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Saskia Louis

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Beschreibung

Es ist nicht leicht, ein Teenager zu sein ... aber immer noch besser als ein Halbengel!

Der Auftakt der fulminanten Romantasy-Trilogie um Gabe und Ella

Als Ella an ihrem 18. Geburtstag anstatt mit Luftballons von einem Dolchträger überrascht wird, der sie umbringen will, steht ihre Welt Kopf. Der düstere Typ, der ihr das Leben rettet, ist zwar ganz süß, aber leider auch unerträglich arrogant – noch dazu behauptet er, er sei ein Todesengel. Er ist eindeutig wahnsinnig und nicht der richtige Umgang für sie. Doch als sich die merkwürdigen Ereignisse häufen und sie auf einmal selbst übernatürliche Fähigkeiten entwickelt, muss sie wohl oder übel einsehen, dass auf der Welt nichts ist, wie es scheint. Denn sie ist der letzte existierende Halbengel, dazu bestimmt die Welt zu retten … und ihre bloße Existenz schürt Hass und Verderben auf der Erde.

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Saskia Louis

Blutopal

 

Das Vermächtnis der Engelssteine 1

 

 

 

 

© 2023 by Saskia Louis

2. Auflage Januar 2023

Lektorat: Katrin Opatz

Korrektorat: Klaudia Szabo

Zeichnungen: Antonia Sanker

 

Umschlaggestaltung:Sarah Buhr - Covermanufaktur

unter Verwendung von Motiven von

© Stock.adobe.com, © Shutterstock.com

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Handlungen und Personen dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

 

Saskia Louis

Wegemanns Feld 16

45527 Hattingen

[email protected]

 

www.saskialouis.com

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Na, schon fertig?

Du kannst Teil 2 gar nicht erwarten?

Leseprobe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Sven,

weil er mir beigebracht hat, mich zu verteidigen.

 

Prolog

 

 

Jeder Mensch will etwas Besonderes sein.

Wenn ich die Wahl gehabt hätte – hätte ich dann nicht das Außergewöhnliche dem Normalen vorgezogen?

Doch die Menschen vergessen viel zu schnell, dass alles Konsequenzen nach sich zieht. Ich habe es auch vergessen.

Als ich durchschnittlich war, war ich unsichtbar. Jetzt kann ich mich nicht mehr verstecken.

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Rot. Blau. Gelb.

Rot. Blau. Gelb. Rot. Blau … Mir wurde schwindelig, als ich versuchte, den Farben mit dem Blick zu folgen. Sie blendeten mich, während sie immer engere Kreise um meinen Kopf zogen.

Rot. Blau. Gelb. Rot. Blau. Gelb. Die Farben verschwammen zu einer grauen Masse und tauchten mich in Dunkelheit.

»Hört auf«, flüsterte ich und wollte das Grau mit meinen Händen verscheuchen. Als wäre es eine Wespe, die zu nah an mein Gesicht flog. »Hört auf damit!« Doch meine Stimme verlor sich im leeren Raum. Mein Körper fing an zu kribbeln. Zuerst meine Fingerspitzen, dann meine Hände, meine Arme, meine Brust. Das Kribbeln ergriff Besitz von mir und ich wusste, obwohl ich sie nicht mehr sehen konnte, dass die Farben immer noch da waren. Ich hörte, wie sie sich auf der tödlichen Jagd nacheinander umkreisten, und plötzlich wurde mir unerträglich heiß. Das Kribbeln verbrannte mich von innen heraus und mein Blick wanderte zu meiner Brust, in der die Hitze am stärksten war.

Rot. Blau. Gelb.

Kleine Farbpunkte pulsierten nahe meines Herzens und Panik erfasste mich. Die Farben wollten aus meinem Körper hinaus und das Kribbeln wurde so unerträglich, dass ich fürchtete, ich würde explodieren. Die Flecken aus Farbe wuchsen an und ich leuchtete immer heller, bis …

Ich riss mich keuchend aus dem Schlaf und saß kerzengerade im Bett. Sonnenlicht schien auf mein Gesicht und erhellte mein Zimmer, doch mein Kopf brauchte etwas länger, um zu verstehen, dass es nur ein Traum gewesen war. Denn ich fühlte mich, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Etwas schnitt mir schmerzhaft in die Haut und schwer atmend griff ich über meine Schulter. Das Medaillon, das ich an einer ledernen Kette um meinen Hals trug und das gerade in meine Faust passte, hatte sich in meinen Haaren verfangen und versuchte, mich zu strangulieren. Vorsichtig schob ich es zurück auf meine Brust, bevor ich trocken auflachte.

Nur ein Traum! Natürlich würde ich nicht im nächsten Moment explodieren. Und Farben konnten nicht gegeneinander kämpfen!

Ich sank zurück in die Kissen und legte mir eine Hand auf die Stirn, an der eine Ader pulsierte. Es war ein Traum gewesen … aber es hatte so echt gewirkt! Wie die Hitze mich vereinnahmt, mich neue Kraft durchströmt hatte, ich …

»Happy Birthday to you …« Meine Tür wurde aufgestoßen und meine Mutter und Ian kamen mit strahlenden Gesichtern in mein Zimmer gefegt. »Happy Birthday to you, Happy Birthday, liebe Ella, Happy Birthday to yooouuu!«

Den letzten Ton zogen beide so wunderbar schief in die Länge, dass ich lachend den Kopf schütteln musste und mich erneut in die Senkrechte stemmte. »Ihr seid leider nicht im Recall«, stellte ich fest und wischte mir die Haare aus dem Gesicht.

»Na, so ein Pech.« Meine Mutter hielt eine Kerze in der Hand und ließ sich neben mir auf dem Bett nieder. Dann seufzte sie und ich hätte schwören können, dass Tränen in ihren dunklen Augen glitzerten. »Das letzte Mal, dass wir für dich singen können, bevor ich einsehen muss, dass meine Tochter erwachsen ist.« Sie drückte mich mit ihrem freien Arm fest an sich und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Ich verdrehte die Augen. »Erwachsen ist ein relativer Begriff, ich meine … schau dich an!«

Hinter ihr unterdrückte Ian ein Lachen, bevor er sich zu mir herunterbeugte, um mir ebenfalls eine Umarmung und einen Kuss zu geben. »Herzlichen Glückwunsch, Kleines. Schön, dass du dich immer noch mit uns abgibst.«

»Du musst dir noch was wünschen.« Meine Mutter wedelte mit der Kerze vor meiner Nase herum, die gefährlich auf ihrem Holzsockel wackelte.

Ich überlegte kurz, schloss die Augen und sagte laut: »Ich wünsche mir, dass Mama und Ian wieder nach unten verschwinden, damit ich in aller Ruhe duschen und mich fertig machen kann.«

Bedauernd schüttelte Mama den Kopf. »Du sollst den Wunsch doch nicht verraten. Jetzt wird er wohl nie in Erfüllung gehen.«

Grinsend zog Ian meine Mutter auf die Füße. »Komm, Lydia. Wie du schon gesagt hast: Deine Tochter ist jetzt erwachsen. Wir müssen einfach hoffen, dass sie weiß, wie man eine Dusche benutzt.« Mit sanfter Gewalt bugsierte er sie nach draußen, zwinkerte mir noch einmal zu und schloss die Tür.

Lächelnd ließ ich mich wieder zurückfallen.

Ich hatte Geburtstag, die Junisonne schien freundlich durchs Fenster, ich musste nur noch den Abiball hinter mich bringen und dann würde ich mit meiner besten Freundin für ein Jahr nach Australien verschwinden. Meinen Traum hatte ich schon fast vergessen.

 

Als ich eine halbe Stunde später in meiner täglichen Aufmachung aus Jeans und T-Shirt an den Küchentisch kam, war die Kerze wieder angezündet worden und stand nun auf einem Kuchen, der in großen Buchstaben »Elariel ist 18« verkündete. Ich verzog das Gesicht, band meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und sah meine Mutter vorwurfsvoll an. Sie wusste, wie sehr ich meinen Namen hasste, aber offensichtlich hatte ich trotz meiner Volljährigkeit noch genauso wenig Autorität wie zuvor.

»Zieh nicht so ein Gesicht!«, sagte sie und legte ein paar Geschenke auf den Tisch. »Das ist nun einmal dein Name.«

»Ja, und wem verdanke ich das?«

»Hey, ich lag neun Stunden in den Wehen und war mit Schmerzmitteln vollgepumpt. Mir kannst du keine Schuld geben!«

»Wem dann? Meinem Vater?«

Das Lächeln fiel von Mamas Gesicht und ich bereute meine Worte sofort. Ich hatte meinen Vater nie kennengelernt. Er war Soldat in der Bundeswehr gewesen und nicht aus dem Kosovokrieg zurückgekehrt. Meine Mutter musste ihn sehr geliebt haben, da sie noch heute jedes Mal zusammenzuckte, wenn ich ihn erwähnte. Nach seinem Tod hatte sie alles, was auf seine bloße Existenz hinwies, verschwinden lassen: Jedes Foto, jeden Brief, jede Habseligkeit aus seinem Besitz. Alles bis auf das Medaillon, das nun unter meinem T-Shirt versteckt auf meiner Brust lag.

