigkeiten, sich zu erinnern. »Weißt du ihre Namen noch, Bro?«

Collier schüttelte den Kopf. »Sind mir total entfallen.«

Faith war nicht mehr so hingerissen. »He, 21 Jump Street, sollen wir gehen, damit ihr beiden euch gegenseitig einen runterholen könnt?«

Ng lachte, rückte aber nicht mit weiteren Informationen heraus.

»Herrgott noch mal«, sagte Faith. »Sie kennen meine Mom, Collier. Unsere Chefin hier ist ihre frühere Partnerin. Was glauben Sie, wird sie sagen, wenn wir sie bitten müssen, uns auf den aktuellen Stand zu bringen?«

Collier seufzte müde. Er rieb sich den Nacken und blickte ins Leere. Im Sonnenlicht blitzten silberne Strähnen in seinem Haar auf, er hatte tiefe Falten um die Augen. Vermutlich war er Mitte vierzig und damit ein paar Jahre älter als Will, weshalb sich dieser aus irgendeinem Grund besser fühlte.

»Also gut«, gab Collier schließlich nach, aber nicht, ohne sich ein weiteres Mal durchs Haar zu fahren. »Die Zentrale bekommt einen anonymen Tipp, dass es hier eine Leiche gibt. Zwanzig Minuten später trifft ein Streifenwagen mit zwei Mann Besatzung ein. Sie durchkämmen das Gebäude und finden die männliche Leiche in einem der Räume im Obergeschoss. Ein Stich in den Hals. Ein echtes Blutbad. Einer von ihnen erkennt Harding von den Chorproben – Trinker, Spieler, Weiberheld, ein typischer Bulle vom alten Schlag. Ihre Mom kennt bestimmt ein paar Geschichten.«

»Wir haben gerade einen Fall von häuslicher Gewalt bearbeitet, als der Anruf kam«, sagte Ng. »Ziemlich brutale Scheiße. Die Braut wird tagelang operiert werden müssen. Bei Vollmond drehen immer alle durch.«

Faith ging nicht auf seine Kriegsgeschichte ein. »Wie ist Harding oder wer immer in das Gebäude gekommen?«

»Anscheinend mit einem Bolzenschneider.« Collier zuckte die Achseln. »Das Vorhängeschloss war glatt durchgeschnitten, was einige Muskelkraft erfordert, wir haben es also wahrscheinlich mit einem Mann zu tun.«

»Haben Sie den Bolzenschneider gefunden?«

»Nein.«

»Was war mit dem Auto?«

»Als wir hier ankamen, hat es eine Hitze wie Tschernobyl abgestrahlt. Wir haben die Feuerwehr gerufen. Sie sagen, dass ein Brandbeschleuniger benutzt wurde. Der Benzintank ist explodiert.«

»Niemand hat ein brennendes Fahrzeug gemeldet?«

»Ja, es ist schockierend«, sagte Ng. »Man würde nicht meinen, dass die ganzen Junkies und Huren, die in diesen Lagerhäusern herumhängen, einen auf Kitty Genovese* machen.«

»Aha, da kennt sich einer aus mit Großstadtlegenden«, sagte Faith.

Will ließ den Blick über die leer stehenden Lagerhäuser schweifen – je eines links und rechts von Rippys Club. Eine Tafel warb für gemischtfunktionale Gebäude, die hier bald entstehen sollten, aber das ausgeblichene Werbeschild ließ darauf schließen, dass »bald« längst vorüber war. Die Gebäude waren jeweils vier Stockwerke hoch und mindestens einen Block tief. Roter Ziegel von der vorletzten Jahrhundertwende. Gotische Bogenfenster mit Buntglas, das vor langer Zeit herausgebrochen war.

Er drehte sich um. Auf der anderen Straßenseite stand ein ähnliches Backsteingebäude, dieses war jedoch mindestens zehn Stockwerke hoch, vielleicht mehr, wenn es ein Tiefgeschoss gab. Gelbe Schilder auf den mit Ketten versperrten Türen wiesen darauf hin, dass das Gebäude zum Abriss vorgesehen war. Die drei Bauwerke waren mächtige Relikte aus Atlantas industrieller Vergangenheit. Wenn Rippys Investoren jetzt, da der Vergewaltigungsfall vom Tisch war, zugeschlagen hatten, konnte das Projekt ihnen Millionen, wenn nicht Milliarden von Dollar einbringen.

