Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein idyllischer Ort im Kraichgau döst friedlich in der sommerlichen Gluthitze. Alles ist wie immer! Auch für Familie Stetten, deren Leben in den gewohnt beschaulichen Bahnen verläuft. Doch dann wird ihr Heimatort jäh aufgeschreckt. Auf den Stufen der Pfarrkirche wird die geschändete Leiche einer unbekannten Frau gefunden. Die wochenlangen polizeilichen Ermittlungen verlaufen ergebnislos im Sande. Als Tobias Stetten zufällig auf neue Hinweise stößt und ihm niemand glaubt, beginnt der Familienvater auf eigene Faust mit Nachforschungen und kommt so der grausamen Wahrheit langsam auf die Spur. Doch mit jeder Entdeckung wächst gleichzeitig die Gefahr für ihn und seine gesamte Familie, denn der ruchlose Mörder versucht mit allen Mitteln seine Identität zu verschleiern. So entspinnt sich gegen den skrupellosen Feind im Schatten ein tödlicher Kampf, der die Stettens ins Verderben zu reißen droht. Alle Einnahmen aus dem Verkauf dieses Buches werden zugunsten des Kampfes gegen Kinderhirntumor gespendet. Vielen Dank für Ihre Unterstützung! Weitere Informationen zum Spendenzweck finden Sie auf https://www.ein-kiwi-gegen-krebs.de.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 607
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Matthias Melich
Blutige Spätlese
Der Kraichgau-Thriller mit dem Hoffenheim-Kick
Blutige Spätlese ist ein Regionalthriller aus dem Kraichgau – kraftvoll wie ein lokaler Spitzenwein mit betont individueller Note. Tief verwurzelt in den Traditionen des Wein- und Wallfahrtsortes Malsch. Rassig wie ein Topspiel der TSG 1899 Hoffenheim. Raffiniert abgerundet mit einem Schuss kurpfälzischem Karneval und einem Hauch Katholizismus. Betont gruselig im Abgang. Ein wohltemperierter Lesegenuss der besonderen Art!
Ein idyllischer Ort im Kraichgau döst friedlich in der sommerlichen Gluthitze. Alles ist wie immer! Auch für Familie Stetten, deren Leben in den gewohnt beschaulichen Bahnen verläuft. Doch dann wird ihr Heimatort jäh aufgeschreckt. Auf den Stufen der Pfarrkirche wird die geschändete Leiche einer unbekannten Frau gefunden. Die wochenlangen polizeilichen Ermittlungen verlaufen ergebnislos im Sande. Als Tobias Stetten zufällig auf neue Hinweise stößt und ihm niemand glaubt, beginnt der Familienvater auf eigene Faust mit Nachforschungen und kommt so der grausamen Wahrheit langsam auf die Spur. Doch mit jeder Entdeckung wächst gleichzeitig die Gefahr für ihn und seine gesamte Familie, denn der ruchlose Mörder versucht mit allen Mitteln seine Identität zu verschleiern. So entspinnt sich gegen den skrupellosen Feind im Schatten ein tödlicher Kampf, der die Stettens ins Verderben zu reißen droht.
Matthias Melich studierte Englische Philologie und Mathematik an den Universitäten Rochester, New York, und Köln, wo er zum computergestützten Fremdsprachenlernen promovierte. Nach über fünfundzwanzig Jahren erfolgreicher Tätigkeit bei SAP liegt sein Hauptaugenmerk heute auf kreativen und karitativen Aktivitäten. Mehr zu seinen Projekten finden Sie auf:
www.linkedin.com/in/matthias-melich
www.facebook.com/matthias.melich
Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne tatkräftige Unterstützung. Für ihre Lektorentätigkeit möchte ich den folgenden Personen danken (in alphabetischer Reihenfolge):
Helmut Fieres
Claudia Jaster
Nicole Mayer
Ines und Noah Melich
Friederike und Benjamin Schneider.
Weiterhin gilt mein Dank der Fa. Nussbaum Medien:
Klaus Nussbaum
Pascal Kollak
Bernhard Gundt
Carolin Grimm
Emelie Bayer.
Mein Dank geht auch an Kirsten Turba für die fantastischen Fotos, die die erfolgreiche Vermarktung des Buches erst möglich gemacht haben.
Besonderer Dank gilt meiner lieben Frau Ines und unserem Sohn Noah, die stets daran geglaubt haben, dass dieses Werk fertiggestellt wird.
Dieses Buch ist meinen verstorbenen Eltern Ruth und Hans Melich gewidmet, die die Vollendung des Romans nicht mehr miterleben durften.
Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Copyright © 2024 Matthias Melich
Alle Rechte vorbehalten.
Cover Design: Matthias und Noah Melich
„Ich würde so gerne mal wieder ein Buch lesen, aber mir fehlt leider die Zeit.“ Haben Sie diesen Spruch schon einmal gehört? Ich bin sicher, ich kenne Ihre Antwort. Immer kommt irgendetwas dazwischen, ständig ist etwas zu erledigen. Die Arbeit, die Familie, der Verein … alles und alle fordern permanenten Einsatz und unsere volle Aufmerksamkeit. Dauernd sind wir ausgebucht, hecheln unseren Verpflichtungen hinterher, haken Aufgaben nur noch ab und fühlen uns beständig ausgelaugt und überfordert. Warum eigentlich? Haben wir wirklich keine Zeit, oder vergessen wir nur, uns welche zu nehmen?
Doch ich will Ihnen kein schlechtes Gewissen machen, sondern Sie bestärken. Sie sind nämlich auf dem richtigen Weg! Ist Ihnen bewußt, dass Sie den ersten Schritt in Richtung Entspannung schon genommen haben? Ja, denn Sie halten gerade ein Buch in den Händen und lesen diese Zeilen. Der Anfang ist also gemacht, und der ist ja bekanntlich am schwersten! Also los! Blättern Sie weiter und fangen Sie an zu lesen. Was hält Sie zurück? Ich darf Ihnen versprechen, dass das Buch leicht zu lesen und spannend geschrieben ist. Alle Kapitel sind kurz und somit perfekt geeignet für die kleine Lektüre zwischendurch. Und ganz nebenbei werden Sie eintauchen in eine neue, vielleicht unbekannte Welt. Im Verlauf des Buches kommen Sie nämlich nicht nur der Aufklärung eines Mordes näher, sondern erfahren viel über das Leben einer kleinen, beschaulichen Kraichgaugemeinde, deren Jahreskreis geprägt ist von Wein, Kirche und Karneval. Wenn da bloß nicht diese Leiche wäre, die an einem friedlichen Sommermorgen auf den Stufen der Pfarrkirche gefunden wurde … Finden Sie selbst heraus, was dahinter steckt!
Ich wünsche Ihnen großen Spaß bei der Lektüre und viele entspannte Momente!
Ihr
Matthias Melich
Als mich der Anruf von Matthias Melich erreichte, war ich sprachlos. Ich konnte es gar nicht glauben, dass jemand den gesamten Erlös jahrelanger Autorenarbeit spenden will! Aber es ist wahr: Das Buch, das Sie in Ihren Händen halten, ist dem Kampf gegen Kinderkrebs gewidmet, und Sie, liebe Leserin und lieber Leser, haben mit seinem Erwerb einen Beitrag geleistet. Mir hat diese Idee sofort gefallen, vor allem auch deshalb, weil es ein anderer und kreativer Weg ist, etwas gegen diese heimtückische Krankheit zu tun. Und kreative Wege brauchen wir, um diesen hinterhältigen Feind irgendwann zu besiegen! Als bei unserem Sohn Fabian ein Hirntumor entdeckt wurde, habe ich am eigenen Leib erfahren, was es für das betroffene Kind und seine Angehörigen bedeutet, wenn diese Krankheit diagnostiziert wird. Ab dann bleibt nichts, wie es ist, und nichts ist mehr, wie es war.
Wir haben von der Diagnose, Operation, Therapie, erneutem Tumorwachstum, Verlust und Trauer alle Phasen einer Krebserkrankung durchmachen müssen. Leider gab es für unseren Sohn keine Therapie. Unsere einzige Hoffnung waren neue Forschungserkenntnisse und eine erfolgversprechende Therapie. Doch für Fabi hat es leider nicht gereicht. Für mich war es ganz schlimm, NICHTS machen zu können. Ich wollte meinen Teil dazu beitragen, die Hirntumorforschung bei Kinderkrebs voranzutreiben. Das hat mich zur Gründung von Ein Kiwi gegen Krebs bewogen.
Wenn Sie mehr wissen wollen über meine Organisation und was Sie vielleicht beitragen können, dann lade ich Sie zum Besuch unserer Webseite ein. Natürlich können Sie auch dieses Buch Ihren Freunden und Bekannten schenken und dabei nebenbei weiter Gutes tun.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und sage ein herzliches Dankeschön für Ihren Beitrag "Für eine Kindheit ohne Krebs“!
Ihre
Tatjana Radetzky
Tödliche Nachlese
Der nächste Putt könnte der letzte sein
An einem kalten und nassen Novembermorgen liegt vor der Pfarrkirche des beschaulichen Weinortes Malsch eine mit Nadeln durchsiebte Puppe. Ist der schaurige Fund ein Überbleibsel der feucht-fröhlichen Karnevalseröffnung, die am Abend zuvor im Pfarrheim stattfand oder steckt mehr dahinter? Gibt es in Malsch vielleicht Anhänger eines dunklen Voodoo-Kults, die nachts schwarze Messen rund um die Pfarrkirche zelebrieren? Oder hat die Puppe mit einer Mordserie zu tun, die die friedliche Wallfahrtsgemeinde im Kraichgau vor Jahren bis ins Mark erschütterte? Tobias Stetten ist sich anfangs sicher, dass dem grausigen Fund keine tiefere Bedeutung zukommt. Doch als ein Tennisfreund bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kommt und Tobias urplötzlich den heißen Atem eines rätselhaften Verfolgers im Nacken spürt, der den Familienvater sogar beim Golfen bedroht, wird Tobias klar, dass sein Leben an einem seidenen Faden hängt.