Mir war schon oft der Gedanke gekommen, dass das einzige Foto, das von meinem Vater existierte, darin sein musste. Aber man brauchte einen Schlüssel, um es zu öffnen, und der hatte sich wohl zusammen mit allem anderen von ihm in Luft aufgelöst.

Ian räusperte sich in der unangenehmen Stille und klapperte mit dem Geschirr. »Willst du Kaffee, Ella?«

Ich nickte schnell und warf meiner Mutter einen entschuldigenden Blick zu, die jetzt wieder matt lächelte, ihre Augen immer noch ungewohnt geweitet. »Gern, mit Milch und …«

»… zwei Löffeln Zucker«, ergänzte er mit gehobenen Mundwinkeln. »Ich bin kein Anfänger, Ella.«

Ich grinste ihn an und eine Welle der Zuneigung überrollte mich. Ian war riesengroß, über eins neunzig, und mit seinen strohblonden Haaren, dem markanten Kinn und den grünen Augen wahrscheinlich relativ attraktiv – ich konnte das nicht objektiv beurteilen, da er genauso immer da gewesen war, wie mein Vater abwesend. Außerdem war er alt.

»So.« Ich sank auf einen Stuhl. »Kann ich jetzt meine Geschenke aufmachen, oder was?«

Meine Mutter erwachte aus ihrer Starre und packte den Rest an Paketen, der unter dem Tisch gestanden hatte, vor mir auf den Küchentisch. Das deutete ich als Ja. Die nächste Stunde verbrachte ich damit, Päckchen zu öffnen, Karten zu lesen und Schokoladenkuchen zu essen – denn seien wir ehrlich, Schokoladenkuchen war das verdammt beste Frühstück, das es gab.

Ich bekam eine komplette Trekking- und Campingausrüstung, eine Taschenlampe und ein Reisetagebuch geschenkt. Schließlich war nur noch ein quadratisches Päckchen übrig, kaum so groß wie meine Hand. Ich hob es vom Tisch und schüttelte es. Es war so leicht, dass ich schon vermutete, es sei vielleicht einfach leer und meine Mutter habe sich einen Scherz erlaubt. Doch ich lag falsch. Unter dem hellblauen Seidenpapier verbarg sich ein schwarzes Samtkästchen. Eine schlichte silberne Kette lag darin, die im Sonnenlicht glitzerte, als ich sie mit meinen Fingerkuppen anhob. Sie bestand aus lauter kleinen Ornamenten, die wie ineinandergehäkelt aussahen und hinten durch eine winzige, menschliche Faust, die man in einen Klickverschluss drücken musste, zusammengehalten wurden.

»Für dein Medaillon«, flüsterte meine Mutter und jetzt war ich mir sicher, dass sie Tränen in den Augen hatte. »Weil dein Lederband doch so langsam auseinanderfällt.«

Auch meine Augen brannten, doch ich gab mir Mühe, das so gut wie möglich zu verbergen. »Danke«, sagte ich mit merkwürdig kratziger Stimme und nahm das Schmuckstück ab, um es vom zerschlissenen Lederband zu lösen. Das Silber des Medaillons war schon an einigen Stellen zerkratzt, doch man konnte immer noch die vier kleinen Buchstaben erkennen, die auf der Vorderseite eingraviert waren. N, O, S und W. In der Mitte war ein vierzackiger Stern in das Metall geritzt, sodass die Oberfläche des Medaillons wie ein Kompass aussah. Nur dass er zwei anstelle einer Nadel besaß. Ich zog das einzige Erbstück meines Vaters über die neue Kette und wandte mich mit dem Rücken zu Ian, damit er sie für mich schließen konnte. Das Silber fühlte sich kalt auf meiner Haut an und ich umschloss es mit den Fingern, als könne ich so ein bisschen Körperwärme an den Gegenstand abgeben. Es war merkwürdig. Ich hatte meinen Vater nie kennengelernt und doch vermisste ich ihn manchmal. Ich hatte Mama und Ian und das war alles, was ich brauchte, aber manchmal fragte ich mich …

»Jetzt reicht es aber!«, sagte Ian. »Heute ist dein Geburtstag und nicht deine Beerdigung.« Er stand auf und nahm meine leere Tasse mit. »Noch Kaffee? Vielleicht mit ein wenig Lachgas drin?«

Ich ließ das Medaillon aus meiner Hand fallen und lächelte. »Ja, bitte. Aber wenn du Gas reintust, nehme ich einen Löffel Zucker mehr.«

»Na, dann vielleicht doch lieber einen Schluck Rum. Jetzt, da du achtzehn bist …«

»Ian! Bring sie nicht auf Ideen!«

»Genau, Ian. Ich bin ein braver Teenager. Teenager trinken keinen Alkohol.« Ich grinste meine Mutter an und schob mir noch eine Gabel Schokoladenkuchen in den Mund. Ich brauchte keinen Vater. Ian war mehr als genug.

Wir frühstückten länger als sonst und weil Samstag war, waren weder meine Mutter noch Ian in Hektik. Stattdessen war ich es, die immer wieder auf die Uhr sah und schließlich um kurz nach zwölf aufsprang. »Okay, ich muss los«, verkündete ich und fing an, meine Geschenke in den großen Trekkingrucksack zu packen, damit ich sie mit in mein Zimmer nehmen konnte.

»Los?« Verblüfft sah meine Mutter mich an. »Wohin?«

»Ich treffe mich um halb eins mit Leah am Plattenladen, damit ich mir mein Geschenk aussuchen kann.«

»Aber … Du gehst allein?«

Verwirrt sah ich sie an. »Nein, mit Leah, habe ich doch gesagt.«

»Aber wie kommst du hin? Willst du das Auto nehmen?«

»Das Wetter ist so schön. Ich laufe oder fahre Fahrrad. Sind doch nur zwanzig Minuten.«

Meine Mutter runzelte besorgt die Stirn. Belustigt küsste ich sie auf die Wange.

»Was ist los, Mama? Werden achtzehnjährige Mädchen auf der Straße öfter überfallen als andere Altersgruppen?«

Wir wohnten in einer Kleinstadt mit 6070 Einwohnern. Das Aufregendste, was hier passierte, war ein von der Fensterbank gestohlener Kuchen oder das Ausreißen einer heimischen Kuh. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Mutter sich plötzlich um meine Sicherheit sorgte.

»Nein, natürlich nicht.« Sie lächelte wieder. »Viel Spaß euch.«

»Danke.« Ich hievte den schweren Rucksack auf meine Schultern und erklomm die Treppe.

Um Gottes willen. Ich besaß keine Rückenmuskeln. Oder Beinmuskeln. Oder überhaupt Muskeln. Diesen Rucksack sollte ich ein Jahr herumtragen?

Ich lud ihn auf meinem Bett ab und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Ich sah genauso aus wie immer. Hellbraunes Haar in einem Pferdeschwanz, der meine Schultern streifte, hellblaue Augen, die mir immer ein bisschen zu groß vorgekommen waren, ein zu breiter Mund und eine schmale Nase. Nein. Bis auf mein Alter hatte sich nichts geändert.

Ich lief die Treppe hinunter und rief: »Bis später!«

»Pass auf dich auf, Ella!«, hörte ich meine Mutter noch antworten, bevor ich die Tür hinter mir ins Schloss zog.

Wir lebten in einem Haus, etwa zwei Kilometer von der Innenstadt entfernt. Es grenzte an ein kleines Waldstück und an mehrere abgeerntete Felder. Die Luft roch nach Bäumen und Kühen, am Himmel konnte man nachts die Sterne erkennen und Touristen kamen zu Besuch und nannten es »Kur«. Wir hatten zwei Supermärkte, eine Art Restaurant, in dem ich zurzeit jobbte, und eine Einkaufspassage, die man zu Fuß in fünf Minuten durchqueren konnte. Ein Bach verlief zwischen der etwas ländlicheren Gegend und der sogenannten Innenstadt. Der war allerdings so flach, dass man sich nicht einmal ertränken könnte, wenn man ohnmächtig mit dem Kopf voran hineinfiel. Ja, ich verstand, warum meine Mutter sich Sorgen machte. Es war so langweilig hier, dass sicherlich bald irgendwer aus lauter Verzweiflung mit einem Panzer die Straße hinunterdonnern würde, nur damit überhaupt einmal etwas passierte.

Die Sonne schien warm auf meinen Kopf und ich war schon halb aus unserem Gartentor, als mir einfiel, dass ich Leah ihre Jacke mitbringen sollte, die sie letzte Woche bei mir vergessen hatte.

Seufzend machte ich auf dem Absatz kehrt. Leahs Jacke hing gut sichtbar an der Garderobe und ich stopfte sie gerade in meine Tasche, als ich laute Stimmen aus der Küche hörte.

»Lydia, wir haben das hundertmal besprochen. Ich habe niemandem was erzählt, du hast niemandem was erzählt …«

»Ich weiß, ich weiß!« Meine Mutter klang ernsthaft aufgebracht.