»Konnten Sie das Fahrzeug identifizieren?«

»Weißer Kia Sorento, Baujahr 2016, auf einen gewissen Vernon Dale Harding zugelassen. Die Feuerwehr sagt, der Wagen hat wahrscheinlich seit vier, fünf Stunden gebrannt.«

»Jemand hat also Harding getötet und sein Auto angezündet, und dann hat jemand anderer oder vielleicht auch derselbe Kerl es fünf Stunden später der Notrufzentrale gemeldet.«

Will blickte zum Nachtclub. »Warum hier?«

Faith schüttelte den Kopf. »Warum wir?«

Ng verstand nicht, dass es eine rhetorische Frage war. Er deutete auf das Gebäude. »Das hier sollte eine Art Nachtclub werden. Unten wie ein Atrium in einem Einkaufszentrum die Tanzfläche, oben auf der Galerie VIP-Räume. Ich dachte, dass vielleicht eine Bande im Spiel ist, die hier mitten in dieser Scheißgegend einen Drogentreff aufzieht, deshalb habe ich meine Süße im Revier angerufen, sie hat ein bisschen nachgeforscht und ist auf Rippys Namen gestoßen. Ich denk mir, ach du Scheiße, und reiche die Sache an meinen Boss weiter, der ruft dann höflichkeitshalber bei Ihrer Schreckschraube hier an, und zehn Minuten später ist sie da und schleift uns an den Eiern durch den Ring.«

Alle sahen zu Amanda. Charlie Reed war fort, eine gertenschlanke Rothaarige war an seine Stelle getreten. Sie steckte ihr Haar hoch, während sie mit Amanda sprach.

Ng pfiff leise durch die Zähne. »Himmel noch mal. Schau dir diese kleine Pfadfinderin an. Ob die wohl hält, was sie verspricht?«

Collier grinste. »Ich sag dir morgen früh Bescheid.«

Faith warf einen Blick auf Wills geballte Fäuste. »Das reicht jetzt, Jungs.«

Collier konnte nicht aufhören zu grinsen. »Wir machen doch nur Spaß, Officer.« Er zwinkerte ihr zu. »Aber Sie sollten wissen, dass ich bei den Pfadfindern rausgeflogen bin, weil ich ein paar Brownies vernascht habe.«

Ng lachte schallend, und Faith verdrehte die Augen, als sie sich zum Gehen wandte.

»Red«, sagte Will zu den Detectives. »Alle nennen sie Red. Sie ist von der Spurensicherung, aber sie mischt sich gern ein, also habt ein Auge auf sie.«

»Ist sie mit jemandem zusammen?«, fragte Collier.

Will zuckte die Achseln. »Spielt das eine Rolle?«

»Nicht die geringste.« Collier sprach mit der absoluten Gewissheit eines Mannes, der nie von einer Frau zurückgewiesen wurde. Er salutierte Will großspurig. »Danke für die Info, Kumpel.«

Will zwang sich, die Fäuste zu lockern, als er auf Amanda zuging. Faith war auf dem Weg ins Gebäude, wahrscheinlich um der Hitze zu entkommen. Die rothaarige Frau trug sich am Tor in eine Liste ein. Als sie Will sah, lächelte sie, und er lächelte zurück, denn sie hieß nicht Red, sondern Sara Linton, und sie war keine Kriminaltechnikerin, sondern die Gerichtsmedizinerin, und es ging Collier und Ng einen Scheißdreck an, was sie hielt oder nicht hielt, denn vor drei Stunden hatte sie noch unter Will im Bett gelegen und ihm so viele schmutzige Dinge ins Ohr geflüstert, dass er nicht mal mehr schlucken konnte.

Amanda sah nicht von ihrem BlackBerry auf, als sich Will näherte. Und es kümmerte sie auch nicht, als er wartend vor ihr stand, denn sie ließ ihn meistens warten. Einen Kopf größer als sie, war er bestens vertraut mit dem Wirbel an ihrem Oberkopf, wo sich ihr schwarzgrau meliertes Haar zu einem Helm legte.

»Sie sind spät dran, Agent Trent«, sagte sie schließlich.

»Ja, Ma’am. Wird nicht wieder vorkommen.«

Sie kniff die Augen zusammen, weil sie an seiner Entschuldigung zweifelte. »Dieser Geruch in der Luft kommt von der Kacke, die am Dampfen ist. Ich habe bereits mit dem Bürgermeister, dem Gouverneur und zwei Staatsanwälten telefoniert, die sich weigern, hier herauszukommen, weil sie ihre Gesichter nicht in einem Bericht über einen weiteren Fall sehen wollen, in den Marcus Rippy verstrickt ist.« Sie sah wieder auf ihr Handy. Das BlackBerry war ihre mobile Kommandozentrale, die Verbindung mit ihrem riesigen Netz von Kontakten, von denen nur einige offizieller Natur waren.