Als Sonderauflage erhältlich (sofern vorrätig) unter:
https://www.ein-kiwi-gegen-krebs.de/matthias-melich
1
Die Affenhitze brachte sie noch um den Verstand! Wenn Agnieszka Seefeld auf das Frühstück auf ihrer Terrasse verzichtet hätte, dann wäre sie früher an der Pfarrkirche angekommen. Aber hätte das viel genutzt? Wäre es dann nicht so heiß gewesen? Mitnichten! Seit Wochen kühlte es auch nachts in Malsch nicht mehr richtig ab. Und der prallen Sonne, die unbarmherzig auf die Parkplätze der Pfarrkirche St. Juliana knallte, wäre sie auch nicht entgangen, wenn sie eine halbe Stunde früher gekommen wäre.
Nein, Agnieszka hatte an diesem friedlichen Morgen alles richtig gemacht. Die sonntägliche Messe begann um neun Uhr. Für sie als Messnerin bedeutete dies, dass sie circa eine Stunde vorher in der Kirche sein musste, um alles vorzubereiten. Jetzt war es genau acht Uhr. Sie würde also alles in Ruhe erledigen können.
Eine solche Hitzewelle hatte Agnieszka Seefeld noch nie erlebt. In ihrer polnischen Heimat waren die Sommer regelmäßig heiß gewesen, aber dieser Sommer in Malsch übertraf definitiv alles, was sie bisher durchlebt hatte.
Die Temperatur im Auto war noch erträglich. Lange würde es sicher nicht mehr dauern, bis sich ihr kleiner Nissan in eine Sauna verwandeln würde. Das Schiebedach noch kippen und dann nichts wie raus! Und nicht vergessen, für Hitzeabfluss zu sorgen. Dann würde es im Auto nämlich halbwegs erträglich sein, wenn sie nach der Kirche wieder einstieg.
Puh! Die Hitze versetzte ihr einen richtigen Schlag, als sie die Wagentür öffnete. Wenn es jetzt schon so heiß war, wie würden die Temperaturen erst am Nachmittag sein? Gar nicht auszudenken! Schnell in die Kirche. Dort würde es kühler sein.
Noch ein paar Schritte und sie hatte die Treppe zur Kirche erreicht. Wie ruhig und friedlich es heute Morgen rund um die Kirche war. Außer dem Gesumme zahlloser Insekten, die sich im Kirchgarten tummelten, und einem kleinen Schwarm Mücken, den sie mit ein paar Handschlägen zu verscheuchen versuchte, war weit und breit kein Leben auszumachen. So ruhig wie auf dem Friedhof.
Der Eingang zur Sakristei lag zum Glück im Schatten. So konnte Agnieszka den richtigen Schlüssel suchen, ohne dass die Sonne sie um den Verstand zu bringen drohte. Sie musste sich wirklich mal die Zeit nehmen und den Schlüsselbund sortieren. Das ewige Gesuche war nervtötend. Gefunden. Jetzt kurz am Griff ziehen und gleichzeitig den Schlüssel drehen. Geschafft. Wie immer ließ sich die schwere, kupferbeschlagene Tür zur Sakristei leicht öffnen.
Herrlich! Der kühle Luftzug, der sie empfing, war einladend, als wollte er sagen: ‘Komm herein, meine Tochter, die du mühselig und beladen bist. Hier findest du Zuflucht und Ruhe.‘
Ihre Augen würden einen Moment brauchen, um sich an das gedämpfte Licht in der Sakristei zu gewöhnen. Ah! Jetzt ging es besser. Wie vertraut die Kirche wieder roch. Ein wenig muffig, abgestanden, schal, aber auch irgendwie erhaben, spirituell und göttlich.
Es tat gut, sich kurz auf die Bank direkt neben dem Eingang zu setzen und den vorkirchlichen Raum auf sich wirken zu lassen. Hier in der Kühle, dem gedämpften Licht und dem sakralen Geruch konnte Agnieszka ein paar Minuten mit sich allein sein. Die Umgebung und die Ruhe halfen ihr, sich innerlich auf die Begegnung mit Gott in der Messe vorzubereiten. Gut, dass sie den Dienst als Messnerin angenommen hatte. Wie aufgeregt und ängstlich der Pfarrer gewesen war, als er sie gefragt hatte. Vermutlich voller Angst, sie könnte ablehnen. Die vielen Dienste an Wochenenden, Feiertagen und Abenden, die schlechte Bezahlung. Nein, der Job als Messnerin war aus wirtschaftlicher Sicht nicht gerade attraktiv. Für Agnieszka war die Arbeit jedoch perfekt, da sie sie immer an ihre polnische Heimat erinnerte.
Gleich würde sie loslegen müssen. Schon zehn nach acht. Sollte sie ihre morgendliche Routine ändern? Normalerweise bereitete sie zunächst in der Sakristei alles auf den Gottesdienst vor, bevor sie ihre Runde um die Kirche startete, um die Türen aufzuschließen. Sollte sie zunächst die Kirchentüren aufschließen und danach alles in der Sakristei vorbereiten? Angesichts der Hitze war es sicher das Sinnvollste, Aufgaben im Freien so früh wie möglich zu erledigen.
Uh! Das Licht hier draußen war wirklich gleißend. Wieder machte sie der Helligkeitsunterschied für einen Moment fast blind. Unwillkürlich war sie stehen geblieben. Zwar kannte sie den Weg um die Kirche genau, aber trotzdem war es angenehmer, wenn man sah, wohin man trat. Gut, dass sie sich entschieden hatte, ihren Gang rund um die Kirche bereits jetzt und nicht später anzutreten. Je schneller sie wieder in die Sakristei kam, desto besser.
Der Kirchgarten hatte gewaltig unter der Hitze gelitten. Fast alle Kräuter waren verdorrt. Vermutlich hatten die Freiwilligen, die die Pflege des Gartens übernommen hatten, irgendwann das Gießen aufgegeben. In diesem Sommer gingen fast alle Pflanzen ein. Allein der Lavendel schien der Hitze zu trotzen. Klar, in Südfrankreich war ein solcher Sommer nichts Außergewöhnliches.
War der Lavendel der Grund für das laute Gesumme? Sicher, es kreisten viele Insekten um die langstieligen blauen Blüten. Aber waren die paar Bienen verantwortlich für das intensive Gebrumme?
Sie hatte die Seitenpforte erreicht. Wieder den Schlüssel suchen. Zum zweiten Mal heute. So! Die Tür war offen. Weiter zum Hauptportal.
Bis zum Kircheneck konnte sie weiter im Schatten laufen. Sobald sie aber auf den Kirchplatz gelangte, würden sie wieder die volle Sonne und die Hitze treffen. Warum wurde das Gesumme der Insekten eigentlich mit jedem Schritt lauter? Und warum gab es auf einmal so viele Fliegen?
Verdammt noch mal! Lasst mich in Ruhe! Weg mit euch! Das war ja furchtbar. Diese Fliegen waren heute Morgen wirklich penetrant. Wo kamen die denn auf einmal alle her? Irgendwie roch es auch auf einmal komisch. Ein bisschen süßlich, abgestanden, schal, ein Hauch von Verwesung. Als ob irgendetwas Essbares zu lange in der Sonne gelegen hatte. Keine Ahnung, was das sein konnte. Vielleicht war es dieser Geruch, der die vielen Fliegen anzog. Aber woher konnte er kommen? Hier gab es doch weit und breit nichts außer verdorrten Pflanzen im Kirchgarten, Stein und Beton. Die Kirche, das vor wenigen Jahren erbaute Rathaus mit seiner Stahl- und Glasfassade, der gepflasterte Weg rund um die Kirche - alles leb- und geruchlos. Was um alles in der Welt zog die ganzen Insekten also nur an?
Die Fliegen schienen vom Vorplatz zu kommen. Hatten dort vielleicht ein paar Kinder Butterbrote auf die Kirchtreppen geworfen? Nein, auch das war unwahrscheinlich. Kein Kind spielte auf dem steinernen Kirchenvorplatz. Schon gar nicht bei dieser Hitze.
Warum wurde sie plötzlich so unruhig? Ihr Herz pochte heftig und schnell, und sie fröstelte für einen Moment. Hatte sie Angst? Ja, das hatte sie. Gerade waren ihr ein paar eiskalte Schauer über den Rücken gelaufen. Warum hatte sie Angst? Es gab doch gar keinen Anlass dafür. Hier war alles ruhig und friedlich! Nichts Bedrohliches weit und breit. Ein sonniger, seelenruhiger Sonntagmorgen.
Nur noch wenige Schritte, und sie hatte die Ecke erreicht. Gleich würde sie aus dem schattigen Bereich heraustreten und wieder die sengende Hitze spüren. Erneut musste sie sich eine Hand vor Augen halten, um von der Sonne nicht geblendet zu werden. Verschwommen konnte sie die Bronzefiguren erkennen, die der alte Bürgermeister hatte aufstellen lassen. Einsam standen sie da und glotzten auf den leeren Platz. Verflixt! Hier waren ja noch mehr Fliegen. Jesus, Maria! Wo kamen die ganzen Fliegen nur her? Weg mit euch! Fort! Doch was war das? Auf den Stufen? Um Himmels willen! Das gab es doch gar nicht! Mein Gott! Ihr wurde schwindelig. Sie musste sich festhalten! So etwas Furchtbares hatte sie noch nie gesehen ...
Mann, oh Mann! Wie lange das wieder dauerte! Wer wurde denn wieder nicht fertig? Die ewige Warterei auf den Rest der Familie war wirklich zum Mäusemelken. Immer war Tobias Stetten der Erste im Auto, und dann musste er auf alle warten. Mal war es seine Frau, die nicht fertig wurde, dann eins der Kinder. Zum Haare raufen.