»Dann weiß ich nicht, warum du schon wieder damit anfangen musst!«

Ich hörte Mama und Ian nicht gern streiten und wäre wahrscheinlich sofort wieder gegangen, wenn ich in diesem Moment nicht meinen Namen gehört hätte.

»Ich mache mir eben Sorgen um Ella!«

»Unnötige Sorgen! Sie ist vollkommen sicher.«

Ich runzelte die Stirn und trat einen Schritt näher. Sprachen sie über Australien? Fürchtete meine Mutter, dass mir dort etwas passieren könnte?

»Sicher? Wie kannst du das sagen! Sie wird nie sicher sein. Nicht, solange er …«

»Aber niemand weiß, dass sie existiert. Und niemand wird es herausfinden!«

Niemand wusste, dass ich existierte? Hallo! Ich hatte schon zweimal in der lokalen Zeitung gestanden!

»Aber was, wenn doch? Du hast selbst gesagt, dass mit achtzehn …«

»Sie ist eine Ausnahme, Lydia. Auf Ella trifft nichts von alldem zu! Außerdem ist sie, wenn überhaupt, eher passiv veranlagt.«

»Ian …«

»Wir würden es merken, wenn sie sich verändert!«

Wovon zum Teufel sprachen sie? Ich war nicht mehr in der Pubertät. So sehr verändern würde ich mich hoffentlich nicht mehr und … passiv? Lehrer hatten mich des Öfteren sogar als aggressiv beschrieben! Und warum sollte jemand herausfinden wollen, dass ich existierte? Warum sollte sich überhaupt jemand für mich interessieren? Ich meine, ja, ich war schon ziemlich toll und alles, aber …

»Aber was, wenn …«

»Lydia«, sagte Ian und es fiel mir schwer, ihn über meinen eigenen Atem hinweg zu verstehen. »Sie ist durch und durch deine Tochter. Ihr wird nichts passieren. Außerdem hat sie doch die Kette.«

Ich griff nach dem Medaillon, unter dem ich nun den stetigen, schnellen Schlag meines Herzens spürte. Irgendetwas sagte mir, dass es gerade nicht um Australien ging.

Wenn sie sich Sorgen um mich machten, sollten sie da nicht mal mit mir drüber reden? Vielleicht könnte ich die Sorgen sofort aus der Welt schaffen!

»Du hast recht«, sagte meine Mutter nach einigen Momenten der Stille. »Es tut mir leid. Es ist nur … manchmal frage ich mich … ach, egal. Lass uns zu Ende aufräumen.«

Sprachlos stand ich im Flur und starrte auf die verschlossene Tür, hinter der ich jetzt hörte, wie Geschirr in die Spüle geräumt wurde.

Da sage noch jemand, Teenager seien kompliziert.

 

 

 

 

Kapitel 2

 

»Ich. Bin. Zu spät«, keuchte ich eine halbe Stunde später, als ich vorm einzigen Musikladen der Stadt zum Stehen kam, vor dem meine beste Freundin schon auf mich wartete.

»Ich weiß«, antwortete Leah grinsend, als sie in mein feuerrotes Gesicht sah. »Aber weil du heute Geburtstag hast, werde ich dir nicht sagen, dass ich seit genau zwölf Minuten und dreiundzwanzig Sekunden auf dich warte. Also …« Sie zog mich in ihre Arme. »Herzlichen Glückwunsch und herzlich willkommen in der Volljährigkeit! Getrunken wird heute Abend.«

Irgendwo aus meinem Körper bekam ich noch genug Luft hergezaubert, um zu lachen. »Gott, ich sterbe gleich.« Immer noch schwer atmend, stützte ich mich mit meinen Händen auf die Knie. »Mein Fahrrad hatte einen Platten und dann bin ich den halben Weg hergejoggt, weil ich mein Handy natürlich zu Hause vergessen habe und …« Ich japste nach Luft. »Egal, worauf ich hinauswollte: Wann bin ich so verdammt unsportlich geworden? Ich bin letztes Jahr einen Halbmarathon gelaufen, verdammt!«

»Das ist das Alter«, bemerkte Leah nur und half mir, mich aufzurichten. »Aber krepier mir nicht vorm Laden. Sonst kriege ich noch Hausverbot in dem einzigen coolen Geschäft, das diese Stadt zu bieten hat. Gott, ich muss hier raus. Wenn meine Mutter noch einmal fragt, ob sie mir ein Butterbrot schmieren soll, muss ich mich umbringen.«

Ich lachte und das Stechen in meinen Seiten wurde schwächer. »Zwei Monate! Dann sind wir weg. Und hey, ich habe heute Morgen den kompletten Globetrotterladen geschenkt bekommen! Wir könnten statt nur einem glatt drei Jahre fort.«

»Bring mich nicht in Versuchung. Meine Mutter hat mich heute Morgen auf Instagram geaddet – und ich weiß nicht, ob sie mir glaubt, wenn ich ihr sage, dass es bei Instagram nicht legal ist, der Familie zu folgen, und ich Angst davor habe, aus dem Netzwerk zu fliegen.«

Ich musste noch lauter lachen und mein Herz schlug nun auf einer normalen Frequenz. Leah und ihre Mutter hatten eine komplizierte Beziehung, um es nett auszudrücken. Das Einzige, das sie gemein hatten, waren ihre blonden, lockigen Haare und die große, schlanke Statur. Leahs Vater war Neurochirurg, während seine Frau mit Leib und Seele der Beschäftigung als Hausfrau nachging. Ihre Hauptaufgabe war es, ihren Kindern so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu schenken. Ich wusste, dass Leah ihre Mutter über alles liebte. Allerdings wusste ich auch, dass Leah in den zwölf Jahren, die ich sie kannte, schon mehr als ein Dutzend Mal darüber nachgedacht hatte, sie mit einem Kissen zu ersticken.

»Egal«, meinte sie seufzend und fasste ihre Haare zu einem lockeren Knoten zusammen. »Heute ist dein Tag und meine Mutter nicht dein Problem.«

Ich überlegte kurz, ob ich ihr von dem merkwürdigen Gespräch erzählen sollte, das ich vorhin mit angehört hatte, ließ es dann jedoch bleiben. Sie hatte recht. Heute war mein Tag und den wollte ich mir durch nichts verderben lassen.

Eine angenehm kalte Brise strömte uns entgegen, als wir die Tür öffneten. Das Jukebox war ein Dinosaurier unter den Verkaufsgeschäften und vertrieb Tonträger jeder Art. Vor allem aber meine heißgeliebten Schallplatten, die ich vor zehn Jahren angefangen hatte zu sammeln. Mir war schleierhaft, wie der Laden sich noch immer halten konnte, eigentlich hätte er längst von Spotify und YouTube verschluckt werden müssen, doch ich war froh drum.

»Apropos«, sagte Leah, als wir auf einer engen Holztreppe eine Etage nach unten stiegen. »Wie hat deine Mutter es verkraftet?«

»Was verkraftet?«

»Na, dass du jetzt eine richtige Frau bist, die wählen, harten Alkohol trinken und Auto fahren darf.«

Ich zuckte mit den Schultern und nahm die letzte Stufe in den Raum, der über und über mit Grabbelboxen bestückt war. Kassetten, CDs und Schallplatten stapelten sich an den Wänden und ließen ihn eher wie die Wohnung eines Messies als einen Verkaufsraum aussehen. Zugegeben, das einundzwanzigste Jahrhundert war noch nicht ganz hier angekommen, aber ich mochte das Flair und Schallplatten würden nie an Wert verlieren. Zumindest nicht für mich. »Gut. Nur ein kleines Glitzern in ihren Augen.«

»Ja, die große Zahl macht sentimental, findest du nicht? Außerdem geht im Moment irgendwie alles zu Ende.«

Mhm. Vielleicht war es das gewesen. Vielleicht war meine Mutter einfach sentimental, weil ich bald mein eigenes Leben führen würde.

»Stimmt«, murmelte ich nickend, nun etwas weniger besorgt wegen des belauschten Gesprächs. »Ist echt viel auf einmal. Abitur, Australien …«

»Und du darfst nicht vergessen, dass deine Mutter Psychologin ist! Sie hat ihre Gefühle wahrscheinlich tot analysiert.«

Ich lachte, während wir auf drei Kisten zusteuerten, die Schallplatten als »im Angebot« auszeichneten. »Das glaube ich nicht. Ich habe mit meiner Mutter noch nie über Gefühle geredet. Ich glaube, unser Familienmotto ist: Gefühle von anderen, juche! Die eigenen? Nee, nee!«

Leah prustete und ließ sich in den Schneidersitz sinken, um mit mir die Kisten durchzusehen. »Das solltest du auf eine Plakette gravieren lassen.«

»Vielleicht an meinem nächsten Geburtstag.« Ich wischte mit den Fingern über die staubigen Rückseiten der alten Vinylplatten und seufzte. Sie rochen nach Kultur und den Siebzigern. Vorsichtig besah ich mir Cover für Cover, während Leah einen anderen Stapel durchforstete, der neben den Kisten aufgestellt war. Orangene Sticker priesen sie als »Zwei-Euro-Schnäppchen« an und Leah platzierte prompt vier davon auf ihrem Schoß.