»Drei weitere Übertragungswagen sind auf dem Weg hierher, einer von einem landesweiten Sender. Ich habe mehr als dreißig E-Mails von Reportern, die um eine Stellungnahme bitten. Rippys Anwälte haben bereits angerufen und gesagt, sie würden alle Fragen beantworten, und jeder Hinweis darauf, dass wir Rippy zu Unrecht ins Visier nehmen, könnte zu einem Prozess wegen Polizeischikane führen. Sie wollen sich sogar erst morgen mit mir treffen. Zu beschäftigt, sagen sie.«

»Genau wie beim letzten Mal.« Will war genau eine Zusammenkunft mit Marcus Rippy eingeräumt worden, in deren Verlauf der Mann fast nur geschwiegen hatte. Faith hatte recht. Zu den ärgerlichen Dingen bei Menschen mit Geld gehörte, dass sie ihre verfassungsmäßigen Rechte kannten.

»Sind wir offiziell zuständig oder ist es die Polizei von Atlanta?«, fragte er Amanda.

»Glauben Sie, ich würde hier stehen, wenn ich nicht offiziell zuständig wäre?«

Will warf einen Blick zurück zu Collier und Ng. »Weiß Captain Grübchen das?«

»Finden Sie ihn süß?«

»Na ja, ich würde nicht sagen …«

Amanda marschierte bereits auf das Gebäude zu, und Will musste laufen, um sie einzuholen. Sie hatte den flinken Gang eines Shetlandponys.

Die beiden trugen sich bei dem uniformierten Beamten ein, der für den Zugang zum Tatort zuständig war. Doch Amanda ging nicht ins Gebäude, sondern zwang Will, in der prallen Sonne vor dem Bau stehen zu bleiben.

»Ich kannte Hardings Vater, als ich bei der Polizei anfing«, sagte sie. »Der alte Harding war ein Streifenbeamter, der sein Geld für Huren und Hunderennen ausgab. Er starb 1985 an einem Aneurysma. Hat seinem Sohn die Spielsucht vermacht. Dale ist aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in Ruhestand gegangen. Anfang des Jahres ließ er sich seine Pension auszahlen.«

»Was waren das für gesundheitliche Gründe?«

»HIPAA«, sagte sie und bezog sich auf das Gesetz, das die Vertraulichkeit von Patientendaten gewährleistete. »Ich versuche, über inoffizielle Kanäle an die Information zu kommen, aber das ist eine ungute Geschichte, Will. Harding war ein schlechter Cop, aber jetzt ist er ein toter Cop, und seine Leiche liegt in einem Gebäude, das einem Prominenten gehört, den wir nicht wegen Vergewaltigung vor Gericht bringen konnten.«

»Wissen wir, ob es eine Verbindung zwischen Harding und Rippy gibt?«

»Ich wünschte, ich hätte einen Detective, der das herausfindet.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in das Gebäude. Der elektrische Strom war noch abgeschaltet. Im Innern war es klamm und wie in einer Höhle, die getönten Fenster verliehen dem Ort eine gespenstische Atmosphäre. Will und Amanda streiften sich Schuhschützer über. Plötzlich sprangen die Generatoren an. Xenon-Scheinwerfer flammten auf und leuchteten jeden Quadratmeter des Gebäudes aus. Will kniff unwillkürlich die Augen zusammen.

Es gab ein wildes Klicken, als Taschenlampen ausgeschaltet und weggepackt wurden. Als sich Wills Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er genau das vor sich, was er erwartet hatte: Müll, Kondome und Spritzen, einen leeren Einkaufswagen, Gartenstühle, schmutzige Matratzen – aus irgendeinem Grund gab es immer schmutzige Matratzen – und mehr leere Bierdosen und Schnapsflaschen, als man zählen konnte. Die Wände waren mit bunten Graffiti übersät, die mindestens so hoch hinaufreichten, wie man mit einer Sprühdose kam, wenn man den Arm ausstreckte. Will erkannte einige Banden-Tags – die Suernos, Bloods, Crips –, aber hauptsächlich waren es Namen in Blasen mit Herzen, Friedenswimpel und einige riesige, gut ausgestattete Einhörner mit Regenbogenaugen. Typische Raver-Kunst. Das Tolle an Ecstasy war, dass es einen total glücklich machte, bis das Herz stehen blieb.