Eigentlich war es der helle Wahnsinn, mit dem Auto zur Kirche zu fahren. St. Juliana lag nicht einmal anderthalb Kilometer von ihrem Haus entfernt, also bequem zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Doch die Kinder stellten sich regelmäßig quer und bestanden darauf, mit dem Auto zu fahren. Vermutlich wegen der Klimaanlage. Irgendwann war Tobias die ständigen Diskussionen mit den Kindern leid und hatte nachgegeben. Dann fuhren sie eben mit dem Auto in die Messe. Allemal besser, als sich ständig mit den Kindern rumzuärgern.
Wenn es um das Wohlergehen der Kinder ging, trat bei seiner Frau Marlies der Umweltschutz ausnahmsweise in den Hintergrund. Wenigstens tat Tobias etwas für die Natur. Er hatte den Motor nämlich abgestellt und alle Fenster geöffnet, um im Auto nicht zu ersticken. Doch die heruntergelassenen Scheiben halfen nicht gegen die Hitze. Er hätte den verdammten Mercedes nicht in der prallen Sonne abstellen sollen. Besser wäre es gewesen, den Wagen auf seinem Parkplatz stehenzulassen. Dort befand er sich im Schatten des Hauses. Doch wer konnte ahnen, dass der Rest der Familie so lange brauchen würde, um fertig zu werden?
„Puh, ist das heiß, Papa!“
Aha! Der Nachwuchs war eingetrudelt.
„Können wir Radio Energy hören?“
„Mama kommt gleich, und Ihr wisst ja, die mag die Musik nicht.“
„Immer wird das gemacht, was Mama will!“
Kam noch mehr Protest? Nein, jetzt war Ruhe auf der Rückbank. Sehr gut! Die Kinder hatten also geschluckt, dass das Radio ausblieb. Klar, sie hingen ja an ihren Handys, spielten oder schrieben Nachrichten.
Was machte Marlies denn noch in der Wohnung? Wie konnte man nur so lange brauchen, um ein normales Sommerkleid anzuziehen?
„Wir müssen los!“
„Ja, doch! Ich würde auch gerne losfahren. Nur Mama fehlt halt noch.“
„Wenn wir nicht bald losfahren, dann komme ich zu spät zu meinem Dienst.“
Stimmt! Die Kinder hatten heute Morgen Ministrantendienst. Wenn sie zu spät in die Sakristei kamen, waren die gut sitzenden Gewänder schon vergeben.
Wenn Marlies nur endlich fertig würde! Was trieb sie die ganze Zeit allein in der Wohnung? Tobias hatte die Kaffeemaschine und den Herd schon kontrolliert. Alles ausgeschaltet. Der Kühlschrank war auch zu. Die Fenster im Bad waren geschlossen. Die Wohnung war also zum Verlassen bereit. Was um alles in der Welt hielt Marlies ab, endlich rauszukommen? Irgendwann würde Tobias einmal aus dem Auto steigen und zurück in die Wohnung gehen, um herauszufinden, warum seine Frau so lange brauchte, um fertig zu werden.
Ah! Da war sie! Endlich! Wie fröhlich sie lächelte! Offensichtlich war Marlies nicht bewusst, dass sie ihren Mann und ihre Kinder durch ihre Tüddelei fast auf die Palme gebracht hatte. Na ja! Wenn Tobias ehrlich war, dann hatten sie noch genügend Zeit, um rechtzeitig in die Kirche zu gelangen. Zoe und Julius würden sicher noch ein passendes Messdienergewand ergattern. Alles war also in Ordnung.
„Na endlich, Mama!“
Ah, die Kinder hatten auch bemerkt, dass ihre Mutter zugestiegen war. Dann konnte es ja losgehen. Scheiben hoch, Schiebedach zu, Klimaanlage anschalten und ab in Richtung Kirchberg.
Um diese Uhrzeit war wenig los in ihrem Heimatort Malsch. Kein Auto und kaum Fußgänger auf der Straße. Entweder waren sie früher als die anderen Kirchgänger unterwegs oder einige Mälscher Christen blieben bei der Bullenhitze lieber zu Hause.
Nur noch den Kirchberg hoch, und sie hatten es geschafft. Doch was war das? Warum standen da mehrere Polizeiautos mit angeschaltetem Blaulicht direkt am Rathaus? Seltsam. Irgendetwas musste passiert sein. Anders war das Polizeiaufgebot nicht zu erklären.
„Da scheint was los zu sein. Park doch direkt hier am Friedhof!“
Marlies hatte recht. Statt den Wagen neben dem Rathaus abzustellen, konnte er auch den kleinen Parkplatz an der Friedhofskapelle nutzen. Dann würden sich zwar die Kinder wegen der paar Meter zusätzlichen Fußweges lauthals beschweren, doch das war leichter zu ertragen, als neben der Kirche inmitten der Polizeifahrzeuge mühsam einen Parkplatz zu suchen.
Auf dem Parkplatz am Friedhof war noch alles frei. Und genug Zeit, bis die Messe anfing, hatten sie auch. Tobias konnte den Wagen also in Ruhe einparken.
„Hey! Ihr könnt doch nicht einfach während des Einparkens das Auto verlassen!“
Ja, gab es denn so etwas! Da hatten die Kinder doch den kurzen Moment, in dem der Wagen während des Rangierens stand, zum Rausspringen genutzt.
„Verdammt noch mal! Wie oft habe ich euch gesagt, dass man das Auto erst verlässt, wenn der Motor ausgeschaltet ist!“
„Sie können dich sicher gut hören, wenn sie schon draußen und die Türen geschlossen sind!“
Wie bitte? Ach so. Marlies hatte natürlich recht. Die Kinder hatten seinen Wutausbruch nicht gehört, denn sie waren schon über alle Berge. Na ja. Vielleicht war es besser, wenn die Kinder schon in Richtung Sakristei unterwegs waren.
„Ich parke den Wagen so schnell ein, wie es geht. Willst du auch schon aussteigen?“
„Ich weiß, mein Schatz. Nein, danke. Ich warte. Ich habe ja Zeit!“
Hatte er da eine Spitze gehört? Offensichtlich war Marlies doch nicht entgangen, dass Tobias ungeduldig im Wagen auf sie gewartet hatte. Das Beste war, wenn er die Bemerkung einfach ignorierte.
Geschafft. Ohne die quengeligen Kinder war das Rangieren mühelos gelungen. Jetzt konnten sie in Ruhe aussteigen und zur Kirche gehen.
„Oh! Julius! Du hast mich aber erschreckt! Wo kommst du denn her? Ich dachte, du wärest schon in der Sakristei ...“
Warum war der Junge so rot im Gesicht? Der arme Kerl war ja völlig aus der Puste. Sah aus, als ob er von der Kirche zu ihnen zurückgerannt war. War vielleicht etwas nicht in Ordnung?
„Vor der Kirche … Polizei … Leiche ...“
„Mal langsam! Jetzt atme erst einmal durch.“
„Papa. Da wurde eine Leiche gefunden!“
„Wie bitte?“
„Ja, da ist alles abgesperrt!“
Eine Leiche? Vor St. Juliana? War das möglich? Nicht wirklich! In ihrer friedlichen Gemeinde passierte doch nie etwas. Entweder fantasierte Julius, um sie hochzunehmen. Das versuchte er in letzter Zeit häufiger. Oder die Hitze setzte ihm so zu, dass er Gespenster sah. Eine Leiche in Malsch? Vor der Kirche? Das war doch hanebüchener Blödsinn.
„Wo ist Zoe?“
Ähm, Zoe? Wieso? Ja, natürlich. Gute Frage! Ihre Tochter schwirrte ja auch noch irgendwo herum.
„Wo ist deine Schwester, Julius?“
„Da!“
Tatsächlich. Da stand sie. Hinter ihrem Auto. Vor der Rosenrabatte. Mein Gott! Zoe war aschfahl. Stand da wie ein Häufchen Elend. Hoffentlich kippte sie nicht gleich um. Gut, dass Marlies schon bei ihr war.
Es war also tatsächlich etwas Schlimmes passiert! Julius hatte ausnahmsweise nicht geflunkert. Aber war das wirklich wahr? Eine Leiche? In ihrem verschlafenen Heimatort? An einem friedlichen Sonntagmorgen?
„Aua, zerr doch nicht so an meinem Arm!“
„Papa, los! Wir müssen uns das ansehen!“
Julius hatte sich offensichtlich von seinem Schock schnell erholt. Jetzt wollte er natürlich alles aus nächster Nähe sehen. Aber auf keinen Fall allein!
„Wir gehen zusammen mal hoch, um zu sehen, was los ist. Kommt Ihr nach?“
Marlies nickte.
„Einen Moment, Julius. Ich muss Mama noch den Autoschlüssel geben. Vielleicht will sie mit Zoe nach Hause fahren.“
„Nach Hause? Auf gar keinen Fall. Wir müssen zum Kirchplatz. Los, Papa!“
Ja, doch! Ich komme ja schon. Immer schön langsam bei der Hitze, Julius! Wenn es tatsächlich eine Leiche gab, dann konnte sie nicht weglaufen. Julius würde also auf keinen Fall zu spät kommen.
Konnte das wirklich wahr sein? Eine Leiche vor der Kirche? Vielleicht sogar ein Mord? Nein, das war abwegig. Wer sollte in Malsch einen Mord begehen? Vor der Kirche? Am helllichten Tag? Noch dazu an einem Sonntag? Kurz vor dem Messbeginn? Niemals! Das war totaler Blödsinn. Ein Kapitalverbrechen konnte man ausschließen. So etwas passierte anderswo, aber nicht in ihrem friedlichen Wein- und Wallfahrtsort.
Was konnte sonst passiert sein? Die meisten Kirchbesucher waren ältere Leute. Hatte vielleicht jemand einen Herzinfarkt erlitten und war umgekippt? Bei der Hitze war das leicht möglich.