Ein Schatten fiel über uns und als ich meinen Kopf in den Nacken legte, sah ich geradewegs in das Gesicht eines alten Klassenkameraden.

»Was gibt’s, Philip?«, fragte Leah, sprang auf die Füße und wischte den Staub von ihrem Faltenrock. Ich bemerkte wie Philip, der als Aushilfe im Jukebox arbeitete, sie anstarrte, als könnte er sich nicht ganz entscheiden, ob er sie küssen oder weglaufen sollte. Der arme Junge. Leah hatte ihn nie als männliches Wesen wahrgenommen. Sie war meine beste Freundin, aber mir war durchaus bewusst, dass sie schön genug war, um jedem Mädchen das Recht einzuräumen, sie zu hassen.

Philip sagte immer noch nichts. Er starrte nur Leah an, die jetzt seufzte. »Meine Güte, Philip, spuck es aus oder hau ab!«

Ich hätte mir gern eine Hand vor die Augen geschlagen, ließ es aber aus offensichtlichen Gründen bleiben. Leahs Feingefühl hatte etwas von einem Bulldozer.

Philip wurde noch röter. »Ich wollte Ella nur zum Geburtstag gratulieren und fragen, ob ihr heute Abend feiern geht?«

Leah war mit eins fünfundsiebzig eigentlich genauso groß wie Philip. Der schien jedoch in den letzten zehn Sekunden um etwa zehn Zentimeter geschrumpft zu sein, also auf meine Größe.

»Ja, gehen wir, aber nicht mit dir«, stellte Leah fest und wedelte mit einer Schallplatte vor seinem Gesicht herum. »Heute Abend ist Ladies Night!«

»Oh, also ich dachte …«

»Nein! Ich habe einen braunen Gürtel in Shaolin Kung Fu, Philip, und den werde ich gegen jeden Kerl einsetzen, der sich uns nähert, alles klar?« Ihre Stimme war locker und fröhlich, doch ihre Miene steinhart. Sie war vor etwa einem Monat von ihrem Freund abserviert worden und das machte sie zurzeit unempfänglich für jede Art von männlichen Avancen.

»Oh«, sagte Philip nur verdattert und warf mir einen hilfesuchenden Blick zu.

Was sollte ich sagen? Auch ich war vor ein paar Wochen in den Wind geschossen worden. Ich stand auf Leahs Seite. »Sorry. Aber danke für die Glückwünsche.«

Er nickte und lief schneller die Treppe hoch, als ich blinzeln konnte.

Kopfschüttelnd sah ich meine beste Freundin an. »Du hättest ihm nicht solche Angst machen müssen.«

»Ich habe wirklich einen braunen Gürtel in Kung Fu. Ist das mein Problem, wenn er mich falsch versteht?«

Von wegen falsch verstehen. Leah würde jeden zu Boden schlagen, der sagte, ihr Shirt passe nicht zu ihren Schuhen.

»Wenn wir in Australien sind, hältst du dich aber etwas zurück, oder?«

Unschuldig sah Leah mich an, legte eine Hand auf ihre Brust und machte große Augen. »Zurückhalten? Wenn die anderen es tun, natürlich. Wenn mir keiner blöd kommt, muss ich ihm auch nicht blöd kommen. Ist doch klar.«

»Oh Gott«, seufzte ich. »Wir werden aus Australien ausgewiesen werden. Ewiges Einreiseverbot. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: Zwei Deutsche Touristinnen lösen Dritten Weltkrieg aus!«

Leah grinste. »Blödsinn. Die Australier können hoffentlich mehr ab.«

Mhm. Der Typ, der sich von Leah nicht einschüchtern ließ, musste erst noch erfunden werden. Ich war froh, dass ich sie bereits seit der Grundschule kannte, sonst hätte vielleicht auch ich ein wenig Angst vor ihr.

»Ach, hey. Mir fällt gerade ein: Hat sich Lennart eigentlich noch mal bei dir gemeldet?«

Ich prustete und hielt mit meinen Fingern über einer Platte inne. Lennart war mein Ex-Freund, mit dem ich drei Monate zusammen gewesen war – bis er mir eröffnet hatte, dass es ihm mit mir zu langsam voranginge und er sich lieber anderweitig umsehen wolle. »Nein, und ich rate es ihm auch nicht. Er hat keinen Bodyguard und ich habe eine Leah, die ich auf ihn hetzen kann. Außerdem wollte ich schon immer wissen, wie es sich anfühlt, jemandem so einen richtigen Kinnhaken zu verpassen. Also: Sollte er je auf die Idee kommen, sich mir zu nähern, dann werde ich …«

Leah klopfte mir beruhigend auf die Schulter. »Und dann sagen alle immer, ich wäre die Gewalttätige von uns beiden«, meinte sie und legte einen Arm um mich. »Ich glaube, wir werden in Australien gut auf uns selbst aufpassen können, meinst du nicht auch?«

Ich erwiderte ihr Grinsen. Daran bestand kein Zweifel.

 

»Ich hätte alles bezahlt«, seufzte Leah, als wir geschlagene zwei Stunden später wieder aus dem Plattenladen kamen.

Ich schnaubte. »Bist du verrückt? Wenn du mir das alles gekauft hättest, müsste ich ja ein genauso teures Geschenk für dich finden. Das kann ich mir nicht leisten!«

»Das ist natürlich ein Argument.«

Die Sonne schien immer noch und Leah und ich schlossen für einen Moment die Augen, um die Wärme zu speichern.

»Nur schade, dass es schon wieder kein Nirvana Unplugged New York gab«, hörte ich Leah murmeln. »Ich hatte gehofft, dass sie sie gerade passend zu deinem Geburtstag geliefert hätten.«

Ich winkte ab. »Nicht so schlimm. Irgendwann werde ich sie finden und dann …«

»Brichst du in Tränen aus und vollführst einen Freudentanz?«

»So was in der Art«, gab ich grinsend zurück und zog den Reißverschluss meiner nun gut gefüllten Handtasche zu.

»Du weißt aber schon, dass du sie einfach im Internet bestellen könntest, oder?«

»Ja. Aber wenn ich lange genug suche, könnte ich mir bestimmt auch eine neue beste Freundin übers Internet bestellen. Wo bleibt da der Spaß?«

»Wahre Worte«, bestätigte Leah. »Hey, was machst du jetzt noch? Sollen wir was essen gehen?« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist kurz nach drei. Wir haben genug Zeit, bis wir bei Vanessa sein sollen.«

Da mein Haus zu klein und meine Mutter zu peinlich war, hatte eine Freundin angeboten, dass ich bei ihr feiern könne. Vanessa hatte sturmfrei und wir wollten uns um sieben bei ihr treffen, ein wenig trinken und in den Club gehen.

Ja, dieses Kaff besaß einen Club!

»Ich würde gern«, sagte ich und seufzte, »aber ich muss noch mal kurz ins BurgerInn.«

Überrascht sah Leah mich an. »Heute ist dein Geburtstag. Du musst an deinem Geburtstag arbeiten?«

Kopfschüttelnd schob ich den Träger meiner schweren Handtasche höher auf meine Schulter. »Nein, aber ich soll vor vier vorbeischauen und mein Gehalt abholen. Willst du mitkommen?«

Leah zog eine Grimasse und trat von einem Bein aufs andere. »Äh, ich würde ja, nur …«

»… nur arbeitet Chris heute?«

Sie wurde rot, starrte auf ihre Hände und nickte schließlich. Wenn Leah etwas hasste, dann zuzugeben, Angst zu haben. Noch schlimmer: Angst davor zu haben, ihrem Ex über den Weg zu laufen.

»Ich weiß, ich lasse ihn damit irgendwie gewinnen, aber …«

Ich schloss sie fest in die Arme. »Kein Problem. Ich verstehe das. Soll ich sein Gesicht in die Fritteuse drücken, wenn ich schon mal da bin?«

»Ich glaub nicht, dass deine Versicherung das zahlt.«

»Ich lass es wie einen Unfall aussehen, nichts leichter als das.«

Leah stieß hörbar die Luft aus und tätschelte meinen Rücken. »Und deswegen bist du meine beste Freundin«, erklärte sie und löste sich aus der Umarmung. »Treffen wir uns um viertel vor sieben an der Brücke?«

Die Brücke waren zwei Holzbretter, die über den Bach führten. Vanessa wohnte keine fünf Minuten davon entfernt.

»Klar«, sagte ich, hob noch mal eine Hand und machte mich auf zur Hauptkreuzung.

Das BurgerInn teilte sich mit Aldi und KiK eine Art Verkehrsinsel. Als Autofahrer musste man quasi einmal ums komplette Dorf fahren, um von der richtigen Seite auf den Parkplatz zu kommen. Als Fußgänger konnte man Abkürzungen durch ein paar kleinere, relativ dunkle Gassen nehmen, die früher wahrscheinlich als Entsorgungskanäle genutzt worden waren. Ich bog zweimal rechts ab, lief über den runden Vorhof eines Bäckers und landete auf der Grünstraße, einer engen, gut befahrenen Straße, die mich vom BurgerInn trennte.