Ng hatte den Grundriss ziemlich korrekt beschrieben. Das Gebäude hatte eine Galerie, die sich wie in einer Shopping Mall zum Erdgeschoss öffnete. Rund um diese Galerie lief ein provisorisches Geländer aus Holz, doch es gab Lücken, wo ein unvorsichtiger Mensch in Gefahr geraten konnte. Das Hauptgeschoss war riesig, vielfach abgestuft, mit halbhohen Betonwänden, die abgeschirmte Sitzbereiche kennzeichneten, und einer großen, offenen Fläche zum Tanzen. Was vermutlich einmal die Bar werden sollte, zog sich in einem Bogen um die Rückseite des Baus. Zwei prächtige geschwungene Treppen führten ins Obergeschoss in mindestens zwölf Metern Höhe. Die an die Wände geschmiegten Betonstufen wirkten wie die Fangzähne einer Kobra, die im Begriff stand, auf die Tanzfläche hinabzustoßen.

Eine ältere Frau mit gelbem Schutzhelm näherte sich Amanda. Sie hatte einen weiteren Helm in der Hand, den sie Amanda gab; die reichte ihn sofort an Will weiter, der ihn wiederum auf dem Boden deponierte.

Die Frau legte ohne Einleitung los. »Auf dem Parkplatz wurde gefunden: eine leere, durchsichtige Plastiktüte mit einem Etikett aus Papier auf der Innenseite. Besagte Tüte enthielt früher eine braune Leinenplane, die am Tatort nicht aufzufinden war. Die Plane misst einen Meter zehn auf einen Meter achtzig und ist überall erhältlich.« Sie unterbrach ihre Leier, um Luft zu holen. »Außerdem wurde gefunden: eine geringfügig benutzte Rolle schwarzes Klebeband, äußere Plastikhülle fehlt. Der Wetterbericht verzeichnet eine Regenflut vor sechsunddreißig Stunden in dieser Gegend. Das Papieretikett auf der Verpackung der Plane und die Ränder des Klebebands lassen nicht erkennen, dass sie besagtem Wettereignis ausgesetzt waren.«

»Nun, damit hätten wir zumindest ein Zeitfenster«, sagte Amanda. »Irgendwann über das Wochenende.«

»Leinenplane«, wiederholte Will nachdenklich. »So etwas benutzen Maler.«

»Korrekt«, bestätigte die Frau. »Weder im Gebäude noch außerhalb wurden Farbe oder Malerwerkzeuge gefunden. Die Treppen«, fuhr sie fort, »gehören beide zum Tatort und werden noch bearbeitet. Bisher gefunden: Gegenstände aus einer Damenhandtasche, etwas, das nach Papiertüchern aussieht, eher Klopapier, keine Taschentücher.« Sie zeigte zu einer Hebebühne. »Die werden Sie benutzen müssen, um nach oben zu gelangen. Wir haben jemanden angefordert, der sie bedienen kann. Er wird in fünfundzwanzig Minuten hier sein.«

»Wollen Sie mich verscheißern?« Collier hatte sich lautlos der Gruppe genähert. »Wir können nicht die Treppen benutzen?« Er beäugte die Hebebühne misstrauisch, ein hydraulischer Apparat, der eine Plattform senkrecht nach oben fuhr, eine Art wackeliger Freiluftaufzug mit nichts als einem dürftigen Geländer, das einen vor einem Sturz in den sicheren Tod bewahren sollte.

Amanda wandte sich an Will: »Wissen Sie, wie man dieses Ding bedient?«

»Ich kann es herausfinden.« Das Gerät war bereits am Stromnetz. Will fand den Schlüssel im Kasten für die Notbatterie versteckt. Er drückte mit der Spitze des Schlüssels auf den winzigen Reset-Knopf. Die Hebebühne ruckte kurz nach oben und nach unten, und sie waren im Geschäft.

Will hielt sich am Geländer fest und stieg die zwei Stufen neben dem Motor hinauf. Amanda streckte die Hand aus, um sich von ihm hinaufhelfen zu lassen. Ihre Bewegungen wirkten mühelos, was hauptsächlich daran lag, dass Will die ganze Arbeit machte. Sie war leicht, leichter als ein Boxsack.

Beide drehten sich um und warteten auf Collier. Er warf einen Blick zu den fangzahnartigen Treppen.