Upps! Fast wäre er gestolpert.
„Zerr nicht so, Julius!“
Gleich hatten sie es geschafft. Nur noch um die Rathausecke, und dann würden sie freien Blick auf den Kirchplatz bekommen.
Hmmh! Kaum was zu sehen. Unmittelbar vor ihnen stand eine Traube von Kirchbesuchern, die ihnen den Blick versperrte.
„Los, nach vorn. Dort ist noch Platz!“
Julius hatte natürlich sofort gesehen, dass links neben der Zuschauertraube niemand an der Absperrung war. Ja, doch. Ich komme ja!
Von hier aus hatte man einen guten Blick auf den Bereich vor St. Juliana. Leider standen sie nun in der prallen Sonne. Na ja! Ein paar Minuten würden sie die Hitze ertragen können.
Ganz schön viel los auf dem Kirchvorplatz! Das Kirchenportal war weitläufig abgesperrt. Überall Polizisten in Uniform.
„Da drüben, Papa. Schau mal. Da ist Frau Seefeld!“
Tatsächlich. Die Messnerin saß in einem Krankenwagen, der zwischen Pfarrhaus und St. Juliana geparkt hatte. Sah aus, als ob sie von einem Arzt und einer Schwester behandelt wurde. Was da wohl passiert war? Hatte Frau Seefeld bei ihrem morgendlichen Rundgang die Leiche entdeckt? Die Arme! Von diesem Schock musste sie sich natürlich erholen.
Puh! Ganz schön heiß in der Sonne. Wie spät war es? Zehn vor neun. Also noch relativ früh.
„Lange halte ich es hier in der Hitze nicht mehr aus, Julius!“
„Uhh, Papa! Ein paar Minuten noch. Bitte!“
Klar! So etwas hatte ihr Sohn noch nie erlebt. Polizeiliche Ermittlungsarbeit, live und in Farbe! Also gut. Ein paar Minuten würde Tobias die Hitze noch ertragen können.
„Ist ja unglaublich und furchtbar!“
Wer hatte ihn angesprochen? Ah, Herr Rottenbuch, ein Urmälscher und treuer Gottesdienstbesucher. Stand zwei Meter rechts von ihnen.
„Oh, Herr Rottenbuch, Entschuldigung, ich habe sie gar nicht gesehen. Guten Morgen. Was ist denn hier los?“
„Eine junge Frau ist tot auf den Stufen zum Hauptportal gefunden worden. Frau Seefeld hat sie entdeckt. Die Arme, sie ist völlig fertig.“
„Das habe ich mir schon gedacht. Sie wird ja dort drüben im Krankenwagen versorgt! Wo ist denn die Leiche?“
„Die ist schon abtransportiert worden. Die Spurensicherung untersucht den Tatort.“
„Weiß man schon, wer ums Leben gekommen ist?“
„Nein, aber es scheint niemand aus Malsch zu sein.“
Hmmh. Also niemand, den sie kannten. Seltsam. Warum starb eine wildfremde Person vor der Pfarrkirche in Malsch? Was da wohl passiert war? War jemand vielleicht nach einer ausgelassenen Sommernachtsparty sturzbetrunken nach Hause gewankt und dabei unglücklich auf die Kirchentreppe gestürzt? Oder hatte es letzte Nacht einen heftigen Streit zwischen Einheimischen und Fremden gegeben, bei dem es zu Handgreiflichkeiten gekommen war? Nur, warum hatte das niemand gehört und Hilfe geholt? Weshalb lag die Leiche auf den Stufen, bis sie am nächsten Morgen von Frau Seefeld gefunden wurde? Fragen über Fragen. Na ja. Die Antworten würden hoffentlich bald kommen.
Diese verdammte Hitze. Hier schwitzte man sich ja tot! Überall rann ihm der Schweiß herunter. Das Poloshirt klebte schon am gesamten Oberkörper fest. Bloß raus aus der prallen Sonne! Er musste sich so schnell wie möglich einen anderen Platz suchen. Neben Herrn Rottenbuch zum Beispiel. Der stand nämlich im Schatten.
„Ich rücke ihnen mal auf die Pelle. In der Sonne ist es ja nicht zum Aushalten.“
„Tun Sie das. Es ist wirklich schon wieder brütend heiß.“
Ah! Hier fühlte man sich sofort wohler. Kurz den Schweiß von der Stirn und aus den Augen wischen. Gut! Jetzt konnte Tobias wieder klar sehen.
Wo hatte die Leiche gelegen? Den weißen Markierungen nach zu urteilen direkt auf den Stufen des Kirchenportals. Welch ein Ort, um zu sterben!
„Schau mal, Papa! Dort sind Männer in Overalls!“
Die Spurensicherung. Suchten die Stufen ab. Schritt für Schritt. Aber sie schienen nichts gefunden zu haben, denn die Plastikbeutel, die sie mit sich führten, waren leer. Unangenehme Aufgabe bei der Hitze.
„Kein leichter Job. In den Overalls. Bei der Hitze!“
Von Giselher Rottenbuch kam keine Antwort.
„Guck mal, Papa! Da vorn ist Pfarrer Antdorf. Zusammen mit einem anderen Mann. Kennen wir den nicht?“
Richtig! Rechts neben der Treppe standen zwei Männer, die ihnen den Rücken zuwandten. Einer der beiden Männer war unschwer als Pfarrer Antdorf zu erkennen. Der vierschrötige Mann wirkte saft- und kraftlos. Stand leicht gebückt da. Mit herunterhängenden Schultern. Wie ein Häuflein Elend. Mit ihm würde Tobias nicht tauschen wollen. Pfarrer Antdorf war der Leiter der Seelsorgeeinheit Letzenberg, zu der St. Juliana gehörte. Damit war er für die Polizei natürlich der Hauptansprechpartner für all das, was die Kirche betraf. Wenn eine Leiche vor der Pfarrkirche gelegen hatte, dann würde die Polizei viele Fragen an ihn haben. Und die Presse später auch.
Unmittelbar neben ihm stand ein anderer Mann. Ungefähr gleich groß. Im Gegensatz zum Pfarrer wirkte dieser Mann jedoch dynamisch. Hoch konzentriert. Voll bei der Sache und in seinem Element. Was hatte Julius gesagt? Er kannte den Mann. Stimmt! Ja, natürlich. Statur, Gestik - es bestand kein Zweifel. Dort vorn stand Dominik Fuchs, Tobias‘ langjähriger Tenniskumpel.
Welch ein Zufall! Seit über zehn Jahren spielten Tobias und Dominik zusammen Tennis beim TC Malsch 2000. Klar! Tobias wusste natürlich, dass sein Tennisfreund bei der Mordkommission arbeitete. Aber in Aktion hatte er Dominik noch nie gesehen.
So wie sein Blick über den Platz streifte, schien er irgendetwas zu suchen. Oh! Er hat mich wahrgenommen. Trotz des ganzen Treibens auf dem Kirchplatz. Das kurze Nicken war unübersehbar gewesen. Wenn Dominik der verantwortliche Kriminalbeamte für diesen Todesfall war, dann würde er beim nächsten Training eine Menge zu erzählen haben. Außerdem würden die Tennisjungs ihn sicher mit Fragen löchern. Der Arme! Na ja. Er wird routiniert genug sein und nur das erzählen, was die Ermittlungen nicht gefährdet.
Wo waren eigentlich die Frauen? Hatten sich Marlies und Zoe auf den Nachhauseweg gemacht? Oh! Da drüben standen sie. Etwas abseits. An der Ecke des Rathauses. Marlies redete gestenreich auf ihre Tochter ein, die den Wortschwall kreideweiß und regungslos über sich ergehen ließ. Keine Frage. Ihre Tochter war fertig. Die Aufregung, das Durcheinander, eine Leiche vor der Kirche, dazu noch die Hitze. Es war Zeit, zu gehen.
„Julius, wir müssen los.“
„Oh Mann, Papa, warum denn? Hier ist es doch super! Richtig was los! Viel spannender als Messe.“
Da musste man ihm recht geben. Es gab sicher Spannenderes für ihn, als einem Gottesdienst beizuwohnen. Trotzdem war es besser, wenn die Familie wieder nach Hause fuhr. Wie konnte man ihm das am besten schmackhaft machen?
„Ja, ich weiß. Aber wir haben doch alles gesehen, oder? Hier passiert nichts mehr. Die Leiche ist ja auch schon weg. Auf geht’s!“
„Kann ich nicht hier bleiben und später nachkommen?“
„Nein, komm jetzt mit. Zu Hause können wir auch was trinken und auf der Terrasse ein Eis essen.“
Julius‘ Gesichtsausdruck nach zu urteilen, verfehlte die Aussicht auf eine kühle Erfrischung ihre Wirkung nicht.
„Okay, ich kann ja nachher mit Malte noch einmal herkommen.“
Ja, das war eine gute Idee. Julius und Malte konnten sich am Nachmittag gern aufs Fahrrad setzen und den Tatort in Ruhe inspizieren. Bis dahin würde sich der Trubel aufgelöst haben, und die zwei konnten in Ruhe Detektiv spielen.
Wer hätte das gedacht? Eine Leiche! Mitten in Malsch. Wenn ihm das heute Morgen jemand gesagt hätte, hätte Tobias ihn für verrückt erklärt. Der grausame Fund würde ihren kleinen Ort in Aufruhr versetzen. Vermutlich würde es eine Menge an Spekulationen und Mutmaßungen, Klatsch und Tratsch geben. Die lokalen Zeitungen würden sich sicher auch auf die Geschichte werfen. Ob die überregionalen Zeitungen auch darüber berichten würden? Davon war auszugehen, denn eine Leiche in Verbindung zu einer katholischen Kirche bot die Möglichkeit, über einen weiteren Skandal zu spekulieren. Es stand ihnen also einiges bevor in ihrer sonst so friedlichen und gemütlichen Gemeinde!
