Blutiger Rhein - Nicola Förg - E-Book

Blutiger Rhein E-Book

Nicola Förg

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Weihnachtskrimis regional – 12 mörderische Geschichten aus Nordrhein-Westfalen für die schauerlich-schönste Zeit des Jahres! Die Loreley singt nicht mehr. Das Ruhrgebiet ist ein gefährliches Pflaster geworden. Neben Nicola Förg, Mechthild Borrmann und Judith Merchant erzählen Alex Berg, Eva Maaser, Helene Henke, Karr & Wehner, Kirk Spader, Sabine Trinkaus, Sandra Lüpkes, Stephanie Bursch und Uwe Voehl in ihren Kurzkrimis von Äxten und Wunschzetteln in Deutschlands wildem Westen. In dieser Reihe sind außerdem erschienen: "Alpenland in Mörderhand", "Totschlag hinterm Deich", "Mordlust an der Leine", "Mord-Mord-Ost" und "Spätzlemorde".

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Seitenzahl: 201

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Blutiger Rhein

12 Weihnachtskrimis aus Deutschlands wildem Westen

Alex Berg, Eva Maaser, Helene Henke, Judith Merchant, Karr & Wehner, Mechtild Borrmann, Nicola Förg, Kirk Spader, Sabine Trinkaus, Sandra Lüpkes, Stephanie Bursch und Uwe Voehl

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Über dieses Buch

Weihnachtskrimis regional – 12 mörderische Geschichten aus Nordrhein-Westfalen für die schauerlich-schönste Zeit des Jahres!

Die Loreley singt nicht mehr. Das Ruhrgebiet ist ein gefährliches Pflaster geworden. Neben Nicola Förg, Mechthild Borrmann und Judith Merchant erzählen Alex Berg, Eva Maaser, Helene Henke, Karr & Wehner, Kirk Spader, Sabine Trinkaus, Sandra Lüpkes, Stephanie Bursch und Uwe Voehl in ihren Kurzkrimis von Äxten und Wunschzetteln in Deutschlands wildem Westen.

Inhaltsübersicht

Alex Berg: WintermärchenEva Maaser: Die unabsehbaren Folgen von GlühweingenussHelene Henke: Ein Toter hing am PonzelarJudith Merchant: Axt mit SchleifeKarr & Wehner: Dunkle Nacht der EngelMechtild Borrmann: Geben und NehmenNicola Förg: AdventskalenderKirk Spader: Bis das Harz gefriertSabine Trinkaus: Das MalheurSandra Lüpkes: WunschverzetteltStephanie Bursch: Weihnachtlicher WahnsinnUwe Voehl: Komisch, das mit OmmaÜber die Autoren
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Alex Berg

Wintermärchen

 

 

 

Ein heftiger Windstoß nahm Manu den Atem. Die Tür flog ihr aus der Hand und schlug mit einem Krachen gegen die Wand. Schneeflocken wirbelten in wildem Tanz in den dunklen Flur. Sie hatte kaum genug Kraft, die Tür von außen wieder ins Schloss zu ziehen, denn der Wind stemmte sich mit wildem Geheul wie ein großer, wütender Hund dagegen.

Manu zog die Schultern hoch, als die beißende Kälte des dämmrigen Dezembernachmittags unter ihre Funktionskleidung kroch, schob sich ihre Wollmütze tief in die Stirn und blinzelte die Straße hinauf und hinunter. Kein Mensch war unterwegs, die Flucht zwischen den Häusern gehörte allein dem Wind, der an den Büschen riss und Schneewehen in Hauseingänge häufte.

Eine weitere heftige Böe zerrte an ihrer Mütze und an ihren Nerven gleichermaßen. Es war weiß Gott kein Wetter zum Joggen, aber sie brauchte unbedingt Bewegung, musste ihrem Frust, ihrem Ärger und vor allem ihrer Traurigkeit etwas entgegensetzen.