Ich starrte in den blauen Himmel und fragte mich unwillkürlich, ob er in Australien auch so aussah. Ich würde ein Foto machen müssen, um die beiden zu vergleichen, damit ich …

Ich rannte geradewegs in einen Rücken und riss dessen Eigentümer beinahe zu Boden.

»Oh, sorry!« Ich rieb meine Stirn und sah auf. »Tut mir leid, ich hab nicht aufgepasst.«

Der dunkelhaarige Junge, der gerade noch an einer Hauswand gelehnt hatte, fing sich schnell wieder, beachtete mich aber nicht länger. »Macht nichts«, murmelte er und ließ seinen Blick suchend über den Bürgersteig schweifen.

Ich lief weiter, verwirrt darüber, so wenig Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich hatte ihn schließlich praktisch angesprungen! Stirnrunzelnd drehte ich mich noch einmal nach ihm um. Sein Gesicht war immer noch der Ampel zugewandt, während sein Blick über die Umgebung huschte: Auf die andere Straßenseite, zum BurgerInn und wieder zurück. Als suche er etwas, wisse aber nicht genau, was dieses Etwas war. Das war recht merkwürdig, wenn man bedachte, dass mit mir nur eine Frau an der Ampel stand, die auf das Display ihres Handys starrte.

Er schien etwas älter als ich und seine Augen waren fast schwarz. Es fiel mir schwer, seine Iriden von den Pupillen zu unterscheiden. Er hatte hohe Wangenknochen und ein markantes Kinn, was ihn arrogant wirken ließ. Seine Lippen presste er konzentriert zusammen, während die eine Hand über seinem Kopf an der Wand ruhte und die andere zur Faust geballt an seiner Seite herabhing. Er schien angespannt, als wäre er bereit, jeden Moment loszulaufen. Wollte er vielleicht jemanden überfallen?

Das war irgendwie schon sehr verdächtig.

Mühsam wandte ich mich von ihm ab. Die Ampel sprang gerade auf Grün. Die Frau ging los, immer noch auf ihr Handy starrend, während ich stehen blieb – meine Gedanken bei dem Jungen, den ich fast umgerannt hatte.

Ich schüttelte den Kopf über mich selbst, hob den Fuß und merkte verblüfft, dass die Ampel Rot zeigte. Aber wie war das möglich? Es war keine Sekunde vergangen. Das musste ein Defekt sein, das … Doch ich konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, denn jetzt sah ich das Auto, das auf die Frau zuschoss.

Der Kopf des Fahrers war im Fußraum verschwunden. Sie würde gleich überfahren werden! Und sie bemerkte es nicht einmal!

Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig.

Ein Fahrradfahrer klingelte hinter mir, der schwarzhaarige Junge stieß sich von der Wand ab, wurde aber von dem Radfahrer behindert, und auf der anderen Straßenseite entdeckte ich einen hochgewachsenen, blonden Mann im schwarzen Anzug. Er war hinter einem Baum hervorgetreten und verzog den Mund zu einem Lächeln, als er zu der Frau in der Mitte der Straße blickte.

Oh mein Gott, die Frau! Sie würde gleich sterben und niemand konnte ihr helfen!

Ich riss meine Arme hoch und wollte sie warnen, doch bevor auch nur ein Ton über meine Lippen kam, fing mein ganzer Körper an zu kribbeln und zu vibrieren. Als würde mein Blut auf einmal mit dreifacher Geschwindigkeit durch meine Adern gepumpt. Die Zeit um mich herum schien stillzustehen. Eine Woge der Hitze erfasste mich. Sie fing in meinem Herzen an und breitete sich augenblicklich in meinem ganzen Körper aus, bis in meine Fingerspitzen. Ich bewegte mich nicht und hatte doch das Gefühl, ich müsse eigentlich drei Meter auf die Straße gesprungen sein. Plötzlich wurde die Frau nach vorne geworfen und schlug auf allen vieren auf dem gegenüberliegenden Bordstein auf, während das Auto über die Stelle rauschte, an der sie gerade noch gestanden hatte.

Mein Herz klopfte so heftig, dass mir erst eine Zehntelsekunde später bewusst wurde, dass die Hitze verschwunden war. Das Kribbeln, das Vibrieren – ich hätte es mir auch nur einbilden können, aber … das hatte ich nicht! Irgendetwas war passiert.

Schockiert starrte ich erst auf meine Arme, die immer noch in der Luft hingen, und dann zu der Frau.

Ihr Handy war ihr aus der Hand gerutscht und vor die Füße des Mannes im Anzug geschlittert, der jetzt nicht mehr lächelte. Ganz im Gegenteil. Er starrte mich mit einer solchen Abscheu an, dass ich automatisch einen Schritt rückwärts stolperte. Er zog etwas aus seiner Sakkotasche und ich hätte fast laut aufgelacht, als ich erkannte, dass es ein glitzernder Dolch war.

Das sollte wohl ein Scherz sein! Was zum Teufel ging hier ab?

Doch ich konnte nicht lange darüber nachdenken, denn der Blonde sprintete los und es stand außer Frage, dass ich sein Ziel war. Panisch und gleichzeitig fest damit rechnend, dass ich gleich aus dem Schlaf hochfahren würde, war ich nicht dazu imstande, mich zu bewegen.

Wieso sollte ich auch?

Der Dolch konnte nicht echt sein. Wer lief heutzutage noch mit einem Dolch herum? Und dann auch noch mit einem, der aussah, als bestünde seine Klinge aus Glas. Das war absurd.

Eine Hand schloss sich eisern um meinen Oberarm. Ich wurde fast von den Füßen gerissen, als an ihm gezerrt wurde.

»Worauf wartest du?«, zischte eine Stimme an meinem Ohr. »Ich will hier keinen Kampf anfangen, jetzt komm schon, lauf!«

Verwirrt blickte ich auf und sah geradewegs in das Gesicht des Jungen mit den schwarzen Augen.

Ich bewegte mich nicht. Ich konnte nicht anders. Das war … Was passierte gerade?

»Eine Anfängerin, natürlich! Verdammt«, fluchte er und bevor ich wusste, wie mir geschah, verlor ich fast den Boden unter den Füßen. Halb tragend, halb schleifend bugsierte er mich um die nächste Biegung. Ich hörte seine schweren Schritte auf dem Asphalt, doch das waren nicht die einzigen, die ich wahrnahm. Hinter uns war ein zweites Paar Füße zu hören.

»Lauf, verdammt noch mal!«, brüllte der Junge und diesmal erzielte er eine Wirkung. Meine Starre löste sich und ich rannte Schulter an Schulter mit ihm, so schnell mich meine Füße trugen, weiter in die Gasse hinein. Die Schritte, die uns verfolgten, schienen immer lauter zu werden. Wir durchquerten den Hof des Bäckers und der Junge zerrte mich nach rechts auf einen weiteren Gang zu.

»Nein!«, schrie ich und wollte ihn zurückhalten. »Nein, wir müssen links, das ist eine …« Doch es war zu spät. Er war stärker als ich und hatte mich bereits auf den schmalen Weg katapultiert, auf dem kaum zwei Menschen nebeneinanderstehen konnten. Wir befanden uns in einer Sackgasse und die Schritte hinter uns hielten inne. Der Junge atmete zischend aus, doch es war kein ängstlicher Laut. Es klang eher … entnervt. Als würde er von wichtigeren Dingen abgehalten.

»Nur mein Glück …«, hörte ich ihn leise flüstern, als er sich langsam um seine eigene Achse drehte. Er hielt mich immer noch fest, deshalb war ich gezwungen, seiner Bewegung zu folgen.

Der blonde Mann im Anzug stand keine drei Meter von uns entfernt und war so groß und breit, dass mein Kopf automatisch ausschloss, dass wir an ihm vorbeirennen könnten.

»Wie unaufmerksam von mir, nicht auf das Mädchen zu achten«, sagte der Blonde mit fast musikalischer Stimme und fixierte mich. Er kratzte mit dem Daumen über ein rotes Tattoo an seinem Handgelenk, das ich nicht genau erkannte. Oh mein Gott. Die Angst, die sich in meinem Magen ausbreitete, war mit nichts zu vergleichen, was ich je in einem Traum verspürt hatte. Sie war so greifbar wie ein Schlag gegen meine Schläfe.

»Ich hätte schwören können, es gehört nicht zu euch«, sprach der Mann weiter und machte einen Schritt auf uns zu. Der Junge ließ meinen Arm los und verlagerte sein Gewicht. »Ihr werdet auch immer jünger.« Er hielt den Dolch jetzt auf Hüfthöhe und sein Gesicht spiegelte sich verzerrt in der Klinge.

Ich war mir sicher, dass ich gleich in Ohnmacht fallen würde. Gott, ich wollte sogar in Ohnmacht fallen! Ich wollte nicht bei Bewusstsein sein, wenn mir ein Messer in die Brust gerammt wurde.