War er zu spät? Das konnte eigentlich nicht sein, denn er war rechtzeitig zu Hause losgefahren. Wie spät war es? Hmmh. Fünf Uhr. Genau die Zeit, zu der ihr wöchentliches Tennistraining losging. Zu spät war Tobias also nicht. War der Rest der Truppe heute früher gekommen? Der überfüllte Parkplatz vor der Reblandhalle deutete jedenfalls darauf hin.
Warum waren die Jungs heute früher gekommen? Normalerweise war Tobias doch immer einer der Ersten, der an den Tennisplätzen ankam. Hatte er eine Nachricht verpasst, dass sie sich früher treffen wollten?
Tatsächlich! Viele waren schon da. Ihr lautes Gerede konnte man bis zum Eingang zur Tennisanlage hören. Die Jungs schienen sich angeregt zu unterhalten. Gab es vielleicht eine Mannschaftssitzung, die kurzfristig anberaumt worden war?
So! Noch die paar Stufen hinauf zu ihrem Clubhaus. Geschafft! Da saßen sie! Die Mannschaft der Herren fünfzig des TC Malsch 2000. Vollzählig. Ein seltener Anblick! Normalerweise hatten es vor allem die Älteren bei dieser Hitze nicht eilig, zum Training zu kommen. Was war heute los, dass alle schon vor Tobias eingetroffen waren? Einen sportlichen Eindruck machten die Jungs jedenfalls nicht. Alle hatten ein Weizenbier in der Hand. Wie es aussah, wollten sie das Tennisspielen heute auslassen und direkt in die gemütliche Verlängerung gehen.
„Ah, da kommt der Herr Stetten. Schnapp dir ein Weizen und setz dich zu uns!“
Ein Hefeweizen! Keine schlechte Idee bei dieser Bullenhitze.
„Nein, man weiß immer noch nicht, wer die junge Frau ist.“
Ach so! Natürlich. Die Leiche auf den Stufen des Kirchenportals. Als Leiter der Ermittlungen kannte Dominik den neuesten Ermittlungsstand. Den zu erfahren, war vermutlich der Grund dafür, dass sich das gesamte Team um Punkt fünf auf der Anlage eingefunden hatte.
„Es gibt keine Vermisstenmeldung, die auf die Tote passt.“
„In der Zeitung stand, dass es vielleicht eine osteuropäische Prostituierte ist.“
Die Zeitungen! Wie befürchtet hatten die Gazetten die Geschichte über eine Leiche vor einer katholischen Kirche dankbar aufgegriffen. Nicht nur lokal, sondern sogar deutschlandweit. Vermutlich lieferte die Mischung aus unbekannter Leiche und Kirche den Redaktionen genug Material, um die sommerliche Nachrichtenflaute zu überwinden.
„Sag mal, Tobias, du bist doch Lektor in St. Juliana. Weißt du mehr?“
„Klar, ich sitze sozusagen an der Quelle. Deshalb weiß ich auch, wer das arme Mädchen umgebracht hat, oder was?“
„Schon gut. Lass dich nicht foppen! Wir haben ja Dominik! Sag mal, stimmt es, dass die junge Frau eine Nutte war?“
Vinzenz Kohlgrub hatte offensichtlich Zeitung gelesen. Wenn man den Berichten in den Gazetten Glauben schenken konnte, fiel es der Polizei schwer, die Identität der jungen Frau zu ermitteln. Vor diesem Hintergrund war es nicht verwunderlich, dass alle möglichen Vermutungen entstanden waren. Auf die Theorie, dass die junge Frau als Prostituierte arbeitete, hatten sich die Medien besonders eingeschossen. Dies lag vermutlich daran, dass die Tote auf der Treppe einer Kirche gefunden wurde. Was gäbe es Schöneres für die Zeitungen, wenn sich eine Beziehung zwischen dem Rotlichtmilieu und der Kirche herstellen ließe? Mal sehen, was Dominik dazu zu sagen hatte.
„Man weiß nicht, ob die Tote aus dem Milieu stammt. Klar ist, dass die Tote eine junge Frau ist. Und dass sie keine Jungfrau mehr war. Das hat die Obduktion ergeben. So ist die Beweislage.“
Es blieb also dabei. Die Polizei tappte bezüglich der Identität der Frau im Dunklen.
„Und was ist mit den Verletzungen?“
Welche Verletzungen meinte Vinzenz? Davon hatte Tobias nichts gelesen.
„Die Tote ist offensichtlich häufig geschlagen worden. Dies ist ein weiterer Anhaltspunkt für die Nuttentheorie. Hatte vielleicht Stress mit ihrem Zuhälter.“
Welche Zeitung Vinzenz wohl las? Von Verletzungen hatte Tobias in der Rhein-Neckar-Zeitung nichts gelesen.
„Da gibt’s doch einen Club im Industriegebiet in Forst. Habt Ihr da schon einmal nachgefragt?“
Unglaublich, wie gut sich Vinzenz in der Umgebung auskannte. Das lag vermutlich daran, dass er mit seiner Schreinerei Kunden im gesamten Umkreis bediente. Wenn er sich mit dieser Bemerkung mal kein Eigentor geschossen hatte.
„Kennst du dich da aus? Erzähl doch mal!“
Natürlich! Das war zu erwarten gewesen. Kilian Sauerbach hatte diesen Ball sofort aufgenommen. Herrlich! Wie er da mit einem breiten Grinsen und einem Glas Weizenbier am Eingang der Blockhütte stand. Ob Vinzenz aus dieser Grube wieder herauskommen würde? Wie Tobias seine Mannschaftskollegen kannte, würden sie nicht so schnell locker lassen.
„Bist du da Kunde oder sind die bei dir Kunden?“
Na also! Wie erwartet. Es ging los! Vermutlich würden sie gleich darauf abheben, dass Vinzenz eine Schreinerei betrieb.
„Hast du da extrastarke, neue Betten eingebaut und musstest danach Probeliegen mit den Damen?“
Das Weizenbier entfaltete offensichtlich seine Wirkung. Die Jungs waren heute Nachmittag gut drauf! Jetzt reichte es aber. Statt über Vinzenz‘ mögliche Verstrickungen mit halbseidenen Damen zu spekulieren, wäre es viel besser, Dominik noch ein paar Informationen zu entlocken.
„Weiß man denn mittlerweile, ob die Frau eines natürlichen Todes starb oder umgebracht wurde?“
„Die Frage ist noch in Klärung. Was wir wissen ist, dass die junge Frau tatsächlich auf der Kirchentreppe gestorben ist.“
„Und unter welchen Umständen ist sie da gestorben?“
„Tja, auch das ist ein Rätsel. Man hat Blutspuren vor der Treppe gefunden. Dies deutet darauf hin, dass sie sich mit letzter Kraft auf die Stufen geschleppt hat. Diese Spuren wurden allerdings sehr spät entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt waren schon viele Zuschauer auf dem Rathausplatz, sodass eventuelle weitere Hinweise verwischt wurden. Außer dem Blut vor der Treppe konnten wir keine weiteren Spuren finden. Wir wissen also nicht, wie sie dahin gekommen ist.“
„Das ist ja seltsam. Könnte sie jemand dort abgelegt oder herausgeworfen haben? Vielleicht dachte der Mörder, sie wäre tot.“
„Falls sie ermordet wurde! Ja, es ist möglich, dass sie jemand hingelegt hat. Aber wir wissen es nicht. Wir haben alle Anwohner befragt. Niemand hat etwas gesehen oder gehört.“
„Und woran ist sie gestorben? In der Zeitung stand, dass man keine Schuss- oder Stichverletzungen gefunden hat.“
„Auch das ist ein Rätsel. Die Frau weist keine Verletzungen auf, die unmittelbar zum Tode geführt haben. Kein Schuss, kein Hieb, kein Stich. Die Todesursache ist – Stand heute – unklar. Wir vermuten totale Entkräftung. Sicher ist, dass die Frau über einen längeren Zeitraum schwer misshandelt wurde. Sie hat viele blaue Flecken und Druckstellen an allen Körperteilen. Darüber hinaus weist sie Schürfmale an Händen und Füßen auf. Es sieht so aus, als sei sie lange mit Handschellen gefesselt gewesen.“
„Das ist ja Wahnsinn. Wer macht so etwas? Gibt es andere Fälle in der Gegend, die ähnlich gelagert sind?“
„Nein, es gibt derzeit keinen, auch nur halbwegs gleichartigen Fall in unserem Gebiet.“
„In der Zeitung stand, dass die Frau Merkmale von langzeitiger Unterkühlung aufwies. Wie erklärt sich das bei dem heißen Sommer, den wir seit Wochen haben?“
Vinzenz war offensichtlich blendend informiert. Auch diese Information hatte nicht in der Rhein-Neckar-Zeitung gestanden.
„Ja, das ist wahr. Die Untersuchungen haben ergeben, dass die Tote über einen längeren Zeitraum in kalter Umgebung verbracht haben muss, also einem tiefen Keller oder einem Kühlhaus. Ihre Haut ist zudem vollständig blass, das heißt, sie hat seit Wochen das Sonnenlicht nicht gesehen.“
„Vielleicht finden im Untergewölbe des Pfarrhauses ja nächtliche Orgien statt.“
Kilian sprach das aus, was die Medien im Geheimen hofften, nämlich, dass durch die Tote ein dunkles Geheimnis ans Licht kommen würde. Der Unterhaltungswert solcher Vermutungen war hoch, doch sie entbehrten jeglicher Grundlage. Wann war Tobias das letzte Mal im Untergeschoss des Pfarrhauses gewesen? Richtig. Als er der Pfarrsekretärin geholfen hatte, den Internetzugang im Pfarrhaus wiederherzustellen. Auf der Suche nach dem Router waren er und die Sekretärin durch das gesamte Haus von oben bis unten gegangen. Das Gewölbe war weitläufig, deutlich größer als von außen vermutet. Groß genug wäre der Keller also für schwarze Messen. Aber war das realistisch?