* * *

Es war ein Tag für die Mülltonne des Lebens gewesen. Einfach zum Vergessen. Abhaken. Nie wieder daran denken. Wenn man denn könnte.

Den Grundstein für diesen verkorksten Tag hatte Manu schon am Abend zuvor gelegt: Nachdem sie zu viel billigen Rotwein getrunken hatte, war sie auf dem Sofa eingeschlafen, nur um mitten in der Nacht aus einem verstörenden Traum hochzuschrecken, dessen Beklemmung sie auch dann nicht losgelassen hatte, als sie sich längst, ausgestattet mit einer Wärmflasche, auf ihrer Seite des Doppelbetts unter die Daunen verkrochen hatte. An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen, und ihre Gedanken waren wie immer in den vergangenen Tagen und Wochen rasch zur anderen Betthälfte gewandert. Der leeren Hälfte, denn Helge war fort. Sie vermisste ihn schrecklich, auch wenn die letzten Monate ihres Zusammenlebens alles andere als harmonisch verlaufen waren. Gerade nachts überfiel sie die Einsamkeit regelmäßig. Sie lag grübelnd wach und fand oft erst in den frühen Morgenstunden in den Schlaf. So auch diesmal. Und dann hatte sie zu allem Unglück am Morgen den Wecker nicht gehört.

Mit ungewaschenen Haaren, knurrendem Magen und einer knappen halben Stunde Verspätung war sie in der Werbeagentur angekommen. Dabei hatte die ganze Hektik gar nichts genutzt: Jonas, ihr Art-Director, der leider nicht so friedliebend war, wie sein Name implizierte, sondern eher in die Kategorie eines Mars oder Odin einsortiert werden musste, wartete bereits an ihrem Schreibtisch und zog ein Gesicht wie ein übellauniger Steinfisch. Ihre Entschuldigung ignorierte er geflissentlich und knallte ihr die Broschüre auf den Tisch, die sie in der vergangenen Woche in den Druck gegeben hatte. Verzweifelt blätterte sie die Seiten durch, um den Fehler zu finden, bis Jonas schließlich die Nerven verlor und sie auf die verunglückte Stelle hinwies. Die gesamte Auflage war schon gedruckt, die Kosten beliefen sich in die Tausende, sollte die Druckerei sich nicht kulant zeigen. Und deren Geduld hatte Manu ebenfalls schon über die Maßen strapaziert. Einen Fehler nach dem anderen hatten die entgegenkommenden Mitarbeiter dort für sie ausgebügelt, seit einem halben Jahr ging das so. Seit Helge fort war. Und nun war Schluss. Jonas hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass der nächste Mist der letzte war, den sie bei Humboldt & Humboldt verzapfen würde. Er hatte eine Abmahnung aus der Sakkotasche gezogen, ihr in die Hand gedrückt und war abgerauscht.

Die Abmahnung. Das erste Mal an diesem Tag huschte ein flüchtiges Lächeln über Manus Gesicht, als sie sich daran erinnerte, wie sie den Wisch auf dem Heimweg ungelesen aus ihrer Handtasche gezogen und mit akribischer Geduld in kleine Fetzen gerissen hatte. Und wie sie diese Fetzen darauf wie Konfetti in den Wind geworfen und verfolgt hatte, wie leicht dieser die schweren Worte davontrug und mit den Schneeflocken vermischte, die in diesem Moment zu fallen begonnen hatten. So würde sie jetzt auch ihre trüben Gedanken davonwirbeln lassen, würde den Kummer aus sich herauslaufen, einfach fort. Entschlossen trabte sie los, über den festgetretenen Schnee der letzten Tage, in Richtung der Feldmark mit ihren schönen Laufwegen. Die kalte Luft erfrischte sie, machte sie nach dem langen, ermüdenden Tag wieder wach. Doch schon bald musste sie feststellen, dass der Wind zu stark war. Hier draußen, jenseits des Schutzes der Häuser, blies er so heftig, dass ihr der Atem wegblieb. Zudem hatte er den Schnee zu unregelmäßigen Verwehungen aufgetürmt, die ein weiteres Durchkommen unmöglich machten. Enttäuschung stieg in ihr auf, und ihr Blick streifte unwillkürlich den dunklen Waldsaum jenseits des Ortes. Die dicht stehenden Bäume brachen die Kraft des Windes, und auf den Wegen würde nur wenig Schnee liegen. Kurzentschlossen wandte sie sich um.