»Immer jünger und immer schneller«, erklang es neben mir und bevor ich auch nur einen weiteren Atemzug nehmen konnte, stieß der Junge sich heftig mit einer Hand von meiner Schulter ab. Er schien für eine Millisekunde an der Wand entlangzulaufen, über den Mann hinweg, bis er ihm von hinten eine Hand in den Nacken drückte.

Mir blieb nicht einmal Zeit, schockiert zu beobachten, wie der Mann erst auf die Knie und dann auf sein Gesicht fiel. Von der Kraft des Arms auf meiner Schulter war ich schmerzhaft nach vorne weggesackt, doch ich wurde von dem Schwarzhaarigen wieder auf die Füße gezogen und weitergezerrt, an dem Mann vorbei durch den Hof des Bäckers, in die nächste Gasse, durch weitere schmale Gänge. Die schwere Umhängetasche schlug schmerzhaft gegen meine Hüfte, doch ich rannte einfach weiter. Ich wusste nicht wie lange, doch das war egal. Meine Lungen brannten und meine Kniescheiben taten an den Stellen weh, an denen ich auf dem Asphalt aufgeschlagen war, doch auch das war egal. Ich wollte weg. Musste weg. Das war alles … das konnte nicht …

»Bleib stehen … Bleib stehen!«

Ruckartig hielt ich an. Ich war um eine Ecke geschlittert, doch bevor ich hatte weiterlaufen können, hatte der Junge mich am Handgelenk gepackt. Der Hof, der sich vor uns erstreckte, war von den umliegenden hohen Häusern vollkommen in Schatten getaucht.

Vornübergebeugt hielt ich mir die schmerzenden Rippen und nur mein letzter Rest Stolz bewahrte mich davor, mich keuchend auf den Boden zu legen und die Augen zu schließen. Ich konnte allerdings nicht umhin, zu bemerken, dass meinem Gegenüber nicht einmal die Puste ausgegangen war.

»Ist er … ist er … Ist er weg?«

Der Junge nickte und jetzt merkte ich, dass er mich wütend anstarrte. Als wäre es meine Schuld, dass wir von einem verrückten Dolchträger verfolgt worden waren. Langsam richtete ich mich wieder auf.

»Was ist los mit dir?«, fluchte er und ließ mein Handgelenk los. »Bist du verrückt? Warum zum Teufel hast du dich nicht bewegt? Wolltest du, dass er dich umbringt?«

Ich blinzelte. Ich war zu verblüfft, dass er tatsächlich etwas an meinen Reaktionen auszusetzen hatte, um zu antworten. Ich fand, dass ich in Anbetracht der Umstände ganz gut reagiert hatte. Ich hatte mich weder übergeben noch war ich zusammengebrochen. Nicht, dass das nicht noch kommen könnte.

Er teilte meine Meinung nicht, das erkannte ich daran, dass seine Augen glühten wie entfachte Kohlen.

»Was machst du überhaupt hier?«, fuhr er mit seiner Tirade fort. »Es war mein Auftrag! Jetzt ist der Zayat weg und ich muss schon wieder Babysitter spielen.« Genervt fuhr er sich durch die Haare, die ihm vom Kopf abstanden und sich über seinen Ohren kräuselten.

Ich starrte ihn nur weiter an. Es war, als würde er eine fremde Sprache sprechen. Als wäre er Einstein und würde versuchen, mir die Relativitätstheorie zu erklären. Zayat? Auftrag?

Ich öffnete den Mund, doch ich wusste wirklich nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich hatte ehrlich gesagt Angst, dass beim bloßen Versuch kein Wort, sondern doch noch mein Mageninhalt hochkommen würde.

»Kannst du nicht reden, oder was?« Der Blick des Jungen glitt forschend über mein Gesicht und ich wollte nicht wissen, was er da sah. Er atmete kurz durch und schloss die Augen, dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Entschuldige. Du siehst verängstigt aus. War das dein erster Auftrag? Wie heißt du? Ich bin Gabe.«

Ich blinzelte erneut. Einmal. Zweimal. Dann:

»Was?!« Das Blut pochte in meinen Ohren und mir wurde auf einmal schwindelig. »Ich meine, ich …« Ich schüttelte den Kopf, als könne ich so seine Worte in eine sinnvolle Kombination bringen. Doch nichts half.

»Nein«, murmelte ich schließlich. »Ich bleibe bei: Was?!« Ich betastete meine Stirn. Ich war verrückt geworden. Das musste es sein. Ich hatte mir das alles nur eingebildet und dieser Junge, der gerade seine Augen zu Schlitzen verengte und mich ansah, als wäre ich es, die sich merkwürdig benahm und nicht er, der war ein imaginärer Freund von mir. Jetzt war alles viel klarer! Ich war krank, hatte wahrscheinlich einen Fiebertraum.

Ich kniff mir hart in den Unterarm.

Nichts passierte.

Verdammt.

Der Junge – Gabe hatte er gesagt? – folgte meiner Geste mit seinem Blick und die Verwirrung, die ich in seinem Gesicht lesen konnte, glich nun meiner. »Du warst es doch, die sie weggeschubst hat, oder nicht? Du hast sie vor dem Auto gerettet?« Er sprach langsam und bedacht. Er hielt mich offensichtlich für zurückgeblieben.

»Nein«, sagte ich sofort, »ich habe sie nicht einmal berührt! Ich habe nichts gemacht, ich …« Aber das stimmte nicht. Ich hatte etwas gemacht. Irgendetwas war in meinem Körper passiert. Doch ich konnte mir nicht erklären, wie ich es gewesen sein sollte, die die Frau vor dem Auto gerettet hatte, nur … ich wusste, dass ich es gewesen war. Ich wusste es und doch konnte es nicht sein.

»Du hast sie nicht berührt?« Gabe runzelte die Stirn. Er schien mir nicht zu glauben.

»Nein«, wiederholte ich. »Ich habe sie nicht angefasst!«

»Aber du hast sie doch gerettet. Der Zayat hat dich angesehen, er …«

»Was redest du da eigentlich? Was zum Teufel ist ein Zayat?«, unterbrach ich ihn genervt. Das wurde mir zu viel. Ich hatte gesehen, wie dieser Typ einen Mann niedergestreckt hatte – indem er ihm die Hand in den Nacken gelegt hatte. Wer sagte mir, dass er dasselbe nicht mit mir machen konnte? Er war um einiges größer als ich!

»Hör mal.« Ich räusperte mich. »Nichts für ungut, aber du scheinst etwas durcheinander zu sein.« Ha! Große Worte von mir, Frau Vollkommen-auf-der-Reihe. »Ich … also …« Ich räusperte mich erneut und rieb mir die Stelle am Unterarm, die noch immer von meinen eigenen Kniffen schmerzte. »Vielleicht sollte ich besser gehen.« Ich machte einen Schritt von ihm weg. Gehen war eine gute Idee. Gehen, mich ins Bett legen und die nächsten drei Tage nicht mehr aufstehen.

»Also, ich möchte nicht undankbar sein oder so.« Ich zog eine Grimasse. »Danke, dass du mich vor dem merkwürdigen Dolchmann gerettet hast und alles, aber du scheinst mich mit jemandem zu verwechseln. Ich habe diese Frau nicht angefasst. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber …«

»Du hast keine Ahnung«, sagte Gabe und sah so verblüfft aus, dass ich den Gedanken, er könnte mich angreifen, wieder verwarf.

»Also, ich habe sehr viel Ahnung«, sagte ich trotzig und hob das Kinn. »Von einer Menge Dingen. Nur wovon du gerade gesprochen hast … Nein. Egal. Also, ich gehe jetzt wohl besser. Danke noch mal fürs Lebenretten und so …«

Ehe ich mein Vorhaben umsetzen konnte, umschloss seine Hand sanft, aber bestimmt erneut mein Handgelenk und er zog mich noch einmal zurück. Überrascht starrte ich auf die Stelle, an der er mich berührte. Sie hatte angefangen zu kribbeln wie unter einem kleinen Stromschlag, doch dann blinzelte ich und das Gefühl war wieder weg. Ungeduldig entwand ich ihm meine Hand. »Was willst du von mir? Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich die Frau nicht angefasst habe. Ich habe sie nur angesehen und dann war es, als würde ich aus meinem Körper treten, aber …«

Ich verstummte, erneut vom Blick meines Gegenübers abgelenkt, der mit einer Hand in seinen schwarzen Haaren vor mir stand und auf mich herabblickte. »Was? Du … Aber das ist unmöglich«, flüsterte er.

»Ja, ich weiß, dass das unmöglich ist.« Ich lachte peinlich berührt auf. »Es war nur das Adrenalin, es …«

Er sah mir so durchdringend in die Augen, dass ich das Gefühl hatte, ich stände auf einmal nackt vor ihm. »Du hast sie nicht angefasst, sagst du?« Sein Tonfall war jetzt scharf und berechnend. »Du hast sie nicht berührt und sie trotzdem aus dem Weg geschubst, ja?«

»Ich …« Wie hypnotisiert starrte ich zurück. »Ich weiß nicht, ich hab es nicht geplant. Vielleicht war ich das, aber ich wusste nicht, also …« Wie sollte ich etwas erklären, das ich selbst nicht verstand?