„Jungs, Ihr könnt denken, was Ihr wollt. Aber ich sage euch nur eins. Was teilweise durch die Presse geht, ist pure Spekulation. Die sich vermutlich gut verkauft, aber mit der Wahrheit, wie wir sie bis jetzt ermittelt haben, rein gar nichts zu tun hat!“
„Wenn es nicht der Pfarrer war, dann bleibt eigentlich nur Eugen Förster.“
Kilian ließ nicht locker. Klar. Die Metzgerei Eugen Förster war unmittelbar am Kirchplatz gelegen und verfügte vermutlich über genügend große Kühl- und Kellerräume. Aber diese Tatsachen allein machten die Familie nicht verdächtig. Und dass jemand von ihnen nachts zum Unhold mutierte und hemmungslos über junge Frauen herfiel, sie quälte und dann auf der Kirchenpforte ablegte, war wirklich schwer vorstellbar.
„Das Ganze ist schon sehr merkwürdig. Wie geht es denn jetzt weiter?“
Dominik zuckte mit den Schultern.
„Wir werden weiter in alle Richtungen ermitteln. Diese Tote gibt uns eine Menge Rätsel auf. Wir wissen nicht, wer sie ist und was passiert ist. Wir haben kein Motiv und keinen Verdächtigen. Wir müssen abwarten, was sich bei unseren Nachforschungen noch so alles ergibt. Ich bleibe da zuversichtlich.“
Wenn Dominik so etwas sagte, dann bedeutete dies, dass die Polizei nicht nur nichts wusste, sondern auch keine heiße Spur hatte, die sie verfolgen konnte.
Die Jungs schienen für heute genug gehört zu haben. Vinzenz und Kilian schnappten sich ihre Tennistaschen und marschierten in Richtung Tennisplätze. Puh! Die beiden wollten nach den ganzen Weizenbieren und bei der immer noch brütenden Hitze wirklich Tennis spielen. Am besten Tobias suchte sich drei Mitspieler für ein Doppel. Das war unter diesen Umständen am wenigsten anstrengend und schweißtreibend.
Es war schon verrückt, wie stark dieses brutale Verbrechen die Menschen in ihrem friedlichen Heimatort bewegte. Und es war beängstigend, wie wenig die Experten von der Polizei bis jetzt ermittelt hatten. Nicht auszudenken, wenn die Untersuchung sich fest- oder sogar totlaufen würde. Na ja. Früher oder später würden die Nachforschungen schon noch etwas ans Tageslicht fördern.
Acht Wochen hatte das Azorenhoch den Mälschern tagsüber Gluthitze und nachts tropische Wärme beschert. Vom gnadenlosen Dauerbeschuss der Sonnenstrahlen war die Dreitausend-Seelen-Gemeinde am Fuße des Letzenbergs ausgedörrt und ausgemergelt. In den umliegenden Weinbergen hatte die unbarmherzige Hitze die Erde zwischen den Reben steinhart gebacken und in kleine Schollen zerteilt, deren Ränder sich sanft nach oben wölbten. Auch die Landewiese des Segelflugplatzes, der zwischen Ortskern und dem Landschaftsschutzgebiet Malscher Aue lag, hatte der Hitze nicht standgehalten. Die unbarmherzige Sonne hatte das Gras braun gefärbt, das in normalen Sommern genügend Feuchtigkeit aus dem angrenzenden Wäldchen bezog und sich so dem Ausdorren erfolgreich widersetzte. Selbst der Graswiesenbach, den Naturschutzfreunde vor einigen Jahren parallel zum Verbindungsweg zwischen Friedhof und Flugplatz angelegt hatten, war versiegt. Der Bach teilte sein Schicksal mit vielen Rinnsalen, die in den Mälscher Fluren auch im Sommer plätscherten. Ihre Betten, die normalerweise kaum sichtbar unter grünen Halmen verborgen lagen, boten den Spaziergängern ein trauriges Bild aus erstarrtem Lehm und totem Gras.
Auf den geteerten Wirtschaftswegen, die die Mälscher Flure parzellierten, lag eine geschlossene Decke aus feinem Staub. Fahrzeuge, die die Wege benutzten, rissen die graubraunen Partikel aus ihrem Schlaf und wirbelten den pulvertrockenen Staub zu lang gezogenen Wolken auf, die sowohl Fußgänger als auch die umgebende Vegetation verschlangen und nur unwillig langsam wieder freigaben. Nur im Rückhaltebecken, das tief verborgen und von Bäumen umsäumt am Eingang der Malscher Aue lag, gab es noch ein wenig Wasser. Aber der Spiegel war so tief gesunken wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen in Malsch.
Doch nicht nur die Natur ächzte unter der Hitze und der anhaltenden Trockenheit. Auch die Menschen waren ausgelaugt von den Rekordtemperaturen, die sie Tag und Nacht ertragen mussten. Die fehlende nächtliche Abkühlung lähmte die Menschen und raubte ihnen Energie für den Tag. Der allmorgendlich strahlend blaue Himmel, den sich die Menschen im nasskalten Winter sehnlichst gewünscht hatten, war zur Last geworden. Die Träume von Sommer, Wärme und unbeschwertem Leben, welche die Reiseindustrie mit Fotos in Reiseprospekten so geschickt inszenierte, waren zu Albträumen für die Menschen geworden. Selbst die Kinder hatten keine Lust mehr, ins Freibad zu gehen. Nach dem wochenlangen Sommer sehnten sich die Menschen nach all dem, was sie am Ende des Winters so intensiv hassten, nämlich Regen, Nebel und deutliche Abkühlung.
Doch das Azorenhoch war hartnäckig. Immer wieder hatte es atlantische Tiefdruckgebiete abgewiesen, die von Nordwesten anklopften, und sie in Richtung Schottland und Norwegen geschickt. Erfahrene Meteorologen sahen jedoch, dass das Hoch täglich an Kraft verlor. Die Demarkationslinie zwischen Sonne und Regen verschob sich von Tag zu Tag von Norden nach Süden und von Osten nach Westen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Regen und Abkühlung versprechende Zyklone in das von der stabilen Hochdruckzone so unbarmherzig verteidigte Territorium eindringen würden.
Für die Menschen wurde der anstehende Wechsel Anfang September langsam sichtbar. Erste Wolkengebiete zeigten sich am Horizont, zuerst zaghaft, doch dann mit mehr Kraft und Macht. An einem Nachmittag war es schließlich so weit. Graue Wolken hatten den dauerblauen Mälscher Himmel besetzt und bereiteten sich vor, ihre Schleusen zu öffnen. Erste Tropfen durchschnitten zaghaft die trockene Luft und erreichten die von der Sonne geschundene Erde. Als die frühen Wasserspritzer den Boden berührten, schlugen sie kleine Krater in die Staubschicht. Für einen Moment schien es, als prallten unbekannte Welten aufeinander, die sich zunächst scheu und zaghaft aneinander gewöhnen mussten. Doch der stärker werdende Regen gewann langsam die Oberhand und verwandelte die Staubkraterlandschaft langsam, aber zielstrebig in eine seifige, feuchte Schicht. Als die Staubdecke schließlich durchfeuchtet war, begann das Wasser, den steinhart gebackenen Boden Schritt für Schritt aufzuweichen.
Der Regen kam so ruhig und war so leise, dass die Menschen, die sich in den Wohnungen und Häusern aufhielten, den Wandel zunächst gar nicht bemerkten. Als jedoch der anhaltende leichte Niederschlag zu einer spürbaren Abkühlung führte und sich deshalb ein angenehmer Luftzug entfaltete, wurden die Mälscher auf die Wetteränderung aufmerksam. Viele verließen ihre Häuser und Wohnungen und gingen auf die Straße. In stiller Bewunderung genossen sie den Temperaturwechsel. Endlich konnte man wieder durchatmen. Der seit Wochen auf Hitze eingestellte Körper nahm die kühlenden Tropfen auf der Haut als willkommene Abwechslung wahr.
Der leichte Regen dauerte die ganze Nacht. Viele Mälscher ließen dankbar ihre Fenster und Türen sperrangelweit offen, um die überhitzten Wohnräume abzukühlen. Nach Wochen fanden sie wieder zurück zu einem erholsamen Schlaf. Gestärkt und wiederbelebt stiegen sie am nächsten Morgen aus ihren Betten und begannen mit frischem Elan ihr Tagewerk. Die Abkühlung hielt an. Das Wetter war weiterhin schön, nur gab es jetzt endlich wieder Wolken, Sonnenschein und Regen im Wechsel und im Durchschnitt zehn Grad kühlere Temperaturen. Nach wenigen Tagen hatten die Wohnungen und Häuser ihre Überhitzung überwunden, sodass die Menschen auch in geschlossenen Räumen nicht mehr das Gefühl hatten, zu ersticken.
Der Regen wusch alle Spuren der Hitzewelle im Ort und im Umland innerhalb weniger Tage weg. Schnell normalisierte sich das Leben wieder. In den Köpfen der Mälscher wurden die Wochen der Hitze als abgeschlossene Periode verbucht, und man begann, vor allem an die schönen Seiten dieses außergewöhnlichen Sommers zu denken. Das Unterbewusstsein der Menschen filterte die Ereignisse dieses Sommers und blendete das Unangenehme systematisch aus. Die Belastungen und die Mühsal der Tropentage und -wochen wurden verdrängt.