Auf dem Rückweg kam sie erneut an ihrem Haus vorbei. Die schmutzig weiße Fassade mit ihren dunklen Fensterlöchern wirkte wie immer wenig einladend. Nach dem Tod ihrer Eltern war das Haus in ihren Besitz übergegangen – ein Erbe, das sie traurig und euphorisch zugleich angetreten hatte. Sie hatte gehofft, in ihrem Elternhaus jene Geborgenheit wiederzufinden, an die sie sich aus ihrer Kindheit und Jugendzeit erinnerte, doch das hatte nie geklappt. Aus allen Poren des Hauses atmete Verfall, sogar Ablehnung. Es war so sehr das Zuhause ihrer Eltern gewesen, dass Manu die Abneigung des Gemäuers ihr gegenüber manchmal körperlich zu spüren glaubte. Es wollte sie nicht, betrachtete sie als Eindringling und machte es ihr unmöglich, auch nur die alten Tapeten von den Wänden zu kratzen. Daran hatte auch Helges Anwesenheit nichts ändern können.

Helge war ihr zuliebe in die Kleinstadt gezogen, aber der Traum vom großen Glück im trauten Heim zerschlug sich schon nach zwei Jahren. Nicht nur das Haus, auch die in seinen Augen piefigen Nachbarn, die scheußliche Siebziger-Jahre-Fußgängerzone von Fokkersdorf, Grillabende vor der Garage, der Mangel an Kneipen und noch einiges mehr, das den Rahmen für das Leben in einer durchschnittlichen deutschen Kleinstadt bildete, machten ihn mürbe. Als er das Angebot bekam, eine Bauleitung in Shanghai zu übernehmen, hatte er sofort zugegriffen. Dass die dortige Architektin schon zu diesem Zeitpunkt seine neue Freundin war, hatte Manu erst später erfahren.

Sie schüttelte die unerfreulichen Gedanken ab und lief weiter die Straße hinauf. Sie wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass die wie große, tote Augen wirkenden Fenster ihr nachstarrten, aber sie drehte sich nicht um, atmete nur die Stille dieses späten Winternachmittags ein, an dem auch die anderen Häuser in der Straße wie ausgestorben wirkten. Nirgends brannte Licht, kein Kind tobte durch den Schnee, kein Mensch führte seinen Hund Gassi.

Sie rannte bergauf zum Wald, der düster über ihrer Heimatstadt dräute. Allen Bauern, Landreformen und Holzfällern zum Trotz hatte sich der über vierzig Kilometer lange und fünfzehn Kilometer breite Hügel seinen Pelz aus Laub- und Nadelbäumen erhalten können, ein beliebtes Naherholungsgebiet für Großstädter, die am Wochenende zu Hunderten einfielen, um der Wanderlust, aber mehr noch der Trinkfreude in einer der angesiedelten Regional-Brauereien oder Waldgaststätten mit klingenden Namen wie Waldkater, Hexenhaus oder Zur Galgeneiche zu frönen.