Amanda klopfte auf ihre Uhr. »Sie haben zwei Sekunden, Detective.«

Collier holte tief Luft. Er hob den gelben Schutzhelm vom Boden auf, schnallte ihn sich auf den Kopf und kletterte wie ein verängstigtes Affenbaby auf die Plattform hinauf.

Will drehte den Schlüssel, um den Motor zu starten. Tatsächlich hatte er während seines Studiums auf dem Bau gejobbt und konnte so ziemlich jede Maschine auf einer Baustelle bedienen. Trotzdem ließ er die Plattform ein wenig ruckeln, weil es ihm Spaß machte zu sehen, wie sich Collier mit weiß hervortretenden Knöcheln am Geländer festkrallte.

Der Motor gab ein Knirschen von sich, als sie Fahrt aufnahmen. Sara war auf der Treppe und half einem der Spurensicherer beim Einsammeln der Beweise. Sie trug Kakihosen und ein eng anliegendes marineblaues GBI-T-Shirt, das ihr in jeder Hinsicht schmeichelte. Das Haar war noch nach hinten gekämmt, aber ein paar Strähnen hatten sich gelöst. Sie trug ihre Brille, und Will gefiel es, wie sie mit Brille aussah.

Will war seit achtzehn Monaten mit Sara Linton zusammen, was ungefähr siebzehn Monate und sechsundzwanzig Tage länger war als jede andere Phase anhaltenden Glücks in seinem Leben. Er wohnte praktisch bei ihr. Ihre Hunde vertrugen sich. Er mochte ihre Schwester. Er verstand ihre Mutter. Er hatte Angst vor ihrem Vater. Sie hatte sich dem GBI offiziell vor zwei Wochen angeschlossen. Dies war ihr erster gemeinsamer Fall, es war ihm peinlich, wie aufgeregt er war, sie zu sehen.

Und deshalb zwang sich Will wegzusehen, denn an einem schauerlichen Tatort seine Freundin anzuschmachten – so fingen wahrscheinlich Serienmörderkarrieren an.

Oder vielleicht würde es auch nur ein einfacher Mord werden, denn Collier hatte beschlossen, sich von seiner Höhenangst abzulenken, indem er auf Saras Hintern starrte, während sie sich bückte, um dem Spurensicherer zu helfen.

Will verlagerte sein Gewicht, und die Plattform schaukelte. Collier gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Röcheln und einem Aufjaulen lag.

Amanda lächelte Will an, was nicht oft vorkam. »Mein erster Einsatz galt einem Kerl, der von einem hohen Gerüst gefallen war. Das war noch bevor es all diese albernen Sicherheitsbestimmungen gab. Für den Coroner blieb nicht viel übrig. Wir spülten sein Hirn mit dem Schlauch vom Gehsteig in den Rinnstein.«

Collier beugte sich vor, sodass er sich den Schweiß auf seinem Gesicht am Ärmel abwischen konnte, ohne das Geländer loszulassen.

Die Hebebühne schaukelte – diesmal ohne Wills Zutun –, als die Plattform einige Zentimeter unterhalb des Rands der Galerie stoppte. Das hölzerne Geländer war zur Seite gezogen worden. Gleich gegenüber waren brusthoch schimmlige Rigipsplatten gestapelt. Die dicke Staubschicht auf den Eimern mit Fugenmasse ließ darauf schließen, dass sie hier lagen, seit die Bautätigkeit vor sechs Monaten eingestellt worden war. Graffiti tropften träge von Wänden und Baumaterial. Zwei weitere der allgegenwärtigen regenbogenäugigen Einhörner standen am Ende jeder Treppe Wache.

Schwere Holztüren säumten die Wände, und Will nahm an, dass dahinter die VIP-Räume lagen. Das maßgeschreinerte Mahagoni war in einem kräftigen Espressoton gefärbt, aber die Graffitikünstler hatten ihr Möglichstes getan, um den ursprünglichen Anstrich zu übermalen. Gelbe, nummerierte Markierungen sprenkelten die gesamte Galerie, von einer Treppe zur anderen. Mehrere Kriminaltechniker in Schutzanzügen fotografierten und sammelten Beweismaterial. Einige der VIP-Räume wurden mit Luminol eingesprüht, einer Chemikalie, die Körperflüssigkeiten unter Schwarzlicht in einem gespenstischen Blau leuchten ließ.

Will wollte lieber gar nicht daran denken, was sie hier an Körperflüssigkeiten finden würden.