Doch Gabe waren meine Worte offenbar genug, denn er sah mich fassungslos an. »Das ist unmöglich. Sie sind alle tot! Sie sind alle … und du hast keine Ahnung!«

Okay, jetzt machte er mir Angst. »Ich gehe«, sagte ich mit fester Stimme und schob mich aus seiner Reichweite. »Danke noch mal. Aber ich gehe jetzt wirklich.«

»Du kannst nicht gehen! Du bist da draußen nicht sicher! Du kannst nicht …«

»Ach nein?«, sagte ich und verschränkte meine Arme. »Dann sieh hin und staune!« Mit diesen Worten machte ich auf dem Absatz kehrt und ließ ihn mit offenem Mund stehen.

 

 

 

Kapitel 3

 

Ich kam bis über den Bach, als auch die letzte Energie meinen Körper verließ. Das Adrenalin war abgeebbt und ich fühlte mich so erschöpft wie nach einem dreistündigen Work-out. Mein Zustand ging über Müdigkeit hinaus und jedes Mal, wenn ich daran dachte, was in der letzten Stunde geschehen war, fing mein Kopf an zu schwirren und mir wurde schwindelig. Irgendetwas war mit mir passiert. Irgendetwas, das ich mir nicht erklären konnte, und immer wieder spukte Gabes entgeisterter Blick vor meinem inneren Auge herum. Er hatte mich angesehen, als wäre ich eine ausgestorbene Tierart.

Ich versuchte, die Szene des Beinahe-Unfalls in meinem Kopf zu rekonstruieren, doch so oft ich das innere Video auch abspielte, mir fiel keine rationale Möglichkeit ein, wie ich die Frau aus dem Weg hatte schubsen können, ohne mich vom Fleck zu bewegen. Und dann war da der Dolchmann. Bei dem Gedanken, dass davon womöglich noch mehr in unserer Stadt herumliefen, bekam ich eine Gänsehaut.

Ist das dein erster Auftrag?

Auftrag? Zayat?

Ich ließ das Gartentor zufallen und schleppte mich auf die Haustür zu. Geklapper aus der Küche begrüßte mich, das stoppte, als die Tür geräuschvoll ins Schloss fiel.

»Bist du das, Ella?«

Ich konnte nicht antworten.

Ist das dein erster Auftrag? Eine Anfängerin, verdammt.

Der Typ hatte offensichtlich geglaubt, ich sei jemand anderes. Als wäre ich so wie … er. Aber wie war er?

»Du meine Güte, wie siehst du denn aus!«

Meine Mutter stand im Türrahmen und blickte schockiert von meiner Jeans, die, wie ich jetzt merkte, an meinen Knien zerrissen war, hoch zu meinem Gesicht. Ich fokussierte den Spiegel neben der Garderobe und wich erschrocken vor meinem eigenen Anblick zurück. Ich war so bleich wie die Wand hinter mir und meine Augen waren so glasig wie eine Weihnachtskugel. Gott, ich war so müde.

Gähnend sah ich zu Boden und zog meine Schuhe aus. »Ich bin hingefallen. Auf dem Nachhauseweg«, erklärte ich mit überraschend ruhiger Stimme. »Und … mir ist etwas übel. Ich glaube, ich hätte heute Morgen nicht so viel Kuchen essen sollen. Ich fühle mich krank.«

Das war die beste Ausrede, die ich zu bieten hatte, und eine andere Erklärung würde meine Mutter nicht bekommen. Ich selbst war ja schon kurz davor, mich einzuweisen! Was würde sie dann tun?

Vielleicht wollte sie mir glauben. Jedenfalls war sie im nächsten Moment bei mir und untersuchte mich mit bedachten Berührungen. Sie betastete meine Schilddrüse und meine Stirn und innerhalb weniger Sekunden wurde ich zehn Jahre jünger. Ich wollte nur von ihr in den Arm genommen werden, damit sie mir sagen konnte, dass morgen alles schon wieder ganz anders aussehen würde.

»Du fühlst dich tatsächlich etwas warm an«, sagte sie und maß meinen Puls am Handgelenk. »Du Arme.« Sie rieb über meine Schultern und drückte mich kurz an sich. »Und das auch noch an deinem Geburtstag. Du legst dich am besten ins Bett. Soll ich dir einen Tee machen?«

Ich nickte stumm. Der Blick meiner Mutter bohrte sich in meinen Rücken, als ich die Treppe hinaufstieg, und plötzlich fielen mir wieder die Worte ein, die sie heute Morgen zu Ian gesagt hatte: Sicher? Wie kannst du das sagen! Sie wird nie sicher sein.

Und Ians Worte: Wir würden es merken, wenn sie sich verändert.

Wussten sie etwas?

Auf dem Treppenabsatz wandte ich mich noch einmal zu meiner Mutter um. Sie war allerdings in der Küche verschwunden. Wahrscheinlich, um mir den Tee zu machen.

Mit unbehaglichem Gefühl warf ich mich auf mein Bett. Das Gesicht in die Kissen gedrückt, versuchte ich mich zu beruhigen. Das war absurd. Ich hatte mich nicht verändert. Man veränderte sich nicht vom einen Tag auf den nächsten und das, was passiert war … keine Ahnung. Dafür würde es schon eine Erklärung geben. Ich musste schlafen. Einfach nur schlafen. Morgen war ein neuer Tag.

Ich kickte die Jeans von meinen Beinen und zog die Decke über mich.

Kurz darauf klopfte es an meiner Tür und ich hörte, wie sie geöffnet wurde. Ich drehte mich zur Seite, um den Tee entgegenzunehmen.

Mit besorgtem Blick setzte meine Mutter sich zu mir und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte. »Kann ich dir noch irgendwie helfen?«, fragte sie, während ich hastig ein paar Schlucke Tee nahm und mir die Zunge verbrannte.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich denke, ich werde mich einfach ausruhen.«

Meine Mutter strich weiterhin zärtlich über mein Gesicht und prüfend wanderte ihr Blick über meine Züge. Als suche sie nach etwas. »Deine Übelkeit kam ziemlich plötzlich«, bemerkte sie. »Ist etwas passiert?« Sie sprach die Worte beiläufig aus, doch ihre Miene war alles andere als unbeteiligt.

Irgendetwas verschwieg sie mir doch! Aber ich war zu müde und zu erschöpft, um sie darauf anzusprechen, deswegen schüttelte ich nur wieder den Kopf. »Nein, nichts. Zu viel Kuchen und die Hitze … ich habe vielleicht einfach zu wenig getrunken.«

Meine Mutter nickte langsam und stand auf. »Dann ruh dich aus.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Du würdest es mir doch sagen, oder? Wenn irgendetwas vorgefallen wäre?«

»Natürlich.« Ich blinzelte nicht einmal bei dieser Lüge.

Ihre Miene entspannte sich. »Okay, erhol dich. Wie blöd, an seinem Geburtstag krank zu werden.«

»Schon okay.«

Die Tür fiel ins Schloss und ich stellte die Tasse ab, um mich auf den Rücken zu legen. Die Sonne schien immer noch hell in mein Zimmer und einige Sekunden lag ich bewegungslos da. Den einen Arm über meine Stirn drapiert und den anderen vor mir in die Luft gestreckt, betrachtete ich meine Hand. Was, wenn ich die Frau doch weggeschubst hatte? Aber sie war mehr als fünf Meter entfernt gewesen!

Ich richtete meinen Arm auf meine Deckenlampe und stellte mir vor, wie ich sie zum Schwingen brachte. Ich kniff meine Augen zusammen.

Bewege dich, Lampe. Bewege dich, Lampe.

Nichts passierte.

Ich ließ den Arm fallen und stieß einen freudlosen Lacher aus. Jetzt drehte ich endgültig durch. Natürlich bewegte sie sich nicht! Was hatte ich erwartet? Dass ich telekinetische Fähigkeiten entwickelt hatte?

Ich schlug die Bettdecke zurück und holte mir meinen Laptop ins Bett. Gegen das Kopfende gelehnt, fuhr ich ihn hoch und öffnete den Internetbrowser, während ich abwesend mit einer Hand mein Medaillon umklammerte. Immer, wenn ich das Gefühl hatte, mir müsste die Richtung gewiesen werden, schien meine Hand ein Eigenleben zu führen und sich zum Medaillon vorzutasten. Ich meine, darauf war ein Kompass abgebildet, oder? Sollte ein Kompass nicht die richtige Richtung weisen?

Zayat gab ich ein und 426.000 Suchergebnisse taten sich vor mir auf. Brogan Zayat, ein Künstler aus Indien; Zayat, eine burmesische Gebäudeart … Nichts, was da stand, brachte mich weiter. Kein Bild von einem glitzernden Dolch mit durchscheinender Klinge. Nichts darüber, dass Menschen dazu in der Lage waren, ihre Hände aufzulegen und einen riesigen Mann zusammenbrechen zu lassen.

Ich klappte den Laptop zu und stellte ihn neben meinem Bett ab. Dann sank ich zurück in die Kissen. Die Augen dieses Jungen, Gabe, tauchten vor mir auf. So dunkel und doch leuchtend wie brennende Kohlen.