* * *

Als Manu den Waldrand erreichte, verlangsamte sie ihr Tempo. Unter den Bäumen war es dunkler, als sie erwartet hatte. Zögerlich trabte sie auf die uralte Buche zu, die den Eingang zu dem in den Wald führenden Hohlweg bewachte. Sie liebte den Baum, hatte schon in ihrer Kindheit jeden Ast erklettert. Doch heute erschien ihr der Baumfreund abweisend, beinahe bedrohlich. Schwarze, tote Äste reckten sich ihr entgegen, als wollten sie nach ihr greifen, und plötzlich war der Alptraum der letzten Nacht wieder präsent. Deutlicher als zuvor erinnerte sie sich an die verstörenden Bilder, die sie aus dem Schlaf gerissen hatten. Auch im Traum hatte ein Baum eine zentrale Rolle gespielt. Nicht die Buche, ein noch älterer Baum, ein Baum so alt wie die Welt, in dessen Ästen Dinge gehangen hatten. Dinge, die so grässlich gewesen waren, dass ihr Verstand sich selbst jetzt, in hellwachem Zustand, weigerte, ihr die Details zu offenbaren.

Unverhofft blieb ihr die Luft weg, und sie hielt keuchend unter der Buche an und starrte in den Hohlweg. Schneebedeckte Tannen säumten ihn, soweit sie sehen konnte, die Äste wie Zähne in einem weit aufgerissenen Maul. Ein heftiger Windstoß fuhr in die Buchenkrone, Schnee stäubte auf Manu herab und rieselte ihr in den Nacken. Sie schauderte. Nur Schnee, beruhigte sie sich, es ist nur kalter Schnee, doch in ihrem Bauch rührte sich etwas anderes: Angst. Eine unbestimmte, tief in ihrem Unterbewusstsein verwurzelte, uralte Angst. Jene Angst, die die Menschen dem Wald von jeher entgegenbrachten, lauerten doch in seinen Tiefen unaussprechliche Gefahren. Bären. Trolle. Die Geister der Toten. Ein unsicheres Lachen entfuhr ihr. Was für ein Unsinn. Ihre Phantasie ging mit ihr durch. Lauf einfach weiter, ermahnte sie sich, lauf wie schon Hunderte Male zuvor.

Sie gab sich einen Ruck, kämpfte gegen die plötzliche Schwere in ihren Beinen an, den unerklärlichen Drang, plötzlich umzukehren und nach Hause zu laufen, zurück in die Wärme und das Licht ihrer Wohnung. Wohl eher zurück zu all den düsteren Gedanken dieses Tages. Ungehalten schüttelte sie ihre Ängste ab, biss die Zähne zusammen und zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Als hätte sie eine Trennlinie überschritten, fiel ihr jeder Schritt, der sie weiter in den Wald hineintrug, leichter. Die Tannen verloren ihre Bedrohlichkeit, der weiche Schnee am Boden federte ihren Lauf und schluckte alle Geräusche. Nach zehn Minuten erreichte sie einen der Hauptwege. Hier standen die Bäume lichter, und sie entschied sich, ihre große Runde zu laufen. Die Zeit würde gerade reichen, um bis zum Dunkelwerden wieder nach Hause zu kommen.

Schon jetzt verspürte sie die heilende Wirkung der Bewegung. Ganz allmählich verpuffte der Ärger des Tages in der klaren Winterluft, und sie fühlte sich so kräftig und energiegeladen wie lange nicht mehr. Manu lachte in sich hinein. Das lag sicher an dem Adrenalinstoß, den ihr Körper beim Betreten des Waldes ausgeschüttet hatte. Umso besser, wenn die Angst eine derart beflügelnde Wirkung auf sie hatte. Sollten die Geister der Toten ruhig kommen. Sie würde ihnen einfach davonlaufen.

Sie lief und lief, ließ sich fallen in den Augenblick, sich einnehmen von dem verzauberten Schneewald, lief hinein in einen Endorphinrausch, wie es ihr in all den Jahren ihres Läuferlebens selten gelungen war. Ein Mann mit einem Hund kam ihr entgegen, hochgewachsen und schlank, jedoch nicht mehr als ein Schatten in der zunehmenden Dämmerung. Sie nickte ihnen im Vorbeilaufen zu, und der Mann sagte etwas zu ihr, nein, rief ihr nach, aber sie winkte ihm nur leichthändig zu, ohne den Sinn seiner Worte zu erfassen. Nicht anhalten, nicht jetzt, nicht das wunderbare Hochgefühl aufs Spiel setzen. Wieder kam eine Gabelung, wieder entschied sie sich für den längeren Weg, ihr Herz pumpte gleichmäßig und stark.