Faith stand am anderen Ende der Galerie, sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und trank aus einer Wasserflasche. Sie trug einen weißen Schutzanzug mit offenem Reißverschluss. Offenbar hatte sie sich als Kriminaltechnikerin ausgegeben, um über die Treppe nach oben zum Tatort zu gelangen, ohne auf die Hebebühne warten zu müssen. Vor ihr türmten sich verschlossene Beweismittelbeutel neben ordentlich gestapelten Kartons mit Handschuhen, leeren Beuteln und Schutzkleidung. Das Tatzimmer war ein paar Meter entfernt, die Tür nach außen geöffnet. Licht blinkte wie ein Stroboskop, als die Fotografen Lage und Zustand der Leiche dokumentierten. Amanda, Will und Collier würden erst hineindürfen, wenn jeder Quadratzentimeter erfasst war.

Amanda holte ihr Handy hervor und las ihre neuen Nachrichten, während sie sich dem Tatort näherte. »CNN ist da. Ich werde den Gouverneur und den Bürgermeister auf den neuesten Stand bringen müssen. Will, Sie übernehmen hier, während ich Händchen halte. Collier, Sie müssen für mich herausfinden, ob Harding Angehörige hatte. Meiner Erinnerung nach gab es eine Tante väterlicherseits.«

»Ja, Ma’am.« Collier streifte mit der Schulter an der Wand entlang, als er in einigem Abstand folgte.

»Nehmen Sie endlich diesen Helm ab. Sie sehen aus wie einer von den Village People.« Sie blickte wieder auf ihr Telefon. Offensichtlich war eine neue Information hereingekommen. »Harding hat vier Exfrauen. Zwei von ihnen sind immer noch bei der Polizei, beide im Archiv. Spüren Sie die beiden auf und stellen Sie fest, ob es einen Zuhälter oder Buchmacher gibt, dessen Name wiederholt aufgetaucht ist.«

Collier legte den Helm ab und stolperte ihr rasch hinterher. »Glauben Sie, seine Exfrauen haben noch mit ihm geredet?«

»Diese Frage kommt ausgerechnet von Ihnen?« Ihre Worte trafen offenbar ins Schwarze, denn Collier nickte hastig. Sie ließ das Handy in ihre Tasche gleiten. »Faith, kannst du für mich zusammenfassen?«

»Türgriff in den Hals.« Faith zeigte seitlich auf ihren eigenen Hals. »Es ist dieselbe Art Türgriff wie alle anderen hier oben, wir können also davon ausgehen, dass der Täter ihn nicht als Mordwerkzeug mitgebracht hat. Beim Wagen wurde eine G43 gefunden. Sie funktioniert nicht mehr, aber mindestens eine Kugel wurde abgefeuert. Charlie lässt die Seriennummer gerade durch die Datenbank laufen.«

»Das ist die neue Glock«, sagte Collier. »Wie sieht sie aus?«

»Leicht, schlank. Der Griff ist rau, aber sie lässt sich großartig verdeckt tragen.«

Collier stellte eine weitere Frage nach der Waffe, die speziell für die Polizei hergestellt wurde, doch Will hörte nicht zu. Die Waffe würde diesen Fall nicht lösen.

Er ging um einige markierte blutige Schuhabdrücke herum und bückte sich, um den Verschlussmechanismus der Tür genauer zu studieren. Das Schließblech war rechtwinklig, etwa acht auf fünfzehn Zentimeter groß und an die Tür geschraubt. Es war gegossen, mit poliertem Messing verkleidet und mit einem R in Schreibschrift in der Mitte des aufwendigen reliefartigen Designs verziert. Rippys Logo. Will hatte es überall im Haus des Mannes gesehen. Er spähte mit zusammengekniffenen Augen auf den Riegel, auf den langen Metallzylinder, der die Tür geschlossen hielt oder, wenn er gedreht wurde, sie zu öffnen erlaubte. Er sah Kratzer um das hohle Quadrat, in dem der Dorn des Türgriffs stecken sollte. Und dann blickte er auf den Boden und sah den langen Schraubenzieher mit dem nummerierten gelben Schildchen daneben.

Jemand war in diesem Raum eingeschlossen gewesen, und jemand anderer hatte sich mithilfe des Schraubenziehers Zugang verschafft.

Will trat einen Schritt zurück, um den Mordschauplatz zu überblicken. Der Fotograf stieg über die Leiche, darauf bedacht, nicht in dem Blut auszurutschen.

Und es gab eine Menge Blut.