Hinzu kam, dass neue Aufgaben warteten: Für die Kinder war der Regen das Zeichen für den anstehenden Rhythmuswechsel in ihrem Leben. Die Tage des Urlaubs, die unbeschwerte Zeit im Schwimmbad, der durch die Hitze erzwungene Müßiggang, all dies neigte sich dem Ende zu. Der Ruf der Schule war unüberhörbar und ließ sich auf Dauer nicht ignorieren. Für die vielen Weinbergbesitzer begann die Zeit, in der die Weinlese vorbereitet werden musste. So war es nicht verwunderlich, dass das Interesse an der unbekannten Toten nachließ. Sie war aus dem Nichts gekommen, hatte für Aufruhr gesorgt und schien wieder in ein Nichts gegangen zu sein. Die Erinnerung war zwar vorhanden und brach noch zuweilen in Gesprächen durch, doch die Ereignisse rund um die junge Frau wurden mit jedem Tag schemenhafter. Der Horror, der die Menschen vor Kurzem unerwartet getroffen und tief aufgewühlt hatte, wurde durch den Alltag überdeckt. Das Leben musste weitergehen.
„Wir haben schon wieder so einen Mist auf in Deutsch!“
Interessant! Gegenüber Tobias‘ eigener Schulzeit hatte sich offensichtlich nichts geändert. In der Schule hatte er Deutsch früher als furchtbar empfunden. Alles, was sie gelesen hatten, war entweder langweilig oder irgendwie komisch.
„Jetzt beruhige dich doch erst einmal, Zoe. Heute ist Samstag. Du musst doch gar nicht zur Schule. Und der Stuhl kann nichts dafür!“
Warum ließ Zoe ihren Unmut eigentlich immer an Türen und Stühlen aus? Es war wirklich nicht notwendig, Türen zu knallen und sich mit voller Wucht auf die Esszimmerstühle zu werfen, schon gar nicht an einem Samstagmorgen.
„Was habt Ihr denn auf?“
„Irgendein blödes Gedicht auswendig lernen!“
Dem Ton nach zu urteilen, sprach das lyrische Werk seine Tochter überhaupt nicht an.
„Kannst du es schon?“
„Ja, aber es ist doof.“
„Kann ich es mal hören?“
Mal sehen, ob sie sich dazu bewegen ließ, ihrem Vater das Gedicht vorzutragen. Falls ja, dann würde sie sich beruhigen und der Rest des Frühstücks friedlich verlaufen.
„Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen.“
Herrlich! Wunderbare Sprache. Starke Aussagen über den Verlauf des Lebens. Nur nichts für Kinder. Die Lebensrealität von Zoe war nicht von klirrenden Fahnen im kalten Wind geprägt. Kalten Wind kannte ihre Tochter nur vom Fußball. Das Wort 'heilignüchtern’ gehörte ganz sicher nicht zu ihrem Sprachgebrauch. Und auch nicht zu seinem, wenn er ehrlich war. Dass Lehrer so etwas nicht verstanden. Sollte er Zoe sagen, dass ihm das Gedicht gefiel? Besser nicht! Das würde nur zu einem erneuten Wutausbruch seiner Tochter führen.
Von wem stammten die Verse eigentlich? Keine Ahnung. Zoe müsste es wissen.
„Wer hat die Zeilen geschrieben?“
„Keine Ahnung. Irgendeiner halt.“
Der Deutschunterricht schien ja beeindruckende Lernerfolge zu erzielen. Zoe hatte vermutlich wieder einmal nicht aufgepasst, sonst hätte sie gewusst, von wem das Gedicht stammt.
Wie wenig sich Schule doch über die Jahre verändert hatte. Als Tobias mit seiner Tochter zum ersten Mal das Euler-Gymnasium in Östringen besucht hatte, fühlte er sich zurückversetzt in seine eigene Schulzeit. Der Aufbau des Gebäudes, die Wände, die Böden, der Geruch - alles wie früher. Die Klassenzimmer verströmten immer noch den Charme eines Gefängnisses, und das Schulgebäude verfügte über den architektonischen Esprit eines ostdeutschen Plattenbaus. Vermutlich waren die Abläufe und auch die Lehrerpersönlichkeiten in einer modernen Schule noch die gleichen wie vor vierzig Jahren. War es tatsächlich schon so lange her, dass er selbst als Schüler in ein Gymnasium gegangen war? Und war dies tatsächlich die beste Zeit seines Lebens gewesen, wie sein Vater ihm immer wieder glaubhaft versichert hatte? Na ja. Da fielen Tobias auch noch andere gute Abschnitte in seinem Leben ein.
Das Witzigste an der Schule waren die Elternabende. Die Klassenlehrer ratterten jedes Mal mechanisch organisatorische Hinweise über das Schuljahr herunter und informierten über geplante Exkursionen oder Schullandheime. Ihre Litanei wurde immer wieder unterbrochen durch Fachlehrer, die in den Raum hereinschneiten, sich und ihr Fach vorstellten, kurz auf Fragen antworteten und dann in das nächste Klassenzimmer zu einer anderen Elternschar turnten. Das Ganze war einfach grotesk. Loriot hatte vermutlich keine Kinder, sonst hätte er Elternabende sicher zu einem unvergesslichen Sketch verarbeitet. So ähnlich wie der über den Lottogewinner Erwin Lindemann.
„Worüber lachst du?“
„Oh, ich musste an deine Schule und die Lehrer denken. Und die ungewollt amüsanten Elternabende, die ich bei euch schon erleben durfte.“
„Ja, an der Schule ist manches lachhaft. Vieles aber nicht. Zumindest für uns Schüler!“
Da hatte sie vermutlich recht. Tobias konnte überall über die Schule laut sagen, was er wollte. Seine Tochter konnte das nicht.
„Was steht denn als Nächstes bei dir an?“
„Ausnahmsweise was Interessantes. Wir machen ein fächerübergreifendes Projekt mit Schwerpunkt Geografie.“
Geografie! Das war doch eines von Tobias‘ Abiturfächern gewesen. Was hatten sie da in seiner Schulzeit nicht alles durchgekaut? Den Aufbau orientalischer Städte zum Beispiel. Den hatte er im Abitur erläutern dürfen. Ob die Schüler von heute immer noch solch relevante Themen besprachen?
„Worum geht es denn diesmal? Die Bevölkerungsentwicklung der indigenen Völker in den brasilianischen Regenwäldern oder die Seehundjagdtechniken der Inuit?“
„Häh, keine Ahnung, wovon du redest. Wir beschäftigen uns mit dem deutschen Wein. Wie er hergestellt wird, wo er wächst und so weiter.“
Der deutsche Wein! Ein Thema aus ihrem Lebensumfeld. Unglaublich! Waren seine Einschätzungen über die Schule vorurteilsbehaftet, wie Marlies ihm immer vorwarf? Deutscher Wein. Zu diesem Thema musste Tobias seine Tochter in den nächsten Wochen auf jeden Fall noch einmal ansprechen.
Die Chance durfte Tobias sich nicht entgehen lassen. Zoe stapfte ins Wohnzimmer und schaute ihn mit großen Augen an. Offensichtlich blendend gelaunt und auf der Suche nach einem Gesprächspartner. Eine gute Gelegenheit, um sich über den aktuellen Stand ihres Weinleseprojektes zu erkundigen. Dafür lohnte es sich sogar, den Kopfhörer abzunehmen. Musik konnte er später immer noch hören. Ob Zoe nachher noch ansprechbar war, konnte man nicht wissen.
„Wie läuft denn dein Weinleseprojekt?“
„Gut!“
Ihr Lächeln verriet, dass das Projekt ihr Spaß bereitete.
„Das Ganze ist so geplant, dass jeder in der Klasse einen Aspekt untersucht. Am Ende haben wir dann das Thema ganzheitlich erarbeitet.“
„Welchen Aspekt hast du dir ausgesucht?“
„Ich beschäftige mich mit der Frage der ausländischen Hilfskräfte bei der Weinlese. Wo kommen sie her? Was machen sie? Wie leben sie hier? Und so weiter.“
Ausländische Arbeitskräfte bei der deutschen Weinlese. Dazu hatte Tobias einen Artikel in einem Online-Magazin gelesen. Darin hatte der Autor ausgeführt, dass deutscher Wein ohne Billigarbeitskräfte aus dem Ausland gar nicht existieren würde. Die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung waren nämlich so bescheiden, dass die Weinlese für einheimische Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger unattraktiv war. Mal schauen, ob Zoe diese Informationen auch schon im Internet entdeckt hatte.
„Klingt gut. Hast du schon Material gesammelt? Wie willst du vorgehen?“
„Ich suche im Internet und wollte dann Fabius befragen.“
Das war eine clevere Idee! Fabius und Charlotte Liebermann führten ein Weingut in Malsch, das ganz in der Nähe ihrer Wohnung lag. Über die Jahre hatten Marlies und Tobias sich mit ihnen angefreundet, sodass es mehrere gute Gründe gab, nach einem Spaziergang scheinbar zufällig in der Probierstube aufzutauchen: entweder um einen neu abgefüllten Wein zu probieren oder einfach um mit den Inhabern zu plauschen.
„Das ist eine gute Idee. Sag‘ Bescheid, wenn du zu Fabius gehst. Da komme ich gern mit.“
„Ich weiß, Papa!“
Zoes breites Grinsen verriet, dass sie die Vorliebe der Eltern für Spätlese aus dem Hause Liebermann kannte.
„Bis nachher.“
Weg war sie. Hmmh. Lange hatte ihre Unterhaltung ja nicht gedauert! Nicht schlimm, denn Tobias hatte alles erfahren, was er wissen wollte. Außerdem konnte er jetzt weiter Musik hören.
Wenn Zoe gründlich recherchierte, dann würde sie auf grundlegende Errungenschaften der europäischen Integration stoßen, wie zum Beispiel die Freizügigkeit für Bürger aus den Mitgliedsstaaten und die viel diskutierte Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für die osteuropäischen Beitrittsländer. Was hatten Befürworter und Gegner dieser Öffnung nicht alles in deutschen Talkshows ‘rauf und ‘runter diskutiert! Und natürlich hatte jede Seite das Ende des Abendlandes prognostiziert, wenn ihre jeweilige Position nicht umgesetzt würde. Doch soweit war es bis jetzt zum Glück noch nicht gekommen. Oder zumindest hatte Tobias nichts davon mitbekommen.