Doch auch der stärkste Rausch findet letztlich sein Ende. In einer Tannenschonung verlangsamte Manu ihr Tempo und nahm die Umgebung wieder wahr. Der Untergrund war moosig und triefte trotz der Kälte vor Nässe. Bei jedem Schritt sanken ihre Turnschuhe in dem weichen Boden ein. Wo die Schneelast von den dicht stehenden Tannen herabgerutscht war, schimmerte es hier und da weiß. Manus Lauf wurde immer verhaltener. Verunsichert blickte sie sich um, bemüht, das Zwielicht zu durchdringen. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Hier war sie noch nie gewesen.

Ein plötzlicher Knall ließ sie zusammenfahren. Mit pochendem Herzen presste sie sich an einen der rauhen Stämme. Mit einem Mal schien der ganze Wald um sie herum von Lärm erfüllt. Es knackte und raschelte, dann kam ein weiterer Knall. Entsetzt verharrte sie auf ihrem Platz, unfähig, sich zu rühren.

Da, kaum zehn Meter entfernt, eine Bewegung! Manu unterdrückte einen Schrei. Unter den Bäumen war das Licht inzwischen so schlecht, dass sie lediglich etwas Riesiges, Unförmiges erkennen konnte, das sich langsam durch die Äste nach unten bewegte. Das Knarren wurde lauter, ein Stöhnen erklang, dann riss sich das Etwas los und rauschte zu Boden.

Ein Ast.

Nicht mehr als ein alter, morscher Ast, der unter dem Gewicht des Schnees geborsten war. Mehr nicht! Manu weinte beinahe vor Erleichterung. Sie mochte diesen Teil des Waldes nicht kennen, doch wieder herauszufinden konnte nicht so schwer sein: Der große Forst bedeckte einen Bergrücken, sie musste nur bergab laufen und würde so über kurz oder lang den Waldsaum erreichen. Dort gab es Dörfer und Busverbindungen, sollte sie tatsächlich so weit vom Weg abgekommen sein, dass sie nicht in ihrer Heimatstadt herauskam. Alles kein Problem, beruhigte sie sich und spurtete trotzdem los, als seien tausend Teufel auf ihren Fersen. Die Waldangst war noch immer in ihr und trieb sie an, sie konnte gar nicht schnell genug die Sicherheit des weiten Feldes erreichen. Fünfzehn Minuten, überschlug sie im Kopf. Länger würde sie bei diesem Tempo nicht benötigen. Wenn nur endlich ein breiterer und hellerer Weg ihren kaum noch sichtbaren Pfad kreuzen würde! In weißen Wolken stieg ihr Atem vor ihr auf, ein Stechen fuhr ihr in die Seite, doch sie trieb sich weiter. Wo ihr der Wald vorher wildromantisch erschienen war, lauerten jetzt in den Schatten die Geschöpfe der Nacht.

Aber es kam kein Weg.

Obwohl sie darauf bedacht war, sich bergab zu bewegen, führte der Pfad sie scheinbar nur tiefer und tiefer in den Wald hinein. Immer dichter standen die Bäume, der Pfad wurde schmaler und verlor sich schließlich komplett. Panik stieg in Manu auf, und nur mit äußerster Willensanstrengung hielt sie sich auf den Beinen. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie sich über die verrottenden Überreste umgestürzter Baumriesen und verschlungenes Unterholz, während über ihr schwarze, schneeschwere Wolken über den Himmel jagten. Obwohl sie vor Anstrengung schwitzte, biss die Kälte sie mit jedem Moment empfindlicher in Ohren, Wangen und Nase.