Es war bis an die Decke gespritzt, verklebte die Wände und glänzte auf dem beinahe schwarzen Durcheinander wettstreitender Graffiti. Es überschwemmte den Boden, als hätte jemand einen Hahn an Hardings Halsschlagader geöffnet und ihn auslaufen lassen. Das Licht spiegelte sich in der dunklen, geronnenen Flüssigkeit. Will schmeckte Metall im Mund, da Sauerstoff auf Eisen traf. Darunter nahm er einen Hauch von Pisse wahr, was aus irgendeinem Grund in ihm mehr Mitleid für den Mann weckte als der Türgriff, der wie bei Frankensteins Monster aus seinem feisten Hals ragte.

Bei der Polizeiarbeit gab es nicht viel Würde im Tod.

Dale Hardings Leiche lag in der Mitte des Raums, der etwa fünf Meter im Quadrat maß und eine gewölbte Decke hatte. Harding lag flach auf dem Rücken, ein dicker, kahler Mann in einem billigen glänzenden Anzug, den er um die stattliche Mitte nicht mehr hatte schließen können, eher wie ein Cop aus der Generation seines Vaters. Das Hemd war auf einer Seite aus der Hose gerutscht, die rot und blau gestreifte Krawatte lag gespreizt auf seinem Bauch wie die Beine eines Hürdenläufers. Der Hosenbund war umgestülpt. Das Armband der TAG-Heuer-Uhr hatte sich am Handgelenk in eine Aderpresse verwandelt, weil der Körper von den diversen Säften des Verfalls anschwoll. Ein goldener Diamantring steckte am kleinen Finger. Schwarze Anzugsocken spannten sich um die wächsernen, gelblichen Knöchel. Hardings Mund stand offen, die Augen waren geschlossen. Er hatte offenbar eine Art Ekzem, denn die trockene Haut um Mund und Nase sah aus, als wäre sie mit Zucker bestreut.

Seltsamerweise war auf der Vorderseite seines Körpers nur ein Spritzer Blut zu sehen, als hätte ein Maler mit einem Pinsel in seine Richtung geschnippt. Es gab ein paar Tropfen auf seinem Gesicht, aber sonst nichts, besonders nicht dort, wo man es erwarten würde, nämlich um seinen zu engen Hemdkragen herum.

»Das hier wurde auf der Treppe gefunden.«

Will drehte sich wieder um.

Faith hielt den Beweismittelbeutel in die Höhe, damit er und Amanda die Beschriftungen auf den Gegenständen darin lesen konnten. »Make-up von Bare Minerals. MAC-Kosmetik. Lidschatten in hellen Brauntönen. Espressobraune Wimperntusche. Schokofarbener Eyeliner. Grundierung und Puder sind mittelhell.«

»Also wahrscheinlich von einer weißhäutigen Frau«, sagte Amanda.

»Es gibt außerdem eine Tube Lippenbalsam. La Mer.«

»Von einer reichen weißhäutigen Frau«, ergänzte Amanda. Will kannte die Marke, aber nur, weil auch Sara sie benutzte. Er hatte zufällig den Kassenzettel gesehen und fast einen Herzanfall bekommen. Der Lippenbalsam kostete mehr als ein Gramm Heroin.

»Wir können also davon ausgehen, dass eine Frau hier bei Harding war«, sagte Amanda.

»Und jetzt ist sie es nicht mehr«, ergänzte Faith. »Türdorn in den Hals rammen, das könnte eine Frau getan haben.«

»Wo ist die Handtasche?«, fragte Amanda.

»Im Zimmer. Sie sieht zerfetzt aus, als wäre sie irgendwo hängen geblieben.«

»Und nur das Make-up ist herausgefallen?«

Faith nahm die anderen Beweismittelbeutel in die Hand und zählte ihren Inhalt auf: »Ein Autoschlüssel, Chevy, Modell unbekannt, kein Schlüsselanhänger. Eine Haarbürste mit langen braunen Haaren in den Borsten – die gehen so schnell wie möglich ins Labor. Eine Dose Pfefferminzbonbons. Verschiedene Münzen mit Fusseln von der Handtasche. Ein Päckchen Taschentücher. Ein Plastiketui für Kontaktlinsen. Ein Lippenpflegestift der Marke Chapstick, das La Mer für Arme.«

»Keine Brieftasche?«

Faith schüttelte den Kopf. »Der Fotograf sagt, er hat auch keine in der Handtasche gesehen, aber wir prüfen das noch einmal nach, wenn er fertig ist.«