„Ich habe den ersten Entwurf meines Projektes fertig.“
Projekt? Welches Projekt? Keine Ahnung, wovon Zoe sprach? Dass sie ihn immer so überfallen musste, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.
„Welches Projekt?“
„Papa! Unser Weinprojekt in der Schule. Die Weinlese!“
Zoes Tonfall war unzweifelhaft zu entnehmen, dass sie genervt war. Tja, so etwas passierte halt, wenn sie sich beim Nachhausekommen direkt auf Tobias stürzte.
„Ah! Das Weinprojekt. Sag das doch gleich. Jetzt machen wir Folgendes: Ich ziehe mir erst einmal die Schuhe und die Jacke aus, und dann komme ich zu dir ins Esszimmer. Okay?“
„Na gut. Ich warte oben.“
Das klang ja schon deutlich weniger aggressiv! Sehr gut! Jetzt in Ruhe die Schuhe ausziehen, dann die Jacke aufhängen.
„Na, wie war’s in der Firma? Aktienkurs gesteigert?“
Huch, da war ja noch jemand im Flur.
„Puh. Du hast mich vielleicht erschreckt, mein Schatz!“
„Sorry, keine Absicht.“
„Kein Problem. Heute habe ich für Kunden arbeiten können und nicht gegen interne Prozesse kämpfen müssen. Du, ich muss jetzt hoch. Ins Esszimmer. Habe ich Zoe versprochen. Sie wartet auf mich. Will mir etwas über ihr Projekt erzählen.“
„Klasse. Ich muss in die Küche. Dort ist was im Ofen.“
Ein kurzer Kuss auf die Wange, und schon war sie weg. Schnell noch ins Schlafzimmer, bevor Zoe es merkte. Hemd ausziehen, Polohemd überstreifen. Noch in die Feierabendjeans schlüpfen und ab ins Esszimmer.
„Na, endlich!“
Schon wieder so ein motziger Ton. Hatte das Umziehen wirklich so lange gedauert?
„Dann lass mal hören!“
„Also, ich habe mit Fabius gesprochen. Er hat mir erzählt, dass er Arbeiter hat, die aus Bulgarien kommen und die die Weinlese machen. Deutsche Arbeitskräfte sind schwer zu bekommen. Ist wohl zu schlecht bezahlt und anstrengend.“
Dann stimmten die Informationen also, die Tobias im Internet gelesen hatte. Mal schauen, ob sie auch etwas über das Entsendegesetz in Erfahrung gebracht hatte.
„Okay! Und die Arbeiter dürfen einfach so kommen?“
„Ja, das ist alles legal. Und es ist einfacher geworden, hat Fabius gesagt. Früher musste er viele Anträge ausfüllen und sich Genehmigungen einholen. Aber seit einigen Jahren ist das nicht mehr nötig. Da hat es irgendeine Änderung gegeben. Er hat was von einer Öffnung des Arbeitsmarktes für osteuropäische Beitrittsstaaten gesagt.“
Klar, wenn Fabius Arbeiter aus Osteuropa anheuerte, dann musste er das natürlich wissen.
„Genau. Das wurde damals heiß diskutiert. Und wie findet Fabius die Bulgaren? Fährt er selbst dahin und heuert sie an?“
„Nein, nein. Also früher war das schwieriger. Da musste er sich um die Suche selbst kümmern. Aber jetzt ist das ganz einfach. Heute gibt es eine Agentur, und die vermittelt die bulgarischen Arbeiter für alle.“
„Wie für alle? Für wen denn noch?“
„Na ja, für alle Mälscher Weingüter. Die bestellen alle Arbeiter über die gleiche Vermittlung. So sparen sie Geld und Zeit. Klappt gut, sagt Fabius.“
Interessant! Die ortsansässigen Weingüter verlagerten die Beschaffung von Saisonarbeitern zu einer Servicefirma, die dann für die Rekrutierung und für die Verträge zuständig war. Die Beschaffung osteuropäischer Arbeitskräfte für die Weinlese funktionierte also genauso wie für die Pflege. Auch hier gab es Vermittler, die Betreuerinnen und Betreuer in Osteuropa anheuerten und nach Deutschland brachten.
„Das ist ja dasselbe wie bei Opa! Weißt du noch? Da hatten wir damals eine 24-Stunden-Betreuung! Die kam auch aus Bulgarien.“
„Stimmt! Bevor Opa gestorben ist. Das hat doch damals gut geklappt. Die war auch immer nett!“
Tobias war damals sehr erleichtert gewesen, dass er eine Haushaltshilfe engagieren konnte. Ohne zusätzliche Hilfe hätte sein Vater nämlich nicht mehr alleine in seinem Haus wohnen können. Für Tobias war die Organisation der bulgarischen Hilfskraft dank einer Agentur reibungslos gelaufen. Die Vermittlung hatte alle notwendigen Aufgaben und Formalitäten übernommen - Rekrutierung, Transport, Papiere und so weiter. Doch ein wenig unwohl hatte er sich immer gefühlt, wenn eine neue Haushaltshilfe vor der Tür stand. Das Ganze umwehte ein Hauch von Menschenhandel. Man kaufte einen Service, und man bekam einen Service, und so lange alle Arbeiten ordentlich durchgeführt wurden, war es gleichgültig, wer den Service erbrachte. Das war vermutlich auch der Grund, warum die lokalen Weinbauern mit diesem Arrangement zufrieden waren. Sie benötigten Arbeitskraft, und sie bekamen Arbeitskraft. Alles andere interessierte sie nicht.
„Wenn das bei den Weinbauern genauso gut läuft wie bei Opa, dann werden die Weinbauern zufrieden sein.“
„Ja, das sind sie auch. Fabius klang total zufrieden.“
„Ich hab' Interviews geführt, Papa.“
„Welche Interviews?“
„Oh Mann, Papa. Nie weißt du Bescheid.“
Oh weia! Falsche Antwort. So etwas Blödes. Zoe meinte natürlich ihr Weinprojekt. Da hätte er schneller darauf kommen können. Aber was sollte er machen? Heute Morgen hatte er sich endlich aufgerafft, Rechnungen zu überweisen, steuerrelevante Unterlagen abzulegen und Versicherungspolicen zu prüfen. Der Stapel war in den letzten Wochen so bedrohlich angewachsen, dass er nicht mehr ignoriert werden konnte. Da er während der Woche abends nie Lust für solche Arbeiten hatte, blieb Tobias nur das Wochenende. Heute Morgen war Tobias extra früher aufgestanden, um den Briefstapel abzuarbeiten, bevor die Familie ihn in Beschlag nahm. Wer konnte ahnen, dass Zoe früher als erwartet auf den Beinen war. Ihr plötzliches Auftauchen hatte ihn aus seiner Arbeit herausgerissen.
„Ah, du meinst euer Projekt. Ich sitze gerade an den Rechnungen. Du weißt ja, dass ich das hasse. Also, dann schieß mal los.“
Zoes Miene erhellte sich ein wenig. Puh, gerade noch einmal die Kurve gekriegt. Aber was war jetzt? Statt loszulegen, setzte sich Zoe neben ihn und atmete tief durch. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten. Vermutlich waren Schwierigkeiten aufgetaucht.
„Das war nicht einfach. Die sprechen schlecht Deutsch.“
Schlecht Deutsch? Wer sprach schlecht Deutsch? Hatte sie nicht gesagt, sie wollte mit Fabius und Charlotte sprechen? Die beiden sprachen doch gutes Deutsch. Vermutlich war also mehr passiert.
„Mal der Reihe nach. Wann bist du wohin gegangen und hast mit wem gesprochen?“
Wieder holte sie tief Luft.
„Also, ich bin am Donnerstagnachmittag runter zum Segelflugplatz gegangen und habe versucht, mit einigen Arbeitern zu sprechen.“
„Ähm. Moment. Ich kann nicht folgen. Was hat denn der Segelflugplatz mit dem Weinbauprojekt zu tun?“
„Dort haben die bulgarischen Arbeiter ihr Camp, Papa. Wusstest du das nicht?“
Ah! Natürlich. Die Bulgaren. Richtig. Seine Tennisfreunde hatten ihm doch beim letzten Training erzählt, dass sich die osteuropäischen Weinarbeiter während der Lese in Wohnwagen auf einer Wiese hinter der Fliegerklause niedergelassen hatten. Dies ermöglichte ihnen, zusammen preiswert zu wohnen und zu leben. Außerdem stellten die Segelflieger den neuen Nachbarn die sanitären Einrichtungen ihres Vereinsheims zur Verfügung. Dies war Voraussetzung dafür gewesen, dass das Bürgermeisteramt die temporäre Nutzung der Wiese als Wohnwagenpark genehmigt hatte.
Wie es schien, war seine Tochter zu den bulgarischen Arbeitern gegangen. Respekt! Dass sie sich das getraut hatte. Sonst war sie doch eher auf der vorsichtigen Seite, wenn es um die Erkundung von Unbekanntem ging.
„Bist du da allein hingegangen?“
„Nein, Jasmin ist mitgekommen.“
Ah, natürlich! Zoe war nicht alleine in das Camp gegangen, sondern hatte Verstärkung mitgenommen. Jasmin gehörte zu Zoes ältesten Freundinnen in Malsch. Seit ihrem ersten Schultag in der Grundschule waren sie in der gleichen Klasse gewesen. Dies hatte sich im Euler-Gymnasium fortgesetzt. Jasmin hatte vermutlich auch eine Teilaufgabe im Weinprojekt zu erledigen. Also waren die beiden gemeinschaftlich zu den Bulgaren gegangen.
„Und was ist herausgekommen?“
Zoes Seufzen ließ vermuten, dass sie viel investiert, aber fast nichts herausgeholt hatte.