Schließlich entfachte ein heller Schimmer Manus Hoffnung auf einen Weg. Erschöpft taumelte sie darauf zu, bildete sich ein, der Wald würde lichter werden, und dann stand sie tatsächlich vor einer Schneise. Doch es war nur ein Windbruch.

Tränen der Enttäuschung sprangen Manu in die Augen. Ungläubig starrte sie auf das Durcheinander umgestürzter Baumstämme, das sich als unüberwindliches Hindernis meterhoch vor ihr auftürmte, und hieb verzweifelt auf den nächstgelegenen Stamm ein. Das durfte einfach nicht wahr sein! Schluchzend sank sie zu Boden, atmete gegen ihre Enttäuschung an, gegen die Kälte und die noch immer in ihr brodelnde Angst. Nie mehr würde sie aus dem Wald herausfinden!

Schneefall setzte ein. Hypnotisiert folgte Manu mit ihrem Blick den leise zu Boden schwebenden dicken Flocken, die den Wald in kürzester Zeit mit frischem Weiß überzogen. Endlich ebbte ihre Panik ab und ließ rationaleren Gedanken Raum: Es gab definitiv keinen Grund zur Sorge. Sie hatte sich verirrt, ja, aber noch war es früh am Abend, im Grunde erst später Nachmittag an diesem kurzen Dezembertag, und selbst wenn sie Stunden benötigte, einen Weg aus dem Wald herauszufinden, so stand völlig außer Frage, dass sie einen finden würde.

Der leise fallende Schnee hüllte sie ein. Sie streckte ihre Hand aus und beobachtete, wie die Flocken sich im Stoff ihrer Joggingkleidung verfingen, und lauschte in die Stille hinein.

Damals hatte es auch geschneit. Eine ganze Nacht und einen ganzen Tag. Ein Schauer überlief sie, als eine lang verschüttet geglaubte Erinnerung an die Oberfläche ihres Bewusstseins stieg. Sie war damals gerade neun Jahre alt geworden. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Margret und Margrets zwei Jahre älterem Bruder Johannes hatte sie am Fenster gesessen und den tanzenden Flocken zugesehen. Sie hatten sich gegenseitig das Märchen von der Schneekönigin vorgelesen und am nächsten Tag im Garten einen Schneemann gebaut. Es war der prächtigste Schneemann in der ganzen Nachbarschaft gewesen, selbst Margrets und Johannes’ ewig schlechtgelaunte Mutter hatte sich gefreut und eine große Mohrrübe für die Nase spendiert. Es war einer der letzten unbeschwerten Tage ihrer Kindheit gewesen, denn kurz darauf …

Manu fuhr sich mit dem Handschuh über die Augen. Nein, besser nicht daran denken, zu schmerzlich war die Erinnerung an Margret und Johannes – an das, was damals passiert war.

Kälte kroch Manu in die Knochen. Sie erhob sich seufzend. Sie musste in Bewegung bleiben. Kalt genug zum Erfrieren war es nicht, aber wenn sie hier länger hocken blieb, würde sie sich eine Erkältung oder Schlimmeres zuziehen.

Erneut wandte sie sich bergab, und diesmal war das Glück auf ihrer Seite: Kaum hundert Meter vom Windbruch entfernt schlängelte sich ein schmaler, gut ausgetretener Pfad durchs Unterholz. Sie hielt den Blick konzentriert auf den unebenen, von Wurzeln durchzogenen Boden gerichtet und schritt flott voran, nur selten hob sie den Kopf. Einmal meinte sie, ein Glitzern durch die Bäume zu erspähen, aber es stellte sich als Irrtum heraus. Was auch immer dort gefunkelt hatte, die Lichter ihres Städtchens waren es nicht. Egal. In wenigen Minuten würde sie die Bäume hinter sich lassen, es konnte gar nicht anders sein. Der Pfad mäanderte weiterhin durchs Gehölz und führte dabei stetig abwärts. Vor jeder neuen Biegung schlug ihr Herz höher, doch jedes Mal wurde sie aufs Neue enttäuscht.