Meine Haut hatte gekribbelt, kurz bevor die Frau nach vorne gestoßen worden war. Als hätte mein Inneres in Flammen gestanden. Nicht schmerzhaft, aber beängstigend. Genau wie in meinem gestrigen Traum. Nur ohne die Farben.

Du hast sie doch gerettet, oder?

Ja, ich hatte sie gerettet.

Aber wie? Keine Ahnung. Mein Kopf wurde schwer, meine Gedanken zäh und dann wurde alles um mich herum schwarz.

 

Ich fuhr aus dem Schlaf hoch. Es war immer noch hell draußen, doch das war es nicht, was mich geweckt hatte. Etwas klingelte. Es …

Erleichtert legte ich eine Hand auf meine Brust. Nichts Merkwürdiges war passiert. Es war nur mein Handy. Mein Handy klingelte!

Immer noch ein wenig schläfrig drückte ich auf den grünen Hörer. »Hallo?«

»Wo bist du?«

Stirnrunzelnd richtete ich mich auf. »Leah?«

»Wer sonst? Ich warte auf dich! Wo steckst du?«

Mein Blick fiel auf den Wecker neben meinem Bett und ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Es war kurz vor sieben. Vanessas Party. Meine Geburtstagsfeier! Das hatte ich vollkommen vergessen. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich heute Nacht auf keinen Fall ausgehen würde. »Oh, Mist. Tut mir leid. Ich hätte mich melden sollen, ich bin krank, ich …«

»Krank?« Leah klang ungläubig. »Dir ging es doch vor ein paar Stunden noch gut!«

Ja, vor ein paar Stunden hatte mich auch noch kein Verrückter mit einem Dolch angegriffen. »Ich weiß, ich … muss irgendwas Falsches gegessen haben. Mir ist unglaublich übel. Tut mir leid. Ich habe total vergessen, Bescheid zu sagen.«

Aber Leah war schwieriger zu überzeugen als meine Mutter. »Alles in Ordnung?«, fragte sie misstrauisch. »Du hörst dich seltsam an.«

Ja, so fühlte ich mich auch. »Doch, alles okay«, sagte ich. »Ich fühle mich nur wirklich nicht gut. Kannst du mich bei den Mädels entschuldigen?«

»Okay. Natürlich. Mann, das ist ja scheiße. An deinem Geburtstag.«

Das hatte sie schön gesagt. »Ich weiß«, seufzte ich. »Tut mir leid, dass du auf mich gewartet hast.«

»Nicht schlimm. Alles okay. Schlaf schön, ich melde mich morgen noch mal, okay?«

Ich nickte. »Ja, danke. Aber viel Spaß euch! Grüß die anderen von mir.«

Leah verabschiedete sich und ich ließ das Handy auf den Tisch neben meinem Bett sinken.

Ich hatte zwei Stunden geschlafen und fühlte mich immer noch wie gerädert. Als hätte mich ein Auto überfahren. Wie ironisch.

Ich ließ mich zurücksinken und zog die Decke unter mein Kinn. Gerade wollte ich die Augen schließen, als erneut etwas klingelte. Genervt richtete ich mich wieder auf – doch es war nicht mein Handy.

Verwirrt spitzte ich die Ohren. Das Klingeln wurde lauter. Wenn ich genau drüber nachdachte, war es kein Klingeln. Vielmehr ein Klirren. Wie ein sehr prägnantes Windspiel. Und es schien nicht von außen zu kommen, es kam … Hatte ich einen Tinnitus?

Es war in meinem Kopf!

Das Klirren wurde lauter und meine Ohren fingen an wehzutun. Das Blut pochte hart gegen meine Schläfen und je lauter das Klirren wurde, desto schlimmer wurde der Schmerz.

Keuchend schloss ich die Augen und presste beide Hände gegen meine Schläfen, doch der Ton wollte einfach nicht aufhören. Er wurde unerträglich laut und plötzlich wusste ich, dass es Zeit war, aufzustehen. Ich musste dem Klirren folgen. Etwas sehr Beunruhigendes war passiert und der Befehl, sofort zusammenzukommen, stammte von ganz oben. Ich musste ihm Folge leisten, sonst würden die Schmerzen nie aufhören! Ich …

Das Klirren verstummte und so schnell der Schmerz gekommen war, so schnell war er wieder verschwunden.

Ich schlug die Augen auf. Was passierte mit mir?

 

Ich schlief kaum. Die Nacht zog sich, wieder und wieder wälzte ich mich hin und her, kurz davor, aufzuspringen und meiner Mutter alles zu erzählen. Sie wusste etwas, da war ich mir sicher.

Aber ich tat es nicht. Stattdessen stand ich am nächsten Tag frühmorgens auf, bevor Mama oder Ian wach waren. Ich hatte ab neun Frühschicht im BurgerInn, das eine unerwartet große Auswahl an Frühstücksangeboten führte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich kurzfristig krankzumelden, da ich geplant hatte, mit den Mädels feiern zu gehen, aber nachdem der gestrige Tag nicht so gelaufen war wie gedacht, konnte ich auch hingehen.

Ich zog mich an, entsorgte meine zerrissene Jeans und schrieb einen Zettel für Mama und Ian, dass ich auf der Arbeit war.

Mein Fahrrad hatte immer noch einen Platten. Da ich aber nicht laufen wollte, vor allem weil ich mit dem Fahrrad schneller vor jemandem flüchten konnte, zerrte ich kurzerhand das Rad meiner Mutter aus unserer Garage. Dann stand ich eine Weile in unserem Vorgarten herum.

Ich war nicht scharf darauf, zum BurgerInn zu fahren. Es lag genau gegenüber der Ampel, an der gestern der verrückte Dolchtyp auf uns losgegangen war. Aber ich würde es irgendwann ohnehin müssen, oder?

Es würde schon nichts passieren. Und wenn doch, würde ich mit dem Fahrrad einfach schnell wieder abhauen.

Wow. Was für ein wasserdichter Plan.

Auf dem Weg in die Stadt war ich aufmerksamer als sonst. Anstatt mir die Landschaft anzusehen, beobachtete ich jeden einzelnen Menschen, an dem ich vorbeifuhr. Einmal fiel ich fast vom Rad, als ich einen blonden Mann in schwarzer Robe entdeckte, stellte aber nach kurzer Zeit fest, dass es nur Pfarrer Tim war, der sich auf den Weg zur Morgenmesse in der Rafaeliskirche machte. Minuten später fuhr ich an ebendieser Kirche vorbei und sah, wie Menschen in das Gebäude strömten.

Sie war die älteste Kirche der Stadt und ihr ganzer Stolz. Angeblich sollte der Erzengel Rafael an genau der Stelle, an der sie jetzt stand, Abraham geheilt haben. Ich kannte die Geschichte nicht genau, hielt sie aber für völligen Blödsinn. Irgendwie schien derjenige, der die sie erfunden hatte, nicht darüber nachgedacht zu haben, dass unser Dörfchen etwas zu weit westlich lag, um für die Bibel relevant zu sein.

Den Kirchturm hinter mir lassend, nahm ich die Abkürzung über die Brücke und kam ohne einen weiteren Vorfall am BurgerInn an. Kein Klingeln, keine ungewöhnliche Hitze in meinem Körper und kein Kamikaze-Dolchmann.

Ich klopfte an die noch verschlossene Tür des Serviceeingangs. Zwei Minuten später öffnete der Geschäftsführer Herr Billings, ein rundlicher Mann mittleren Alters mit einer glänzenden Glatze.

»Bist heute aber früh dran«, sagte er mit einem Blick auf seine Uhr und trat beiseite.

»Ich weiß, konnte nicht schlafen.«

Ein schmaler, dunkler Flur führte an einem Büro vorbei in den Ladenbereich. Eine kleine Kücheninsel wurde mit der Verkaufstheke von dem Sitzbereich abgetrennt und die Stühle standen allesamt noch auf den Tischen.

»Wolltest du nicht eigentlich gestern deinen Gehaltsscheck abholen?«

Richtig.

Das hatte ich vollkommen vergessen. Nickend zog ich eine der Schürzen über, die an einem Haken neben den Fritteusen hingen. »Tut mir leid. Ich hatte gestern Geburtstag und einiges um die Ohren.«

»Oh, herzlichen Glückwunsch! Und kein Problem. Ich habe den Scheck hinten. Vergiss nicht, ihn mitzunehmen, wenn du um vier abhaust.«

Ich lächelte ihm dankbar zu. Herr Billings war der beste Chef, den man sich vorstellen konnte. Sein ganzes Leben lang hatte er diesen Laden geführt und alles, was er tat, tat er mit einer meditativen Ruhe.

Eine halbe Stunde später brummte der Laden. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren und trotzdem klebte das T-Shirt an meinem Rücken. Hinter der Theke war es dank der laufenden Herdplatten und Fritteusen unerträglich warm geworden. Blöd, dass diese Stadt merkwürdigerweise alles, was sie aß, vorher noch einmal frittieren musste. Sandwiches, Bananen, Schokoriegel. Alles.