»Wir haben es also mit einem toten Polizisten und einer verschwundenen Frau zu tun«, sagte Amanda. Sie las Wills Gesichtsausdruck. »Sie hat das Haus nicht verlassen. Ich habe vor einer Stunde mit ihr gesprochen und bei dem Deputy des Sheriffs nachgefragt, der vor ihrem Haus parkt.«

Keisha Miscavage, die Frau, die Marcus Rippy der Vergewaltigung beschuldigte. Ihr Name war nicht an die Presse gegeben worden, aber niemand blieb in Zeiten des Internets anonym. Keisha war vor drei Monaten gezwungen gewesen, sich zu verstecken, und sie wurde wegen ernst zu nehmender Todesdrohungen von mehreren Rippy-Fans immer noch rund um die Uhr von der Polizei bewacht.

»Was ist mit den ganzen Banden-Tags?«, fragte Collier. »Ich zähle zwei hier oben und mindestens vier da unten. Wir sollten die Banden-Task-Force darauf ansetzen, damit sie sich ein paar von den Typen vorknöpft.«

»Sollen wir uns die Einhörner auch vorknöpfen?«, fragte Faith.

Amanda schüttelte den Kopf. »Es geht um die Frau. Nehmen wir an, dass sie sich in diesem Raum befand. Nehmen wir weiter an, dass sie etwas mit der Tötung des Opfers zu tun hatte, falls man Harding als das Opfer bezeichnen kann.« Sie sah auf den Inhalt der Handtasche hinunter. »Eine weiße, einigermaßen gut situierte Frau, die mitten in der Nacht einen schmierigen Cop in einer üblen Gegend trifft. Warum? Was hatte sie hier verloren?«

»Vielleicht war sie ein Callgirl«, sagte Collier, »und er konnte oder wollte sie nicht bezahlen. Da ist sie wütend geworden.«

»Merkwürdiger Treffpunkt, um sich einen blasen zu lassen«, konterte Faith.

»Das ist eine kleine Plane«, sagte Will, denn Amanda verbrachte ihre Wochenenden für gewöhnlich nicht in Baumärkten. »Standardgrößen wären etwa eins fünfzig auf zwei Meter oder eins achtzig auf drei fünfzig, aber die Verpackung draußen auf dem Parkplatz war von einer Plane von einem Meter zehn auf einen Meter achtzig. Harding hat einen Bauchumfang von mindestens einem Meter und ist rund eins achtzig groß.«

Amanda sah ihn an. »Was wollen Sie mir damit sagen?«

»Wenn der Täter die Plane mitgebracht hat, um eine Leiche zu entsorgen, dann eine, die wesentlich kleiner war als Harding.«

»Die Plane ist für eine Frauengröße«, sagte Faith. »Na toll.«

Amanda nickte. »Harding hat die Frau hier getroffen, um sie zu töten, aber es gelang ihr, die Oberhand zu gewinnen.«

»Sie ist verwundet.« Sara kam die Treppe herauf. Sie hatte die Brille am Kragen ihres T-Shirts eingehängt und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Blutige nackte Fußabdrücke führen die linke Treppe hinauf. Wahrscheinlich die einer Frau, Schuhgröße siebenunddreißig oder achtunddreißig. Sie setzte die Füße schwer auf, was vermuten lässt, dass sie gelaufen ist.« Sie zeigte zur Treppe zurück. »Auf der zweiten Stufe von oben ist eine Stelle, wo sie offenbar gefallen ist und sich den Kopf angeschlagen hat, wahrscheinlich am Schädeldach. Wir haben lange braune Haare in dem Blutfleck gefunden, ähnlich denen in der Haarbürste.« Sie zeigte zu der anderen Treppe. »Rechts gibt es weitere Fußabdrücke von einer Person, die geht, und passive Spritzer, sie bilden eine Spur zum Notausgang auf der Seite des Gebäudes und enden dort auf der Metalltreppe. Passive Spritzer deuten auf eine nässende Wunde hin.«

»Hinaufgerannt und hinuntergegangen?«, fragte Amanda.

»Möglich.« Sara zuckte die Achseln. »Dieses Gebäude haben Hunderte Leute betreten und verlassen. Irgendwer könnte die Fußabdrücke vor einer Woche hinterlassen haben und jemand anderer die Tropfen letzte Nacht. Wir müssen für jede Probe eine DNA-Sequenzierung machen, bevor wir mit Sicherheit sagen können, was zu wem gehört.«

Amanda blickte finster drein. DNA-Tests konnten Wochen dauern. Sie bevorzugte wissenschaftliche Sofortlösungen.