Eine weitere Biegung tauchte vor ihr auf, schärfer als jene zuvor. Manu bog um die Ecke und erstarrte vor Entsetzen. Direkt vor ihr stand ein Keiler. Dunkel und massig versperrte das mächtige Wildschwein den Weg. Hinter ihm, nur als vage Schemen auszumachen, entdeckte Manu im Dämmerlicht mindestens ein weiteres Dutzend der Tiere. Sie hatte den Keiler offenbar überrascht, denn er verharrte ebenso reglos wie sie. Einzig das schnelle Zucken seiner Nase und das Blinken seiner Augen zeigten ihr, dass er lebendig war. Das Tier hatte seine absurd kleinen Augen direkt auf sie gerichtet, die Ohren zuckten nervös. Riesige Hauer ragten aus seinem Unterkiefer, länger als ihre Hand. Manu war am Wald aufgewachsen, sie wusste um die mörderische Kraft der Tiere. Um ihre unbändige Wut, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlten. Und dieses monströse Schwein hatte allen Grund, zum Angriff überzugehen, viel zu nah war sie ihm gekommen.

Möglichst lautlos wich sie zurück. Einen Schritt, dann einen zweiten. Der Keiler rührte sich nicht. Sie wagte den nächsten Schritt, misstrauisch beäugt von der ganzen Rotte. Langsam, unendlich langsam entfernte sie sich von den Tieren. Schon glaubte sie sich in Sicherheit, da brach nicht weit entfernt mit lautem Knacken ein Ast. Das Geräusch weckte den Keiler aus seiner Lethargie, und mit furchtbarem Knurren stürzte er vorwärts.

Manu rannte um ihr Leben. Äste peitschten ihr ins Gesicht, doch sie spürte es gar nicht. Sie schlug Haken, hetzte durch die Bäume in der Hoffnung, der Keiler verfinge sich irgendwo, doch er wälzte mit brachialer Kraft alles nieder und blieb ihr dicht auf den Fersen. Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Während sie nahezu blind durch den Wald rannte, hielt sie hektisch Ausschau nach einem Baum, auf den sie klettern konnte, doch die Tannenstämme waren zu glatt. Sie preschte weiter, ihre Muskeln brannten. Überdeutlich sah sie die gewaltigen Hauer vor ihrem inneren Auge, die im Mondlicht totenweiß geschimmert hatten. Sie meinte zu spüren, wie sich mächtige Kiefer um ihr Bein schlossen und es zermalmten. Ein Wildschwein war dazu in der Lage, konnte Knochen durchbeißen, als wäre es nichts. Sie heulte mittlerweile, schrie, verschwendete ihren Atem für Hilferufe, die ungehört in dem einsamen Wald verhallten. Sie stolperte tränenblind weiter, ihr Körper nur noch eine Maschine, aufs Überleben programmiert, wo ihr Verstand längst aufgeben wollte. Eine Wurzel brachte sie zu Fall, und es war nur ihr Instinkt, der sie wieder hochriss. Als sie aufblickte, sah sie, dass die Wildschweine versuchten, sie einzukreisen. Aber das konnte nicht sein, unmöglich – es waren doch nur Tiere, einer derart überlegten und konzertierten Vorgehensweise waren sie nicht fähig! Mit einem Satz sprang Manu in den fragwürdigen Schutz eines Tannenstamms und lauschte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit. Sie hatte sich nicht getäuscht: Das infernalische Grunzen kam von allen Seiten – und es kam näher. Manu schloss die Augen. Wie weit war sie gelaufen? Es konnte nicht viel gewesen sein, auch wenn es sich so anfühlte.

Der Keiler brüllte, nah, so nah, er musste bereits vor ihr stehen. Sie meinte, ihn riechen zu können. Sie wollte nicht, doch sie musste die Augen wieder aufreißen, konnte nicht blind sein, wenn er sich auf sie stürzte. Im selben Moment schoss das schwarze Tier zwischen den Tannen hervor. Manu schrie und schrie, und dann fühlte sie etwas unter ihren Händen. Holz, geschältes Holz, rund und von Menschenhand gearbeitet: eine Leitersprosse! Die vermeintliche Tanne war das Bein eines Hochsitzes. Reflexartig kletterte Manu nach oben, als plötzlich ein Schmerz durch ihren Körper schoss. Einer der Hauer des Keilers zerfetzte ihr Hosenbein und riss ihr eine Fleischwunde. Doch sie gab nicht nach. Dann war sie oben, außerhalb seiner Reichweite.

Manu brach zusammen. Zusammengerollt wie ein Fötus lag sie weinend auf dem Knüppelholzboden, während unten der Keiler seine Wut an dem Hochsitz ausließ. Das ganze Gebilde schwankte, doch es hielt. Manu kam es vor wie eine Ewigkeit, bis das Tier endlich aufgab, und sie wartete noch eine weitere Ewigkeit, bis sie es wagte, sich wieder zu bewegen. Vorsichtig erhob sie sich und rutschte auf den Knien zum Schießschlitz in der Hochsitzwand. Vor ihr lag eine kreisrunde Lichtung von etwa fünfzig Metern Durchmesser. Außer einem Felsen genau in der Mitte wurde die ebenmäßige Schneefläche durch keinen Strauch oder Stein unterbrochen. Von den Schweinen war nichts zu sehen. Manu atmete auf. Leise kroch sie auf den Einstieg zu und spähte nach unten. In der unmittelbaren Nähe des Hochsitzes regte sich nichts. Mit angehaltenem Atem kletterte sie die Leiter hinunter, verharrte auf jeder Stufe, bereit, beim kleinsten Geräusch wieder in die Sicherheit des Unterstands zu flüchten, aber da war nichts. Kein Knacken, kein Quieken, nichts. Mit einem Ruck sprang sie auf den Boden und sprintete los.

Doch der Keiler schien genau darauf gewartet zu haben. Mit grässlichem Gebrüll brach er aus dem Unterholz und wälzte sich auf Manu zu. Doch diesmal war sie auf der Hut. Mit einem Satz war sie zurück am Hochsitz und die Leiter hinauf – keine Sekunde zu früh. Schwer atmend blieb sie in der Luke sitzen und starrte nach unten, direkt in die bösartig funkelnden Augen des riesig erscheinenden Schweins. Eine Gänsehaut überlief sie. Obwohl es Unsinn war, vermeinte sie etwas zutiefst Berechnendes, ja, Heimtückisches in seinen Augen zu erkennen.

»Du kriegst mich nicht!« Brüllend schleuderte sie dem Keiler ihre Angst entgegen. Zuckte das Tier tatsächlich kurz? Hatte es sich erschrocken? Noch immer hielten Manu und der Keiler die Blicke ineinander verschränkt. Ein lautloser Machtkampf, bis Manu die Nerven verlor und sich von der Luke zurückzog. Sie hörte den Keiler schnauben, dann das Knacken toter Äste. Ihre Gedanken rasten. Sollte sie es noch einmal wagen? Ein weiterer Blick durch den Schießschlitz belehrte sie eines Besseren: Die Lichtung wimmelte jetzt von Schweinen. Die langen Nasen in den Schnee gegraben, pflügten sie grunzend den Boden auf und rissen tiefschwarze Wunden in das Weiß. Mit einem Stöhnen lehnte sich Manu gegen die Wand. Sie würde die Nacht auf dem Hochsitz verbringen müssen. Alles andere als eine angenehme Vorstellung.

* * *